Clive Cussler
& Dirk Cussler
Wüstenfeuer
Ein Dirk-Pitt-Roman
Deutsch von Michael Kubiak
Clive Cussler
& Dirk Cussler
Wüstenfeuer
Ein Dirk-Pitt-Roman
Deutsch von Michael Kubiak
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Crescent Dawn« bei Putnam’s Sons, New York.
1. Auflage
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by
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Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Joern Rauser
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15207-9
www.blanvalet.de
PROLOG
GEFÄHRLICHE
HORIZONTE
327 n. CHR.
MITTELMEER
Der Trommelschlag brach sich an den Holzwänden und wurde als rhythmisches Stakkato mit makelloser Präzision zurückgeworfen. Der celeusta bearbeitete methodisch, geschmeidig und dennoch mit rein mechanischen Bewegungen seine Ziegenfelltrommel. Er konnte sie stundenlang schlagen, ohne aus dem Takt zu geraten – seine musikalische Ausbildung war weniger auf Harmonie denn auf Ausdauer ausgerichtet gewesen. Obwohl seinem stetigen Rhythmus anerkanntermaßen eine leistungssteigernde Wirkung beizumessen war, hoffte sein Publikum, das aus Galeerenruderern bestand, zurzeit nichts anderes, als dass diese monotone Darbietung möglichst bald ein Ende finden möge.
Lucius Arcelian wischte eine verschwitzte Handfläche an seiner Kniehose ab, dann packte er das schwere Eichenruder etwas fester. Indem er das Blatt in einer fließenden Bewegung durchs Wasser zog, passte er sich dem Rudertakt der anderen Männer um ihn herum schnell an. Als gebürtiger Kreter war er sechs Jahre zuvor in die römische Marine eingetreten, angelockt von guter Bezahlung und der Möglichkeit, die römischen Bürgerrechte zu erlangen, sobald er sich zur Ruhe setzte. In den Jahren seither war er härtester physischer Arbeit ausgesetzt gewesen – und hoffte jetzt, an Bord der kaiserlichen Galeere in eine weniger anstrengende Position zu gelangen, bevor seine Arme völlig versagten.
Im Gegensatz zum Hollywood-Mythos kamen im Altertum auf römischen Galeeren keinerlei Sklaven zum Einsatz. Bezahlte Freiwillige trieben die Schiffe an, gewöhnlich aus seefahrenden Ländern rekrutiert, die unter der Herrschaft des Kaiserreichs standen. Wie ihre Legionärskollegen in der römischen Armee mussten die Kandidaten eine wochenlange strapaziöse Ausbildung absolvieren, ehe sie auf See eingesetzt wurden. Die Ruderer waren schlank, stark und durchaus fähig, zwölf Stunden am Tag zu rudern, wenn es nötig sein sollte. Aber auf der nach liburnischem Vorbild erbauten Diere, einem kleinen und leichten Kriegsschiff, das jeweils zwei Reihen Ruder auf beiden Seiten hatte, waren die Ruderer ein zusätzlicher Antrieb zu einem großen Segel, das an Deck aufgeriggt war.
Arcelian richtete den Blick auf den celeusta, einen winzigen kahlköpfigen Mann, der neben sich einen kleinen Affen angebunden hatte, während er trommelte. Er konnte nicht umhin, die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem Mann und dem Affen zu registrieren. Beide hatten große Ohren und runde, fröhliche Gesichter. Ein Ausdruck ständiger Heiterkeit lag auf der Miene des Trommlers, während er die Mannschaft mit funkelnden Augen und schartigen gelben Zähnen angrinste. Sein Anblick schien das Rudern irgendwie einfacher zu machen, und Arcelian erkannte, dass der Kapitän der Galeere eine weise Entscheidung getroffen hatte, als er diesen Mann ausgewählt hatte.
»Celeusta«, rief einer der Ruderer, ein dunkelhäutiger Mann aus Syrien. »Der Wind bläst heftig, und das Meer schäumt. Warum müssen wir rudern?«
Die Augen des Trommlers leuchteten auf. »Es fällt mir nicht im Traum ein, die Weisheit meiner Offiziere anzuzweifeln. Wenn ich es täte, würde am Ende auch ich ein Ruder ziehen«, erwiderte er und lachte herzlich.
»Ich möchte fast wetten, dass der Affe schneller rudern kann«, entgegnete der Syrer.
Der celeusta betrachtete den Affen, der neben ihm hockte. »Wirklich ein kräftiger kleiner Bursche«, ging er gut gelaunt auf den harmlosen Spott ein. »Aber was deine Frage betrifft, ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht möchte der Kapitän seine geschwätzige Mannschaft ein wenig in Atem halten. Oder er hat den Wunsch, schneller als der Wind zu sein.«
Ein paar Meter über ihnen blickte der Kapitän der Galeere auf dem oberen Deck unruhig nach achtern zum Horizont. Ein Paar ferner blau-grauer Punkte tanzte auf der turbulenten See und wurde mit jeder Minute größer. Der Kapitän wandte sich um, blickte auf die vom Wind geblähten Segel und wünschte sich, er könne noch viel, viel schneller sein als der Wind.
Eine tiefe Baritonstimme störte plötzlich seine Konzentration.
»Ist es die Geisel der Meere, die deine Knie weich werden lässt, Vitellus?«
Der Kapitän fuhr herum und sah einen stämmigen Mann mit Brustpanzer, der ihn spöttisch musterte. Er war ein römischer Centurio namens Plautus, der das Kommando über eine Truppe von dreißig Legionären hatte, die an Bord stationiert waren.
»Zwei Schiffe nähern sich von Süden«, erwiderte Vitellus. »Ich bin mir fast sicher, dass es Piraten sind.«
Der Centurio schenkte den fernen Schiffen einen flüchtigen Blick, dann zuckte er die Achseln.
»Lästiges Ungeziefer«, meinte er unbesorgt.
