Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Zuletzt erschienen von ihr Hoffnung in der Dunkelheit und Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit lebt in San Francisco.
Für alle Mütter und Wölfe
Welche Geschichte ist deine? Alles liegt im Erzählen. Geschichten sind Kompass und Architektur, wir orientieren uns an ihnen, wir bauen unseren Glauben und unser Gefängnis aus ihnen, und ohne Geschichte zu sein hieße, sich in der ungeheuren Weite der Welt zu verlieren, einer Weite, die sich wie die arktische Tundra oder das Eismeer in alle Richtungen auszudehnen scheint. Jemanden lieben bedeutet, sich in ihn hineinzuversetzen, sagen wir, sich selbst in dessen Geschichte zu verankern oder herauszufinden, wie man sich selbst dessen Geschichte erzählen könnte.
Ein Ort also ist eine Geschichte, und eine Geschichte ist Geographie. Mitgefühl ist vor allem Imagination, eine Kunst des Erzählers, und schließlich eine Reise von hier nach dort. Wie ist es wohl, der verstummte alte Mann nach einem Schlaganfall zu sein? Der junge Mann zu sein, der seinem Henker gegenübersteht? Die Frau, die über die Grenze flieht? Das Kind auf dem Roller? Der Mensch, über den du nur gelesen hast – oder der neben dir im Bett liegt?
Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben oder um zu begründen, wenn wir jemandem oder uns selbst das Leben nehmen – mit Gewalt oder Taubheit und der Unfähigkeit, zu leben. Wir erzählen Geschichten, die uns retten, und Geschichten sind der Treibsand, der uns zermahlt, und das Gute, in dem wir ertrinken – Geschichten von Rechtfertigung und Fluch, von Glück und himmelhoch jauchzender Liebe oder deren Varianten im Kleid des Zynismus, der zu mancher Zeit ein äußerst elegantes Kostüm ist. Manchmal bricht eine Geschichte in sich zusammen, und wir müssen uns eingestehen, dass wir in ihr verloren sind, entsetzlich, lächerlich oder einfach nur völlig verfangen, manchmal taucht eine Veränderung wie ein Rettungswagen oder wie Notfalltropfen auf. Nicht wenige Geschichten sind sinkende Schiffe, und viele von uns gehen mit diesen Schiffen unter, selbst wenn die Rettungsboote um uns herdümpeln.
In Tausendundeine Nacht erzählt Scheherezade Geschichten, um den Sultan Nacht für Nacht zu fesseln und zu verhindern, dass er sie tötet. Der Hintergrund der Geschichte ist, dass der Sultan seine Königin in den Armen eines Sklaven erwischte und daraufhin entschied, er wolle jede Nacht mit einer Jungfrau schlafen und sie am Morgen töten, sodass er nie wieder betrogen werden könnte. Scheherezade tritt an, um das Massaker zu beenden, und sie versucht es, indem sie ihm Geschichten erzählt, die sich von einer Nacht zur nächsten erstrecken – Nächte, die zu Jahren werden.
Sie spinnt ihn in Geschichten ein, die einen Kokon der Erwartung um ihn bilden, aus dem er möglicherweise weniger mordlustig hervorkommt. Während der Jahre des Erzählens bringt sie drei Söhne zur Welt und entwickelt ein Labyrinth aus Geschichten in Geschichten, Geschichten von Verlangen und Täuschung und Zauber, von Verwandlung und Prüfung, Geschichten, in denen die Handlung einfriert, wenn ein anderer Erzähler spricht, schwangere Geschichten, Geschichten, die den Tod aufhalten mögen.
Wir denken, wir erzählen Geschichten, aber häufig erzählen die Geschichten uns, erzählen uns, wen wir lieben und wen wir hassen sollen, ob wir sehen oder blind sein sollen. Häufig, zu häufig, zäumen uns Geschichten, reiten uns, peitschen uns vorwärts, treiben uns zu etwas, das wir dann unhinterfragt tun. Die Aufgabe, Freiheit zu erlernen, erfordert es, zu lernen, Geschichten zuzuhören, sie zu befragen, innezuhalten und Stille zu hören, etwas zu benennen und selbst zum Erzähler zu werden. Jene getöteten Ex-Jungfrauen befanden sich in der Sultan-Geschichte, Scheherezade, wie eine Heldin der Arbeiterklasse, erwarb Kontrolle über die Produktionsmittel und erzählte sich ihren Ausweg.
Manchmal taucht ein Schlüssel lange vor seinem Schloss auf. Manchmal fällt einem eine Geschichte in den Schoß. In meinen sind ungefähr hundert Pfund Aprikosen gefallen. Sie befanden sich in drei großen Kisten, und um sie davor zu bewahren, zerdrückt zu werden oder in den Winkeln der Kisten zu verfaulen, verteilte ich sie auf einem Laken auf den Dielen meines Schlafzimmers. Dort lagen sie lange, Geschichten, die ihrer Erzählung harrten, ihrer Auslese, ihrer Ernte. Sie waren ein beeindruckender Anblick, ein Berg Aprikosen in verschiedensten Stadien von hart und grün bis weich und bräunlich, doch die meisten waren von jener Farbe, die wir »Apricot« nennen: ein blasses Orange mit rosa und gelb-goldenem Schimmer und feinen violetten Sprengseln, nicht so pelzig wie Pfirsiche, nicht so glatt wie Pflaumen. Die reifen hatten jenen für Aprikosen typischen süßlichen Duft.
Ich hatte erwartet, sie würden wie der reinste Überfluss aussehen – doch stattdessen sahen sie aus wie die Furcht, denn jedes Mal, wenn ich ins Zimmer kam, war noch eine verfault und ein oder zwei weitere schimmelten, und statt sie zu bewundern, hatte ich das Gefühl, sie ständig bewachen und nach ihnen schauen zu müssen, sobald ich in der Nähe war. Die Gründe, warum ich überhaupt dazu kam, diese Menge Aprikosen auf dem Boden meines Schlafzimmers auszubreiten, sind kompliziert. Sie stammten vom Baum meiner Mutter, aus dem Haus, in dem sie nicht mehr lebte, eines Sommers, als erneut eine Zeit des Unheils anbrach.
