Clare Clark wurde 1967 in London geboren und studierte Geschichte am Trinity College in Cambridge. Nach einem mehrjährigen USA-Aufenthalt lebt die Autorin wieder in London. Ihr Debüt, Der Vermesser (Hoffmann und Campe 2005), der im 19. Jahrhundert unter den Straßen von London spielt, wurde begeistert aufgenommen und wie auch der 2010 erschienene Roman Die französische Braut für den Orange Prize nominiert. 2007 erschien ihr ebenfalls im historischen London angesiedelte Roman Der Apotheker. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.
Für Charlie. Einfach nur für Charlie.
September 1666
Alle waren sich gewiss, dass das Feuer von selbst erlöschen würde, bevor es die Swan Street erreichte. In der Tower Street hatte man begonnen, für eine Feuerschneise Häuser zu sprengen. Sie hatte die Erschütterungen der Explosionen unter den Fußsohlen gespürt, als sie über ihrer Flickarbeit gebeugt saß, und obwohl die Fensterscheiben klirrten, war sie keineswegs beunruhigt. Im Gegenteil, sie fühlte sich völlig ruhig, ja sogar zufrieden. Die Schmerzen, die sie im siebten Monat schrecklich gequält hatten, ließen nach. Wenn das Kind um sich trat, strich sie in beruhigenden Kreisbewegungen über die Wölbung ihres Bauchs und summte dabei altvertraute Wiegenlieder, die ihr so selbstverständlich waren wie ihr eigener Atem.
In jener Nacht schlief sie tief und traumlos. Selbst als der Nachtwächter donnernd an die Ladentür pochte und rief, das Feuer sei im Anmarsch und alle, die im Bett blieben, würden unweigerlich bei lebendigem Leibe verbrennen, machte sie sich keine Sorgen. Ruhig stand sie auf und legte sich ihr Tuch um die Schultern. Denn trotz des heißen, trockenen Sommers wollte sie nicht riskieren, sich zu erkälten und dem Kind womöglich zu schaden.
Der Vogel musste im Kamin Zuflucht gesucht haben. Sein Kreischen drang aus dem Rauchfang und hallte gellend auf dem Metall wider, bevor er wie ein Stein auf den leeren Rost stürzte, mit lichterloh brennenden Flügeln, die zuckende Schatten an die Wand warfen. Aus Flammenzungen stiegen Rauchkringel auf, als das Tier verzweifelt flatternd um sich schlug, die Knopfaugen starr vor Entsetzen. Neben dem Kaminrost stand ihr mit Stoffresten gefüllter Nähkorb, der mit Funken übersät war. Träge, fast wie ermüdet allein von der Vorstellung, verbrennen zu müssen, begann ein helles Stück Musselin zu schwelen. Als es schließlich Feuer fing, geschah es mit einem plötzlichen Auflodern und einem gedämpften Seufzer der Überraschung. Die Flammen griffen rasch um sich. Unter dem Gestank verbrannter Federn stach der unverwechselbare Geruch gerösteten Fleisches hervor.
Da floh sie die Treppe hinunter, hinaus ins Freie, die Schöße ihres Nachtgewands raffend. Auf den Straßen drängten sich Menschen, die schreiend und einander stoßend aufgeregt hin und her liefen. Über ihnen loderte das Feuer wie ein gewaltiger, von rußigem, ölig schwarzem Rauch gesäumter Bogen. Der Wind heulte und tobte zwischen den Höllenflammen wie ein Rudel Hunde, stachelte das Feuer weiter an, forderte es heraus, trieb es vorwärts. Plötzlich drehte sie sich um.
Mr Black. Sie hatte gar nicht an ihren Mann gedacht. Funken stoben auf und schwirrten ihr wie wild gewordene Bienen vor dem Gesicht. Die Glasscheiben der Fenster schrumpften zu gelbem Pergament. Jemand schrie und prallte mit solcher Wucht gegen sie, dass sie fast zu Boden geschleudert wurde. Fast besinnungslos taumelte sie weiter, kämpfte sich durch den Strom von Menschen, der sich hinunter zum silbrig schimmernden Fluss ergoss, auf Rettung hoffend. Über ihr kreisten Vögel mit gellendem Geschrei und malten Flammenbögen in den Himmel. Staub und Rauch brannten ihr in Augen und Kehle, sodass ihr das Atmen wehtat.
Auf der Cheapside war der Rinnstein scharlachrot von geschmolzenem Blei, dem flüssig gewordenen Dach der mächtigen St.-Paul’s-Kathedrale. Der Lärm war ohrenbetäubend. Ihre Schreie wurden übertönt von den Menschenmassen, dem panischen Wiehern von Pferden, dem Krachen und Donnern einstürzender Häuser und dem mörderischen Geheul des Windes, der die Flammen immer weiter vorwärtspeitschte. Hinter ihr brachen die Holzbalken des Kirchturms mit schrecklichem Getöse entzwei. Die Zeit stand still, als sie sich umwandte und die Hände vors Gesicht schlug, das ihr weit entfernt schien und gefühllos wie Wachs. Eine Feuersäule, so hoch wie ein Schiffsmast, stand schwankend über ihr, die Flammen gebläht wie ein Segel. Erst ein grollender Donner wie ein letztes Zögern, dann ein Ächzen, und schon stürzte die Säule in einer Explosion aus Rot, Gold und Schwarz in sich zusammen und schleuderte Hunderttausende leuchtender Flammenzungen in die Luft.
Panische Angst lähmte ihr die Glieder und ließ die Gedanken in ihrem Kopf zu weicher weißer Asche verglühen. Sie konnte nichts tun, nichts denken. Der Atem in ihren Lungen wurde heiß und schal. Das Kind in ihrem Bauch schlug wie rasend um sich und rammte ihr seine Ellbogen ins Fleisch, aber auch das vermochte sie nicht wachzurütteln. Empfindungslos und ohne jede Antriebskraft stand sie einfach nur da, als wäre sie verhext, mit leerem Blick, das vom Feuer gerötete Gesicht nach oben zu den Flammen gerichtet. Hätte die Frau des Metzgers sie nicht mit ihrer derben roten Hand am Arm gepackt und zum Kai gezerrt, sie wäre zweifellos dort stehen geblieben und verbrannt.
Jahre später, bei einer der wenigen Gelegenheiten, da er sich erlaubte, von ihr zu sprechen, erzählte ihm sein Vater, dass sie danach, als alles vorüber war, bekannte, sie habe geglaubt zu träumen, so losgelöst war sie vom Gliederwerk ihres Körpers und der Gefahr, in der sie schwebte. In ihrer unfassbaren Angst hatte sie aufgehört zu denken und nur noch auf ihren versteinerten Leib geblickt und mit einer Art Gleichmut das Herannahen der unvermeidlichen Katastrophe verfolgt, wohl wissend, dass sie nur darauf wartete herauszufinden, was für Qualen ihr bevorstanden.
Sie hatte gewartet, aber sie hatte nicht gebetet. Denn so sicher sie sich war, in dieser glühenden scharlachroten Hölle vernichtet zu werden, so sicher wusste sie, dass Gott nicht ihr Vater im Himmel war, sondern eine Feuersäule, rachsüchtig und ohne Gnade.
