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Richard Wagner, geboren 1952 im rumänischen Banat, arbeitete dort als Journalist und veröffentlichte Lyrik und Prosa in deutscher Sprache. Nach Arbeits- und Publikationsverbot verließ er Rumänien im Jahr 1987 und lebt seitdem als freier Schriftsteller in Berlin. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm der Roman Belüge mich (2011) und, gemeinsam mit Thea Dorn, Die deutsche Seele (2011).
Ein wichtiger Indikator für das Gleichgewicht einer Gesellschaft ist das in ihrer Öffentlichkeit allgemein akzeptierte Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sprich: Wie viel Vergangenheit braucht diese? Wie viel Gegenwart weiß sie sich zu verschaffen? Wie viel Zukunft billigt sie sich zu?
Was, wenn eine im Jahr 2001 in Glasgow gegründete Band sich Franz Ferdinand nennt, und das nach dem habsburgischen Erzherzog und Thronfolger, dessen Tod durch ein Attentat 1914 der Anlass für den Beginn des Ersten Weltkriegs wurde?
Das Gespräch der Bandmitglieder, das zur Namensfindung geführt habe, sei, wie das Management mitteilt, mit Pferderennen und Erzherzögen gestartet, und an dem Habsburger habe den Glasgower Musikern nicht zuletzt die Idee der Veränderung, die den Österreicher umtrieb, imponiert. Schließlich wollten sie mit ihrer Musik auch was verändern.
Wer wüsste nicht, dass es auf das Wir ankommt, wenn es um das Ich geht – und wer wüsste nicht, was das Ich vermag, wenn das Wir sich zu bewähren hat. Das Ich, das anlässlich einer Jahrhundertwende angeblich zerfallen ist. Dagegen war der Zustand des Wir immer schon prekär. Doch während die Methoden der Täuschung, die das empörte Ich zu beschwichtigen versuchten, sich zu Therapien auswuchsen, blieb das Wir zunächst ein Objekt von Geschichte, Politik, Kultur und Gesellschaft. Erst mit der Entdeckung der Massenpsychologie erkannte man die Bedeutung des Wir für das Gleichgewicht der Gesellschaft. Im Ergebnis ist das Wir nicht mehr ein Ganzes, es ist nicht einmal mehr ein Name der Mehrheit. Seine Population wechselt, sie zerfällt vorübergehend in überraschende Interessengruppen.
Das Habsburgische Reich war der erste moderne Großstaat in Mitteleuropa, der mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu rechnen hatte. Mit dem Untergang des eigenen Kosmopolitismus und dem Aufstieg des Multikulturellen, nicht zuletzt durch die Anpassung des Rechtsstaats an den Pluralismus der Werte, wird die verlorene Welt der Habsburger zum fernen Spiegel europäischer Gegenwart. Dieser Spiegel aber zeigt uns den Zerfall des Wir.
Aus meiner Kindheit erinnere ich drei Wörter, die mit der Donau zu tun hatten. Diese Wörter belebten unser Haus. Das erste hieß Schwarzwälder Uhren, das zweite Ulmer Schachtel, und das dritte, das ich aus der Schule heimbrachte, lautete Donaudampfschifffahrtsgesellschaft. Im Deutschunterricht wurde es als eines der längsten zusammengesetzten Substantive genannt, genau genommen: Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän. So der Deutschlehrer.
Ich hatte ihn lange im Verdacht, dass er das Wort erfunden habe.
Damals, im rumänischen Stalinismus, war die Donau weit weg, Schwarzwälder Uhren galten als präzise, und mit der Ulmer Schachtel, so ging das Gerücht, seien unsere Vorfahren, die Gründer des Banater Schwabentums, die Donau runter in dieses flache Land gekommen, das die Ungarn für ihres hielten, die Rumänen später auch, und mit den Rumänen die Serben.
Uns, die Banater Schwaben, haben die Habsburger ins Land gebracht. Damit hatten wir im 20. Jahrhundert insgesamt schlechte Karten, zunächst wegen der Habsburger und später wegen eines anderen Österreichers.