Zwei Sommer vor den Aprikosen hatte meine Mutter begonnen, verwirrt zu sein, sie verirrte sich, sperrte sich aus dem eigenen Haus aus, eine ganze Serie von Notfällen ereignete sich, die oft dazu führten, dass sie mich spontan anrief und um Rettung oder eine Lösung bat. Meine Telefonnummer kannte sie seit Jahrzehnten auswendig; meine drei Brüder lebten nicht weit entfernt, aber sie hatten eine andere Vorwahl und neuere Telefonnummern, außerdem hatte sie ihre Nöte stets vor ihnen verborgen. Sie waren das Publikum für ihr strahlendes Selbstbild, für diejenige, als die sie gern gesehen werden wollte, während ich mich hinter der Bühne befand, wo alles etwas unordentlicher war.
Meinem mittleren und dem jüngsten Bruder sagte ich, dass wir gemeinsam etwas unternehmen müssten, denn wenn das Chaos mein und meiner Mutter Geheimnis bliebe, wie es bei den meisten ihrer Krankheiten und Schwierigkeiten zuvor gewesen war, würde es mich auffressen. In anderer Hinsicht taten diese beiden Brüder viel für sie; sie hielten sich bereit, und die Last war geteilt, doch nach wie vor gingen sämtliche Notrufe an mich. Eines Tages fragte ich sie, warum sie immer mich und nie meine Brüder anrief. »Na ja, du bist das Mädchen«, sagte sie und fügte hinzu: »Du sitzt doch sowieso den ganzen Tag zu Hause und machst eh nichts anderes.« Das war eine Möglichkeit, das Leben einer Schriftstellerin zu beschreiben.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie ihr Auto abgestellt hatte, also fuhr ich sie in der Gegend herum, bis wir es fanden; wir hielten den Atem an, bis sie zum Glück ihren Führerschein verlor. Sie verlegte ihr Portemonnaie, und ich stellte das ganze Haus auf den Kopf, bis es sich auf der Sitzfläche eines Stuhls, der unter einem Tisch klemmte, wiederfand – Tage nachdem wir die Suche aufgegeben hatten; sie verlor ihre Schlüssel und ihre Brieftasche, und wir fuhren zu ihr, öffneten ihre Tür mit unseren Schlüsseln, ließen weitere Schlüssel anfertigen und hinterlegten einen bei einem Freund in der Nähe und versteckten einen Ersatzschlüssel und dann einen Ersatz des Ersatzes und einen weiteren danach. Wenn das Telefon klingelte, wusste ich nie, ob es ein Notruf sein würde – und wenn es nicht klingelte, fürchtete ich, ihr sei etwas so Schlimmes zugestoßen, dass sie nicht einmal mehr zum Telefon kam oder nicht mehr in der Lage war, es zu benutzen. Ständig war ich in Alarmbereitschaft und wartete auf die nächste Katastrophe.
Wir bemühten uns, ihr Haus entsprechend auf sie auszurichten. Hinter der Eingangstür brachte ich einen Haken an, um ihr Portemonnaie aufzuhängen, damit sie immer wusste, wo es war. Aber sie benutzte ihn nicht, sondern nahm ihn zum Anlass, etwa neun Portemonnaies zu verlieren, bis einzig ein hässliches übrig war; sie mochte den großen roten Gepäckanhänger, den ich am Wohnungsschlüssel befestigt hatte, bis sie den verlor – danach gab es eine ganze Reihe auffällige Folgemodelle –, ebenso wie die Liste aller wichtigen Telefonnummern, die ich an ihre Wand geheftet hatte. Doch sie rief mich an und verfluchte den Tag, an dem ich ihr Adressbuch ausgeliehen hatte, um eine vergrößerte, gut lesbare Kopie davon zu machen, die ich mit einer dicken roten Kordel zusammenband, an der sie an Möbeln befestigt werden könnte oder unter Papierstapeln erkennbar herausschauen würde.
Die Kopie ging auch verloren, allerdings nicht so oft, und in Reserve hatte ich eine weitere Kopie, um auch die abzusichern, damals, in jenen Tagen, als sie noch las und telefonierte und Kontakt mit Freunden hielt. Ich kaufte ein Telefon mit Schnur, das nicht verlorenginge oder dessen Akku nicht wie das der Schnurlosen versagte, aber ich konnte nicht garantieren, dass es zwischen zwei Gesprächen aufgelegt wurde, und da sie nicht mehr lernen konnte, sich in der modernen Welt entlang der Tasten einer Mikrowelle zu behaupten, fand ich eine alte Mikrowelle mit Drehknopf – wie die, die sie schon kaputt gemacht hatte, indem sie sie statt über Minuten über Stunden laufen ließ. Ich fand eine hübsche Kette für ihre Brille und später eine andere und half ihr, weitere Brillen anfertigen zu lassen.
Wie viele ältere Menschen war auch sie eher davon überzeugt, dass andere ihre Sachen stahlen, als dass sie selbst etwas verlegen und verlieren würde – Bügeleisen, Portemonnaies, Schlüssel, Wäsche, Geld –, und manches davon ging verloren, indem sie es vor diesen fiktiven Personen versteckte, die ihr halfen, ihr eigentliches Problem zu verbergen. Die Welt ihrer Vorstellung war voller Diebe und Halunken, obwohl sie in ihrem hübschen Viertel zwanzig Meilen nördlich der Stadt nie Opfer eines Verbrechens geworden war. Sie hatte Angst vor Menschen, die in ihre Fenster schauen könnten, und hatte die meisten der Fenster vollständig zugehängt, sodass sie selbst an einem strahlend blau-goldenen Julitag das Licht anschalten musste.
Sie wollte einen Bus nehmen, um eine Freundin zu besuchen, die Geburtstag hatte, stieg aber an der falschen Haltestelle aus. Soweit ich es nachvollziehen kann, machte sie dann eine lange Wanderung über den Rücken eines kleinen Berges zwischen zwei Städten, vorüberfahrende Autos hielten an und ließen sie einsteigen, niemand zögerte, sie ein Stück mitzunehmen, bis sie am Ende bei sich zu Hause ankam. Davon erzählte sie später vergnügt wie von einem Abenteuer, obwohl sich wenige Jahre vorher zwei ihr gut bekannte ältere Schwestern auf einer Wanderung in ihrer Gegend verlaufen hatten. Ich weiß nicht mehr, ob beide oder nur eine der Schwestern vor Erschöpfung gestorben war, ehe man sie fand. Mein mittlerer Bruder besorgte ein Erste-Hilfe-Armband mit allen Kontaktdaten und legte es ihr in jenen Tagen um wie eine Hundemarke, während wir sie mit nützlichen Systemen und guten Ratschlägen unterstützten, die größtenteils ungehört blieben.
