Vorwort des Herausgebers zur dritten Auflage.

Inhaltsverzeichnis

Die vorliegende dritte Auflage der Parerga und Paralipomena ist ein berichtigter Wiederabdruck der zweiten Auflage. Denn da diese bereits die von Schopenhauer in seinem mit Papier durchschossenen Exemplare hinterlassenen Verbesserungen und Zusätze enthielt; so blieb mir für diese dritte Auflage nur noch übrig, sie von einigen Satz-und Druckfehlern, die in der zweiten stehen geblieben waren, zu reinigen.


Berlin, im October 1873.

Julius Frauenstädt.

Fragmente zur Geschichte der Philosophie

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§. 1. Ueber dieselbe.

Statt der selbsteigenen Werke der Philosophen allerlei Darlegungen ihrer Lehren, oder überhaupt Geschichte der Philosophie zu lesen, ist wie wenn man sich sein Essen von einem Andern kauen lassen wollte. Würde man wohl Weltgeschichte lesen, wenn es Jedem freistände, die ihn interessirenden Begebenheiten der Vorzeit mit eigenen Augen zu schauen? Hinsichtlich der Geschichte der Philosophie nun aber ist ihm eine solche Autopsie ihres Gegenstandes wirklich zugänglich, nämlich in den selbsteigenen Schriften der Philosophen, woselbst er dann immerhin, der Kürze halber, sich auf wohlgewählte Hauptkapitel beschränken mag; um so mehr, als sie alle von Wiederholungen strotzen, die man sich ersparen kann. Auf diese Weise also wird er das Wesentliche ihrer Lehren authentisch und unverfälscht kennen lernen, während er aus den, jetzt jährlich zu halben Dutzenden erscheinenden Geschichten der Philosophie bloß empfängt, was davon in den Kopf eines Philosophieprofessors gegangen ist und zwar so, wie es sich daselbst ausnimmt; wobei es sich von selbst versteht, daß die Gedanken eines großen Geistes bedeutend einschrumpfen müssen, um im drei-pfund-Gehirn so eines Parasiten der Philosophie Platz zu finden, aus welchem sie nun wieder, in den jedesmaligen Jargon des Tages gekleidet, hervorkommen sollen, begleitet von seiner altklugen Beurtheilung. — Ueberdies läßt sich berechnen, daß so ein geldverdienender Geschichtsschreiber der Philosophie kaum den zehnten Theil der Schriften, darüber er Bericht erstattet, auch nur gelesen haben kann: ihr wirkliches Studium erfordert ein ganzes, langes und arbeitsames Leben, wie es ehemals, in den alten, fleißigen Zeiten, der wackere Brucker daran gesetzt hat. Was hingegen können wohl solche Leutchen, die, abgehalten durch beständige Vorlesungen, Amtsgeschäfte, Ferienreisen und Zerstreuungen, meistens schon in den frühern Jahren mit Geschichten der Philosophie auftreten, Gründliches erforscht haben? Dazu aber wollen sie auch noch pragmatisch seyn, die Nothwendigkeit des Entstehens und der Folge der Systeme ergründet haben und darthun, und nun gar noch jene ernsten, ächten Philosophen der Vorzeit beurtheilen, zurechtweisen und meistern. Wie kann es anders kommen, als daß sie die älteren, und Einer den Andern, ausschreiben, dann aber, um Dies zu verbergen, die Sachen mehr und mehr verderben, indem sie ihnen die moderne Tournüre des laufenden Quinquenniums zu geben bestrebt sind, wie sie denn auch nach dem Geiste desselben solche beurtheilen. — Sehr zweckmäßig dagegen würde eine von redlichen und einsichtigen Gelehrten gemeinschaftlich und gewissenhaft gemachte Sammlung der wichtigen Stellen und wesentlichen Kapitel sämmtlicher Hauptphilosophen seyn, in chronologisch-pragmatischer Ordnung zusammengestellt, ungefähr in der Art, wie zuerst Gedicke, und später Ritter und Preller es mit der Philosophie des Alterthums gemacht haben; jedoch viel ausführlicher: also eine mit Sorgfalt und Sachkenntniß verfertigte große und allgemeine Chrestomathie.

Die Fragmente, welche nun ich hier gebe, sind wenigstens nicht traditionell, d. h. abgeschrieben; vielmehr sind es Gedanken, veranlaßt durch das eigene Studium der Originalwerke.


§. 2. Vorsokratische Philosophie.

Die Eleatischen Philosophen sind wohl die ersten, welche des Gegensatzes inne geworden sind, zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten, φαινομενα und νοουμενα. Das Letztere allein war ihnen das wahrhaft Seiende, das οντως ον. — Von diesem behaupten sie sodann, daß es Eines, unveränderlich und unbeweglich sei; nicht aber eben so von den φαινομενοις, d. i. dem Angeschauten, Erscheinenden, empirisch Gegebenen, als von welchem so etwas zu behaupten geradezu lächerlich gewesen wäre; daher denn einst der so mißverstandene Satz, auf die bekannte Art, vom Diogenes widerlegt wurde. Sie unterschieden also eigentlich schon zwischen Erscheinung, φαινομενον, und Ding an sich, οντως ον. Letzteres konnte nicht sinnlich angeschaut, sondern nur denkend erfaßt werden, war demnach νοουμενον. (Arist. metaph. I, 5, p. 986 et Scholia edit. Berol. p. p. 429, 430, et 509.) In den Scholien zum Aristoteles (p. 460, 536, 544 et 798) wird des Parmenides Schrift τα κατα δοξαν erwähnt: das wäre also die Lehre von der Erscheinung, die Physik, gewesen: ihr wird ohne Zweifel ein anderes Werk, τα κατ΄ αληθειαν, die Lehre vom Ding an sich, also die Metaphysik, entsprochen haben. Von Melissos sagt ein Scholion des Philoponos geradezu: εν τοις προς αληθειαν έν ειναι λεγων το ον, εν τοις προς δοξαν δυο (müßte heißen πολλα) φησιν ειναι. — Der Gegensatz der Eleaten, und wahrscheinlich auch durch sie hervorgerufen, ist Herakleitos, sofern er unaufhörliche Bewegung aller Dinge lehrte, wie sie die absolute Unbeweglichkeit: er blieb demnach beim φαινομενον stehn. (Arist. de coelo, III, 1, p. 298. edit. Berol.) Dadurch nun wieder rief er, als seinen Gegensatz, die Ideenlehre Platons hervor; wie dies aus der Darstellung des Aristoteles (Metaph. p. 1078) sich ergiebt.