Der Rest hatte seinen Territorialanspruch. Wir hatten nichts, und seit dem Ende des Tausendjährigen Reichs hatten wir gar nichts mehr. Wir waren nur noch Mitteleuropäer, und Mitteleuropa war eine andere Bezeichnung für das Imperium, das als Gefängnis der Völker und mit ähnlichen Parolen, die damals die Donau-Anrainer in Umlauf brachten, traktiert wurde. Man schmückte sich mit Vorliebe die angebliche Willkürherrschaft der Doppelmonarchie aus und schoss auf die Flüchtlinge aus dem eigenen Land, die bei Orschowa das jugoslawische Ufer schwimmend zu erreichen suchten.
Orschowa war die Hafenstadt der Jahrhundertwende am Unterlauf der Donau. Von ihr aus konnte man in wenigen Tagen Wien erreichen oder, in einer Ruderstunde, die osmanisch gebliebene Donauinsel Ada Kaleh.
Die Territorialfrage hat Europa ein Jahrtausend zu schaffen gemacht. Kein Europäer lebt in der eigenen Vorstellung in Europa, alle leben in ihren nationalen Grenzen. Oder dahinter. Zumindest über diese Grenzen bestehen klare Vorstellungen, wenn auch einander widersprechende.
Darüber hinaus gibt es die viel zitierte Vokabel »hinternational«, die von dem Prager Schriftsteller und Kafka-Auskunftgeber Johannes Urzidil stammt. Was könnte »hinternational« schon symbolisieren oder auch nur suggerieren, außer der Grundierung einer Malerei? Kauft vielleicht jemand ein Bild wegen der Grundierung? Gibt es Auktionshäuser für Grundierungen, die uns entgangen sind? Oder wollte Urzidil bloß sagen, er sei in der nationalen Frage ein Hinterwäldler?
Als Gemeinsamkeiten der Europäer gelten gewöhnlich Phänomene, die kaum etwas mit der Territorialfrage zu tun haben: parlamentarische Demokratie, industrielle Revolution. Zu Europa bekennen sich Völker, deren Anteil an der Herausbildung von Industrialisierung und Demokratie so unterschiedlich ist, dass Rémi Brague, einer unserer letzten großen abendländischen Gelehrten, von abgestufter Zugehörigkeit spricht. Das ist im Donauraum nicht anders. Auch dieser hat seine Peripherie.
Festzustellen ist, dass der nach der Wolga zweitlängste Fluss Europas aus der bedeutsamen Mitte des Premiumbereichs ins Nichts der östlichen Peripherie strebt, in irgendein Schwarzes Meer. Immerhin fließt er auf ein Delta zu, das sich des naturwissenschaftlichen Interesses auch in Zukunft sicher sein kann.
Die Dynamik des Donauraums aber beschränkt sich weitgehend auf den Mitteleuropa-Teil des Flusses. An seinem Unterlauf, der die Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien bildet, ist auch heute nicht viel los. Und warum?
Warum wurde und wurde die zweite Donaubrücke zwischen Rumänien und Bulgarien nicht fertig? Sie wurde erst Mitte Juni 2013 mit dreijähriger Verspätung und nach 13 Jahren Bauplanung und -tätigkeit geöffnet. Sie heißt »Neues Europa« und befindet sich mitten in einer, wie der EU-Jargon vermerkt, strukturschwachen Region.
Umsonst richtete man in Rustschuk, südlich von Bukarest an der Donau gelegen, heute Russe, eine Gedenkstätte für den hier geborenen Elias Canetti ein, das Canetti Center, es wird nicht viel an der bulgarischen Bedeutungslosigkeit ändern. Canetti gehörte den Spaniolen an, den aus Spanien vertriebenen Juden, die das Osmanische Reich aufnahm und auf dem Balkan ansiedelte. Die Familie des späteren großen österreichischen Denkers lebte in der Exterritorialität der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft. Das Unternehmen hatten die Europäer vor dem Krimkrieg zur Aufrechterhaltung ihres Handelswegs zum Schwarzen Meer eingerichtet. An den Flussufern herrschten die Osmanen über das geographische Nichts, auf den Schiffen und in den Häfen, in den Tanzbars und in den Privatbibliotheken, rührte sich der mitteleuropäische Zeitgeist. Er rief donauaufwärts, zu den Fahnen des Fin de siècle. Canetti war sechs Jahre alt, als er zu ihnen eilte. Über seinen Geburtsort Rustschuk aber schrieb er später in seiner Autobiographie Die gerettete Zunge: »Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte.«
Gerade im Fall Canetti zeigt sich ein weiteres Mal, dass die frühe Leitsprache über die Territorialfrage entscheidet. Rustschuk ist eine Erfindung, Canetti nicht. Er fuhr die Donau hinauf, von Wien bis London, und dass ihm bei seiner großen Reise das Territorium nicht abhandengekommen ist, selbst in Großbritannien nicht, liegt an seinem Deutsch, der Sprache, in der er dachte und schrieb. Canetti: »Meine Eltern untereinander sprachen deutsch, wovon ich nichts verstehen durfte. Zu uns Kindern und zu allen Verwandten und Freunden sprachen sie spanisch. (…) Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dramatische Vorgänge (…) sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf.«
Weil die Eltern mit Hilfe der deutschen Sprache Macht ausübten, musste das Kind sich diese Sprache aneignen. Dass der Sechsjährige aus Rustschuk fortkam, war die beste Voraussetzung, es war eine schicksalhafte Wendung. Sie brachte ihn schließlich in den großen Hafen Wien, wo alle Schiffe anlegten und jede Fracht der Welt gelöscht wurde.