Irgendwo mitten in diesen Katastrophen dachte ich über einen Essay nach, den ich »Schiffbruch auf dem Schwarzen Kontinent« nannte, doch ich fand keine Zeit, ihn zu schreiben. Die Fürsorge für alte Menschen beginnt ohne jene Flut von Ratgeberliteratur und Ermutigungen, von der andere Beziehungen begleitet und verhandelt werden, insbesondere romantische Liebe und Kindsgeburt. Sie überfällt dich wie etwas, das eigentlich nicht vorgesehen ist, fast stürzt du in diesen Zustand, vor dem dich niemand gewarnt hat, eine felsige Küste, die auf der Landkarte fehlt. In den Erzählungen sind jene späten Lebensjahre golden, und die Menschen altern in Weisheit, bekommen keine Krankheiten, die sich zu geistiger Umnachtung entwickeln, in einen Zustand chaotischer Kindheit zurückführen und noch viel weiter. Meine Mutter wollte stets, dass ich sie umsorge, aber sie hatte sich das als Manifest ihres Aufstiegs ausgemalt, nicht als ihren Niedergang.
Wir brachten sie zu Ärzten, die uns wie fahrlässige Eltern behandelten, weil wir sie allein leben ließen – obgleich das nicht unsere Entscheidung war und wir uns bemühten, die Situation zu ändern. Sie boten uns Rezepte an, aber keinen Rat, wie wir sie dazu bringen könnten, ihre Tabletten zweimal täglich zu nehmen, wo sie doch nicht einmal wusste, welcher Tag war und was sie zehn Minuten vorher gemacht hatte. Ich probierte einen Wandkalender mit kleinen Stecktaschen aus, in die ich die Medikamente für jeden Tag sortieren konnte, aber sie schaute nie auf den Kalender. Das war die Ära, in der wir das sinkende Boot flickten und ausschöpften.
Wir schwammen durch jene aufreibenden Jahre der Katastrophen, während ich zugleich Schritt für Schritt Vorbereitungen traf, um sie davon zu überzeugen, dass es ein Segen wäre, wenn sie nach dreißig Jahren ihr Zuhause außerhalb der Stadt aufgeben würde. Ich betonte, dass, wenn sie sich damit anfreunden könnte, in einem Haus mit Hausmeister zu leben, sie niemals mehr lange auf jemanden warten müsste, der zu ihr rausgefahren käme, um die Tür aufzuschließen, und dass es geselliger wäre. Sie war einsam, seit ihr der Führerschein abgenommen worden war; ihre alten Freunde starben, entfernten sich ihrerseits oder befanden sich am anderen Ende eines verlegten oder verwaisten Telefons, die notwendigen Nummern im verschwundenen Telefonbuch.
Schließlich brachten wir sie zu Beginn des Aprikosensommers in eine schöne Seniorenresidenz, in der sie allein und unabhängig ein Apartment bewohnen konnte, ganz in der Nähe meiner beiden maßgeblichen Brüder und nicht zu weit von mir entfernt – doch da begann alles ernsthaft auseinanderzubrechen. Als wir sie aus ihrem dunklen, unordentlichen Haus holten, fürchteten wir, sie verlöre nun ihre vertrauten Routinen und den Grundriss, innerhalb dessen sie sich bisher aus Gewohnheit zurechtgefunden hatte. Doch hatten wir wohl nicht begriffen, wie schlecht sie schon dort zurechtgekommen war.
Als wir ihren Hausrat zusammenpackten, fand ich Obst, das in einem dunklen Schrank kompostierte, einen Untersetzer für Töpfe in ihrer Sockenschublade, Familienfotos und ihre Hochzeitsbilder in anderen Wäschefächern und bündelweise Geldscheine, an allen möglichen Orten versteckt und hinter Sekretäre und Schränke gefallen, und überall chaotische Haufen und Durcheinander. Ihr neues Zuhause war nur eine kleine Wohnung und veranlasste die Reduzierung ihres Hausrats und der persönlichen Dinge auf das Nötigste. Für sie war es so, als nähme man ihr sämtliches Hab und Gut weg, wenn sie die neue Wohnung nicht gar als vorübergehenden Aufenthaltsort betrachtete, ein Hotel, von dem sie bald in ihre alte Umgebung zurückkehren würde.
Sie sollte keine neue geographische Orientierung mehr erlangen, sie lernte weder den Weg zum Lebensmittelgeschäft einen halben Block entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch den Grundriss des Gebäudes oder ihrer neuen Wohnung. Sie konnte es nicht. Selbst das Überqueren der Straße war gefährlich, weil sie zum einen nicht auf Autos achtete, zum anderen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite angekommen, weder wusste, woher sie kam, noch, wohin sie wollte und wo sie war. Mein jüngerer Bruder glaubte fest daran, ihre Würde und Autonomie schützen zu müssen, aber von einem Auto überfahren zu werden ist würdelos. Wir erreichten ein neues Stadium der Krise, als sie tagsüber nicht mehr allein bleiben konnte. Dann heuerten wir Helfer an, die uns ersetzen mussten, bis wir sie in ein betreutes Wohnheim mit einem idyllischen Namen brachten, wo sie rund um die Uhr und vollkommen sicher umsorgt sein sollte.
Sie täuschten uns, was ihre Möglichkeiten anging, sie zu versorgen, und nahmen uns sehr viel Geld ab, das sie nicht zurückzahlen würden, und wann immer etwas schiefging, schoben sie uns die Schuld zu. Also verbrachten wir erneut unermesslich viel Zeit mit ihr und engagierten Einzelbetreuung für sie. Sie wurde eine geriatrische Kriminelle mit der Neigung, auszubrechen und wegzulaufen. Wir versuchten ihren Solo-Expeditionen zuvorzukommen, indem wir sie jeden Morgen zu einem ausgiebigen Spaziergang durch die hübschen Straßen mit ihren prächtig blühenden Gärten ausführten. Da meine Gespräche mit ihr allzu leicht verworren und gefährlich verliefen, sprach ich mit ihr meistens über die Farben der Häuser und über Kapuzinerkresse, Iris, Jelängerjelieber, Passionsblumen, Sonnenblumen, Trichterwinden und die anderen Pflanzen, denen wir auf unseren Spaziergängen begegneten.