1718
Später, als mir klar wurde, dass ich ihn überhaupt nicht geliebt hatte, fuhr mir der Schrecken in die Magengrube, ein Gefühl wie beim Treppensteigen im Finstern, wenn man sich verzählt und auf eine Stufe tritt, die gar nicht vorhanden ist. Es war nicht mein Herz, das so durcheinandergeraten war, sondern mein Gleichgewicht. Ich hatte noch nicht gelernt, dass es möglich war, einen Mann innig zu begehren, ihn dabei aber kein bisschen zu lieben.
Oh, wie ich mich nach ihm sehnte. Wenn er nicht da war, vergingen die Stunden so langsam, dass man hätte meinen können, die Sonne wäre am Himmel eingeschlafen. Ich wartete den lieben langen Tag am Fenster, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen, wenn er kam. Jedes Mal, wenn jemand aus den Bäumen heraus um die Ecke bog, machte mein Herz einen Satz, meine Haut fiebrig vor Erwartung, auch wenn mir meine Augen sagten, dass dieser Jemand nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte. Selbst bei Slack, dem Metzger, der vom Scheitel bis zur Sohle höchstens eins fünfzig, dafür aber um die Leibesmitte deutlich mehr maß und dessen Arme so erbärmlich kurz waren, dass er Mühe hatte, die Fingerspitzen in seine Rocktasche zu schieben. Dann wandte ich mich schnell ab, die Wangen heiß, schwankend zwischen Scham und Belustigung. Wie hätte sich dieser biergetränkte Kloß die Lippen geleckt, hätte er gewusst, welchen inneren Aufruhr mir sein Anblick bereitete – dieses Aufflammen der Begierde zwischen meinen Schenkeln, das mich vor köstlicher Vorfreude die Fingernägel in die Handballen graben und mir die Haut im Nacken kribbeln ließ.
Im staubig dämmrigen Licht des oberen Zimmers lehnte ich mich atemlos an die Wand, hob die Röcke und presste meine Hand auf die zarte Moschusblüte. Sofort teilten sich die Lippen, der schwellende Mund saugte gierig an meinen Fingern und umschloss sie mit kräftiger Inbrunst. Wenn ich schließlich die Hand an den Mund führte, um an ihr zu lecken, und dabei an das leidenschaftliche Drängen seiner Zunge dachte, an das Aroma der geheimsten Winkel meines Körpers auf seinem heißen roten Mund, musste ich mir auf die Fingerknöchel beißen, um nicht vor unerträglichem Verlangen laut aufzuschreien.
O ja, ich brannte vor Verlangen nach ihm, mit jeder Faser meines Körpers. Ein Hauch des Orangenwassers, das er so gern hatte, sein seidenes Taschentuch an meiner Wange, die Erinnerung an den goldenen Saum seiner Wimpern oder die zarten Windungen seines Ohrs – das und noch weniger genügte, dass mein Mund trocken wurde und sich das Fleisch zwischen meinen Beinen in flüssigen Honig verwandelte. Wenn er bei mir war, wurde meine spitze Zunge weich wie Butter. Ich, die die anderen Mädchen wegen ihrer törichten Schwärmereien stets verspottet hatte, konnte kaum mehr atmen. Nicht einmal die Unzulänglichkeiten seines Gesichts, das mädchenhafte Rosa seiner feuchten Lippen oder die fliehende Linie seines Kinns, vermochten meine Leidenschaft zu dämpfen. Im Gegenteil, gerade diese Unvollkommenheit entflammte mich. In seiner Nähe konnte ich nur noch daran denken, ihn zu berühren, ihn zu besitzen. Am makellosen Glanz seiner Haut war etwas, das meine Fingerspitzen magnetisch zu ihm hinzog. Ich musste die Hände im Schoß verschränken, damit sie stillhielten.
Das Verlangen berauschte mich so sehr, dass ich ihn kaum ansehen konnte. Wir saßen zusammen vor dem leeren Kamin, ich im Schaukelstuhl, er auf einem Schemel mir zu Füßen. Mutters Stricknadeln klapperten im Sekundentakt, obwohl sie den Blick entschlossen auf die Wand gerichtet hielt. Ich hingegen betrachtete seine Hände, diese schmalen Hände mit den langen, zarten Fingern und Nägeln wie rosa Muscheln. Ungeduldig baumelten sie zwischen seinen Beinen, verschlangen sich zu komplizierten Knoten.
Es kam mir nie in den Sinn, ihm meine Hand zu reichen, damit er sie hielt. Langsam, als wollte ich es mir ein wenig bequemer machen, schürzte ich leicht den Rock und ließ die weiße Haut meiner Waden sehen. Seine Hände begannen unbeherrscht zu zucken. Da hob ich meine Unterröcke noch ein bisschen höher. Die Finger seiner rechten Hand streckten sich nach mir, zögerten nur einen Augenblick. Ich spürte ihre Hitze, obwohl er mich noch gar nicht berührt hatte. Meine Beine zitterten. Und dann waren seine Fingerspitzen auf meiner Haut und liebkosten den sanften Spalt meiner Kniekehle.
Die unbändige Begierde, die in meinem Leib aufwallte, presste mir den Atem aus den Lungen. Ich keuchte unwillkürlich. Stumm hob er die andere Hand und legte sie mir auf den Mund. Ich küsste sie, leckte an ihr, biss hinein. Er stöhnte sanft. Unter meinen Röcken bewegte sich seine rechte Hand geschmeidig über meine Haut, sodass die feinen Härchen auf meinen Schenkeln zu winzigen Feuerblumen entflammten. Ich glitt näher zu ihm, die Beine gespreizt, und schloss die Augen, sog den Ledergeruch seiner Hand auf meinem Gesicht ein. Jeder Nerv meines Körpers fieberte seiner Berührung entgegen, als sich seine Hand unaufhaltsam, wundergleich, immer höher schob.
In entfesselter Begierde bog mein Leib sich ihm entgegen. Als er mich schließlich im Innersten berührte, gab es nichts mehr, nichts mehr auf der Welt als seine Finger und die rasende, unfassbare Verzückung, die sie kreisend durch meinen Körper schickten, als wäre ich ein Instrument, das himmlische Engelschöre zum Erklingen brachten. War er zu einem Engel geworden? Meine Zehen in den Stiefeln verkrampften sich, und in einem Augenblick der Stille, als die Flamme strahlend hell erzitterte, reckte sich mein Bauch empor. Ich hielt den Atem an. Die Explosion zerriss mich in eine Million glitzernder Stücke, die Dunkelheit meines Bauchs erstrahlte vom Funkeln der Sterne. Als ich schließlich die Augen aufschlug und ihn anblickte, glitzerten Tränen auf meinen Wimpern. Er hob einen Finger an die Lippen und lächelte.