Vitellus wusste es besser. Piraten waren schon seit Jahrhunderten die Erzfeinde der römischen Schifffahrt. Obgleich das organisierte Piratenunwesen auf dem Mittelmeer vor einigen hundert Jahren von Pompeius dem Großen schon einmal ausgemerzt worden war, gingen vereinzelt noch immer nicht organisierte Räuberbanden auf dem offenen Meer ihrem Gewerbe nach. Die gewöhnlichen Ziele waren einzelne Handelsschiffe, aber die Piraten wussten, dass die Dieren oftmals wertvolle Fracht an Bord hatten. Als er an die Ladung seines eigenen Schiffes dachte, fragte sich Vitellus, ob die Barbaren, die ihn verfolgten, möglicherweise einen Tipp bekommen hatten, nachdem er aus dem Hafen ausgelaufen war.
»Plautius, ich brauche dich wohl nicht an die Bedeutung unserer Fracht zu erinnern«, sagte er.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Centurio. »Was meinst du denn, weshalb ich mich auf diesem armseligen Schiff befinde? Schließlich bin ich es doch, der mit der Aufgabe betraut wurde, für ihre Sicherheit zu sorgen, bis sie dem Kaiser von Byzanz übergeben wird.«
»Dabei zu versagen würde ernste Konsequenzen für uns und unsere Familien nach sich ziehen«, sagte Vitellus und dachte dabei an seine Frau und seinen Sohn in Neapel. Er suchte das Meer vor dem Bug der Galeere ab und sah nur rollende Wellen und schiefergraues Wasser.
»Von unserer Eskorte ist noch immer nichts zu sehen.«
Drei Tage zuvor war die Galeere in Judäa mit einer Trireme als Geleitschutz in See gestochen. Aber die Schiffe waren während der vorangegangenen Nacht durch eine heftige Sturmböe voneinander getrennt worden, und seitdem war die Eskorte nicht mehr zu sehen.
»Fürchte dich nicht vor den Barbaren«, sagte Plautius abfällig. »Wir werden das Meer mit ihrem Blut rot färben.«
Das übertrieben forsche Auftreten des Centurio trug dazu bei, dass Vitellus auf Anhieb eine gewisse Abneigung gegen ihn entwickelt hatte. An seinen kämpferischen Fähigkeiten war jedoch nicht zu zweifeln, daher war der Kapitän durchaus dankbar, ihn in seiner Nähe zu haben.
Plautius und seine Legionärstruppe gehörten zu den Scholae Palatinae, einer militärischen Eliteeinheit, deren Aufgabe im persönlichen Schutz des Kaisers bestand. Die meisten waren schlachterprobte Veteranen, die mit Constantin dem Großen an der Grenze und während seines Feldzugs gegen Maxentius gekämpft hatten, einem rivalisierenden Cäsaren, dessen Niederwerfung zur Vereinigung des zersplitterten Imperiums führte. Plautius selbst hatte eine hässliche Narbe an seinem linken Oberarm, die ihn an ein heftiges Duell mit einem westgotischen Schwertkämpfer erinnerte, das ihn beinahe seinen Arm gekostet hätte. Er trug diese Narbe als sichtbares Symbol seiner Tapferkeit und Unerschrockenheit, die niemand, der ihn kannte, in Frage zu stellen wagte.
Während sich die beiden Piratenschiffe näherten, stellte Plautius seine Männer, verstärkt durch Mannschaftsmitglieder der Galeere, auf dem offenen Deck bereit. Jeder war mit den neuesten römischen Waffen ausgerüstet – einem Kurzschwert, dem sogenannten gladius, einem runden mehrschichtigen Schild und einer Wurflanze, dem pilum. Der Centurio teilte seine Soldaten in kleine Kampfgruppen auf, um beide Seiten des Schiffes verteidigen zu können.
Vitellus behielt ihre Verfolger, die mittlerweile deutlich zu erkennen waren, ständig im Auge. Es waren kleinere mit Segeln und Rudern ausgerüstete Schiffe von zwanzig Metern Länge – und damit kaum halb so groß wie die römische Galeere. Eins hatte hellblaue Rahsegel und das andere graue, während beide Schiffsrümpfe in Zinngrau gehalten waren, eine alte und wirkungsvolle Tarnmethode, die von kilikischen Piraten bevorzugt wurde. Jedes Schiff trug zwei Segelmasten, die ihnen bei frischem Wind zu einem Geschwindigkeitsvorteil verhalfen. Und der Wind blies zurzeit wirklich recht kräftig und ließ den Römern kaum eine Chance zur Flucht.
Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab, als der vordere Ausguck »Land in Sicht!« meldete. Vitellus blickte zum Bug und entdeckte im Norden die vagen Umrisse einer felsigen Küste. Der Kapitän konnte nur raten, welches Land er da vor sich sah. Die jeweilige Position der Galeere wurde hauptsächlich durch Koppelnavigation bestimmt, war während des Sturms kurz zuvor jedoch vom Kurs abgebracht worden. Vitellus hoffte inständig, dass sie sich in der Nähe der anatolischen Küste befanden, wo sie vielleicht auf andere Schiffe der römischen Flotte trafen.
Der Kapitän wandte sich an den bulligen Mann, der die schwere Ruderpinne der Galeere bediente.
»Gubernator, bring uns in Landnähe und möglichst in windgeschützte Gewässer. Wenn wir ihnen den Wind aus den Segeln nehmen können, dürften wir diesen Teufeln entkommen.«
Unter Deck erhielt der celeusta den Befehl, einen Schnellfeuer-Rhythmus zu trommeln. Jegliche Gespräche zwischen Arcelian und den anderen Ruderern erstarben, und so war nur noch das dumpfe Schnaufen heftiger Atemzüge zu hören. Die Nachricht von den verfolgenden Piratenschiffen war bis zu den Ruderbänken hinab gedrungen. Jeder Mann konzentrierte sich darauf, sein Ruder so schnell und wirkungsvoll wie möglich durchs Wasser zu ziehen, wusste er doch, dass wahrscheinlich auch sein eigenes Leben auf dem Spiel stand.