Bei Alzheimer ist als eines der ersten Areale der Hippocampus betroffen, jene zentral im Gehirn liegende kleine Windung, die ihren lateinischen Namen mit den Seepferdchen teilt. Geformt wie ein Seepferdchen, ist er dafür zuständig, das Gedächtnis zu konsolidieren, also Sinneseindrücke vom Kurzzeitgedächtnis in ein Langzeitgedächtnis zu überführen und fest zu verankern. Wird er geschädigt, verliert der Kranke die Fähigkeit, neue Erinnerungen zu bilden, dagegen fallen ihm eher frühere Erfahrungen ein. Dann lässt die Funktion des Neocortex nach, jenes stammesgeschichtlich jüngsten Teils der Großhirnrinde, der für die Leistung der Integration aller Sinne zuständig ist und, dafür verantwortlich, dass ein Säugetier intellektuell sinnvolles Verhalten entwickeln kann, eine Verknüpfung und Informationsspeicher für Gedächtnisinhalte bietet. Der Neocortex vieler Säugetiere ist verhältnismäßig schlicht und einfach, aber der menschliche Neocortex ist komplex gefaltet und bildet somit einen Großteil der Oberfläche des Großhirns, innerhalb der beengten Verhältnisse des Schädels.
Das Gehirn ist eine vielseitige Landschaft von Canyons, Flussbetten, Zuflüssen, Buchten, Tunneln und Klippen, die das vergrabene Seepferd umgeben, mit Neuronen, die in alle möglichen Richtungen und auf unterschiedliche Entfernungen Verknüpfungen bilden – Wissenschaftler nennen das den »Neuronenwald«. Die Krankheit im Gehirn meiner Mutter verursacht ein Durcheinander der Nervenzellen, als wäre der Wald von wildem Wein erobert, von Schlingpflanzen, wie man sie manchmal an Baumstämmen sehen kann. Andere Bereiche gleichen einem Kahlschlag, die Bäume sterben aus, und die Ventrikel werden stark erweitert wie Flüsse zu Kanälen. Die Landschaft, in der Charakter und Eigenschaften verankert sind, verändert sich fundamental und irreversibel. Letzten Endes ist sie zerstört; das Hirn schrumpft.
Es heißt, Alzheimer imitiere eine rückwärts verlaufende Kindheit, aber die unersättliche Wissbegier von Kindern begleitet ihr beständig wachsendes Wissen in einer Weise, die dem Prozess vom anderen Ende des Lebens zuwiderläuft. Die Voraussetzungen sind so unterschiedlich wie Zunahme und Schwund. Für mich war meine Mutter wie ein Buch, das auseinanderfällt. Seiten lösen sich und rutschen davon, Sätze verschwimmen, Buchstaben kippen heraus, das Papier erscheint wieder in reinem Weiß, leer die Seiten, ein Buch, das von seinem Schluss her verschwindet, da die neuesten Erinnerungen zuerst verblassten und nichts hinzugefügt wurde. Nach und nach verschwanden einzelne Wörter aus ihrer Sprache und hinterließen Lücken.
Es war etwa in der Mitte der Krise, als mein jüngerer Bruder, dessen Aufgabe es war, ihr Haus für den Verkauf herzurichten, entschied, dass er ihren Aprikosenbaum von all seinen Früchten befreien müsse. Es war eine Geste der Bergung, der Furcht und der Großzügigkeit. Sie hatte den Baum Jahrzehnte zuvor gepflanzt, und er war gediehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je eine Aprikose von dem Baum gegessen hätte, ehe die große Menge zu mir kam, allerdings gibt es ein Bild von mir mit Mitte zwanzig, auf dem ich zwischen kahlen Zweigen stehe, die Baumschere in der Hand, und entspannt nach oben schaue.
Ich hatte das bereits geschrieben, als ich ein verblasstes Polaroid aus einer Schachtel zog und entdeckte, dass ich in Wahrheit auf einer hohen Leiter am Baum gestanden hatte, mit etwas nicht Identifizierbarem in der Hand. Es war mein jüngerer Bruder, der auf dem nächsten Schnappschuss unter dem Aprikosenbaum mit der Baumschere stand. Selbst bei gesunden Menschen ist Erinnerung ein veränderliches, vergängliches, brüchiges Etwas, ein Netz, das keineswegs vorhersehbar und absichtsvoll alle Fische fängt und das manchmal Schmetterlinge enthält, die es gar nicht gibt. Schließlich hatte ich mich selbst in meinen jüngeren Bruder versetzt, als ich mich um eine Erinnerung an das Foto bemüht hatte. Zwanzig Jahre später muss er die Leiter selbst hinaufgestiegen sein, um alle Früchte zu pflücken, jede einzelne. Einen kleinen Teil der Ernte verschenkte er an andere, aber den Löwenanteil erhielt ich.
Jedes Mal, wenn ich den kleinen Hügel Aprikosen betrachtete, waren weitere faulig, die ich auslesen musste, damit die Fäulnis nicht um sich griff. Der Haufen begann wie ein Organismus auszusehen, eine mannsgroße Ansammlung mit Eigenleben, eine Armee, die mein Schlafzimmer besetzte. Saft sickerte heraus, als würde eine Leiche auf meinem Boden verrotten, dabei blieb der Rest süß und reifte in Windeseile, während ich noch auf ein Zeitfenster hoffte, um etwas mit ihnen anzufangen.
Die Früchte auf meinem Boden brachten mich dazu, wieder einmal Märchen zu lesen. Sie sind voll von überwältigenden Haufen und Halden, mit denen man fertigwerden muss, die Kammer voller Stroh, aus dem das arme Mädchen in Rumpelstilzchen über Nacht Gold spinnen muss, die abertausend im Moos verstreuten Perlen, die der jüngste Sohn aufsammeln muss, um die Prinzessin zu gewinnen, der Sandberg, der allein mit einem Teelöffel versetzt werden soll. Die Haufen sind nur ein Segment der Kategorie der kaum lösbaren Aufgaben, zu denen auch die schwierige Suche nach etwas gehört, zum Beispiel die nach der Feder aus dem Schwanz des Feuervogels, der am anderen Ende der Welt lebt, oder auch Rätsel und die Begegnung mit übermächtigen Feinden.
Ein grausames Märchen namens Magotine erzählt von einer verfluchten Königin, die in ihrer Kehle ein Spinnennetz weben, mit einem Mahlstein auf dem Rücken einen Berg erklimmen, in einen löchrigen Krug das Wasser der Klugheit füllen soll, und sie muss diese Aufgaben lösen, damit sich die grüne Schlange, mit der sie verheiratet ist, in einen Menschen zurückverwandelt. Solche Bewährungsproben sind immer Hindernisse auf dem Weg, sich zu befreien oder befreit zu werden oder eine Liebe zu finden. Die Erfüllung der Aufgaben löst den Fluch. Der Zauber in den Geschichten besteht im Zustand der Maskierung, versetzt in den Körper eines Tieres oder die Identität eines anderen. Mit der Entzauberung entsteht das Glück, man selbst zu werden.