Zwischen Ost und West. Transfers aller Art. Und jetzt?
Mitteleuropa, mit seinem deutschen Kern und seiner habsburgisch-österreichischen Prägung, hat wieder die Aufgabe des Wertetransfers zwischen West und Ost. Das ist seit dem Mittelalter so gewesen, seit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, der Hanse und der deutschen Ostkolonisation. Mitteleuropa ist Durchgangsraum und Waage, Balance für Ost und West. Sein Fahrwasser ist wieder die Donau. An ihren Ufern aber lagern wie eh und je Touristen und Terroristen.
Die einen wie die anderen frequentieren das Uhrenmuseum, um dort beispielsweise eine Bodenstanduhr zu begutachten, deren Werk von 1837 stammt und das Gehäuse von 1851.
Die Uhr hat ein Mattglas-Zifferblatt mit römischen Zahlen und Minuterie. Sie hat zentrische Zeiger für Stunden und Minuten und eine exzentrische Anzeige für Sekunden. Datum, Monatsnamen, Mondphasen und Wochentage mit den diesen entsprechenden Planetensymbolen. Messingwerk mit Grahamgang, ein für Geh- und Schlagwerk gemeinsamer Gewichtantrieb mit Kontragesperr, Pendel mit Federaufhängung, Viertel- und Stundenschlagwerk mit einer einzigen Schlossscheibe und auf zwei Glocken.
Auf dem Zifferblatt und auf dem Werk – sign u. dat: Ratzenhofer in Wien.
Nur besonders gut ausgeführte, gewichtgetriebene Pendelregulatoren sind mit dem Kontragesperr ausgestattet. Dabei handelt es sich zumeist um eine am Walzenrand befestigte Blattfeder, welche bewirkt, dass die Uhr während des Aufziehens nicht stehenbleibt.
Blickt man aus dem Fenster, glaubt man sich in einer Garnisonsstadt am Ende der Welt, höre ich Reisner sagen. Er ist der Bibliothekar in Hermannstadt, in Siebenbürgen, gleich nach dem Großen Krieg. Dem Ersten.
Es ist, als sollten jeden Augenblick die Barbaren eintreffen, sagt er, oder die Tataren. Gerade wird der Oberst Drogo auf der Bahre rausgetragen – er, der schon so lange auf die Tataren oder Barbaren gewartet hatte, im festen Glauben, dass sie noch rechtzeitig eintreffen würden in der Festung am Rande der Welt, um ihm den Tod zu erleichtern, um es ihm einfacher und damit plausibel zu machen, er, der Oberst Drogo sei im Kampf gefallen, im Kampf gegen Tataren und Barbaren, und anschließend werde man ihn aufbahren und zum Kaiser nach Wien fahren, dorthin, wo der Walzerkönig laut Protokoll gleich nach dem Kaiser kommt und ihm, dem Oberst Drogo, was komponieren wird: einen Marsch, den wird man ihm blasen. Sagt eine Stimme, der ich unwillkürlich nachhorche.