Es ist bemerkenswerth, daß wir die leicht zu zählenden Haupt-Lehrsätze der vorsokratischen Philosophen, welche sich erhalten haben, in den Schriften der Alten unzählige Mal wiederholt finden; darüber hinaus jedoch sehr wenig: so z. B. die Lehren des Anaxagoras vom νους und den όμοιομεδιαι, — die des Empedokles von φιλια και νεικος und den vier Elementen, — die des Demokritos und Leulippos von den Atomen und den ειδωλοις, — die des Herakleitos vom beständigen Fluß der Dinge, — die der Eleaten, wie oben auseinandergesetzt, — die der Pythagoreer von den Zahlen, der Metempsychose u. s. f. Indessen kann es wohl seyn, daß dieses die Summa alles ihres Philosophirens gewesen; denn wir finden auch in den Werken der Neueren, z. B. des Kartesius, Spinoza, Leibnitz und selbst Kants die wenigen Fundamentalsätze ihrer Philosophien zahllose Male wiederholt; so daß diese Philosophen sämmtlich den Waidspruch des Empedokles, der auch schon ein Liebhaber des Repetitionszeichens gewesen seyn mag, δις και τρις το καλον (S. Sturz, Empedocl. Agrigent. p. 504), adoptirt zu haben scheinen.

Die erwähnten beiden Dogmen des Anaxagoras stehn übrigens in genauer Verbindung. — Nämlich παντα εν πασιν ist seine symbolische Bezeichnung des Homoiomeriendogma’s. In der chaotischen Urmasse staken demnach, ganz fertig vorhanden, die partes similares (im physiologischen Sinne) aller Dinge. Um sie auszuscheiden und zu specifisch verschiedenen Dingen (partes dissimilares) zusammenzusetzen, zu ordnen und zu formen, bedurfte es eines νους, der, durch Auslesen der Bestandtheile, die Konfusion in Ordnung brächte; da ja das Chaos die vollständigste Mischung aller Substanzen enthielt (Scholia in Aristot. p. 337). Jedoch hatte der νους diese erste Scheidung nicht vollkommen zu Stande gebracht; daher in jedem Dinge noch immer die Bestandtheile aller übrigen, wenn gleich in geringerem Maaße, anzutreffen waren: παλιν γαρ παν εν παντι μεμικται (ibid.). —

Empedokles hingegen hatte, statt zahlloser Homoiomerien, nur vier Elemente, — aus welchen nunmehr die Dinge als Produkte, nicht, wie beim Anaxagoras, als Edukte hervorgehn sollten. Die verneinende und scheidende, also ordnende Rolle des νους aber spielen bei ihm φιλια και νεικος, Liebe und Haß. Das ist Beides gar sehr viel gescheuter. Nicht den Intellekt (νους) nämlich, sondern dem Willen (φιλια και νεικος) überträgt er die Anordnung der Dinge, und die verschiedenartigen Substanzen sind nicht, wie beim Anaxagoras, bloße Edukte; sondern wirkliche Produkte. Ließ Anaxagoras sie durch einen sondernden Verstand, so läßt sie hingegen Empedokles durch blinden Trieb, d. i. erkenntnißlosen Willen, zu Stande gebracht werden.

Ueberhaupt ist Empedokles ein ganzer Mann, und seinem φιλια και νεικος liegt ein tiefes und wahres appercu zum Grunde. Schon in der unorganischen Natur sehen wir die Stoffe, nach den Gesetzen der Wahlverwandtschaft, einander suchen oder fliehen, sich verbinden und trennen. Die aber, welche sich chemisch zu verbinden die stärkste Neigung zeigen, welche jedoch nur im Zustande der Flüssigkeit befriedigt werden kann, treten in den entschiedensten elektrischen Gegensatz, wenn sie im festen Zustande in Berührung mit einander kommen: sie gehn jetzt in entgegengesetzte Polaritäten feindlich auseinander, um sich sodann wieder zu suchen und zu umarmen. Und was ist denn überhaupt der in der ganzen Natur unter den verschiedensten Formen durchgängig auftretende polare Gegensatz Anderes, als eine stets erneuerte Entzweiung, auf welche die inbrünstig begehrte Versöhnung folgt? So ist denn wirklich φιλια και νεικος überall vorhanden und nur nach Maaßgabe der Umstände wird jedesmal das Eine, oder das Andere hervortreten. Demgemäß können auch wir selbst mit jedem Menschen, der uns nahe kommt, augenblicklich befreundet, oder verfeindet seyn: die Anlage zu Beidem ist da und wartet auf die Umstände. Bloß die Klugheit heißt uns, auf dem Indifferenzpunkt der Gleichgültigkeit verharren; wiewohl er zugleich der Gefrierpunkt ist. Eben so ist auch der fremde Hund, dem wir uns nähern, augenblicklich bereit, das freundliche, oder das feindliche Register zu ziehn und springt leicht vom Bellen und Knurren zum Wedeln über; wie auch umgekehrt. Was dieser durchgängigen Phänomene des φιλια και νεικος zum Grunde liegt ist allerdings zuletzt der große Urgegensatz zwischen der Einheit aller Wesen, nach ihrem Seyn an sich, und ihrer gänzlichen Verschiedenheit in der Erscheinung, als welche das principium individuationis zur Form hat. Imgleichen hat Empedokles die schon ihm bekannte Atomenlehre als falsch erkannt und dagegen unendliche Theilbarkeit der Körper gelehrt, wie uns Lukretius berichtet Lib. I, v. 747 fg.

Vor Allem aber ist, unter den Lehren des Empedokles, sein entschiedener Pessimismus beachtenswerth. Er hat das Elend unseres Daseyns vollkommen erkannt und die Welt ist ihm, so gut wie den wahren Christen, ein Jammerthal, — Ατης λειμων. Schon er vergleicht sie, wie später Platon, mit einer finstern Höhle, in der wir eingesperrt wären. In unserm irdischen Daseyn sieht er einen Zustand der Verbannung und des Elends, und der Leib ist der Kerker der Seele. Diese Seelen haben einst sich in einem unendlich glücklichen Zustande befunden und sind durch eigene Schuld und Sünde in das gegenwärtige Verderben gerathen, in welches sie, durch sündigen Wandel, sich immer mehr verstricken und in den Kreislauf der Metempsychose gerathen, hingegen durch Tugend und Sittenreinheit, zu welcher auch die Enthaltung von thierischer Nahrung gehört, und durch Abwendung von den irdischen Genüssen und Wünschen wieder in den ehemaligen Zustand zurückgelangen können. — Also die selbe Urweisheit, die den Grundgedanken des Brahmanismus und Buddhaismus, ja, auch des wahren Christenthums (darunter nicht der optimistische, jüdisch-protestantische Rationalismus zu verstehen ist) ausmacht, hat auch dieser uralte Grieche sich zum Bewußtseyn gebracht; wodurch der consensus gentium darüber sich vervollständigt. Daß Empedokles, den die Alten durchgängig als einen Pythagoreer bezeichnen, diese Ansicht vom Pythagoras überkommen habe, ist wahrscheinlich; zumal, da im Grunde auch Platon sie theilt, der ebenfalls noch unter dem Einflusse des Pythagoras steht. Zur Lehre von der Metempsychose, die mit dieser Weltansicht zusammenhängt, bekennt Empedokles sich auf das Entschiedenste. — Die Stellen der Alten, welche, nebst seinen eigenen Versen, von jener Weltauffassung des Empedokles Zeugniß ablegen, findet man mit großem Fleiße zusammengestellt in Sturzii Empedocles Agrigentinus, S. S. 448—458. —