Die Fülle der unbeständigen Aprikosen schien für mich nicht nur eine Herausforderung zu sein, vielmehr war es ein Geburtsrecht, das Märchenerbe meiner Mutter, die mir darüber hinaus seit meiner Kindheit fast nichts mehr geschenkt hat. Es war eine letzte Ernte, ein Haufen Früchte von einem Stammbaum, wie ein rätselhaftes Geschenk im Märchen: ein Zauberkorn, der Schlüssel zu einer unbekannten Tür, eine aufgesagte Zauberformel. Entsaften, einwecken, entsorgen, einfrieren, essen und zu Schnaps brennen war das Mindeste, was sie verlangten. Die Aprikosen waren das Rätsel, das ich lösen musste, eine Geschichte, deren Bedeutung ich in den kommenden zwölf Monaten, in denen fast alles schiefging, herausfinden sollte.
Märchen handeln von Schwierigkeiten, davon, wie man in sie hineingerät und aus ihnen herauskommt, und Schwierigkeiten scheinen ein wichtiges Stadium auf dem Weg der Reifung. Die ganze Zauberei und all die gläsernen Berge und Perlen von der Größe ganzer Häuser, die Prinzessinnen, die schön sind wie der Tag, sprechende Vögel und Teilzeitschlangen: Sie alle sind nur Ablenkungen von dem harten Kern der meisten Geschichten, dem Kampf ums Überleben gegen Feinde, einen Platz in der Welt zu finden und zu sich zu kommen. Schwierigkeiten sind immer eine gute Schule, auch wenn das Lernen freiwillig ist.
Fast immer sind Märchen die Geschichten von Schwachen – vom jüngsten Sohn, von verlassenen Kindern, Waisen, von Menschen, die in Vögel oder Scheusale verwandelt werden oder auf andere Weise von sich selbst und ihrem Leben entfernt worden sind. Selbst Prinzessinnen sind mobile Güter, man entledigt sich ihrer, von ihren Vätern werden sie verkauft, von den Stiefmüttern bestraft oder von Prinzen erobert, auch wenn sie sich häufig Geltung verschaffen und nur selten so passiv sind wie in den Comic-Varianten. Es sind Kindergeschichten, nicht weil sie für Kinder geschrieben wären, sondern weil sie den Fokus auf die frühen Jahre des Lebens legen, wo andere Macht über dich haben, du selbst aber über niemanden Macht hast.
Im Märchen ist Macht selten das richtige Instrument zum Überleben. Eher verbünden sich die Machtlosen miteinander, häufig in Form von gegenseitiger Güte – ein Bienenstock, der nicht überfallen wird, Vögel, die nicht getötet, sondern freigelassen oder gefüttert werden, ältere Frauen, denen man mit Respekt begegnet. Güte, die unter den Demütigen gesät wurde, wird in den Zeiten der Not geerntet, in den Märchen wie auch manchmal in der Wirklichkeit. Ich kenne einen Mann, den plötzlich das Glück verließ und der sich mittellos in einem aussichtslosen Rechtsstreit befand und seine Kinder ernähren musste. Da entdeckte er, dass er eine andere Art von Reichtum besaß, hatte er doch aus Warmherzigkeit und Anerkennung Beziehungen aufgebaut, einen Reichtum, den er sonst nie zu sehen bekommen hätte. Anwälte übernahmen seinen Fall kostenlos, der Lebensmittelladen ließ ihn die Lebensmittel anschreiben, die Schulen erteilten Stipendien, und er konnte so von einem Wohlstand leben, der unsichtbar gewesen war, bevor ihm das Geld ausging.
In Hans Christian Andersens Überlieferung der alten nordischen Sagen beginnt das Märchen von den Wilden Schwänen mit einer Stiefmutter. Die verbannte Schwester kann ihre elf verstoßenen Brüder – die tagsüber Schwäne sind und sich nachts in Menschen zurückverwandeln – nur entzaubern, indem sie mit bloßen Händen Brennnesseln von Gräbern sammelt, sie zu Flachs wirkt und spinnt und daraus elf langärmlige Hemden strickt, während sie die ganze Zeit über schweigen muss. Sobald sie spräche, würden ihre Brüder für immer Vögel bleiben. In ihrem Schweigen kann sie sich nicht zu den Verbrechen äußern, derer sie beschuldigt und derentwegen sie beinahe als Hexe verbrannt wird.
Während sie das letzte Hemd strickt, wird sie auf den Scheiterhaufen geschleppt. Von dort befreien sie die Schwäne, die im letzten Augenblick angeflogen kommen. Kaum stürzen sie sich nieder, wirft sie ihnen die Nesselhemden über, sodass sie sich in Menschen zurückverwandeln, alle bis auf den Jüngsten, an dessen Hemd noch ein Ärmel fehlt, sodass er fortan einen Arm und einen Flügel behält, ein Schwanenmann für immer. Warum Hemden aus Grabnesseln, mit blutigen Fingern gestrickt, und Schweigen Menschen, die von ihrer Stiefmutter in Vögel verwandelt worden sind, entzaubern sollten, ist eine Frage, die von der Geschichte nicht beantwortet werden muss. Sie muss uns nur fesselnde Bilder der Verbannung, Einsamkeit, Zuneigung und Metamorphose schenken – und einer Heldin, die beinahe stirbt, während sie ihre eigene Geschichte nicht erzählen kann.
In jenen Tagen empfand ich den Zustand meiner Mutter wie einen märchenhaften Bann, der zwar nicht gebrochen, wohl aber getragen werden konnte. Mit den Aprikosen jedoch musste etwas geschehen. Es war keineswegs so, dass ich mit ihnen als Früchten nichts anzufangen gewusst hätte, aber sie schienen etwas geltend machen zu wollen, Altlasten und Aufgaben, und mochten vielleicht eine Allegorie sein – nur wofür?