Und sie sagt: Ich bin der Bibliothekar. Mein Name ist Reisner. Erwin Reisner. Ich habe zeitweise die Brukenthal-Bibliothek im siebenbürgischen Hermannstadt betreut. Die Bibliothek, die Samuel von Brukenthal, der Gouverneur Siebenbürgens im 18. Jahrhundert, eingerichtet hat. Brukenthal, ein Vertrauter der Kaiserin Maria Theresia, der einzige Siebenbürger Sachse in diesem Amt, sagt die Radiostimme.
Siebenbürger Sachsen, im 12. Jahrhundert im Karpatenbogen angesiedelt, sagt die Stimme. Siebenbürgen hatte, zwischen Österreichern und Osmanen liegend, einen Sonderstatus als Fürstentum von drei Nationen. Ungarn, Szekler und Sachsen.
Es ist eine Stimme aus einer anderen Zeit. Man könnte sogar sagen, aus einem anderen Buch. Solche Stimmen gehören zum Risiko der Bibliothek. Wer eine Bibliothek betritt, um sich in einer bestimmten Sache eine Meinung zu bilden, wird diese Bibliothek bald wieder verlassen müssen, wenn er bei seiner Meinung, bei der, die er sich gerade gebildet hat, bleiben will.
So die Reisner-Stimme, die Radiostimme.
Ich, noch ein Kind im stillen Banat, aber schon mit Chubby Checker vertraut, höre die Stimme sagen, die Reisner-Stimme, die RIAS-Stimme: Im Augenblick suche ich nach einem Nachfolger, der das alles übernimmt, denn ich selbst, sagt er, sehe Aufgaben auf mich zukommen, die sich mit der Idee der Bibliothek und deren Pflege kaum vereinbaren lassen. Während der Bibliothekar seinen Büchern zu dienen hat, betrachtet der Theologe das Ganze mit großer Skepsis.
Auch du könntest der Bibliothekar sein, sagt Reisner. Das Du, das er ausspricht, ist ein Du, wie es nur in einem Rundfunkstudio zur Sprache kommen kann.
Reisner ist Theologe. Es ist doch noch etwas Bürgerliches aus dem Privatgelehrten geworden. Und schon braucht ihn die Akademie zu Berlin.
Wie schon der Name sagt, sagt Reisner, der jetzt von der Bibliothek spricht, handelt es sich um eine Büchersammlung zum Haus Habsburg, zu dessen politischer und gesellschaftlicher Rolle in Mitteleuropa, vor allem im achtzehnten, im neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert.
Twist again!, ruft meine Kinderstimme, und ich weiß nicht warum. Vielleicht ja bloß, um sich von jemandem oder auch nur durch etwas zu unterscheiden.
Dass das Ich nicht nur die Fronten wechselt, sondern das eigene Gepräge zu bestimmen sucht, ist gerade mal für eine Jahrhundertwende zu haben.
So könnte man im übrigen beginnen, hätte nicht alles längst angefangen, und wäre das meiste nicht schon vorbei oder zumindest vorbeierzählt.
»Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und Verneinung. Und unzählige Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« (Wittgenstein beim Verlassen der Brukenthal-Bibliothek in Hermannstadt, circa 1934? Ein Reisner-Witz? Aus der RIAS und Piefke-Sendung?)
Die Wahrheit ist, im Belvedere in Wien, wo einst die Berater des Thronfolgers Franz Ferdinand saßen, sind Touristen unterwegs. Sie betrachten das Ganze wie potentielle Käufer. Es sind Aufkäufer und Freikäufer. Sie eignen sich alles an und sagen sich bei der erstbesten Gelegenheit von sich los.