Die Ansicht, daß der Leib ein Kerker, das Leben ein Zustand des Leidens und der Läuterung sei, aus welchem der Tod uns erlöst, wenn wir der Seelenwanderung quitt werden, theilen Aegypter, Pythagoreer, Empedokles, mit Hindu und Buddhaisten. Mit Ausnahme der Metempsychose ist sie auch im Christenthum enthalten. Jene Ansicht der Alten bezeugen Diodorus Sikulus und Cicero. (S. Wernsdorf, de metempsychosi Veterum, p. 31, und Cic. fragmenta, p. 299 [somn. Scip.], 316, 319, ed. Bip.) Cicero giebt an diesen Stellen nicht an, welcher Philosophenschule solche angehören; doch scheinen es Ueberreste Pythagorischer Weisheit zu seyn. Auch in den übrigen Lehrmeinungen dieser vorsokratischen Philosophen läßt sich viel Wahres nachweisen, davon ich einige Beispiele geben will.

Nach Kant´s und Laplace’s Kosmogonie, welche durch Herschels Beobachtungen noch eine faktische Bestätigung a posteriori erhalten hat, die nun wieder wankend zu machen, Lord Rosse mit seinem Riesenreflektor, zum Trost des Englischen Klerus, bemüht ist, — gestalten sich aus langsam gerinnenden und dann kreisenden, leuchtenden Nebeln, durch Kondensation, die Planetensysteme: da behält, nach Jahrtausenden, wieder Anaximenes Recht, welcher Luft und Dunst für den Grundstoff aller Dinge erklärte (Schol. in Arist. p. 514). Zugleich aber auch erhalten Empedokles und Demokritos Bestätigung; da schon sie, eben wie Laplace, Ursprung und Bestand der Welt aus einem Wirbel, δινη, erklärten (Arist. op. ed. Berol. p. 295, et Scholia p. 351), worüber, als eine Gottlosigkeit, auch schon Aristophanes (Nubes, v. 820) spottet; eben wie heut zu Tage über die Laplace’sche Theorie die englischen Pfaffen, denen dabei, wie bei jeder zu Tage kommenden Wahrheit, unwohl zu Muthe, nämlich um ihre Pfründen Angst wird. — Ja, sogar führt gewissermaaßen unsere chemische Stöchiometrie auf die Pythagorische Zahlenphilosophie zurück: τα γαρ παθη και αί έξεις των αριθμων των εν τοις ουσι παθων τε και έξεων αιτια, οίον το διπλασιον, το επιτριτον, και ήμιολιον (Schol. in Arist. p. 543 et 829). — Daß das Kopernikanische System von den Pythagoreern anticipirt worden war ist bekannt; ja, es war dem Kopernikus bekannt, der seinen Grund-Gedanken geradezu geschöpft hat aus der bekannten Stelle über Hicetas in Cicero’s quaestionibus acad. (II, 39) und über Philolaos im Plutarch de placitis philosophorum (Lib. III, c. 13). Diese alte und wichtige Erkenntniß hat nachher Aristoteles verworfen, um seine Flausen an deren Stelle zu setzen, wovon weiter unten §. 5. (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung, II, p. 342 der 2. Aufl.; II, p. 390 der 3. Aufl.) Aber selbst Fourier’s und Cordier’s Entdeckungen über die Wärme im Innern der Erde sind Bestätigungen der Lehre jener: ελεγον δε Πυθαγορειοι πυρ ειναι δημιουργικον περι το μεσον και κεντρον της γης, το αναθαλπουν την γην και ζωοποιουν. Schol. in Arist. p. 504. Und wenn, in Folge eben jener Entdeckungen, die Erdrinde heut zu Tage angesehn wird als eine dünne Schichte zwischen zwei Medien (Atmosphäre und heiße, flüssige Metalle und Metalloide), deren Berührung einen Brand verursachen muß, der jene Rinde venichtet; so bestätigt Dies die Meinung, daß die Welt zuletzt durch Feuer verzehrt werden wird; in welcher alle alten Philosophen übereinstimmen und welche auch die Hindu theilen (lettres édifiantes édit. de 1819. Vol. 7, p. 114). — Bemerkt zu werden verdient auch noch, daß, wie aus Aristoteles (Metaph. I, 5. p. 986) zu ersehn, die Pythagoreer, unter dem Namen der δεκα αρχαι, gerade das Yn und Yang der Chinesen aufgefaßt hatten.

Daß die Metaphysik der Musik, wie ich solche in meinem Hauptwerke (Bd. I, §. 52 und Bd. 2, Kap. 39) dargelegt habe, als eine Auslegung der Pythagorischen Zahlenphilosophie angesehn werden kann, habe ich schon dort kurz angedeutet und will es hier noch etwas näher erläutern; wobei ich nun aber die eben angeführten Stellen als dem Leser gegenwärtig voraussetze. — Demzufolge also drückt die Melodie alle Bewegungen des Willens, wie er sich im menschlichen Selbstbewußtseyn kund giebt, d. h. alle Affekte, Gefühle u. s. w. aus; die Harmonie hingegen bezeichnet die Stufenleiter der Objektivation des Willens in der übrigen Natur. Die Musik ist, in diesem Sinn, eine zweite Wirklichkeit, welche der ersten völlig parallel geht, übrigens aber ganz anderer Art und Beschaffenheit ist; also vollkommene Analogie, jedoch gar keine Aehnlichkeit mit ihr hat. Nun aber ist die Musik, als solche, nur in unserm Gehörnerven und Gehirn vorhanden: außerhalb oder an sich (im Lockischen Sinne verstanden), besteht sie aus lauter Zahlenverhältnissen: nämlich zunächst, ihrer Quanität nach, hinsichtlich des Takts; und dann, ihrer Qualität nach, hinsichtlich der Stufen der Tonleiter, als welche auf den arithmetischen Verhältnissen der Vibrationen beruhen; oder, mit anderen Worten, wie in ihrem rhythmischen, so auch in ihrem harmonischen Element. Hienach also ist das ganze Wesen der Welt, sowohl als Mikrokosmos, wie als Makrokosmos, allerdings durch bloße Zahlenverhältnisse auszudrücken, mithin gewissermaaßen auf sie zurückzuführen: in diesem Sinne hätte dann Pythagoras Recht, das eigentliche Wesen der Dinge in die Zahlen zu setzen. — Was sind nun aber Zahlen? — Successionsverhältnisse, deren Möglichkeit auf der Zeit beruht.