Der riesige Haufen Aprikosen bestand aus unreifen, reifenden und faulenden Früchten. Die Geschichten über meine Mutter enthalten von jeder Sorte etwas. Hätte ich früher über sie geschrieben, wäre es eine Gerichtsverhandlung geworden, wurde ich doch nach der Logik von Argumenten, Tatsachen und des Rechthabens erzogen, nicht danach, was vielleicht Liebe sein könnte und einen Schritt weiter ginge. Ich hätte wohl als Angeklagte erzählt, in der Absicht, mich zu verteidigen, war ich doch so lange vieler nebensächlicher Dinge angeklagt. Etwas von der Dringlichkeit einer Rechtfertigung meiner Existenz und meines Überlebens ist fort, aber die Geschichte davon bleibt, ein harter Kern, wo das Gefühl vergangen ist. – Da sind andere Geschichten, noch nicht ganz reif, die ich in späteren Jahren sehen und erzählen werde. Seit die Aprikosen zu mir kamen und ich anfing, in Märchen zu denken, erschrak ich, wenn mir der Vers aus Schneewittchen einfiel, »Spieglein, Spieglein an der Wand«, denn die Verknüpfung von Müttern und Spiegeln brachte mich darauf, wie mörderisch die Wut meiner Mutter war. Über Jahrzehnte war sie von Neid zerfressen, einem Neid, der eine von ihr selbst erdachte Geschichte war, die eines ständigen Vergleichs.
Sie glaubte fest an Gerechtigkeit. Im besten Fall stand sie für die Rechte der Unterdrückten auf, und im schlimmsten missgönnte sie mir all das, wovon sie glaubte, sie hätte es nie gehabt. Neid war ein Gefühl, und sie verwandelte ihre Gefühle in Gründe und ihre Gründe in Tatsachen, und für wahr erachtete Tatsachen verhärteten sich, wurden unveränderlich, selbst wenn ihre Gefühle sich wieder und wieder änderten. Diese Gefühle verformten sich zu Geschichten, und die Geschichten, die sie sich selbst erzählte, riefen unabhängig und lange nach den Ereignissen wiederum Gefühle hervor.
Sie war von Geschichten besessen, geradezu verfolgt von ihnen – dass Schönheit der Schlüssel zum Glück sei, das ihr abhandengekommen sei, dass ihr etwas vorenthalten würde, was ihr eigentlich rechtmäßig zustand, sei es ein Gefallen ihrer Mutter oder das goldene Haar ihrer Tochter. Geschichten waren der Sturm, der sie hierhin und dorthin fegte, aber sie glaubte an ihre Wahrheit und Beständigkeit, es war ihr immer elend ergangen, immer prächtig, ihr Leben war gut, es war furchtbar gewesen, sie hatte so etwas niemals gesagt, niemals so etwas gefühlt, und selbst wenn sie Jahrzehnte auf einer Kränkung sitzenblieb, konnte sie sich nicht an ihre vorangegangene Wut erinnern.
Meine Geschichte ist eine Variante derer, die ich über die Jahre von vielen Frauen gehört habe, die von der Mutter, die sich jedem oder jemandem geopfert hat, um sich selbst dann von ihrer Tochter wiederzubekommen. Schon früh versicherte sie mir, dass sie mich als Kleinkind bereits ausgemessen habe, meine Größe verdoppelt und daraus geschlossen habe, dass ich als Erwachsene 1,58 Meter – 18 Zentimeter kleiner als sie – werden würde und dass mein Haar – weißblond in den ersten Jahren, zitronenblond, dann honigblond und schließlich straßenköterblond, mit goldenen Strähnen von der Sonne, als ich älter wurde – jeden Augenblick braun werden würde.
Diese kleine, brünette Tochter, die sie sich vorstellte, war nicht furchteinflößend, und sie erdachte sich eine angemessene Zukunft für mich und versuchte, mich gelegentlich darauf festzulegen. Ich blieb ein paar Zentimeter kleiner als sie, bis sich ihre Gestalt beugte, aber sie blieb von unserem Größenverhältnis überzeugt. Als ich einmal zu einem Familienessen zu ihr kam, musterte sie mich in der Tür und schob mich vor den Spiegel, um sicherzustellen, dass ich noch immer kleiner als sie war, und sie nannte mich bis in die Epoche ihrer Alzheimer-Krankheit gern »Shortie«. Aber es war mein Haar, das ihr großen Kummer bereitete.
Als sie jung war, hatte ihr dunkles Haar einen schönen rot-braunen Ton, doch sie war früh ergraut. Ein paar Jahrzehnte färbte sie es hellbraun, ehe ich sie davon überzeugte, es sein zu lassen. Das erste Mal, als ich es weiß sah, war sie ungefähr sechzig, und ich war erstaunt über ihre Schönheit, wie eine Marmorstatue sah sie aus, mit leuchtend blauen Augen. Helleres Haar als meins zu haben änderte nichts. Sie hielt Blondsein für ein fast überirdisches Geschenk, eines, auf das ich kein Recht hatte, da sie es nicht besaß, und bei zahllosen unglücklichen Gelegenheiten kam sie in all den Jahren immer wieder darauf zurück.
Mein Haar sei gefärbt, es sei braun, es sei unfair und falsch, selbst wenn es einige Jahre gab, in denen sie sich stattdessen über meine Augenbrauen ärgerte, angefangen von dem Moment, als ich sie zum Frühstück einlud und sie mich aus heiterem Himmel anschnauzte: »Es ist ungerecht, dass du solche Augenbrauen hast.« Meine Einladung zum Frühstück war vollkommen wertlos, da ich ihr weder meine geschwungenen Augenbrauen geben oder abgeben noch sie davon überzeugen konnte oder würde, dass ihre geraden schön waren.
Für Mütter, manche Mütter, meine Mutter, sind Töchter Teilmengen und Söhne Multiplikationen; die einen reduzieren sie, brechen sie, nehmen etwas weg, die anderen mehren und bereichern sie. Meine Mutter, die sich an dem Gedanken freute, dass meine Brüder gut aussähen, wurmte die Vorstellung, ich könnte hübsch sein. Der Königin Neid auf Schneewittchen ist tödlich. Er gründet auf dem Verlangen, die Allerschönste zu sein, und wirft die Frage auf, wessen Bewunderung sie benötigt und was sie glaubt, worum Schneewittchen wetteifert, das Kind, dessen Schönheit ein Elend ist. Hinter dem Drama zwischen Frauen stecken Männer, jene Männer, für die die Königin schön sein möchte, Männer, deren Aufmerksamkeit Gebieterin über Wert und Wertlosigkeit ist. Da konnte ich nichts machen, weil es nichts zu machen gab: Es waren nicht meine Taten, die ihre Wut auslösten, sondern mein Dasein, mein Geschlecht, mein Erscheinen, und mein Nichtdasein – meine Fehlbarkeit, dass ich nicht der Zauber ihrer Vervollkommnung war, sondern allein ihre Teilmenge.