Oh, dieses Lächeln! Wenn er lächelte, zog er den einen Mundwinkel ein wenig höher, sodass sich auf seiner rechten Wange ein Grübchen bildete. Dieses Grübchen war für mich beredter als seine ach so blauen Augen. Und es war gewiss hundertmal vielsagender als seine Worte, die meist nur stockend und abgehackt herauskamen und häufig von unverständlichen Ausrufen unterbrochen waren. Selbst heute noch, nach so langer Zeit, wo es mich Mühe kostet, mir jenes Mädchen zu vergegenwärtigen, kann mich die Erinnerung an dieses winzige Grübchen in Unruhe versetzen. Damals war mir, als berge diese makellose Delle ein Geheimnis, etwas unvorstellbar Wunderbares, das nur mir allein offenbar würde. Denn wie jeder Mensch, der zum ersten Mal in den Bann des körperlichen Verlangens gerät, hielt ich mich für eine Pionierin, eine Entdeckerin von etwas, das vor mir noch niemand erblickt hatte, von etwas gänzlich Außergewöhnlichem. Ich war gottähnlich, allmächtig, ein Alchimist, der durch einen Zauber gewöhnliches Fleisch in Gold verwandelt hatte.
Hätte man mich damals gefragt, hätte ich gesagt, ich liebe ihn. Wie sonst hätte ich erklären können, wie ungeheuer lebendig ich mich dank seiner fühlte? Erst später, als die Begierde nachgelassen hatte, erkannte ich, dass keineswegs er es war, den ich liebte, sondern ich selbst – diejenige, zu der ich wurde, wenn er mich berührte. Ich hatte mich nie für besonders hübsch gehalten. Meine Lippen waren zu dick, meine Nase war zu wenig gebieterisch, meine Augen unter den dichten Brauen standen zu weit auseinander. Mein Gesicht hatte nicht die Porzellanfarbe, die ich mir insgeheim wünschte. Stattdessen lag auf meinem Gesicht ständig ein schläfriger, leicht gekränkter Ausdruck, als wäre ich eben erst aufgewacht. Aber wenn er mich berührte, war ich wunderschön. Erst danach, wenn er sich in aller Form von meiner Mutter verabschiedete und sich zum Heimgehen anschickte, wurde ich wieder zu einem gewöhnlichen Mädchen, das mit seinen plumpen Stiefeln wie angewurzelt auf dem kalten Steinboden stand.
Von Anfang an behandelte er meine Mutter von oben herab, sprach zu ihr mit übertriebener Höflichkeit, als wollte er sich über sie lustig machen. Sie wiederum warf bei jeder seiner salbungsvollen Unaufrichtigkeiten den Kopf in den Nacken, die ihr eigene argwöhnische Miene von mädchenhaftem Eifer beseelt.
»Stets Ihr ergebenster Diener, Madam. Ich kann mir kein größeres Privileg vorstellen, als Ihnen zu Dank verpflichtet zu sein«, lautete gewöhnlich sein Spruch, bei dem er sich tief verbeugte, bevor er sich in den Schaukelstuhl fallen ließ und meiner Mutter erlaubte, ihm die Stiefel aufzuschnüren. Er gab sich nicht die Mühe, sie anzusehen, wenn er zu ihr sprach. Mit der Zunge befeuchtete er die Lippen, wenn er mir sein träges Lächeln zuwarf und den Blick über meinen Hals und den Ansatz meiner Brüste schweifen ließ.
Ich schäme mich, es zu gestehen, aber in jenen Augenblicken kümmerte es mich nicht im Geringsten, dass er sie demütigte. Er hätte meine Mutter eine Hure schimpfen oder sie als Königin von Saba preisen können, es wäre mir einerlei gewesen. Die Höflichkeitsfloskeln waren eine lästige Pflicht, doch mein Herz pochte so laut in meinen Ohren, dass ich sie kaum hörte. Ich dachte nur an den schweren Atem in meiner Brust, das erwartungsvolle Prickeln zwischen meinen Schenkeln. Solange er mich berührte, solange er mich anlächelte, mich liebkoste und seine Finger auf meinen bis zum Zerreißen gespannten Nerven eine Melodie spielten, die mich erbeben ließ, verlor ich keinen Gedanken an die Würde meiner Mutter. Solange dieses winzige Grübchen auf seiner Wange meinem Herzen seine Geheimnisse zuflüsterte, hätte er ebenso gut seinen Degen ziehen und meiner Mutter den Kopf abschneiden können. Ich hätte einen Grund gefunden, ihr die Schuld an dieser Untat zu geben.
Wenn ich zuließ, dass meine Begierde mich blind machte für seine Fehler, so galt dies auch für meine Mutter, nur dass ihre Begierde nicht zwischen ihren Schenkeln aufwallte, sondern in den dunklen Winkeln ihres Geldbeutels. Doch ihre Begierde war mindestens ebenso heftig wie die meine und ließ sie vor atemloser Erwartung erbeben. Ein Mal, nur ein einziges Mal, als ich verärgert war, machte ich mich über sein geheucheltes vornehmes Getue lustig. Nun ja, ich war verärgert. Wenn meine Mutter ihm etwas zu essen anbot, lehnte er gewöhnlich ab und behauptete, er habe keinen Appetit, starrte mich dabei aber mit unverhohlener Gier an. Dieses eine Mal jedoch lächelte er sie an und nicht mich und machte sich genüsslich und mit überschwänglichem Lob über einen Teller her, den sie ihm hingestellt hatte.
»Der feinste Hammelbraten, den du je gegessen hast?«, sagte ich, ihn höhnisch nachäffend. »Hältst du uns für solche Bauerntölpel, dass wir dein Geschwätz einfach schlucken? Aber wahrscheinlich sollten wir dankbar sein, dass wir überhaupt etwas zu schlucken haben. Eine Handvoll schaler Komplimente – vielleicht sollen wir uns daraus ein Essen zaubern, Mutter, jetzt, wo kein Fleisch mehr da ist?«
Er sagte nichts, sondern zog nur matt eine Augenbraue hoch und kaute mit fettverschmiertem Kinn weiter. Aber meine Mutter warf mir einen Blick zu, so giftig, dass sie damit einen Adler vom Himmel hätte schießen können. Als er gegangen war, gab sie mir einen Klaps auf den Kopf und wies mich wütend zurecht, ich solle endlich lernen, den Mund zu halten. Ob ich mich denn nicht ein wenig in Demut üben könne? Schließlich sei er der Sohn des reichen Kaufmanns Josiah Campling aus Newcastle, dessen Vater wiederum mit der Verschiffung von Kohle in den Hafen von London ein ansehnliches Vermögen erworben und der nun das Familienunternehmen um den noch lukrativeren Handel mit Negersklaven erweitert habe. Zwar sei der Junge nicht sein Erstgeborener, wohl wahr, aber es sei dennoch genügend Geld vorhanden, um ihm ein Leben in Wohlstand zu sichern. Die Familie wohnte in einem prächtigen neuen Haus etwa acht Kilometer von unserem Dorf entfernt. Dort ganz in der Nähe war ich ihm zum ersten Mal begegnet, als er von seinem Pferd gestiegen war, um uns beim Einbringen der ersten Ernte zuzusehen. Es war ein heißer Tag, und als wir die Plackerei unterbrachen, um im Schatten der Eichen etwas zu Mittag zu essen, hing der Staub des gedroschenen Weizens wie ein Gazetuch vor dem blauen Himmel. Lachend rief er zu uns herüber, er sei am Verdursten und wir hätten doch gewiss die Güte, ihm ein wenig zur Erfrischung übrig zu lassen. Den Apfelwein, den ihm eines der Mädchen anbot, nahm er dankend entgegen, und während er die Lippen an den Hals der irdenen Flasche legte, waren seine Augen auf mich geheftet. Entschlossen, nicht zu erröten, hielt ich seinem Blick stand. Als er die Flasche schließlich absetzte, lächelte er. Damals wusste ich bereits, dass ich verloren war. An jenem Abend, als die Schatten der Dämmerung durch die Hecken brachen, spazierte er mit mir den weißen Feldweg entlang und küsste mich. Um uns her im schwindenden Licht wogten die Kerbelblüten wie Seifenblasen und verströmten ihren schweren, betörenden Duft. Er verriet mir nicht seinen Namen. Das war auch nicht nötig. Denn ich wusste, wer er war. Wir alle wussten es. Wir wussten von der Sammlung chinesischen Porzellans, die die Dienstmägde täglich abstauben mussten. Wir wussten von den Kleidern, der Kutsche und dem See, in dem exotische goldene Fische schwammen. Wir wussten, dass die Kinder dieser Familie angehalten waren, vorteilhafte Ehen einzugehen.