Im böhmischen Jungbunzlau – so erzählt es uns der tschechische Satiriker Jaroslav Hašek – lebte der Papierhändler Petiška. Er achtete die Gesetze und wohnte seit eh und je gegenüber der Kaserne. An Kaisers Geburtstag und bei anderen k. und k. Gelegenheiten hängte er die schwarz-gelbe Fahne heraus und lieferte Lampions ins Offizierskasino. Er verkaufte Bildnisse vom Kaiser Franz Joseph an die jüdischen Kneipen im Kreis Jungbunzlau und an die Gendarmeriestationen. Er hätte Bildnisse des Monarchen auch an die Schulen des Kreises verkauft, aber sie hatten nicht die vom Landesschulrat vorgeschriebene Größe. Das hatte ihm einst ein k. und k. Landesschulinspektor auf der Bezirkshauptmannschaft gesagt:
»Es tut mir sehr leid, Herr Petiška, aber Sie wollen uns den Herrn Kaiser breiter und länger liefern, als es durch einen Erlass des löblichen Landesschulrats vom 20. Oktober 1891 vorgeschrieben ist. Der durch diesen Erlass festgesetzte Kaiser ist etwas kürzer. Zulässig ist nur ein Monarch mit einer Länge von 48 cm und einer Breite von 36 cm. Ihr Herr Kaiser jedoch ist 50 cm lang und 40 cm breit. Glauben Sie ja nicht, dass Sie uns Schund andrehen könnten. Ihr ganzer Kaiser ist eine Ware von allerletzter Qualität und erbärmlicher Aufmachung.«
Als der Wiener Archäologe Pohanka unter der Minoritenkirche das Skelett eines Mannes ausgrub, das auf dem Bauch lag, die Füße über Kreuz, einen Arm vor der Brust, den anderen hinter dem Rücken, stand er vor einem Rätsel. Er ließ einen Sarg kommen und legte sich in derselben Stellung hinein, in der er das Skelett gefunden hatte. Das Ergebnis seines Experiments – der Mann war lebendig begraben worden und hatte versucht, mit dem Rücken den Sargdeckel aufzustemmen – bezeichnete Pohanka als ›einen Alptraum, der unbeabsichtigt die österreichische Zerrissenheit‹ illustriere: außen der scheinbar geordnete Alltag, innen Verzweiflung und Ängste. Der Gedanke ist naheliegend, daß Sigmund Freud seine Entdeckungen zwangsläufig in Wien machen mußte, wo die Erkenntnisse zwar nicht auf der Hand, jedoch auf einer unterirdischen, nur scheinbar ›verschwundenen‹ Ebene lagen.«
So weit die etwas launige Einschätzung Wiens durch den Kenner seiner Katakomben, den Schriftsteller Gerhard Roth. Zu Wiens Mysterien gehören auch, laut seiner Mitteilung, die unterirdischen Depots der Nationalbibliothek mit ihren gut gehüteten Geheimnissen, die sich allerdings auf das Auffinden der Bücher beziehen, nicht auf ihren Inhalt.
Zu den Aufgaben des Bibliothekars gehört auch die Sicherung des schnellen Zugriffs auf die Bücher. Ein Buch lässt sich nur finden, wenn seine Nachbarschaft bekannt ist. Ein Buch steht schließlich immer zwischen zwei weiteren Büchern. Es muss also eines von dreien gefunden werden, und schon hat man den Ort, an dem man suchen muss.
Es gibt Orte mit Büchern und Orte ohne Bücher. Wien ist ein Ort mit Büchern, es ist ein Ort an dem Bücher gelagert werden. Wien ist einer der Orte, an denen Bücher gelesen werden. Studienhalber und zum Zeitvertreib. An solchen Orten erhält die Sprache mitunter starke Energien, sie gewinnt an Kraft, und die Worte beginnen zu wirken und Macht zu erwerben.
Wien ist ein solcher Ort. Dort kam ein Philosoph zu Tode. 1936 war es, der Mann gehörte dem Wiener Kreis an, Akademiker, die der Sprachlogik folgten, um das Wissen aus dem Mantel der Metaphysik zu befreien. Nur das Wort als solches sollte Geltung haben. Sie fanden es bei Wittgenstein, den sie verehrten, wie der Philosoph Rudolf Carnap noch in seinen Memoiren zu berichten weiß.
Moritz Schlick wurde erschossen. Zuerst dachte man an eine politisch motivierte Tat, und irgendwie traf es auch zu, nur die Details machten die Angelegenheit komplizierter. Bei dem Täter handelte es sich um einen ehemaligen Studenten von Schlick, der sich in der Sache wohl verirrt hatte, und für seine Verwirrung den Lehrer verantwortlich machte.
Wer der Sache auf den Grund gehen will, der lässt die Metaphysik gelten oder er setzt auf die Logik. In beiden Fällen ist er der Betrachter, im Falle der Entscheidung für die Logik verfügt er sogar über das zu Betrachtende.
Es blieb die Frage, was die »Wissenschaft« gegen die Metaphysik auszurichten vermag, und zu welchem Zweck.
Eine Kleinigkeit? Eine Jahrhundertfrage! Eine Frage der Bibliothek?