»Groll ist eine Leidenschaft, aus der Geschichten gemacht werden«, sagt der Philosoph Charles Griswold in seinem Buch Vergebung. Ich weiß sehr gut, wie fesselnd solche Geschichten sind, wie sie einer alten Verletzung Unsterblichkeit verleihen. Wie ein Kamel, das an eine sich drehende Wasserpumpe festgeschirrt ist, dreht sich der Erzähler im Kreis, emsig bemüht, das Leid zu fördern, mit jedem Erzählen das Gefühl neu zu beleben. Gefühle, die auf diese Weise lebendig gehalten werden, wären ohne die Erzählung verblasst oder sind überhaupt erst erfunden von Erzählungen, die nichts mehr mit dem zu tun haben, was sie einst auslöste, oder gar mit der Gegenwart. Diese Fertigkeit habe ich von meiner Mutter gelernt, einige ihrer Geschichten handelten ja von mir, und natürlich handelten manche meiner ewigen Klassiker von ihr. Mein Vater war auf eine einfache, eher offensichtliche Weise zerstörerisch, aber das ist eine andere Geschichte. Oder vielleicht ist er die Wurzel allen Übels im Verhalten meiner Mutter, natürlich litt sie unter ihm, doch gab es wiederum Menschen und historische Umstände als Wurzeln seines Leids, und eine solche Kette der Logik geht immer weiter.
Es war nicht einfach nur Neid. Als ich dreizehn war, sagte mir meine Mutter, ein Arzt hätte in ihrer Brust einen Knoten entdeckt. Jahrzehnte später erst fand ich heraus, dass sie zuerst meinem Vater davon erzählt hatte, dessen Mangel an Mitgefühl Teil dessen war, was ihre Trennung herbeiführte und ihre Scheidung in die Länge zog. Auch ich hatte nicht viel Mitgefühl. Es war nicht so, dass ich keines empfinden wollte, aber ich hatte noch nicht die emotionalen Möglichkeiten, vielleicht weil ich selbst so wenig davon erfahren hatte.
An jenem Tag, als sie mir die Diagnose offenbarte und von mir nicht das bekam, was sie wollte, geriet sie in eine unermessliche Wut, vielleicht täusche ich mich auch, aber ich erinnere mich, dass es der erste einer Reihe mir geltender Wutausbrüche war wegen all dem, was ich in ihren Augen für sie nicht war oder sie von mir nicht bekam. Ich sehe mich noch vor unserem furchtbaren Haus stehen, das mit dieser getönten Farbe gestrichen war, die nie richtig zu trocknen schien, sodass mit den Jahren ein ganzer Schwarm winziger Insekten daran klebte. Erst jetzt tut mir diese verstörte Frau leid, sie hatte keinen Vertrauten, an den sie sich wenden konnte, aber damals fühlte ich mich kritisiert und falsch behandelt. Es stellte sich dann heraus, dass der Knoten gutartig war, aber die Beziehung fortan bösartig.
Seither richtete sie häufig ihre Wut auf andere Menschen oder das Leben gegen mich. Es war ihr eine Genugtuung, mir Dinge vorzuenthalten, die sie in meiner Gegenwart anderen gab, und so fand sie Gelegenheiten, mich auszugrenzen. Sie glaubte, sie würde damit etwas erreichen, und möglicherweise hatte sie einen kurzen Augenblick lang das Gefühl von Macht und Triumph, etwas, das sie nur selten erlangte. Sie schien nicht zu wissen, dass sie mit dieser Strategie auch etwas verlor. In den folgenden Jahrzehnten begleitete ich sie durch verschiedene Krankheiten und Verletzungen, die sie vor ihren Söhnen geheim hielt, und während der schwersten dieser Krankheiten, nicht allzu viele Jahre ehe sie an Alzheimer erkrankte, empörte sie sich darüber, dass ich nicht genug für sie empfände – während ich mich um sie kümmerte.
Manchmal ist es wertvoll, mit den Erfahrungen und Erkenntnissen eines Erwachsenen auf die Kindheit zu blicken, und etwa um diese Zeit merkte ich, dass ich überhaupt nichts empfand. Nicht für sie oder für mich selbst, außer einem seichten Horror, als käme der aus weiter Ferne. Ich war in jenen Zustand zurückgekehrt, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte, eingefroren, ich vermied jede Lebendigkeit, wartete darauf, aufzutauen, aufzuwachen, zu leben. An ihre Unzufriedenheit dachte ich wie an einen Schlitten, an den ich festgebunden wäre. Ich zerrte ihn hinter mir her und betrachtete ihn, in der Hoffnung, mich selbst oder sogar sie zu befreien.
Sie hielt mich für einen Spiegel, aber sie mochte nicht, was sie in ihm sah, und machte ihm das zum Vorwurf. Als ich dreißig war, schrieb ich in einem der wütenden Briefe, die ich manchmal verfasste und selten abschickte: »Du möchtest, dass ich eine Art Spiegel bin, der dein ideales Selbstbild widerspiegelt – die perfekte Mutter, hingebungsvoll geliebt, immer im Recht –, doch ich bin kein Spiegel, und die Mängel, die du siehst, sind nicht mein Fehler. Und ich kann mit dir nicht auskommen, solange du Wunder von mir erwartest.«
Ich hatte ihr ein Exemplar meines ersten Buches geschickt, und sie antwortete mit einer Beschwerde, dass ich sie nicht besuchen käme – hatte ich es doch spätnachts eingeworfen und geahnt, dass sie es als unhöflich empfunden hätte, wenn ich um die Uhrzeit geklingelt hätte. Wäre ich früher vorbeigekommen, hätte sie irgendetwas entdeckt, das ich im Umgang mit ihr falsch gemacht hätte. Und hätte ich ihr gar nicht erst ein Buch gebracht, hätte sie auch das als Vergehen verzeichnet. Zu gewinnen gab es nichts, nur ein paar Entscheidungen konnte ich treffen, wie ich wie verlieren oder ob ich überhaupt spielen wollte. Ich kenne Menschen mit charismatischen oder herzlichen Eltern, die stets auf Wertschätzung und Anerkennung hoffen, während ich auf so etwas gar nicht erst wartete. Ich wollte nur, dass der Krieg endlich aufhörte.