Was mich betraf, so war meine Mutter nur die Hebamme des Dorfes, geachtet und damals auch noch achtbar. Nach der Sonntagsmesse nahm sie der Vikar bei der Hand und wechselte mit ihr ein paar Worte über das Wetter. Für die Camplings jedoch war sie so unbedeutend wie die Fliege dem Tiger. Mein Vater war bis zu seinem Tod selbst Vikar gewesen, und meine Mutter hatte stets Mühe gehabt, mit seinem mageren Lohn den Lebensunterhalt einer ganzen Familie zu bestreiten. Meine sieben Geschwister, die offensichtlich mehr Verständnis für ihre Schwierigkeiten hatten, machten es ihr ungewollt leicht, denn keines von ihnen fiel ihr lange zur Last. Als einziges ihrer Kinder war ich über den fünften Geburtstag hinaus am Leben geblieben. Wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich ein ängstlich besorgtes Gesicht vor mir, beschattet von einem Hut mit runder Krempe, und höre eine Stimme, die dem kalten Kirchengemäuer verhaftet war wie Spinnweben. Er war kein großer Prediger. Wenn er von Gott sprach, wählte er vielmehr seine Worte vorsichtig und bedachtsam wie ein erschöpfter Diener, der über seinen launischen Herrn redet. Mehr als alles andere verabscheute mein Vater religiöse Schwärmerei und Inbrunst, und sein besonderer Widerwille galt den zwiebelmampfenden papistischen Bauern Frankreichs. Als er an einer Rippenfellentzündung erkrankte und starb, war ich sieben Jahre alt. Meine Mutter sagte zu mir, Gott habe ihn in den Himmel geholt; da tat es mir ein wenig leid um ihn. Denn obwohl meine Mutter darauf beharrte, dass der Himmel ein Paradies der ewigen Glückseligkeit sei, ging mir das Bild nicht aus dem Kopf, wie mein Vater mit seiner üblichen, um Fassung ringenden Miene mühsam das himmlische Feuer schürt und die gestärkten Schwingen der Engel säubert, damit sie sie morgens wieder anlegen können.
Von da an waren meine Mutter und ich allein. Mama Tally, wie sie gemeinhin genannt wurde, war aber mehr als nur eine Hebamme. Da ihre Arzneien für ihre Wirksamkeit berühmt waren, wurde sie häufig zurate gezogen, wenn die übliche Medizin versagt und dem Patienten keine Heilung gebracht hatte. Sie mischte ihre Mittelchen aus Wasser, Kräutern und Wurzeln, die sie selbst sammelte. Dabei achtete sie darauf, jedes Kraut zum günstigsten Zeitpunkt und am geeignetsten Ort aufzulesen, und sie brauchte weder Waage noch Messbecher, weil sie aus dem Gefühl heraus wusste, welche Menge welcher Zutat für ihre zahlreichen Arzneitränke und Salben nötig war. Viele ihrer Mittel hatten eine solche Heilkraft, dass sie, wäre sie ein Mann gewesen, mit den daraus erzielten Einnahmen wohl reich geworden wäre.
Doch wie allen Hebammen war es ihr per Gesetz untersagt, sich ihre Dienste bezahlen zu lassen, und deshalb war sie auf Geschenke ihrer Patienten angewiesen – ein unsicheres Geschäft, da deren Großzügigkeit meist im umgekehrten Verhältnis zur Fülle ihres Geldbeutels stand. Von Zeit zu Zeit war genügend Geld vorhanden, um mir den Besuch der Dorfschule zu erlauben. Dort lernte ich das Alphabet und leidlich gut lesen. Bis ich groß war, meisterte ich die Wörter in sämtlichen Volksbüchern der kleinen Schulbücherei, und meine Handschrift war ganz ordentlich, wenn auch nicht elegant. Für eine Aussteuer jedoch blieb nie genug übrig. In den Momenten, da meine Mutter gut gelaunt war, wollte sie mich glauben machen, das spiele keine Rolle. Mein Gesicht, meinte sie bedächtig, sei wohl nicht als hübsch im landläufigen Sinn zu bezeichnen, strahle aber eine Sinnlichkeit aus, die mir nützlich sein könne, wenn ich sparsam damit umginge. Mädchen von schönem Äußeren, erklärte sie, könne man in zwei Klassen einteilen: jene, die Männer gern in Glasvitrinen ausstellen wie Püppchen, und jene, deren sie sich lieber anderweitig bedienen. Ich gehörte, so versicherte sie mir, zur letzteren Art. Das Versprechen, das in einem Gesicht wie dem meinen liege, könne einen Mann sehr wohl dazu bewegen, wider besseres Wissen zu handeln.
Ich glaubte ihr, weniger weil ich ihr recht gab, sondern weil mich die Sache kaum oder überhaupt nicht interessierte. Ans Heiraten hatte ich keinen Gedanken verschwendet, bevor ich ihn traf. Meine Träume drehten sich allein um Newcastle, eine prächtige Stadt, viele Kilometer von den Grenzen unserer unbedeutenden kleinen Gemeinde entfernt. Ich war ungefähr sechzehn, eine Frau, die man vielleicht schon längst hätte in die Welt hinausstoßen sollen, damit sie ihren eigenen Weg fand, wäre meine Mutter nur bereit gewesen, mich loszulassen. Ich war halsstarrig und eigensinnig, aber dennoch jung für mein Alter, und ich beherrschte noch nicht die heikle Kunst des Scharfsinns und der Besonnenheit. Stets lebte ich nur für den Augenblick; entweder war ich himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, dazwischen gab es wenig anderes. Einem Mädchen von solcher Gefühlsart fällt es leicht, für diese widersprüchlichen Empfindungen eine höchst einfache Erklärung zu finden, und das tat ich auch: War ich mit ihm zusammen, fühlte ich mich glücklich und rundum lebendig; ohne ihn jedoch schleppten sich die Tage endlos dahin, trostlos und öde wie ein Acker im Winter. Ich war hingerissen von dieser schlichten Regel.