Für fast eine halbe Stunde hielt die Galeere den Abstand zu den Verfolgerschiffen. Mit Hilfe von Segel und Ruder schob sich das römische Schiff mit fast sieben Knoten durch die Wellen. Aber die kleineren und besser besegelten Piratenschiffe holten allmählich auf. Nahezu bis zur vollständigen Erschöpfung gefordert, durften die Ruderer der Galeere ihren Rhythmus ein wenig drosseln, um Kraft zu sparen. Während die braune, dunstige Landmasse vor ihnen beinahe verlockend aus dem Meer wuchs, kamen die Piraten allmählich näher und griffen schließlich an.
Während sich sein Begleiter hinter der Galeere hielt, arbeitete sich das Schiff mit dem blauen Segel bis auf die gleiche Höhe vor und überholte dann seltsamerweise das römische Schiff. Während des Passierens drängte sich die bunt gewürfelte Horde bewaffneter Barbaren an Deck und beschimpfte und verhöhnte die Römer lautstark. Vitellus ignorierte die Rufe und starrte auf die Küstenlinie voraus. Die drei Schiffe waren nur noch wenige Kilometer vom Festland entfernt – und an seinem Rahsegel konnte er erkennen, dass der Wind nachließ. Er befürchtete, dass es zu wenig war und für seine erschöpften Ruderer zu spät geschah.
Vitellus suchte die vor ihm liegende Landschaft ab. Er hoffte, irgendwo an Land gehen und seine Legionäre auf festem Boden antreten lassen zu können, wo sie ihre volle Kampfkraft entfalten mochten. Doch die Küstenlinie bestand aus einer hohen Felswand, die keine Lücke aufwies, in der die Galeere eine sichere Zuflucht hätte finden können.
Bei einem Vorsprung von fast vierhundert Metern drehte das führende Piratenschiff plötzlich. In einer perfekt ausgeführten Wende schwang es vollständig herum und hielt direkt auf die Galeere zu. Auf den ersten Blick erschien dieses Manöver selbstmörderisch. Die römische Seekriegsstrategie hatte sich lange Zeit auf das Rammen des Gegners als vorherrschende Kampftaktik verlassen, und sogar die kleine Diere war mit einem schweren Bugvorbau aus Bronze ausgestattet. Vielleicht war bei den Barbaren ja mehr Muskel- als Gehirnmasse vorhanden, dachte Vitellus. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als das erste Schiff zu rammen und zu versenken, da sich in diesem Fall, wie er zu wissen glaubte, das zweite Schiff zurückziehen würde.
»Wenn sie abdrehen oder wenden, folge ihnen und durchbohre sie um jeden Preis mit unserem Rammsporn«, befahl er dem Steuermann. Ein jüngerer Offizier stand an der Leiter ins Schiffsinnere, um Anweisungen an die Ruderer weiterzugeben. An Deck hielten die Legionäre ihre Schilde und Wurfspieße bereit. Erwartungsvolle Stille legte sich über die Galeere.
Die Barbaren behielten ihren direkten Kurs auf die Galeere bei, bis sie nur noch dreißig Meter von ihr entfernt waren. Dann schwenkte der Gegner, wie Vitellus vorausgesehen hatte, plötzlich nach Backbord.
»Ramm sie!«, rief der Römer, während der Steuermann die Ruderpinne herumriss. Unter Deck wechselten die Ruderer an Steuerbord für mehrere Züge die Richtung der Ruderblätter, so dass die Galeere eine scharfe Wende nach Steuerbord ausführte. Genauso schnell trieben sie das Schiff wieder vorwärts und zogen ihre Ruder ebenso wie ihre Kollegen an Backbord mit äußerster Kraft durchs Wasser.
Das kleinere Piratenschiff versuchte, den Kurs der Galeere zu kreuzen, doch das römische Schiff wendete ebenfalls. Die Barbaren verloren an Fahrt, als ihre Segel beim Wenden für einen Moment schlaff wurden, während die Galeere ihr Tempo beibehielt. Innerhalb eines kurzen Augenblicks war der Jäger zum Gejagten geworden. Als der Wind die Segel wieder füllte, sprang das kleinere Schiff geradezu vorwärts, aber nicht schnell genug. Der bronzene Rammsporn der Galeere küsste die hintere Flanke des Piratenschiffes und riss seinen Rumpf bis zum Heckspiegel auf. Bei der Kollision kenterte das Schiff beinahe, richtete sich dann jedoch wieder auf, während das Heck absackte.
Lauter Jubel brach unter den römischen Legionären aus, und Vitellus erlaubte sich ein triumphierendes Lächeln darüber, dass ihnen der Sieg so gut wie sicher war. Doch dann drehte er sich zu dem zweiten Schiff um und erkannte auf Anhieb, dass sie überlistet worden waren.
Während des kurzen Scharmützels hatte sich dieses zweite Schiff nämlich unauffällig genähert. Und während der Rammsporn der Galeere sein Ziel fand, schob sich das Schiff mit den grauen Segeln sofort an die Backbordseite der Galeere. Das Krachen und Knirschen berstender Ruder erklang, während eine dichte Salve von Pfeilen und Enterhaken auf das römische Deck herabregnete. Innerhalb von Sekunden waren die beiden Schiffe nahezu unlösbar miteinander verbunden, und eine ganze Masse von Schwerter schwingenden Barbaren ergoss sich über die Reling.
