Da beißt ein Briefträger einen Hund. Ich reiße meine Frau am Arm:
Guck mal! Guck mal!
Kennen Sie diesen Impuls? Sie entdecken etwas und müssen es unbedingt jemandem mitteilen? Ich habe Storm entdeckt, ich habe Theodor Storms Liebesgedichte entdeckt, und ich muß das unbedingt mit Ihnen teilen.
Nun fragen Sie, was ist das für ein Mann, der erst heute Storm entdeckt. Und was ist da Großes dran, an Storm? Wo ist der Briefträger? Wo der Hund? Sie haben recht. Klar, ich kannte den Namen Storm. Aber wenn ich ihn hörte oder las, schüttelte es mich. Und wieso schüttelte es mich? Um das zu erklären, muß ich zurückschauen.
Die Insel Amrum liegt am weitesten von allen friesischen Inseln draußen im Meer. Für uns Kinder war dieses vom Wasser getragene, vom Horizont umschlossene Stück Land die ganze Welt.
Der eher unangenehme Teil dieser ganzen Welt war mir die einklassige Volksschule in Norddorf. Dort regierte mit seinem Zepter, besser, mit seinem Rohrstock ein Lehrer. Er kam vom Festland, ein Fremder! Und nicht nur das. Normale Leute vom Festland sprachen Friesisch wie wir, auch wenn das ein Festlanddialekt des Friesischen war, den wir kaum verstanden. Oder sie sprachen Plattdeutsch. Nicht ganz so normale Fremde sprachen Hochdeutsch. Dieser Lehrer aber sprach ein Deutsch, das kein Deutsch war. Er sprach Ostpreußisch. Er war Katholik. Die kindliche Grausamkeit findet da schnell einen Reim:
Katholiken,
wie sie quieken,
wenn sie in die Bibel kieken.
Heute weiß ich, das war ein gütiger Mann. Er hatte unter feindlichem Feuer durch Flucht sein Leben retten können; kaum vorstellbar, was er gesehen und hatte ertragen müssen. Er wollte uns, sicher nach bestem Können, nicht nur das Rechnen und das Schreiben beibringen. Wir sollten auch den großen Dichter Nordfrieslands, Theodor Storm aus Husum, kennenlernen. Vermutlich sollten wir stolz auf unsere friesische Kultur werden.
An’s Haf nun fliegt die Möwe,
Und Dämm’rung bricht herein.
Und das mit ostpreußischem Akzent gelesen. Damit hatte der doppelt fremde Fremde endgültig Schiffbruch erlitten. Wenn wir auf der Insel das Wort Möwe hörten, überlegten wir, wo wir ihre Nester finden und ihre Eier klauen konnten. Das war nach dem Winter 1947/48, in dem unsere Steckrüben und Kartoffeln gefroren und noch im Frühling als ekliges Mus auf den Tisch kamen. Da waren Möweneier die reine Delikatesse.
Können Sie sich vorstellen, Sie stehen 1948 als kurzer, dicker Ostpreuße vor der versammelten Dorfjugend einer kleinen nordfriesischen Insel? Vor einer Dorfjugend, deren Voreltern nur durch Härte, auch sich selbst gegenüber, auf dem mageren Stück Land oder auf See überlebt hatten? Die Jugend, die Sie erziehen wollen, sitzt vor Ihnen wie ein Steinwall, steht vor Ihnen mit der Gleichgültigkeit einer Mauer.
Der arme Mann konnte nur reagieren, wie er es gelernt hatte, mit dem Rohrstock. Statt mich ins Werk Storms einzuführen, hat er mir den Storm ausgeprügelt.
War das noch eine im Vorbewußten des Kindes wirkende Austreibung, kam später eine bewußte Verurteilung Storms hinzu. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war uns die Moral der Eltern unerträglich geworden. Sie hatten das Dritte Reich gewollt, zumindest aber nichts dagegen unternommen. Schlimmer noch, sie wollten oder duldeten, daß Wirtschaftsführer, hohe Beamte, Richter, sogar Professoren, die im Dritten Reich ihre Karriere begonnen hatten, auf das Werden der jungen Bundesrepublik entscheidend Einfluß nahmen. Der Bundeskanzler Adenauer hatte den Kommentator der nationalsozialistischen Nürnberger Rassegesetze, Globke, zu seinem Staatssekretär gemacht.
Im Kampf gegen die Werte dieser Welt fanden wir, die Studenten, daß die Nationalsozialisten auch Theodor Storm als Dichter des Deutschen benutzten oder, wie einer schrieb, als den Dichter des »nordgermanischen Naturgefühls. Pfui Teufel, nicht nur »germanisch«, auch noch »nordgermanisch«. Weg damit, auf den Müllhaufen ideologischer Heimatverkleisterung, einfach weg damit!
Im September 2006, vierzig Jahre waren vergangen, hatte mich Arnulf Conradi, der Verleger, nach Sylt eingeladen. Wir wollten dort rastende Zugvögel beobachten. Birdwatching ist unser beider Leidenschaft. Zur Vorbereitung unserer Exkursion suchte ich in ornithologischer Literatur. Ich telefonierte mit meinem Amrumer Vetter Georg Quedens, dem versiertesten Seevogelornithologen, den ich kenne. Und ständig gingen mir dabei zwei Zeilen durch den Kopf:
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her.
Was war das? Was war das?
Sie wissen wahrscheinlich, was ich da zitiere. Ich aber brauchte Tage, um es herauszufinden. Mit diesen Zeilen beginnt die zweite Strophe eben jenes Gedichtes, das in mir versackt war wie ein Wrack im Wattenschlick, im Klei, wie man auf Amrum sagt.
Ich suchte und fand eine Gesamtausgabe von Storm, die meine Frau mal gekauft hatte, weil sie so verführerisch billig gewesen war. Ich hatte vorher nie hineingeschaut.
An’s Haf nun fliegt die Möwe,
Und Dämm’rung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.