Keinem von uns beiden kam es in den Sinn, über die Zukunft zu reden. Wenn er mich zauberhaft, wunderbar und köstlich nannte, legte ich ihm meinen Finger auf die Lippen, damit sie schwiegen und sich warm und drängend auf die meinen senkten. Er beschenkte mich mit Kleidern, aber es war meine Mutter, die beim Anblick des scharlachroten Wollunterrocks mit breiter Spitzenborte und des schwarzen, mit blauem Samt gesäumten Schultertuchs vor Staunen und Freude in die Hände klatschte. Sie räumte die Sachen in den Wäscheschrank und zog dabei eine Miene, dass ihr braunes Gesicht an einen runzligen alten Apfel erinnerte. Das Sonett hingegen, das er mir zu Ehren gedichtet hatte, hätte ich am liebsten auf der Stelle verbrannt, bevor ich darin womöglich eine beleidigende Taktlosigkeit entdecken würde, doch meine Mutter bestand darauf, es in ein sauberes Tuch einzuschlagen und in der Blechbüchse auf der Anrichte aufzubewahren.
»Wir kriegen ihn«, murmelte sie triumphierend. »O mein Mädchen, wir kriegen ihn, du wirst sehen.«
Es war ein Spiel für sie, das ist mir jetzt klar, und ich mache ihr keinen Vorwurf daraus. Sie wusste, dass das Wagnis beträchtlich war und die Gefahr des Scheiterns groß. Aber sie wusste auch, dass uns die Zeit davonlief, ihr ebenso wie mir. Es hatte schon angefangen, dieses Getuschel und Geraune, das ihr zum Verhängnis werden sollte. Nichts Ungewöhnliches, wenn eine Frau alt und mürrisch wurde und die Befürchtung aufkam, sie könnte der Gemeinde zur Last fallen. Meine Mutter heischte nicht nach Almosen, aber der Gries in ihrem Urin machte sie reizbar und unleidlich. Selbst ihre eigenen, sorgfältig gemahlenen Präparate verschafften ihr kaum Erleichterung.
Es hätte keine von uns beiden überraschen sollen, dass man anfing, mit Fingern auf unser Häuschen zu zeigen. Einige Kinder im Dorf waren von seltsamen, unerklärlichen Malaisen befallen worden. Der Sohn des Bäckers, mit dem meine Mutter zornige Flüche austauschte, hatte Nadeln erbrochen; ein anderes Kind war fast zu Tode erschrocken, als ihm nachts plötzlich Katzen erschienen, die ebenso schnell wieder verschwanden.
Es spielte keine Rolle, dass es sich bei Letzterem um ein Kind handelte, das meine Mutter kaum kannte und mit dem sie keinen Streit hatte. Gerüchte kamen auf, sie würde in einer Lederschatulle unter ihrem Bett die Nachgeburt oder gar die Glückshaube der Säuglinge aufbewahren, denen sie zur Geburt verholfen hatte, um sich damit an jenen zu rächen, die ihr in die Quere kamen. Osborn, der Krämer, behauptete, die Zünglein seiner Waage würden von selbst in Bewegung geraten, sobald sie einen Fuß in seinen Laden setze. Nicht lange danach verabredeten mehrere Frauen im Dorf, die es sich finanziell leisten konnten, nach dem männlichen Geburtshelfer zu schicken, wenn die Zeit ihrer Niederkunft käme. Als eines dieser Neugeborenen die Mutterbrust verweigerte, machte flugs das Gerücht die Runde, Mama Tally habe dem Kind aus Missgunst den Appetit geraubt.
Aber nicht alle gingen ihr aus dem Weg. Ihr Mittel gegen Wassersucht, zusammengerührt nach einem Geheimrezept aus siebzehn Zutaten, darunter Holunder, Rote Betonie und Fingerhut, war nach wie vor begehrt. Doch unsere Nachbarn begegneten ihr nun mit einer gewissen Vorsicht, mit einem leisen, aber herben Anflug von Angst und Argwohn, der aufstieg wie der Geruch ungewaschener Haut bei einem Kind, das man zu lange in die Winterkleider eingenäht hatte. Meine Mutter tat das alles als Torheit ab und erklärte, Worte seien nur Schall und Rauch und könnten ihr nichts anhaben, aber sie war zu klug, um nicht besorgt zu sein. Und so kam es, dass sie darüber nachsann, wie sie die Zukunft sichern könnte, die ihre und die meine. Eine Gelegenheit, wie sie sie in Gestalt des jungen Campling sah, bot sich einem im Leben nur einmal und auch dann nur, wenn man sehr viel Glück hatte. Meine Mutter hatte nicht die Absicht, sie ungenutzt verstreichen zu lassen.
Die zweite Ernte wurde eingebracht, obwohl es heftig regnete. Seine Lippen wurden gieriger, seine Hände drängender, und ich presste mich an ihn, versank in seiner Umarmung. Unter den gekrümmten Schultern meiner Mutter klickten die Stricknadeln immer schneller und immer lauter, und aus ihrem Atmen wurde fast ein Summen. Dann, an einem stürmischen Nachmittag, räusperte er sich, um sie zu fragen, ob sie sich denn nicht in einem anderen Zimmer mit etwas beschäftigen könne. Worauf sich meine Mutter mit unnatürlich höflicher Miene zu ihm umwandte, die Stricknadeln in Händen.
»Und was würde dann aus der Ehre meiner Tochter?«, fragte sie ruhig. »Freilich gibt es noch eine andere Möglichkeit, Sir.«
Die Feier fand kaum eine Woche später statt. Er tat, worum man ihn gebeten hatte, gab sich aber keine Mühe, seine Belustigung zu verhehlen. Meine Mutter sah ihn mit bohrendem Blick an, als sie die erforderlichen Worte sprach. Als Hebamme hatte sie viele Neugeborene getauft, die zu schwach gewesen waren, um wenigstens so lange am Leben festzuhalten, bis der Pfarrer eingetroffen war. Dadurch hatte sie im Laufe der Jahre einen Tonfall von solch ergreifender Frömmigkeit vervollkommnet, dass manch ein schwafelnder Sonntagsprediger vor Neid erblasst wäre. Die Kusine meiner Mutter, Wirtin eines halbwegs respektablen Gasthauses ein paar Kilometer nördlich unseres Dorfes, hatte überredet werden können, ihr Geschäft für ein, zwei Tage im Stich zu lassen, um als unsere Trauzeugin dabei zu sein. Sie nahm am Fenster Platz, und die Faltensäcke an ihrem Hals zitterten vor Rührung, als sie sich das Taschentuch an den Mund presste. Ich trug meinen scharlachroten Unterrock und ein Mieder, das meine Mutter verkleinert und umgenäht hatte, damit es die blasse Schwellung meiner Brüste möglichst gut zur Geltung brachte. Als sie den Besen auf den Boden legte und wir sodann rückwärts mit ineinander verschränkten Fingern darüberhüpften, hatte ich feuchte Hände und konnte an nichts anderes denken als an seinen Mund auf meinen Brustwarzen und seine Hand zwischen meinen Schenkeln. Danach tranken wir den französischen Champagner, den er mitgebracht hatte. Als der Wein von mir Besitz ergriff und seine goldenen Finger über meine Haut gleiten ließ, begehrte ich ihn so inständig, dass mich meine Beine kaum noch trugen. Meine Mutter bat ihn, ein paar Worte zu sprechen, aber er schüttelte den Kopf und erklärte, es sei nun genug mit diesem bäuerlichen Firlefanz. Damit beugte er sich über mich. Seine Augen gierten vor Wollust, und ich sah mich in ihnen gespiegelt, als ich mich seinem Kuss überließ. Mit einer Verbeugung zu den beiden Frauen ergriff er meinen Arm und führte mich in den Raum nebenan, in das Schlafzimmer, das ich mit meiner Mutter teilte. Die Tür schloss sich hinter uns.