Die erste Welle Angreifer berührte kaum das Deck, als sie bereits von einer Phalanx rasiermesserscharfer Lanzen aufgespießt wurde. Die römischen Schleuderer verteidigten die Galeere zwar mit tödlicher Zielgenauigkeit, und ein Dutzend Angreifer wurden auch auf der Stelle ausgeschaltet. Aber die Heftigkeit des Angriffs wurde nicht gebrochen, da ein Dutzend weitere Barbaren ihre Plätze einnahmen. Plautius hielt seine Männer zurück, bis die Piratenhorde auf dem Galeerendeck ausschwärmte. Erst dann trat er aus seiner Deckung hervor und gab das Zeichen zum Gegenangriff. Das Klirren der Schwerter übertönte die qualvollen Todesschreie, als das Gemetzel begann. Die römischen Legionäre, besser ausgebildet und im Kampf um einiges disziplinierter, wehrten die ersten Angriffswellen mit Leichtigkeit ab. Die Barbaren waren daran gewöhnt, nur leicht bewaffnete Händler anzugreifen und keine schwer bewaffneten, erfahrenen Soldaten. So wichen sie vor der massiven Gegenwehr zurück. Um die enternden Piraten zurückzuschlagen sammelte Plautius die Hälfte seiner Männer, um dem eigenen Angriff mehr Druck zu verleihen. Er persönlich übernahm die Führung, als die Römer die Barbaren auf ihr eigenes Schiff zurücktrieben.
Die Angriffsreihen der Barbaren brachen schnell auseinander, formierten sich jedoch schon bald wieder neu, als die Piraten erkannten, dass sie den Legionären zahlenmäßig um ein Mehrfaches überlegen waren. Jeweils zu dritt oder zu viert konzentrierten sie sich auf einen einzelnen römischen Soldaten, griffen ihn von verschiedenen Seiten an und überrannten ihn. Auf diese Weise verlor Plautius sechs Männer, bevor er seine Soldaten eine geschlossene Formation einnehmen ließ und zu einem Quadrat ordnete.
Vom Achterdeck der Galeere aus beobachtete Vitellus, wie der römische Centurion einen Mann mit seinem Schwert regelrecht halbierte, als er die Barbaren wie mit einer Sense niedermähte. Der Kapitän hatte die Galeere mitsamt ihres an sie geketteten Verfolgers während des Kampfes Kurs aufs Festland nehmen lassen. Doch das Piratenschiff brachte einen Steinanker aus, der auf dem Meeresgrund Halt fand und beide Schiffe stoppte.
Unterdessen hatte das Schiff mit dem blauen Segel eine Wende ausgeführt und machte nun Anstalten, in den Kampf einzugreifen. Behindert durch das große Leck in seinem Rumpf, durch das Wasser ungehindert eindringen konnte, steuerte das Piratenschiff schwerfällig die freie Steuerbordseite der römischen Galeere an. Indem es das Manöver seines Schwesterschiffes nachahmte, schob es sich längsseits, und seine Mannschaft entfesselte einen wahren Regen von Enterhaken, der die Römer überschüttete.
»Ruderer zu den Waffen! Sofort an Deck antreten!«, rief Vitellus.
Unter Deck folgten die erschöpften Ruderer dem Ruf des Kapitäns. Da sie ursprünglich als Soldaten ausgebildet waren, erwartete man von den Ruderern und allen anderen Seeleuten an Bord, dass sie sich an der Verteidigung des Schiffes beteiligten. Arcelian schloss sich der Schlange seiner Kollegen an, von denen jeder einen tiefen Schluck kalten Wassers aus einem Tonkrug trank und danach mit einem Schwert in der Faust an Deck eilte.
»Halt den Kopf unten«, riet er dem celeusta, der die Waffen verteilt hatte und nun das Ende der Schlange bildete.
»Ich sehe dem Barbaren lieber ins Gesicht, wenn ich ihn töte«, erwiderte der Trommler mit seinem typischen Grinsen.
Die Ruderer griffen keinen Augenblick zu früh in den Kampf ein, während sich die zweite Welle Piraten über die Steuerbordreling schwang. Die Mannschaft der Galeere warf sich den Angreifern als kompakte Masse aus Muskeln und Stahl entgegen.
Als Arcelian das Hauptdeck betrat, war er über das Massaker entsetzt. Leichen und abgetrennte Gliedmaßen lagen verstreut zwischen ständig größer werdenden Blutpfützen. Kaum schlachterprobt erstarrte er für einen kurzen Moment, bis ein Offizier an ihm vorbeirannte und ihn anbrüllte: »Durchtrenn gefälligst die Enterseile!«
Als er ein straff gespanntes Seil am Bug der Galeere gewahrte, machte er einen entschlossenen Satz vorwärts und zerschnitt es mit seinem Schwert. Er verfolgte noch, wie das freie Ende peitschenartig zum Deck des Schiffes mit dem blauen Segel zurückschwang, dessen Deck sich einige Meter unterhalb des Galeerendecks befand. Dann ließ er den Blick an der Reling der Galeere entlangwandern und bemerkte ein halbes Dutzend weiterer Enterseile, die das Piratenschiff an Ort und Stelle fixierten.
»Kappt die Seile!«, rief er. »Stoßt die Piraten ab!«
Seine Worte fanden jedoch kein Gehör, und er musste erkennen, dass nahezu jedes Mannschaftsmitglied der Galeere mit den Barbaren in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt war. Nur am Heck der Galeere gewahrte er mit einiger Hoffnung, dass der celeusta seinem Beispiel folgte und ein Enterseil mit einem kleinen Beil attackierte. Doch allmählich wurde die Zeit knapp. An Bord des langsam sinkenden Piratenschiffes schickten sich die Barbaren an, das römische Schiff zu entern, da sie erkannten, dass sich ihr eigenes Schiff nicht mehr lange würde über Wasser halten können.