Wenn man liest was über die Zahlenphilosophie der Pythagoreer in den Scholien zum Aristoteles (p. 829 ed. Berol.) gesagt wird; so kann man auf die Vermuthung gerathen, daß der so seltsame und geheimnißvolle, an das Absurde streifende Gebrauch des Wortes λογος im Eingang des dem Johannes zugeschriebenen Evangeliums, wie auch die früheren Analoga desselben beim Philo, von der Pythagorischen Zahlenphilosophie abstammen, nämlich von der Bedeutung des Wortes λογος im arithmetischen Sinn, als Zahlenverhältniß ratio numerica; da ein solches Verhältniß, nach den Pythagoreern, die innerste und unzerstörbare Essenz jedes Wesens ausmacht, also dessen erstes und ursprüngliches Principium, αρχη, ist; wonach denn von jedem Dinge gälte εν αρχη ην ό λογος. Man berücksichtige dabei, daß Aristoteles (de anima I, l) sagt: τα παθη λογοι ενυλοι ειοι, et mox: ό μεν γαρ λογος ειδος του πραγματος. Auch wird man dadurch an den λογος σπερματικος der Stoiker erinnert, auf welchen ich bald zurückkommen werde.

Nach der Biographie des Pythagoras von Jamblichos hat derselbe seine Bildung hauptsächlich in Aegypten, wo er von seinem 22. bis zum 56. Jahre geweilt, und zwar von den Priestern daselbst, erhalten. Im 56. Jahre zurückgekehrt, hatte er wohl eigentlich die Absicht, eine Art Priesterstaat, eine Nachahmung der Aegyptischen Tempelhierarchien, wiewohl unter den bei Griechen nothwendigen Modifikationen, zu gründen: dies gelang ihm nicht im Vaterlande Samos, doch gewissermaaßen in Kroton. Da nun Aegyptische Kultur und Religion ohne Zweifel aus Indien stammte, wie dies die Heiligkeit der Kuh, nebst hundert anderen Dingen, beweiset (Herod. II, 41); so erklärt sich hieraus des Pythagoras Vorschrift der Enthaltung von thierischer Nahrung namentlich das Verbot Rinder zu schlachten (Jambl. vit. Pyth. c. 28, §. 150), wie auch die anbefohlene Schonung aller Thiere, desgleichen seine Lehre von der Metempsychose, seine weißen Gewänder, seine ewige Geheimnißkrämerei, welche die symbolischen Sprüche veranlaßte und sich sogar auf mathematische Theoreme erstreckte, ferner die Gründung einer Art Priesterkaste, mit strenger Disciplin und vielem Ceremoniell, das Anbeten der Sonne (c. 35, §. 256) und viel Anderes. Auch seine wichtigeren astronomischen Grund-Begriffe hatte er von den Aegyptern. Daher wurde die Priorität der Lehre von der Schiefe der Ekliptik ihm streitig gemacht von Oenopides, der mit ihm in Aegypten gewesen war. (Man sehe darüber den Schluß des 24. Kap. des ersten Buches der Eklogen des Stobäos mit Heerens Note aus dem Diodorus.) Ueberhaupt aber, wenn man die von Stobäos (besonders Lib. I, c. 25 fg.) zusammengestellten astronomischen Elementarbegriffe sämmtlicher Griechischer Philosophen durchmustert, so findet man, daß sie durchgängig Absurditäten zu Markte gebracht haben, mit alleiniger Ausnahme der Pythagoreer, welche in der Regel das ganz Richtige haben. Daß dieses nicht aus eigenen Mitteln, sondern aus Aegypten sei, ist nicht zu bezweifeln. Des Pythagoras bekanntes Verbot der Bohnen ist rein Aegyptischen Ursprungs und bloß ein von dort herüber genommener Aberglaube, da Herodot (II, 37) berichtet, daß in Aegypten die Bohne als unrein betrachtet und verabscheuet werde, so daß die Priester nicht einmal ihren Anblick ertrügen. Daß übrigens des Pythagoras Lehre entschiedener Pantheismus war, bezeugt so bündig wie kurz, eine von Clemens Alexandrinus, in der Cohortatio ad gentes, uns aufbehaltene Sentenz der Pythagoreer, deren Dorischer Dialekt auf Aechtheit deutet; sie lautet: Ούκ άποκρυπτεον ούδε τους άμφι τον Πυθαγοραν, οί φασιν΄ Ό μεν θεος είς΄ χ΄ ούτος δε ούχ, ώς τινες ύπονοουσιν, έκτος τας διακοσμησιος, άλλ΄ έν αύτα, όλος έν όλω τω κυκλω, έπισκοπος πασας γενεσιος, κρασις των όλων΄ άει ών, και έργατας των αύτου δυναμιων και έργων άπαντων έν ούρανω φωστηρ, και παντων πατηερ, νους και φυχωσις τω όλω κυκλω, παντων κινασις. (S. Clem. Alex. Opera Tom. I, p. 118 in Sanctorum Patrum oper. polem. Vol. IV., Wirceburgi 1778.) Es ist nämlich gut sich bei jeder Gelegenheit zu überzeugen, daß eigentlicher Theismus und Judenthum Wechselbegriffe sind. Nach dem Apulejus wäre Pythagoras sogar bis Indien gekommen und von den Brahmanen selbst unterrichtet worden. (S. Apulej. Florida, p. 130 ed. Bip.) Ich glaube demnach, daß die allerdings hoch anzuschlagende Weisheit und Erkenntniß des Pythagoras nicht sowohl in Dem bestanden hat, was er gedacht, als in Dem, was er gelernt hatte; also weniger eigene, als fremde war. Dies bestätigt ein Ausspruch des Herakleitos über ihn. (Diog. Laert. Lib. VIII, c. 1, §. 5.) Sonst würde er sie auch aufgeschrieben haben, um seine Gedanken vom Untergange zu retten: hingegen das erlernte Fremde blieb an der Quelle gesichert.