Einmal hatte ich zufällig gehört, wie eine meiner Tanten meiner Mutter zuflüsterte, es lohne sich nur dann, die Entwürdigung durch die Ehe in Kauf zu nehmen, wenn man anschließend die Vorzüge der Witwenschaft genießen könne. Als ich mich dieses Satzes erinnerte, während ich mir die Unterröcke vom Leib riss, tat mir die Tante leid. Sie hatte nie einen Ehemann gehabt, nach dem sie sich so hemmungslos verzehrte, dass es schier wehtat. Sie kannte nicht dieses Gefühl, einen Ehemann in die Arme zu schließen und sich im vollkommenen Glück des Sinnestaumels zu verlieren.
Meine Erinnerungen an diesen Nachmittag sind bruchstückhaft, hell, aber trügerisch, und scharfkantig wie die Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Ich weiß noch, dass es dunkel wurde, worauf er ein Binsenlicht entzündete und auf den Boden stellte, das seltsame Schatten auf die schweren Bettvorhänge warf. Ich erinnere mich an den salzigen Geruch der Flamme, an den Gestank des verbrennenden Fetts und das süß duftende Betttuch, das ich eigenhändig gewaschen, gestärkt und mit getrocknetem Lavendel in die Kiefernholztruhe gelegt hatte. Am deutlichsten jedoch erinnere ich mich, wie es mir in die Magengrube fuhr, als ich ihn zum ersten Mal nackt sah. Als kleine Mädchen hatten wir uns an Sommerabenden gern am Fluss versteckt, um heimlich den Bauernjungen zuzusehen, wenn sie sich auszogen, um schwimmen zu gehen. Ihre Körper waren kräftig und drahtig, die runden Muskeln bewegten sich wie unreife Früchte unter der sonnengegerbten Haut ihrer Arme. Das aprikosenfarbene Sonnenlicht glitzerte auf ihren braunen Schultern und verfing sich in den dunklen Dreiecken zwischen ihren Beinen.
Im Unterschied dazu war er bleich wie Milch, sein Fleisch weich und geschmeidig wie das eines Kindes. Aus dem blonden, spärlichen Haar zwischen seinen Lenden ragte seine Rute dick und rosafarben wie ein Rhabarberstängel hervor. Ich schloss schnell die Augen, zog ihn unter die Decke und dürstete nach dem ungeheuren Ansturm der Wollust, in die ich meinen Glauben setzte. Das Fleisch seiner Hinterbacken war nachgiebig und klebte ein wenig wie Brotteig. Ich liebkoste ihn zaghaft. Nie zuvor hatte ich seine Haut berührt. Er berührte mich jetzt kaum mehr. Er war gierig und grob, und alles war schnell vorüber. Wenig später machte er sich auf den Weg nach Hause, wo Geschäftsfreunde seines Vaters zum Abendessen erwartet wurden.
Wir waren verheiratet.
14. März 1718
Der Nachtwächter ruft die elfte Stunde, ich sollte zu Bett gehen. Meine Hand schmerzt & auch mein Magen (das Kalomel hat keine Erleichterung bewirkt, & mein Stuhl war hart wie Kiesel), aber nicht mein Herz, nicht heute Nacht, trotz der späten Stunde. Meine Abhandlung liegt so gut wie vollständig vor mir, das Titelblatt schimmert cremefarben im Kerzenschein, dass man meinen könnte, das Licht ströme aus den Blättern selbst hervor.
ÜBER DIE EINBILDUNGSKRAFT VON MÜTTERN. EIN TRAKTAT VON GRAYSON BLACK.
Was für ein Schauder mich bei der Vorstellung ergreift, meine Schrift in den Händen der gelehrten Kollegen zu sehen, wie sie meine penibel gesetzten Worte erwägen, prüfen & – so Gott will – loben werden. In aller Bescheidenheit muss ich gestehen, dass mir die Analyse der physiologischen Folgen der Einbildungskraft meisterlich gelungen zu sein scheint. Natürlich muss die erhöhte Bluttemperatur einer Frau in heftiger Wallung die flüssigen Teile des Körpers erhitzen. & natürlich müssen sich die Salze innerhalb dieser Flüssigkeiten, wenn jene Wallungen sich abschwächen, innerhalb des Körpers ablagern, genauso wie sich Salz an der Wand eines sich abkühlenden Kochtopfs niederschlägt. Wo sonst könnten sie sich sammeln als im unvergossenen Blut der Menstruation? Es ist daher unvermeidlich, dass diese Salze in die noch ungehärteten Muskeln und Knochen des Fötus eindringen, wenn er das Menstruationsblut als Nahrung aufnimmt. Und so trägt das Kind das Zeichen der mütterlichen Leidenschaft wie das Siegelwachs die Prägung des Stempels.
In der Einfachheit dieses Vorgangs liegt eine Schönheit, die mich selbst jetzt noch anrührt, da ich dies schreibe. Besitzt diese These nicht die Merkmale aller großen wissenschaftlichen Entdeckungen: so klar, so schlicht, dass es, ist sie einmal ausgesprochen, geradezu unmöglich scheint, dass sie nicht schon immer bekannt war?
Freilich kann ich nicht leugnen, dass manche Ungereimtheiten fortbestehen, wenngleich nicht durch meine Schuld. Meine Feldforschung in der Gemeinde hat mir wenig mehr als Enttäuschung eingebracht. Die Schwierigkeiten liegen bei den Frauen selbst, die trotz meiner wiederholten Verwünschungen unfähig scheinen, sich länger als bis zur nächsten Sekunde an Einzelheiten ihres Tuns zu erinnern, & mit ihrer Zeit so gedankenlos umgehen wie die Fliegen. Doch auch wenn ich mich zur Geduld ermahne, weil das Wesen solcher Frauen nie zu ändern sein wird, muss ich gestehen, dass mir allmählich der Mut sinkt. Mit gehörigem Neid verfolgte ich letzten Freitag im Ärztlichen Kollegium die Vivisektion eines Hundes, denn mir selbst scheint es nicht zu gelingen, meine Frauen dazu zu bewegen, auch nur den Mund aufzumachen. Man sollte anstatt eines Hundes eine von ihnen nehmen; das würden sehr viele Kollegen aufs Äußerste begrüßen, und niemand würde ihr Ableben bedauern!