Arcelian stieg über einen sterbenden Schiffskameraden, um zum nächsten Enterseil zu gelangen, und hob sein Schwert. Ehe er aber zuschlagen konnte, hörte er in der Luft ein Pfeifen, und die Spitze eines Pfeils bohrte sich nur wenige Zentimeter von seinem Fuß entfernt in die Decksplanken. Er achtete nicht weiter darauf, sondern durchschlug das Seil mit der Schwertklinge und ging dann hinter der Reling in Deckung, als ein weiterer Pfeil über seinen Kopf hinwegzischte. Er lugte über das Geländer und entdeckte seinen Angreifer, einen kilikischen Bogenschützen, der sich einen halbwegs sicheren Platz in der Spitze des Segelmastes des Piratenschiffes gesucht hatte. Der Bogenschütze achtete schon nicht mehr auf den Ruderer, sondern zielte bereits für seinen nächsten Schuss auf das Achterschiff. Arcelian erkannte zu seinem Schrecken, dass der Schütze sich den celeusta, der gerade im Begriff war, ein drittes Enterseil zu kappen, als nächstes Opfer ausgesucht hatte.
»Celeusta!«, brüllte der Ruderer.
Die Warnung erfolgte jedoch zu spät. Ein Pfeil bohrte sich tief in die Brust des kleinen Mannes. Der Trommler gab einen tiefen Stöhnlaut von sich und sackte auf die Knie, während ein Blutstrom seine gesamte Brust rot färbte. In einer letzten Demonstration von Gefolgschaftstreue holte er mit dem Beil aus, zerschnitt das Enterseil und stürzte dann leblos auf das Deck.
Das Schiff der Barbaren tauchte zunehmend tiefer ins Wasser und löste einen letzten Sturm auf die Galeere aus. Nur noch zwei Enterseile hielten die beiden Schiffe zusammen, was die Piraten bislang aber – bis auf den Bogenschützen – übersehen hatten. Immer noch auf seinem Platz in der Mastspitze ausharrend, zielte und schoss er abermals auf Arcelian und verfehlte ihn nur knapp.
Arcelian zog reflexartig den Kopf ein und sah gleichzeitig, dass sich die noch intakten Enterseile mittschiffs zwischen den beiden Rümpfen spannten, obwohl sich die beiden Schiffe am Heck berührten und das Kampfgeschehen sich nach achtern verlagert hatte. Der Ruderer ging auf alle viere hinunter und kroch unter der Reling bis zum ersten Enterseil. Ein sterbender Barbar – sein Bauch bestand aus einer einzigen blutigen Masse zerfetzten Fleisches – lag nicht weit entfernt. Der kräftige Ruderer erreichte ihn und wuchtete sich den Mann auf die Schulter, dann machte er kehrt und näherte sich dem Enterseil. In diesem Augenblick hörte er einen dumpfen Laut, begleitet von einem heftigen Stoß gegen seine Schulter, als sich ein Pfeil in den Rücken des Piraten bohrte. Mit der freien Hand schwang Arcelian das Schwert, holte aus und durchtrennte das Seil, während ein zweiter Pfeil in seinen menschlichen Schutzschild eindrang. Der Ruderer brach in die Knie, stieß den mittlerweile toten Barbaren von seiner Schulter und rang nach Atem.
Von seinen Anstrengungen nahezu vollkommen erschöpft, betrachtete Arcelian den letzten Enterhaken, der sich ein paar Meter über ihm in eine Rah gegraben hatte. Über die Reling hinweg entdeckte er den feindlichen Bogenschützen, der seinen Platz am Segelmast endlich verlassen hatte und nun aufs Deck hinabkletterte. Arcelian nutzte diese günstige Gelegenheit, sprang auf und rannte über das Galeerendeck und kletterte dort auf die Reling, wo sich das Enterseil zum Piratenschiff spannte. Um sein Gleichgewicht kämpfend, holte er mit dem Schwert zum entscheidenden Befreiungsschlag aus – doch dazu kam er nicht mehr.
Die Belastung des Seils durch die beiden auseinanderweichenden Schiffe war zu groß, und der Eisenhaken verlor den Halt am Mast. Die enorme Spannung des Seils beschleunigte den Haken wie ein Geschoss, und so wirbelte er in einem flachen Bogen zum Wasser hinab. Die messerscharfen Widerhaken pfiffen knapp an Arcelian vorbei und hätten ihm beinahe einen blutigen Abgang beschert. Doch das Seil schlang sich um seinen Oberschenkel, riss ihn von der Reling und schleuderte ihn dicht vor dem Bug des Piratenschiffes ins Meer.
Da er nicht schwimmen konnte, strampelte und ruderte Arcelian wie wild, um den Kopf weiter über Wasser zu halten. Verzweifelt um sich schlagend stieß er gegen etwas Hartes und klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Es war ein Stück Holzreling des Piratenschiffes, das während der ersten Kollision mit der römischen Galeere herausgebrochen und groß genug war, um ihn nicht untergehen zu lassen. Plötzlich ragte das Piratenschiff mit dem blauen Segel über ihm auf, und er trat heftig mit den Beinen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Dabei wurde er von der Galeere weiter abgetrieben, zumal er in eine Strömung geriet, gegen die er in seinem geschwächten Zustand nicht ankämpfen konnte. Mühsam wassertretend, um seine Position zu halten, verfolgte er mit weit aufgerissenen Augen, wie das Piratenschiff von einer Windböe erfasst und auf die Küste zugetrieben wurde. Dabei ragte das Deck nur noch wenig über die Wasseroberfläche hinaus.
Während das römische Schiff an Steuerbord durch Arcelian von den Enterhaken befreit worden war, hatten Vitellus und ein jüngerer Offizier die Enterseile an Backbord bis auf ein letztes in Hecknähe gelöst. Sich mit einem Pfeil in seiner Schulter schwer auf die Ruderpinne stützend machte sich der Kapitän durch laute Rufe beim Centurio auf dem benachbarten Schiff bemerkbar.