§. 3. Sokrates.

Die Weisheit des Sokrates ist ein philosophischer Glaubensartikel. Daß der Platonische Sokrates eine ideale, also poetische Person sei, die Platonische Gedanken ausspricht, liegt am Tage; am Xenophontischen hingegen ist nicht gerade viel Weisheit zu finden. Nach Lukianos (Philopsendes, 24) hätte Sokrates einen dicken Bauch gehabt; welches eben nicht zu den Abzeichen des Genies gehört. — Eben so zweifelhaft jedoch steht es, hinsichtlich der hohen Geistesfähigkeiten, mit allen Denen, welche nicht geschrieben haben, also auch mit dem Pythagoras. Ein großer Geist muß doch allmälig seinen Beruf und seine Stellung zur Menschheit erkennen, folglich zu dem Bewußtseyn gelangen, daß er nicht zur Heerde, sondern zu den Hirten, ich meyne zu den Erziehern des Menschengeschlechtes, gehört: hieraus aber wird ihm die Verpflichtung klar werden, seine unmittelbare und gesicherte Einwirkung nicht auf die Wenigen, welche der Zufall in seine Nähe bringt, zu beschränken, sondern sie auf die Menschheit auszudehnen, damit sie, in dieser, die Ausnahmen von ihr, die Vorzüglichen, also Seltenen, erreichen könne. Das Organ aber, womit man zur Menschheit redet, ist allein die Schrift: mündlich redet man bloß zu einer Anzahl Individuen; daher was so gesagt wird, im Verhältniß zum Menschengeschlechte, Privatsache bleibt. Denn solche Individuen sind für die edle Saat meistens ein schlechter Boden, in welchem sie entweder gar nicht treibt, oder in ihren Erzeugnissen schnell degenerirt: die Saat selbst also muß bewahrt werden. Dies aber geschieht nicht durch Tradition, als welche bei jedem Schritte verfälscht wird, sondern allein durch die Schrift, dieser einzigen treuen Aufbewahrerin der Gedanken. Zudem hat nothwendig jeder tiefdenkende Geist den Trieb, zu seiner eigenen Befriedigung, seine Gedanken festzuhalten und sie zu möglichster Deutlichkeit und Bestimmtheit zu bringen, folglich sie in Worten zu verkörpern. Dies aber geschieht vollkommen allererst durch die Schrift: denn der schriftliche Vortrag ist ein wesentlich anderer, als der mündliche; indem er allein die höchste Präcision, Koncision und prägnante Kürze zuläßt, folglich zum reinen Ektypos des Gedankens wird. Diesem allen zufolge wäre es in einem Denker ein wunderlicher Uebermuth, die wichtigste Erfindung des Menschengeschlechts unbenutzt lassen zu wollen. Sonach wird es mir schwer, an den eigentlich großen Geist Derer zu glauben, die nicht geschrieben haben: vielmehr bin ich geneigt, sie für hauptsächlich praktische Helden zu halten, die mehr durch ihren Charakter, als durch ihren Kopf wirkten. Die erhabenen Urheber des Upanischads der Veden haben geschrieben: wohl aber mag die Sanhita der Veden, aus bloßen Gebeten bestehend, sich Anfangs nur mündlich fortgepflanzt haben.

Zwischen Sokrates und Kant lassen sich gar manche Aehnlichkeiten nachweisen. Beide verwerfen allen Dogmatismus: Beide bekennen eine völlige Unwissenheit in Sachen der Metaphysik und setzen ihre Eigenthümlichkeit in das deutliche Bewußtseyn dieser Unwissenheit. Beide behaupten, daß hingegen das Praktische, Das, was der Mensch zu thun und zu lassen habe, völlig gewiß sei und zwar durch sich selbst, ohne fernere theoretische Begründung. Beide hatten das Schicksal, daß ihre nächsten Nachfolger und deklarirten Schüler dennoch in eben jenen Grundlagen von ihnen abwichen und, die Metaphysik bearbeitend, völlig dogmatische Systeme aufstellten; daß ferner diese Systeme höchst verschieden ausfielen, jedoch alle darin übereinstimmten, daß sie von der Lehre des Sokrates, respektive Kants, ausgegangen zu seyn behaupteten. — Da ich selbst Kantianer bin, will ich hier mein Verhältniß zu ihm mit Einem Worte bezeichnen. Kant lehrt, daß wir über die Erfahrung und ihre Möglichkeit hinaus nichts wissen können: ich gebe Dies zu, behaupte jedoch, daß die Erfahrung selbst, in ihrer Gesammtheit, einer Auslegung fähig sei, und habe diese zu geben versucht, indem ich sie wie eine Schrift entziffern, nicht aber wie alle früheren Philosophen, mittelst ihrer bloßen Formen über sie hinauszugehn unternahm, was eben Kant als unstatthaft nachgewiesen hatte. —

Der Vortheil der Sokratischen Methode, wie wir sie aus dem Platon kennen lernen, besteht darin, daß man sich die Gründe der Sätze, welche man zu beweisen beabsichtigt, vom Kollokutor oder Gegner, einzeln zugeben läßt, ehe er die Folgen derselben übersehn hat; da er hingegen aus einem didaktischen Vortrage, in fortlaufender Rede, Folgen und Gründe gleich als solche zu erkennen Gelegenheit haben und daher diese angreifen würde, wenn ihm jene nicht gefielen. — Inzwischen gehört zu den Dingen, die Platon uns aufbinden möchte, auch dieses, daß, mittelst Anwendung jener Methode die Sophisten und andere Narren sich so in aller Gelassenheit hätten vom Sokrates darthun lassen, daß sie es sind. Daran ist nicht zu denken; sondern etwan beim letzten Viertel des Wegs, oder überhaupt sobald sie merkten wo es hinaus sollte, hätten sie, durch Abspringen, oder Leugnen des vorher Gesagten, oder absichtliche Mißverständnisse, und was noch sonst für Schliche und Schikanen die rechthaberische Unredlichkeit instinktmäßig anwendet, dem Sokrates sein künstlich angelegtes Spiel verdorben und sein Netz zerrissen; oder aber sie wären so grob und beleidigend geworden, daß er bei Zeiten seine Haut in Sicherheit zu bringen rathsam gefunden haben würde. Denn, wie sollte nicht auch den Sophisten das Mittel bekannt gewesen seyn, durch welches Jeder sich Jedem gleich setzen und selbst die größte intellektuelle Ungleichheit augenblicklich ausgleichen kann: es ist die Beleidigung. Zu dieser fühlt daher die niedrige Natur eine sogar instinktive Aufforderung, sobald sie geistige Ueberlegenheit zu spüren anfängt. —