Schlick war tot, und Wittgenstein, der Meister, Carnap und all die anderen Denker des Denkens, Menger, von Mises und Popper, sie gingen nach London oder Cambridge, nach Amerika oder sonst wohin und setzten ihre Lehre dort fort. Wer noch alles auf welche Weise zu Tode kam und wie die Wissenschaft ihnen langsam aber stetig entglitt, erfahren Sie aus den entsprechenden Nachschlagewerken.
Wer die Bibliothek verlässt, hat ein Ziel vor Augen, und wenn ihm dieses Ziel abhandenkommt, oder an Überzeugungskraft einbüßt, so ist nicht die Bibliothek dafür verantwortlich zu machen.
So denkt Erwin Reisner, ein Bibliothekar, von dem hier noch die Rede sein wird.
Dass die Kaiserhymne in Wien auf Deutsch und in zehn weiteren Sprachen gesungen wurde, ist bekannt. Der Kaiser konnte es sich leisten, seine Völker, wie sich herausstellen wird, nicht. Sie wollten zwar in ihrer Sprache singen, aber nicht das Lied auf den Kaiser.
Bekannt ist auch, dass nach dem Ende des Hymnenabsingens der Kaiser verschwunden ist. Darüber gibt es zahlreiche Spekulationen. Manche vermuten ihn sogar in Brüssel. Was aber sollte den Kaiser dazu bewogen haben, ausgerechnet nach Brüssel zu gehen? Sollte er sich vielleicht die sogenannte Europa-Hymne angetan haben, diesen Doppel-Kitsch von Schiller und Beethoven, der angeblich verhindern soll, dass der Staatsbesuch gleich nach der Zentralbank fragt?
Es wäre tatsächlich Aufgabe der Monarchie, die Umstände, unter denen die Angelegenheiten öffentlich werden, zeremoniell so zu gestalten, dass die Gäste, beispielsweise wegen der Zentralbank, nicht mit der Tür ins Haus fallen müssen, wie zumindest die Franzosen früher einmal dachten.
Kakanien, wie Robert Musil die Doppelmonarchie in seinem Mann ohne Eigenschaften nannte, hatte übrigens zwei Zentralbanken, Direktionen genannt, eine in Wien, eine in Budapest. Als sich die Völker im letzten Kriegsjahr davonmachten, alles stehen und liegen ließen, um dem Aufruf ihrer Heimatsprecher nachzukommen und die neuen Staaten zu gründen, wurde von den selbsternannten Verwaltern der öffentlichen Angelegenheiten, im Eifer des Gefechts um Straßenumbenennungen, Denkmalentfernung und Postenschacher, die Zentralbanken und damit die Währung buchstäblich vergessen. Es waren eh alles Kronen, alles auf Papier, und überstempeln konnte man immer noch.
Die Kaiserhymne wurde in den folgenden Sprachen gesungen: Deutsch, Jiddisch, Ungarisch, Italienisch, Tschechisch, Slowakisch, Kroatisch, Polnisch, Ruthenisch, Slowenisch, Rumänisch.
Die Melodie stammt von Joseph Haydn und bildet auch die musikalische Grundlage für Fallerslebens Lied der Deutschen. Ihren Ursprung hat die Melodie im übrigen in einem kroatischen Volkslied.
Seine Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät Franz Joseph I. von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Croatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien, König von Jerusalem etc., Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana und Krakau, Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnthen, Krain und der Bukowina, Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren, Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara, gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradiska, Fürst von Trient und Brixen, Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien, Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg etc., Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen Mark, Großwojwode der Wojwodschaft Serbien etc. etc.
Wo das Nachdenken zur Sprache kommt, wird alles zunächst einmal als Wort in Erscheinung treten. Ob es nun die Donau ist, der Habsburg-Mythos in der Literatur oder der Friedensvertrag von Saint-Germain.
In den sogenannten Krisenzeiten wird es überdeutlich. Das geschriebene Wort will Alarm schlagen und das gesprochene wird zum gebrüllten Wort. Die Krise ist gewöhnlich laut. Es ist die gewöhnliche Krise. Sie präsentiert sich gerne als ökonomische, ist aber auch Kulturkrise.