»Plautius«, rief er mit matter Stimme, »komm auf die Galeere zurück. Wir haben uns von den Piraten befreit!«
Der Centurio und seine Legionäre waren auf dem Piratenschiff immer noch in heftige Kämpfe verstrickt, obwohl die Anzahl der kampffähigen Männer stark geschrumpft war. Plautius zog sein bluttriefendes Schwert aus dem Hals eines Barbaren und blickte kurz zur Galeere hinüber.
»Bring die Fracht an ihr Ziel. Ich werde die Barbaren aufhalten«, rief er zurück und stieß sein Schwert in den Leib eines weiteren Angreifers. Nur noch drei Legionäre standen ihm zur Seite, und Vitellus konnte erkennen, dass sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten würden.
»Eure Tapferkeit und euer Mut werden nicht ungerühmt bleiben«, rief der Kapitän und durchtrennte die letzte Verbindung zwischen Galeere und Piratenschiff. »Lebewohl, Centurio!«
Befreit von dem Räuberschiff, das an seinem Steinanker festlag, vollführte die Galeere einen Satz vorwärts, als sich ihr einzelnes Segel schlagartig mit Wind füllte. Da der Gubernator schon lange den Tod gefunden hatte, bot Vitellus seine gesamte noch verbliebene Kraft auf, um das Schiff in Richtung Festland zu lenken. Dabei spürte er, wie der Griff der Ruderpinne von seinem eigenen Blut benetzt und glitschig wurde. Eine gespenstische Stille breitete sich auf dem Deck aus und brachte ihn dazu, zum Rand des Achterkastells zu stolpern. Was er unten erblickte, verschlug ihm jedoch den Atem.
Verstreut auf dem Deck lag eine Masse toter und zerfleischter Körper, Römer wie Barbaren, in einem roten Tümpel. Eine fast gleichgroße Anzahl von Angreifern und Mannschaftsmitgliedern hatte also bis zu einem tödlichen Unentschieden gegeneinander gefochten. Es waren die Überreste eines Gemetzels, wie er noch nie eines erlebt hatte.
Erschüttert von dem Anblick und geschwächt von seinem eigenen Blutverlust, schickte er einen flehenden Blick gen Himmel.
»Mögen die Götter das Schiff des Kaisers schützen«, röchelte er.
Schwankend kehrte er zum Heck zurück, schlang die Arme um die Ruderpinne und korrigierte ein letztes Mal ihre Stellung. Die Hilfeschreie der im Wasser treibenden Männer drangen zu ihm, doch der Kapitän hörte sie schon nicht mehr, während das Schiff an ihnen vorbei segelte. Mit leeren Blicken auf die vor ihm liegende Landmasse starrend hielt er mit seinen letzten Kraftreserven die Ruderpinne fest und kämpfte um die letzten Sekunden seines Lebens.
Im kabbeligen Wasser treibend sah Arcelian überrascht hoch, als sich die römische Galeere von ihrem Verfolger löste und plötzlich auf ihn zusteuerte. Laute Hilferufe ausstoßend verfolgte er in qualvoller Verzweiflung, wie die Galeere in tiefer Stille an ihm vorbeiglitt und ihn dabei vollkommen ignorierte. Nur einen kurzen Augenblick später bot sich das Schiff, da es drehte, seinem Blick im Profil dar – und er erkannte voller Grauen, dass nicht eine einzige lebende Seele auf dem Hauptdeck stand. Nur die einsame Gestalt von Kapitän Vitellus, zusammengesunken über der Ruderpinne auf dem erhöhten Schiffsheck, war zu sehen. Dann raschelten und knallten die Segel des Schiffes im Wind, die Galeere nahm zügig Fahrt in Richtung Küste auf und war schon bald nicht mehr zu sehen.
JUNI 1916
PORTSMOUTH, ENGLAND
Auf der Marinewerft herrschte trotz eines unangenehmen kalten Nieselregens hektische Betriebsamkeit. Schauerleute der Royal Navy hatten unter einem dampfgetriebenen Hafenkran alle Hände voll zu tun, riesige Mengen Lebensmittel und anderer Vorräte sowie Munition an Bord des grauen Schiffsriesen zu schaffen, der am Kai vertäut war. An Bord wurden die Kisten im vorderen Frachtraum säuberlich aufgestapelt, während ein Pulk Seeleute in dicken wollenen Kolanis das Schiff für die bevorstehende Reise klarmachte.
Obwohl sie seit mehr als zehn Jahren im Dienst war, und trotz ihres jüngsten Einsatzes während der Skagerrakschlacht zeichnete sich die HMS Hampshire durch extreme Sauberkeit und Gepflegtheit aus. Als Panzerkreuzer der Devonshire-Klasse war sie mit ihren an die zehntausend Bruttoregistertonnen eines der größten Schiffe der britischen Marine. Mit einem Dutzend schwerer Kanonen bestückt, stellte sie außerdem eins der tödlichsten dar.
In der offenen Tür eines leeren Lagerhauses etwa eine Viertelmeile den Kai hinunter stand ein Mann mit blonden Haaren und beobachtete durch ein Messingfernglas, wie das Schiff beladen wurde. Er hatte das Fernglas fast zwanzig Minuten lang vor den Augen, bis ein grüner Rolls-Royce erschien, den Kai überquerte und vor der Hauptgangway stoppte. Er verfolgte aufmerksam, wie eine Gruppe von Armeeoffizieren in Khakiuniformen wie aus dem Nichts erschien, den Wagen umringte und dann die Insassen die Gangway hinaufgeleitete. Ihrer Kleidung nach zu urteilen waren die beiden Ankömmlinge ein Politiker und ein hochrangiger Armeeoffizier. Er erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht des Offiziers und lächelte zufrieden, als er sah, dass der Mann einen buschigen Schnurrbart hatte.
»Es wird Zeit, unsere Fracht abzuliefern, Dolly«, sagte er laut.