§. 4. Platon

Schon beim Platon finden wir den Ursprung einer gewissen falschen Dianoiologie, welche in heimlich metaphysischer Absicht, nämlich zum Zweck einer rationalen Psychologie und daran hängender Unsterblichkeitslehre, aufgestellt wird. Dieselbe hat sich nachmals als eine Truglehre vom zähesten Leben erwiesen; da sie, durch die ganze alte, mittlere und neue Philosophie hindurch, ihr Daseyn fristete, bis Kant, der Alleszermalmer, ihr endlich auf den Kopf schlug. Die hier gemeinte Lehre ist der Rationalismus der Erkenntnißtheorie, mit metaphysischem Endzweck. Sie läßt sich, in der Kürze, so resumiren. Das Erkennende in uns ist eine, vom Leibe grundverschiedene immaterielle Substanz, genannt Seele: der Leib hingegen ist ein Hinderniß der Erkenntniß. Daher ist alle durch die Sinne vermittelte Erkenntniß trüglich: die allein wahre, richtige und sichere hingegen ist die von aller Sinnlichkeit (also aller Anschauung) freie und entfernte, mithin das reine Denken, d. i. das Operiren mit abstrakten Begriffen ganz allein. Denn dieses verrichtet die Seele ganz aus eigenen Mitteln: folglich wird es am besten, nachdem sie sich vom Leibe getrennt hat, also wenn wir todt sind, von Statten gehn. — Dergestalt also spielt hier die Dianoiologie der rationalen Psychologie, zum Behuf ihrer Unsterblichkeitslehre, in die Hände. Diese Lehre, wie ich sie hier resumirt habe, findet man ausführlich und deutlich im Phädo Kap. 10. Etwas anders gefaßt ist sie im Timäus, aus welchem Sextus Empirikus sie sehr präcis und klar mit folgenden Worten referirt: Παλαια τις παρα τοις φυσικοις κυλιεται δοξα περι του τα όμοια των όμοιων ειναι γνωριστικα. Mox: Πλατον δε, εν τω Τιμαιω, προς παραστασιν του ασωματον ειναι την φυχην, τω αυτω γενει της απαδειξεως κεχρηται. Ει γαρ ή μεν όρασις, φησι, φωτος αντιλαμβανομενη, ευθυς εστι πωτοειδης, ή δε ακοη αερα πεπληγμενον κρινουσα, όπερ εστι την φωνην, ευθυς αεροειδης θεωρειται, ή δε οσφρησις ατμους γνωριζουσα παντος εστι ατμοειδης, και ή γευςις χυλους, χυλοειδης΄ κατ΄αναλκην και ή φυχη τας ασωματους ιδεας λαμβανουσα, καθαπερ τας εν τοις αριθμοις και τας εν τοις περασι των σωματων (also reine Mathematik) γινεται τις ασωματος (adv. Math. VII, 116 et 119). (vetus quaedam, a physicis usque probata, versatur opinio, quod similia similibus cognoscantur. — — Mox: Plato, in Timaeo, ad probandum, animam esse incorpoream, usus est eodem genere demonstrationis: nam si visio, inquit, apprehendenslucem statim est luminosa, auditus autem aerem percussum judicans, nempe vocem, protinus cernitur ad aeris accedens speciem, odoratus autem cognoscens vapores, est omnino vaporis aliquam habens formam, et gustus, qui humores, humoris habens speciem; necessario et anima, ideas suscipiens incorporeas, ut quae sunt in numeris et in finibus corporum, est incorporea.)