Im 20. Jahrhundert hat nicht alles anders zu sein, wie man in seiner ersten Hälfte dachte, sondern alles muss in einem bis zu dem Zeitpunkt unbekannten Ausmaß in Bewegung bleiben. Zum Ausdruck kommt dieser Tatbestand durch die Wörter »total« und »totalitär«, und es kommt darauf an, Geschwindigkeit und Beschleunigung zu ertragen.
Sie nisten sich sowohl im ideologischen Diskurs als auch in der Werbesprache ein. Wann aber ist es totale Werbung, und wann ist es Drohung?
Bleiben Sie stehen, Herr Wittgenstein. Sagen Sie was!
Die Diskussion darüber, wer Europäer ist, und warum, bleibt vermint. In der Vorstellung des Wiener Publikums ist es meist Jedermann, der den Horizont der Nation überschreitet, was man gelegentlich als überwinden deutet – einer, der, und das nur als Beispiel, mehr zu sein hätte als ein Österreicher und so als Arnold Mustermann dem arglosen Nichteuropäer entgegentritt. Das Problem ist: Kein Nichteuropäer, der einem Österreicher begegnet, würde sagen, er sei einem Europäer begegnet. Er würde sagen, er sei einem Österreicher begegnet, und das ist auch ganz normal, denn das Maximum ist in Österreich selbstverständlich der Österreicher. Sogar als Europaabgeordneter ist er ein Österreicher, und dort, im Europaparlament, erst recht.
Tritt man dem Nichteuropäer als Österreicher gegenüber, hat man es sicherlich leichter als in der Rolle des Europäers. Was sollte der Afrikaner speziell dem Österreicher schon vorwerfen können? Als Europäer dagegen müsste man für die Kolonialgeschichte der Briten und Franzosen geradestehen. Und das bei dem mickrigen Schifffahrtsanteil, aufgrund eines einzigen, noch dazu windigen Hafens, Triest, in dem es in den Kontoren, wie es heißt, stiller gewesen sei als an den Schreibtischen der Belletristen. Kaum jemals habe man von Österreich aus das Mittelmeer verlassen, es sei denn, um die Melancholie auf Madeira zu pflegen.
Eine Habsburger Marotte? Heute gehört Österreich zu den Geberländern der EU, und das ist nicht zuletzt seiner Nachkriegsgeschichte zu verdanken. Österreich war klein genug, um nicht sowjetisiert werden zu können. Die sowjetische Besatzungszone hatte nicht die ausreichende Größe, um daraus einen Staat machen zu können, etwa eine ÖDR, Österreichische Demokratische Republik.
Zur Sowjetzone gehörten: das Burgenland, Niederösterreich, Teile von Oberösterreich und ein Sektor in Wien. So gesehen, wurde Österreich nicht erst durch den Staatsvertrag von 1955 gerettet, sondern bereits durch seine Kleinheit.
Mit anderen Worten, die gewieften Wiener Sozis, Karl Renner und Otto Bauer, konnten auf das Schicksal setzen und das österreichische Volk zum Opfer der Nazis erklären. Jedes Dorf, das sich zu irgendeiner Neutralität bekannte, wurde von der Sowjetunion für den Beitritt zum Friedenslager belohnt. In den Augen Moskaus schwächte die Neutralität die gegnerische Supermacht.
Genauer genommen, bedeutet neutral aber, ohne Meinung zu sein, und das vor allem zu den wichtigen Fragen der Zeit. Ist das Neutrale also eigenschaftslos? Oder doch nur unmoralisch?
»Denke dir, jemand sagte: ›Alle Werkzeuge dienten dazu, etwas zu modifizieren. So, der Hammer die Lage des Nagels, die Säge die Form des Bretts, etc.‹ – Und was modifiziert der Maßstab, der Leimtopf, die Nägel? – ›Unser Wissen um die Länge eines Dings, die Temperatur des Leims, und die Festigkeit der Kiste.‹ – Wäre mit dieser Assimilation des Ausdrucks etwas gewonnen?«, fragt sich Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen.
Im Grunde gab es in Europa seit der Einrichtung des Bürgerstaats der modernen Industriegesellschaft nichts als den sogenannten Mittelstand. Er reichte bis in die Oberschicht hinein, und war doch an seinem unteren Ende mit dem Proletariat verwurzelt. Der Mittelstand heiratet in den Hochadel hinein und zeugt Nachkommenschaft mit der Unterschicht.