Dann trat er zurück in den Schatten, wo ein Gespann aus einem wettergegerbten Karren und einem gesattelten Pferd wartete. Er verstaute das Fernglas unter der Sitzbank, kletterte auf den Karren, ergriff die Zügel und ließ sie knallen. Dolly, eine alte scheckiggraue Stute, hob unwillig den Kopf, trottete dann los und zog den Karren in den Regen hinaus.
Die Dockarbeiter achteten kaum auf den Mann, als er ein paar Minuten später seinen Karren neben das Schiff lenkte. Bekleidet mit einer verblichenen Wolljacke und einer schmuddeligen Hose, eine flache Mütze tief in die Stirn gezogen, unterschied er sich kein bisschen von Dutzenden anderer einheimischer Sozialhilfeempfänger, die sich ihr Leben mit Gelegenheitsjobs ein wenig erträglicher machten. In diesem Fall war es eine einstudierte Rolle, perfektioniert durch den Verzicht auf eine Rasur und das Verteilen einer großzügigen Menge billigen Scotch Whiskys auf seiner Kleidung. Als der Zeitpunkt für seinen Auftritt gekommen war, machte er auf sich aufmerksam, indem er Dolly zum Ende der Gangway vorrücken ließ und dann den Zutritt versperrte.
»Schaff die Schindmähre aus dem Weg«, schimpfte ein rotgesichtiger Leutnant, der das Beladen des Schiffes überwachte.
»Ich habe eine Lieferung für die Hampshire«, knurrte der Mann im tiefsten Cockney-Slang.
»Dann zeig mal deine Papiere«, verlangte der Leutnant.
Der Spediteur griff in die Innentasche seiner Jacke und reichte dem Offizier ein zerknülltes, mit Wasserflecken übersätes Blatt Papier. Der Leutnant überflog es stirnrunzelnd, dann schüttelte er den Kopf.
»Das ist kein ordnungsgemäßer Frachtbrief«, stellte er fest und musterte den Karrenlenker prüfend.
»Das ist das, was der General mir gegeben hat. Das und einen Fünfer«, erwiderte der Mann mit einem Augenzwinkern.
Der Leutnant umrundete den Pferdekarren und betrachtete die Kiste, die etwa so groß war wie ein Sarg. Auf dem Deckel war mit schwarzer Farbe eine Adresse aufgepinselt worden.
PROPERTY OF THE ROYAL NAVY
TO THE ATTENTION OF SIR LEIGH HUNT
SPECIAL ENVOY TO THE RUSSIAN EMPIRE
C/O CONSULATE OF GREAT BRITAIN
PETROGRAD, RUSSIA
»Hmm«, murmelte der Offizier und sah wieder auf das Formular. »Nun, das ist die Unterschrift des Generals. Na gut«, sagte er und gab das Papier zurück. »Du da«, bellte er dann und winkte einem Dockarbeiter in der Nähe. »Hilf mal mit, diese Kiste an Bord zu bringen. Danach muss dieser Karren hier aber verschwinden.«
Stricke wurden um die Kiste geschlungen, danach hievte sie ein Schiffskran in die Luft, schwang sie über die Reling und ließ sie in den vorderen Frachtraum hinab. Der Spediteur verabschiedete sich von dem Leutnant, indem er einen militärischen Gruß imitierte, dann trieb er das Pferd vom Kai und aus dem Marinehafen. Nachdem er auf eine unbefestigte Straße abgebogen war, rollte er an einigen Lagerhäusern vorbei, die zum Hafen gehörten, und gelangte auf freies Ackerland. Knapp zwei Kilometer die Straße hinunter lenkte er den Karren in eine holprige Zufahrt und parkte den Pferdewagen neben einer windschiefen Hütte. Ein alter Mann, der auf einem Bein lahmte, kam aus einer nahen Scheune.
»Haben Sie Ihre Fracht abgeliefert?«, fragte er den Kutscher.
»Das habe ich. Vielen Dank für Ihren Wagen und Ihr Pferd«, erwiderte der Mann, zog eine Zehn-Pfund-Note aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Bauern.
»Mit Verlaub, Sir, aber das ist viel mehr, als mein Pferd wert ist«, stammelte der Bauer und hielt den Geldschein in den Händen, als wäre er ein Baby.
»Und es ist ein wirklich gutes Pferd«, entgegnete der Mann und gab Dolly zum Abschied einen freundlichen Klaps auf den Hals. »Guten Tag«, sagte er zu dem Bauern, tippte gegen den Mützenschirm und ging dann die Zufahrt hinunter.
Er wanderte einige Minuten die Straße entlang, bis er das Motorengeräusch eines Automobils vernahm, das sich ihm näherte. Eine blaue Vauxhall Limousine bog um eine Ecke, bremste und blieb neben ihm stehen. Der Spediteur trat an den Straßenrand, als die hintere Tür der Limousine geöffnet wurde, und stieg ein. Ein würdevoll aussehender Mann im Habit eines anglikanischen Priesters rutschte über die Sitzbank, um dem neuen Fahrgast Platz zu machen. Er musterte den Spediteur mit einem gespannten Ausdruck in seinen mattgrauen Augen, dann griff er nach einer Brandykaraffe, die sich in der Halterung an der Rückenlehne des Vordersitzes befand. Nachdem er eine großzügige Menge in ein Kristallglas geschüttet hatte, reichte er dem Spediteur das Glas, dann gab er dem Chauffeur Anweisungen, die Fahrt fortzusetzen.
»Ist die Kiste an Bord?«, fragte er ohne Umschweife.
»Ja, Vater«, antwortete der Spediteur mit einem Unterton spöttischer Ehrerbietung. »Sie haben den gefälschten Frachtbrief akzeptiert und die Kiste in den vorderen Frachtraum geladen.« Von einem Cockney-Akzent war in seinen Worten jetzt nichts mehr zu hören. »In zweiundsiebzig Stunden können Sie Ihrem glorreichen General Lebewohl sagen.«
Die Worte schienen den Vikar zu schmerzen, obgleich sie ihm mitteilten, was er hören wollte. Stumm griff er in seinen Mantel und holte einen Briefumschlag hervor, der mit Banknoten prall gefüllt war.