Der Sommer schüttete sein Füllhorn aus. Doch während die Früchte an den Hecken immer praller und süßer wurden, gerieten unsere Begegnungen immer schroffer und liebloser. Mein Unbehagen und mein Widerwille gegen seine weiße Fleischlichkeit hatten jedoch meine Lust nicht vermindert, sondern sogar noch angestachelt und geschärft, sodass ich mich entschlossen ihrer Befriedigung widmete, ohne irgendwelche Gefühle vorzugaukeln. Ich küsste ihn nicht mehr, ja eigentlich berührte ich ihn kaum noch, was ihm aber keineswegs missfiel; meine Kälte entfachte seine Begierde nur noch mehr. Er packte mich an den Armen und hielt sie – was mir wehtat – über meinem Kopf fest, während er tief in mich hineinstieß, mich in den Hals biss und mich anfeuerte, laut zu schreien. Wenn ich meine Beine um seine Hinterbacken schlang und ihn mit den Fersen anspornte, noch tiefer und härter einzudringen, verzerrte sich sein Gesicht in rasender Leidenschaft, dass es wie hasserfüllt aussah. So heftig unsere Wollust war, so schnell war sie befriedigt. Jeder von uns verstand es geschickt, sich Lust zu verschaffen. Ich konnte mich darauf verlassen, dass in meinem Bauch die Hitze explodierte, auch wenn sie bei jeder Begegnung immer schneller abkühlte. Dann wünschte ich nichts sehnlicher, als dass er endlich ging, und doch schmollte ich, wenn er sich ankleidete, oder lamentierte säuerlich über seinen überstürzten Aufbruch, erfüllt von einem Groll, den ich weder mäßigen noch verstehen konnte. Wenn ich ihn »meinen Ehemann« nannte, boshaft und mit Bedacht, wohl wissend, dass ihn das ärgerte, lachte er freudlos, und sein Adamsapfel hüpfte dabei auf und ab.
Genauso lachte er auch, als meine Mutter ihn bat, uns seiner Familie vorzustellen. Sein Vater sei ein Mann von aufbrausendem Wesen, erwiderte er, rotgesichtig und mit hervortretenden Augen, wie es für Menschen mit einem Übermaß an Blut typisch sei. Selbst unter günstigsten Umständen neige der Alte zu heftigen Gefühlsausbrüchen. Und die Umstände seien im Augenblick alles andere als günstig. Ein Schiff, an dem der Kaufmann bedeutenden Anteil besitze, sei kürzlich durch einen Überfall portugiesischer Freibeuter verloren gegangen, noch ehe man die Silberladung gegen Negersklaven habe eintauschen können. Angesichts des Gewinns, den die Investoren aus diesem Handel zu erzielen gehofft hatten, sei es ihnen nicht wirtschaftlich erschienen, das Schiff oder seine Ladung zu versichern. Diese unerfreuliche Neuigkeit sei per Brief zur Frühstückszeit überbracht worden, und das Gebrüll des außer sich geratenen Alten sei im ganzen Haus zu hören und so heftig gewesen, dass die Porzellanvasen wie Glocken gegeneinanderschlugen und die Pferde im Stall panisch wieherten.
Seither genüge schon die geringste Aufregung, um den Kaufmann in solche Wut zu versetzen, dass die Adern an seiner Stirn wie purpurrote Stränge hervortraten. Alle im Haus würden sich in seiner Nähe nur auf Zehenspitzen bewegen, aus Furcht, er könnte außer sich geraten, wenn ihm sein Kaffee zu heiß oder sein Rock zu nachlässig gebürstet erschien. Eine seiner Schwestern habe mehr als eine Woche gewartet, bevor sie es wagte, ihn wegen eines neuen Kleides anzusprechen, und dann habe sein Zornesausbruch gereicht, die letzten Rosenblätter von den Büschen vor dem Fenster zu fegen. Es sei daher kaum klug, wenn sein Sohn ihm als zukünftige Schwiegertochter ein Mädchen vorstellen würde, das weder einer angesehenen Familie entstammte noch Vermögen irgendwelcher Art besaß.
Meine Mutter erkannte die Anzeichen als Erste. Da ich mit Krankheiten nicht vertraut war, meinte ich mir eine Erkältung zugezogen zu haben, die mir den Kopf umnebelte und die Glieder schwer und ungelenk machte. Ich sehnte mich nach Schlaf. Als er mit seinem ganzen Gewicht auf mir lag, seinen Unterleib gegen meinen rammte und mich in die Brüste biss, schrie ich auf vor Schmerz. Doch meine Pein erregte ihn schier grenzenlos. Dann biss er noch stärker zu, bohrte seine Fingernägel in das weiche Fleisch meiner Arme, zwang mir jäh und schmerzhaft die Beine auseinander. Ich sagte nichts, als er sich ankleidete, sondern drehte ihm den Rücken zu und schloss die Augen, wund und niedergeschlagen. Ich antwortete nicht, als er mir eine gute Nacht wünschte. Obwohl ich dringend Wasser lassen musste, brachte ich kaum noch die Kraft und den Willen auf, mich aus dem Bett zu schleppen. Als ich schließlich auf dem Topf hockte, die Bettdecke unbeholfen über die Schultern gezogen, musste ich den Kopf auf die Knie legen und fürchtete, ohnmächtig zu werden.
Einige Minuten später entdeckte mich meine Mutter. Mit schräg gelegtem Kopf und gespitzten Lippen betrachtete sie mich einen Augenblick. Ihre Augen blitzten. Dann ging sie hinaus. Ich hörte, wie der Kessel über dem Feuer klirrte. Als sie wieder ins Zimmer kam, hatte sie einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit in der Hand, den sie mir hinhielt.
»Trink das, Eliza«, wies sie mich an. »Das wird dir Kraft geben.«
Ich nahm den Becher. Die Flüssigkeit war dunkelgrün und duftete stark nach Salbei. Mir wurde so übel, dass ich torkelte, worauf der Becher überschwappte und sich die heiße Flüssigkeit über meine Finger ergoss.
»Halt ihn fest, du dummes Ding! Du wirst noch alles verschütten.«
Sie riss mir den Becher aus der Hand, hielt ihn mir an die Lippen und befahl mir zu trinken.
»Das wird dir gegen die Übelkeit helfen. Und es wird auch dem Kind guttun.« Ihre Miene wurde sanfter, und sie streichelte mir ein wenig über den Arm, wie bei einer Katze. »Das hast du gut gemacht, mein Herz. Jetzt haben wir den Jungen am Schlafittchen.«
Es bestürzte ihn, das konnte man wohl sagen, auch wenn er nach dem ersten Schock schnell wieder Haltung gewann, indem er sich an der Stuhllehne festhielt.
»Ein Kind? Aber …!«
Sein Erstaunen klang durchaus echt. Ich spürte, wie Verärgerung in mir aufstieg. Natürlich ein Kind. Was glaubte er denn gezeugt zu haben, ein Kalb vielleicht? Meine Mutter packte mich an der Hand und drückte sie fest, als Warnung, zu schweigen. Ich biss mir auf die Zunge, starrte ihn aber trotzig und herausfordernd an, damit er es ja nicht wagte, Ausflüchte zu suchen. Er hielt den Blick gesenkt. Seine Wangen waren bläulich weiß wie entrahmte Milch. Kurz glaubte ich, er würde ohnmächtig, und vor Widerwillen breitete sich in meinem Mund ein saurer Geschmack aus.