Selbst Aristoteles läßt, wenigstens hypothetisch, diese Argumentation gelten, da er im ersten Buch de anima (c. 1) sagt, daß die gesonderte Existenz der Seele danach auszumachen wäre, ob dieser irgend eine Aeußerung zukäme, an welcher der Leib nicht Theil hätte: eine solche schiene vor Allem das Denken zu seyn. Sollte aber selbst dieses nicht ohne Anschauung und Phantasie möglich seyn; dann könne dasselbe auch nicht ohne den Leib statt finden. (ει δε εστι και το νοειν φαντασια τις, η μη ανευ φαντασιας, ουκ ενδεχοιτ΄ αν ουδε τουτο ανευ σωματος ειναι.) Eben jene oben gestellte Bedingung nun aber, also die Prämisse der Argumentation, läßt Aristoteles nicht gelten, sofern er nämlich Das lehrt, was man später in den Salz nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensibus formulirt hat: man sehe hierüber de anima III, 8. Schon er also sah ein, daß alles rein und abstrakt Gedachte seinen ganzen Stoff und Inhalt doch erst vom Angeschauten erborgt hat. Dies hat auch die Scholastiker beunruhigt. Deshalb bemühte man sich schon im Mittelalter darzuthun, daß es reine Vernunfterkenntnisse gäbe, d. h. Gedanken, die auf keine Bilder Bezug hätten, also ein Denken, welches allen Stoff aus sich selbst nähme. Die Bemühungen und Kontroverse über diesen Punkt findet man im Pomponatius, de immortalitate animi, zusammengestellt, da dieser eben sein Hauptargument daher nimmt. — Dem besagten Erforderniß zu genügen sollten nun die Universalia und die Erkenntnisse a priori, als aeternae veritates aufgefaßt, dienen. Welche Ausführung die Sache sodann durch Kartesius und seine Schule erhalten hat, habe ich bereits dargelegt in der dem §. 6 meiner Preisschrift über die Grundlage der Moral beigefügten ausführlichen Anmerkung, in welcher ich auch die lesenswerthen eigenen Worte des Kartesianers de la Forge beigebracht habe. Denn gerade die falschen Lehren jedes Philosophen findet man, in der Regel, am deutlichsten von seinen Schülern ausgedrückt; weil diese nicht, wie wohl der Meister selbst, bemüht sind, diejenigen Seiten seines Systems, welche die Schwäche desselben verrathen könnten, möglichst dunkel zu halten; da sie noch kein Arg daraus haben. Spinoza nun aber stellte bereits dem ganzen Kartesianischen Dualismus seine Lehre Substantia cogitans et substantia extensa una eademque est substantia, quae jam sub hoc, jam sub illo attibuto comprehenditur entgegen, und zeigte dadurch seine große Ueberlegenheit. Leibnitz hingegen blieb fein artig auf dem Wege des Kartesius und der Orthodoxie. Dies aber eben rief sodann das der Philosophie so überaus heilsame Streben des vortrefflichen Locke hervor, als welcher endlich auf Untersuchung des Ursprungs der Begriffe drang und den Satz no innate ideas (keine angeborne Begriffe), nachdem er ihn ausführlich dargethan, zur Grundlage seiner Philosophie machte. Die Franzosen, für welche seine Philosophie durch Condillac bearbeitet wurde, gingen, wiewohl aus demselben Grunde, in der Sache bald zu weit, indem sie den Satz penser est sentir aufstellten und ihn urgirten. Schlechthin genommen ist dieser Satz falsch: jedoch liegt das Wahre darin, daß jedes Denken theils dass Empfinden, als Ingrediens der Anschauung, die ihm seinen Stoff liefert, voraussetzt, theils selbst, eben sowohl wie das Empfinden, durch körperliche Organe bedingt ist; nämlich wie dieses durch die Sinnennerven, so jenes durch das Gehirn, und Beides ist Nerventhätigkeit. Nun aber hielt auch die französische Schule jenen Satz nicht seiner selbst wegen so fest, sondern ebenfalls in metaphysischer, und zwar materialistischer, Absicht; eben wie die Platonisch-Kartesianisch-Leibnitzischen Gegner den falschen Satz, daß die allein richtige Erkenntniß der Dinge im reinen Denken bestehe, auch nur in metaphysischer Absicht festgehalten hatten, um daraus die Immaterialität der Seele zu beweisen. — Kant allein führt zur Wahrheit auf diesen beiden Irrwegen und aus einem Streit, in welchem beide Parteien eigentlich nicht redlich verfahren; da sie Dianoiologie vorgeben, aber auf Metaphysik gerichtet sind und deshalb die Dianoiologie verfälschen. Kant also sagt: allerdings giebt es reine Vernunfterkenntniß, d. h. Erkenntnisse a priori, die aller Erfahrung vorhergängig sind, folglich auch ein Denken, das seinen Stoff keiner durch die Sinne vermittelten Erkenntniß verdankt: aber eben diese Erkenntniß a priori, obwohl nicht aus der Erfahrung geschöpft, hat doch nur zum Behuf der Erfahrung Werth und Gültigkeit: denn sie ist nichts Anderes als das Innewerden unsers eigenen Erkenntnißapparats und seiner Einrichtung (Gehirnfunktion), oder wie Kant es ausdrückt, die Form des erkennenden Bewußtseins selbst, die ihren Stoff allererst durch die, mittelst der Sinnesempfindung hinzukommende empirische Erkenntniß erhält, ohne diese aber leer und unnütz ist. Dieserhalb eben nennt sich seine Philosophie die Kritik der reinen Vernunft. Hiedurch nun fällt alle jene metaphysische Psychologie und fällt mit ihr alle reine Seelenthätigkeit des Platon. Denn wir sehen, daß die Erkenntniß, ohne die Anschauung, welche der Leib vermittelt, keinen Stoff hat, daß mithin das Erkennende, als solches, ohne Voraussetzung des Leibes, nichts ist, als eine leere Form; noch zu geschweigen, daß jedes Denken eine physiologische Funktion des Gehirns ist, eben wie das Verdauen eine des Magens.

Wenn nun demnach Platons Anweisung, das Erkennen abzuziehen und rein zu halten von aller Gemeinschaft mit dem Leibe, den Sinnen und der Anschauung, sich als zweckwidrig, verkehrt, ja unmöglich ergiebt; so können wir jedoch als das berichtigte Analogon derselben meine Lehre betrachten, daß nur das von aller Gemeinschaft mit dem Willen rein gehaltene, und doch intuitive Erkennen die höchste Objektivität und deshalb Vollkommenheit erreicht; — worüber ich auf das dritte Buch meines Hauptwerks verweise.