»Wie wir vereinbart haben. Die eine Hälfte jetzt, die andere Hälfte nachdem … es passiert ist«, sagte er und gab den Briefumschlag weiter, während seine Stimme versiegte.
Der Spediteur lächelte, als er den dicken Stapel Banknoten betrachtete. »Ich frage mich, ob die Deutschen so viel bezahlen würden, um ein Schiff zu versenken und einen General zu ermorden«, sagte er. »Sie arbeiten nicht zufällig für den Kaiser, oder?«
Der Geistliche schüttelte heftig den Kopf. »Nein, dies alles ist eine rein theologische Angelegenheit. Wenn Sie das Dokument gefunden hätten, wäre all das gar nicht nötig gewesen.«
»Ich habe das Haus dreimal durchsucht. Wenn es dort gewesen wäre, hätte ich es sicher gefunden.«
»Das haben Sie mir bereits gesagt.«
»Sind Sie auch sicher, dass es an Bord gebracht wurde?«
»Wir haben von einem geplanten Treffen zwischen dem General und dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Petersburg erfahren. Was den Zweck dieser Zusammenkunft betrifft, so dürfte es wohl kaum irgendwelche Zweifel geben. Das Dokument muss an Bord sein. Es wird mit ihm zusammen vernichtet, und so wird das Geheimnis ein für alle Mal sterben.«
Die Reifen des Vauxhall rollten quietschend über nasses Kopfsteinpflaster, als sie die Außenbezirke von Portsmouth erreichten. Der Chauffeur wollte ins Stadtzentrum und passierte auf diesem Weg lange Reihen von hohen Klinkerbauten. An einer Kreuzung zweier Hauptstraßen bog er in die hintere Zufahrt einer im neunzehnten Jahrhundert erbauten Kirche mit dem Namen St. Mary’s ein, während der Regen an Heftigkeit zunahm.
»Es wäre nett, wenn Sie mich am Bahnhof absetzen könnten«, sagte der Spediteur, als er feststellte, dass die große Limousine über einen kleinen Friedhof neben der Kirche rollte und hinter der Sakristei stoppte.
»Ich wurde gebeten, den Text für eine Predigt hier abzugeben«, erwiderte der Geistliche. »Es dauert nur einen Augenblick. Wollen Sie nicht kurz mitkommen?«
Der Spediteur unterdrückte ein Gähnen, während er aus dem regennassen Fenster schaute. »Nein, ich glaube, ich bleibe lieber hier im Trocknen.«
»Wie Sie wollen. Wir sind gleich wieder da.«
Der Geistliche und der Chauffeur entfernten sich und gaben dem Spediteur Gelegenheit, sein Blutgeld zu zählen. Als er versuchte, die einzelnen Bank-von-England-Scheine zu addieren, hatte er plötzlich Schwierigkeiten, die Zahlen zu lesen, und stellte fest, dass vor seinen Augen alles verschwamm. Ihn überkam eine plötzliche Müdigkeit, dann steckte er das Geld ein und streckte sich auf dem Rücksitz aus, um sich auszuruhen. Auch wenn es ihm wie mehrere Stunden vorkam, waren doch nur ein paar Minuten verstrichen, als kaltes Wasser in sein Gesicht spritzte und er mühsam die Augen aufschlug. Das ernste Gesicht des Geistlichen schaute inmitten eines Regenschauers auf ihn herab. Sein Gehirn sagte ihm, dass sich sein Körper bewegte, und doch hatte er kein Gefühl in den Beinen. Immerhin schaffte er es, seinen Blick so weit zu schärfen, um zu erkennen, dass der Fahrer seine Beine trug, während der Geistliche ihn an den Armen schleppte. Ein Paniksignal hallte durch seinen Schädel, und er konzentrierte seinen Willen darauf, eine Webley-Bulldog-Pistole aus der Tasche zu holen. Aber seine Gliedmaßen gehorchten nicht. Der Brandy, dachte er in einem Anflug plötzlicher Klarheit. Es war der Brandy.
Ein Baldachin aus grünem Laub füllte sein Gesichtsfeld, als er durch einen Wald hoch aufragender Eichen getragen wurde. Das Gesicht des Geistlichen schwebte immer noch über ihm, eine düstere Maske tiefster Gleichgültigkeit, lediglich durch zwei eisige Augen erhellt. Dann sackte das Gesicht weg, oder genauer: Er sackte weg. Mehr als er spüren konnte, hörte er, wie sein Körper in einen Graben fiel und in einer Schlammpfütze landete. Flach und starr auf dem Rücken liegend blickte er zu dem Geistlichen hoch, der sich mit einer Miene über ihn beugte, die einen Anflug von Schuld ausdrückte.
»Vergib uns unsere Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er die ernste Stimme des Geistlichen sprechen. »Sie sind es, die wir hier zu Grabe tragen.«
Die Rückseite einer Schaufel erschien, gefolgt von einem Klumpen feuchter Erde, der auf seine Brust prallte und zerplatzte. Eine weitere Schaufel voller Erde regnete auf ihn herab, dann eine dritte.
Sein Körper war gelähmt, und seine Stimme versagte, doch sein Geist war hellwach und erkannte, was mit ihm geschah. Mit wachsendem Grauen begriff er, dass er lebendig begraben wurde. Er sandte seinen Gliedmaßen Befehle, sich zu bewegen, sich zu wehren, doch sie reagierten nicht. Während sich sein Grab stetig mit Erde füllte, hallten seine Entsetzensschreie nur in seinem Geist wider, bis sein letzter Atemzug qualvoll erstickt wurde.
Hampshire