»Ich … aber … ich habe doch nie …«
»Du hast was noch nie?«, schrie ich ihn an. Ich wollte hochfahrend klingen, aber meine Stimme kam schrill und gepresst heraus.
Er sah mich kurz an, blinzelte heftig, seine Lippen zitterten, und seine Hand tastete an der Hüfte nach dem Knauf seines Degens. Erst da merkte er, dass er ihn nicht trug; er lag auf dem Boden, wo er ihn kurz nach seinem Eintreffen abgelegt hatte. Seine Finger spannten sich an, als er ihn betrachtete. Dann, hocherhobenen Hauptes und mit vorgerecktem Kinn, wandte er sich an meine Mutter.
»Angesichts der Neigungen Ihrer Tochter – wie kann ich da sicher sein, dass das Kind wirklich von mir stammt?«, meinte er gedehnt.
Meine Mutter drückte meine Hand so fest, dass es ein Wunder war, dass sie heil blieb.
»Wie können Sie es wagen, vor Ihrer Ehefrau so zu sprechen?«, sagte sie drohend. »Ich hatte Sie für einen Gentleman gehalten, mein Herr. Sie haben meine Tochter bereits genug beschämt durch Ihre Weigerung, das Gelöbnis Ihrer Familie bekannt zu machen. Wollen Sie ihre Tugend noch mehr beschmutzen, indem Sie ihre Treue anzweifeln?«
Der Junge zog eine Braue hoch. In dem Moment erschienen mir seine Augen, die ein wenig zu weit aus den Höhlen traten, wie Glasmurmeln. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und mit aller Kraft geschüttelt, bis sie ihm aus dem Kopf herauspurzelten und über den Boden rollten. Bei dem Gedanken, wie seine fleischigen Finger über meine Haut strichen und sich zwischen meine Beine drängten, bekam ich eine Gänsehaut auf Brust und Nacken. Trotz der Wärme des Tages fröstelte ich unwillkürlich.
»Ehefrau?«, wiederholte er spöttisch. »Meine Ehefrau?« Bei diesen Worten schien er sich ein wenig zu recken. »Ich fürchte, Sie irren sich, Madam. Ich habe keine Ehefrau. Ich habe kein Gelöbnis abgelegt. Jedenfalls keines, das von einem kultivierten Menschen als solches angesehen würde. Oder vom Gesetz.«
»Wie bitte …?«
»Schweig!«, fuhr Mama Tally dazwischen und packte meine Hand. Sie starrte den Jungen wütend an, verbiss sich gleichsam in sein Gesicht und wiegte dabei den Kopf wie eine Schlange. »Wenn sich hier jemand irrt, mein Herr, dann sind Sie es. Ich war schließlich bei der Zeremonie zugegen, habe sie selbst geleitet. Und es gibt auch eine Trauzeugin, wenn Sie sich zu erinnern belieben.«
»Sie glauben doch nicht etwa, dieser abergläubische hinterwäldlerische Mumpitz sei ein bindender Ehevertrag!«, spottete er. »Über einen Besen zu hüpfen? Meine Güte! Ich möchte Sie nicht enttäuschen, Madam, aber kein Richter in diesem Land würde mich als rechtmäßig verheiratet ansehen. Über einen Besen zu hüpfen, ich bitte Sie!«
Ich spürte, wie mir die Galle hochkam. Mir wurde schwindelig, und ich versuchte, meine Hand aus dem Griff meiner Mutter zu befreien, denn ich war mir sicher, mich übergeben zu müssen, aber sie hielt sie nur noch fester. Ihre Nase war weiß und ganz spitz geworden.
»Da irren Sie sich leider, mein Herr«, sagte Mama Tally gelassen. »Wie Sie wissen, war mein seliger Mann Geistlicher, daher kenne ich mich in diesen Dingen ein wenig aus. Vielleicht würde ein Richter nach dem Gesetz beanstanden, was wir getan haben, jedoch nicht die Kirche, nicht eine Sekunde lang. Die Kirche betrachtet Sie als verheiratet vor Gott, so gut als hätten Sie Ihr Gelübde in St. Bede abgelegt. Fragen Sie Reverend Salt, wenn Sie mir nicht glauben. Er wird es Ihnen bestätigen. Ob Cottage oder Kathedrale, das ist dem Erzbischof gleich, er wird da kein Jota Unterschied sehen. Ihr seid verheiratet, daran besteht kein Zweifel. Ihr seid lebenslang aneinander gebunden, im Guten wie im Schlechten. Verheiratet, wie es sich gehört.«
Der Junge öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Mama Tally wusste, wann man eine Trumpfkarte ausspielte. Sie war wie ein Terrier, der die Beute zwischen seinen erbarmungslosen Fangzähnen festhielt und sie wie eine Ratte hin und her schüttelte. Sie hörte nicht auf, bis mir vor Übelkeit so kalt und schwindelig war, dass ich nur noch das Dröhnen in meinen Ohren vernahm.
Der Junge blinzelte und biss sich auf die Lippen. Sein vorgerecktes Kinn begann zu beben. Schließlich schluchzte er laut. Es widerte mich an. Man konnte ihn zwar kaum verstehen, aber der Sinn seiner Worte war eindeutig. Er habe einen Fehler gemacht. Es sei alles nur eine Art Ulk gewesen. Niemals habe er gewollt, dass alles dermaßen aus den Fugen gerate. Ich sei eine Hure, ein billiges Flittchen, und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Er habe mir doch Geschenke gebracht, oder etwa nicht? Er habe seine Verpflichtungen eingehalten, sich verhalten wie ein Gentleman. Ich sei es schließlich gewesen, die ihm nachgestellt, ihn ermutigt und schließlich in die Falle gelockt habe. Dieses Kind, nun ja, er zweifle, ob das überhaupt wahr sei. Er habe stets klargestellt, dass es nicht die leiseste Möglichkeit einer Eheschließung gebe. Sein Vater würde in tausend Jahren nicht eine Verbindung mit einem Mädchen meiner Sorte billigen. Lieber würde er uns beide tot sehen. Und falls er versuchte, sich dem Willen seines Vaters zu widersetzen, würde der Alte nicht zögern und ihn enterben, ihn ohne einen Penny verstoßen. Er würde auf die Straße geworfen, man würde ihm untersagen, seine Mutter und seine Schwestern zu treffen. Er würde alles verlieren.
Ich konnte an nichts anderes denken als an meine Übelkeit. Ich sah den Gesichtsausdruck meiner Mutter, verstand, was er bedeutete, aber die Schande, die gewiss folgen und mich ins Unglück stürzen würde, war mir kaum einen Gedanken wert. Nur an die Übelkeit konnte ich denken, die Übelkeit und den Ekel, die mir den Magen umdrehten. Ich schaffte es kaum, ihn anzusehen, sein weiches, klebriges Gesicht und seine triefende Nase, die er sich mit dem Jackenärmel abwischte wie ein Kind. Hätte er mich angefasst, hätte ich ihn vermutlich geschlagen. Seit Beginn des Streits hatte er nicht ein einziges Mal das Wort an mich gerichtet.