§. 5. Aristoteles

Als Grundcharakter des Aristoteles ließe sich angeben der allergrößte Scharfsinn, verbunden mit Umsicht, Beobachtungsgabe, Vielseitigkeit und Mangel an Tiefsinn. Seine Weltansicht ist flach, wenn auch scharfsinnig durchgearbeitet. Der Tiefsinn findet seinen Stoff in uns selbst; der Scharfsinn muß ihn von außen erhalten, um Data zu haben. Nun aber waren zu jener Zeit die empirischen Data theils ärmlich, theils sogar falsch. Daher ist heut zu Tage das Studium des Aristoteles nicht sehr belohnend, während das des Platon es im höchsten Grade bleibt. Der gerügte Mangel an Tiefsinn beim Aristoteles wird natürlich am sichtbarsten in der Metaphysik, als wo der bloße Scharfsinn nicht, wie wohl anderwärts, ausreicht; daher er dann in dieser am allerwenigsten befriedigt. Seine Metaphysik ist größtentheils ein Hin-und Her-Reden über die Philosopheme seiner Vorgänger, die er von seinem Standpunkt aus, meistens nach vereinzelten Aussprüchen derselben, kritisirt und widerlegt, ohne eigentlich in ihren Sinn einzugehen, vielmehr wie Einer, der von außen die Fenster einschlägt. Eigene Dogmen stellt er wenige, oder keine, wenigstens nicht im Zusammenhange, auf. Daß wir seiner Polemik einen großen Theil unsrer Kenntniß der älteren Philosopheme verdanken ist ein zufälliges Verdienst. Den Platon feindet er am meisten gerade hier an, wo dieser so ganz an seinem Platz ist. Die Ideen desselben kommen ihm, wie etwas, das er nicht verdauen kann, immer wieder in den Mund: er ist entschlossen, sie nicht gelten zu lassen. — Scharfsinn reicht in den Erfahrungswissenschaften aus: daher hat Aristoteles eine vorwaltend empirische Richtung. Da nun aber, seit jener Zeit, die Empirie solche Fortschritte gemacht hat, daß sie zu ihrem damaligen Zustande sich verhält wie das männliche Alter zu den Kinderjahren; so können die Erfahrungswissenschaften heut zu Tage direkte nicht sehr durch sein Studium gefördert werden, wohl aber indirekte, durch die Methode und das eigentlich Wissenschaftliche, was ihn charakterisirt und durch ihn in die Welt gesetzt wurde. In der Zoologie jedoch ist er auch noch jetzt, wenigstens im Einzelnen, von direktem Nutzen. Ueberhaupt nun aber giebt seine empirische Richtung ihm den Hang, stets in die Breite zu gehn; wodurch er von dem Gedankenfaden, den er aufgenommen, so leicht und so oft seitwärts abspringt, daß er fast unfähig ist, irgend einen Gedankengang auf die Länge und bis ans Ende zu verfolgen: nun aber besteht gerade hierin das tiefe Denken. Er hingegen jagt überall die Probleme auf, berührt sie jedoch nur und geht, ohne sie zu lösen, oder auch nur gründlich zu diskutiren, sofort zu etwas Anderm über. Daher denkt sein Leser so oft jetzt wird’s kommen; aber es kommt nichts: und daher scheint, wann er ein Problem angeregt hat und auf eine kurze Strecke es verfolgt, so häufig die Wahrheit ihm auf der Zunge zu schweben; aber plötzlich ist er bei etwas Anderem und läßt uns im Zweifel stecken. Denn er kann nichts festhalten, sondern springt von Dem, was er vorhat, zu etwas Anderm, das ihm eben einfällt, über, wie ein Kind ein Spielzeug fallen läßt, um ein anderes, welches es eben ansichtig wird, zu ergreifen: Dies ist die schwache Seite seines Geistes: es ist die Lebhaftigkeit der Oberflächlichkeit. Hieraus erklärt es sich, daß, obwohl Aristoteles ein höchst systematischer Kopf war, da von ihm die Sonderung und Klassifikation der Wissenschaften ausgegangen sind, es dennoch seinem Vortrage durchgängig an systematischer Anordnung fehlt und wir den methodischen Fortschritt, ja die Trennung des ungleichartigen und Zusammenstellung des Gleichartigen darin vermissen. Er handelt die Dinge ab, wie sie ihm einfallen, ohne sie vorher durchdacht und sich ein deutliches Schema entworfen zu haben: er denkt mit der Feder in der Hand, was zwar eine große Erleichterung für den Schriftsteller, aber eine grosse Beschwerde für den Leser ist. Daher das Planlose und Ungenügende seiner Darstellung; daher kommt er hundert Mal auf das Selbe zu reden, weil ihm Fremdartiges dazwischen gelaufen war; daher kann er nicht bei einer Sache bleiben, sondern geht vom Hundertsten ins Tausendste; daher führt er, wie oben beschrieben, den auf die Lösung der angeregten Probleme gespannten Leser bei der Nase herum; daher fängt er, nachdem er einer Sache mehrere Seiten gewidmet hat, seine Untersuchung derselben plötzlich von vorne an mit λαβωμεν ουν αλλην αρχην της σκεφεως, und Das sechs Mal in einer Schrift; daher paßt auf so viele Exordien seiner Bücher und Kapitel das quid feret hic tanto dignum promissor hiatu; daher, mit Einem Wort, ist er so oft konfus und ungenügend. Ausnahmsweise hat er es freilich anders gehalten; wie denn z. B. die drei Bücher Rhetorik durchweg ein Muster wissenschaftlicher Methode sind, ja, eine architektonische Symmetrie zeigen, die das Vorbild der Kantischen gewesen seyn mag.

Der radikale Gegensatz des Aristoteles, wie in der Denkungsart, so auch in der Darstellung, ist Platon. Dieser hält seinen Hauptgedanken fest, wie mit eiserner Hand, verfolgt den Faden desselben, werde er auch noch so dünn, in alle Verzweigungen, durch die Irrgänge der längsten Gespräche, und findet ihn wieder nach allen Episoden. Man sieht daran, daß er seine Sache, ehe er an’s Schreiben ging, reiflich und ganz durchdacht, und zu ihrer Darstellung eine künstliche Anordnung entworfen hatte. Daher ist jeder Dialog ein planvolles Kunstwerk, dessen sämmtliche Theile wohlberechneten, oft absichtlich auf eine Weile sich verbergenden Zusammenhang haben und dessen häufige Episoden von selbst und oft unerwartet zurückleiten auf den, durch sie nunmehr aufgehellten Hauptgedanken. Platon wußte stets, im ganzen Sinne des Worts, was er wollte und beabsichtigte; wenn er gleich meistens die Probleme nicht zu einer entschiedenen Lösung führt, sondern es bei der gründlichen Diskussion derselben bewenden läßt. Es darf uns daher nicht so sehr wundern, wenn, wie einige Berichte, besonders im Aelian (var. hist. III, 19. IV, 9 etc.), angeben, zwischen dem Platon und dem Aristoteles sich bedeutende persönliche Disharmonie gezeigt hat, auch wohl Platon hin und wieder etwas geringschätzend vom Aristoteles geredet haben mag, dessen Herumflankiren, Irrlichterliren und Abspringen eben mit seiner Polymathie verwandt, dem Platon aber ganz antipathisch ist. Schillers Gedicht Breite und Tiefe kann auch auf den Gegensatz zwischen Aristoteles und Platon angewandt werden.

Trotz dieser empirischen Geistesrichtung war dennoch Aristoteles kein konsequenter und methodischer Empiriker; daher er vom wahren Vater des Empirismus, dem Bako von Verulam, gestürzt und ausgetrieben werden mußte. Wer recht eigentlich verstehn will, in welchem Sinn und warum dieser der Gegner und Ueberwinder des Aristoteles und seiner Methode ist, der lese die Bücher des Aristoteles de generatione et corruptione. Da findet er so recht das Räsonniren a priori über die Natur, welches ihre Vorgänge aus bloßen Begriffen verstehn und erklären will: ein besonders grelles Beispiel liefert L. II. c. 4, als wo eine Chemie a priori konstruirt wird. Dagegen trat Bako auf, mit dem Rath, nicht das Abstrakte, sondern das Anschauliche, die Erfahrung, zur Quelle der Erkenntniß der Natur zu machen. Der glänzende Erfolg desselben ist der gegenwärtige hohe Stand der Naturwissenschaften, von welchem aus wir mitleidig lächelnd auf diese Aristotelischen Quälereien herabsehn. In der besagten Hinsicht ist es sehr merkwürdig, daß die eben erwähnten Bücher des Aristoteles sogar den Ursprung der Scholastik ganz deutlich erkennen lassen, ja, die spitzfindige, wortkramende Methode dieser schon darin anzutreffen ist. — Zu demselben Zweck sind auch die Bücher de coelo sehr brauchbar und daher lesenswerth. Gleich die ersten Kapitel sind ein rechtes Muster der Methode aus bloßen Begriffen das Wesen der Natur erkennen und bestimmen zu wollen, und das Mißlingen liegt hier zu Tage. Da wird uns Kap. 8 aus bloßen Begriffen und locis communibusomnis natura vult esse conservatrix sui