Lange danach wurde mir wieder und wieder die häufigste und ermüdendste Frage zu Alzheimer gestellt: Ob sie mich noch erkannte. Erkennen kann so vieles heißen, und in mancher Hinsicht hat sie nie gewusst, wer ich war. Viel später, als sie sich nicht mehr an meinen Namen erinnern und auch nicht mehr erklären konnte, in welcher Beziehung wir zueinander standen, machte mir das nichts aus, denn jenes Wiedererkennen war nicht wirklich ein Segen gewesen. In dieser Zeit waren vermutlich meine Stimme und andere Dinge das, was sie als vertraut wahrnahm und was sie sich wohlfühlen ließ, und vielleicht erkannte sie mich tiefer. Und ich sie, seit so viel Überflüssiges aus dem Weg geräumt war und allein die zentrale Tatsache ihrer Menschlichkeit und Verletzbarkeit offenlag.
Wer war ich in jenen Jahren zuvor gewesen? Ich war nicht. Spiegel zeigen alles andere, nur nicht sich selbst, und ein Spiegel zu sein ist, wie Echo zu sein, aus dem Mythos »Echo und Narziss«: Nichts von dir selbst ist hörbar. Meist wird von Narziss erzählt, er sei in sein eigenes Bild, das sich im Bergsee spiegelte, verliebt gewesen, aber das Wichtigste an diesem Mythos ist, dass er über die Verzehrung nach seinem Spiegelbild den Kontakt zu anderen verlor und verhungerte.
Glace, das französische Wort für »Eis«, kann auch »Spiegel« bedeuten. Eis, Spiegel, Glas – der gläserne Sarg, in dem Schneewittchen schläft, vergiftet, könnte ebenso aus Eis gemacht sein, als wäre sie eingefroren, wie Körper in Tiefkühltruhen, die darauf hoffen, wieder aufgetaut zu werden, sobald ihre Krankheit heilbar wäre, oder jene Bergsteiger, die im ewigen Eis der Berge eingefroren sind. Du frierst ein in deiner Kindheit, wirst taub, weil du die Bedingungen nicht verändern kannst, und da es unerträglich ist, die Gefühle und deren grausamen Ursprünge wahrzunehmen, zu benennen und zu empfinden, wartest du.
Eis, Glas, Spiegel. Ich war eingefroren, oder eher: Ich taute auf. Ich war ein Spiegel, nur mochte meine Mutter nicht, was sie darin sah. Ich betrachte die menschlichen Psyche als Landschaft, und wenn jemand fragt, ob sie glücklich oder unglücklich war, glaube ich, dass andere ihr auf einer blumenübersäten Wiese begegneten, die in hohem Maße kultiviert, wenn nicht künstlich war. Ich kannte die wahren Sümpfe ihrer Verzweiflung, abgelegen, in einer entfernten Gegend der Landschaft, die sie selbst nicht erkennen wollte.
Hätte meine Mutter für sich selbst ein Märchen wählen müssen, wäre es Aschenputtel gewesen, die Geschichte der Übersehenen, des unterschätzten Mädchens, eines zarten Kindes, das zu einem Arbeitstier gemacht wird. Die ältere Schwester meiner Mutter war ein unbefangenes, fröhliches Mädchen, das sich aufmachte, ihre eigenen Ziele zu verfolgen; dagegen war ihre jüngere Schwester das verwöhnte Baby, die ihr zwar zum Verwechseln ähnlich sah, aber – zumindest für meine Mutter – als die Hübsche galt. Es war vor allem Selbstvertrauen, das die jüngere Schwester dazu brachte, als Erste einen Augenbrauenstift zu benutzen und hübsche Kleider zu tragen, während ihre ältere Schwester hinterherhinkte; dennoch waren sie sich sehr nah und zärtlich miteinander.
Seit ich klein war, nannte meine Mutter mich gedankenverloren beim Namen ihrer jüngeren Schwester, sodass ich in eine Eifersucht gehüllt wurde, die mehr als ein Vierteljahrhundert vor mir auf die Welt gekommen war. Meine Mutter war in ihren eigenen Geschichten das ausgemergelte, dünne Etwas, an das sich ihre Mutter klammerte, jene Mutter, die sie manchmal aus der Schule nahm, wenn sie krank war, oder einfach zur Gesellschaft oder damit sie auf ihre kleine Schwester aufpasste. Als meine Mutter zehn war, musste ihre Mutter wieder arbeiten gehen, weil ihr Ehemann als Bauaufseher auf einer Baustelle verunglückt war, sie fühlten sich beide verlassen.
Wäre sie Aschenputtel gewesen, so wäre sie wohl ewig in ihrer Kindheit steckengeblieben, auf Hilfe hoffend, auf Veränderung, in Situationen, die vor über einem halben Jahrhundert geendet hatten, ein Aschenputtel, für das kein Prinz erschien, außer ihren Söhnen, den Prinzen, die sie selbst gemacht hatte. Sie war befangen wegen ihrer großen Füße und ihrer Körpergröße, beklagte sie und prahlte abwechselnd damit. Sie hatte ein betörend schönes Gesicht, aber Schönheit ist am ehesten die Art, wie man durch seine Hülle hindurchscheint. Sie war dünnhäutig, gespreizt, ihrer selbst unsicher, affektiert, zimperlich, ängstlich und quengelig, schon als Kind, ihre Geschichten verrieten mir das.
Den Instinkt, der aus einer Verwurzelung in der Welt rührt, hatte sie nie, jenen schützenden Instinkt, der dich dorthin treibt, wo du ermutigt wirst. Stattdessen war sie zwischen Prinzipien und Ängsten hin- und hergerissen. Sie nahm das, was sein sollte, für das Eigentliche und hielt sich an das, was sie mögen müsste und wie Dinge zu sein hatten. Es war, als reiste sie mit einer Landkarte des falschen Ortes, stieße gegen Mauern, führe in Gräben, verlöre die Orientierung, beendete aber weder ihre Irrfahrt, noch würfe sie die Karte aus dem Fenster. Und sie hörte nie auf, Aschenputtel zu sein, und erzählte ihre Lebensgeschichte dabei ausführlich als eine Folge von Ereignissen, die ihr zustießen, und nicht als eine Folge von Dingen, die sie tat.
Kürzlich entwarf die Künstlerin Ana Teresa Fernandez ein paar Highheels aus Eis und blieb auf ihnen so lange nachts am Rande einer Straße in der Stadt stehen, bis sie geschmolzen und ihre Füße wieder nackt und frei waren. Es war ein Kampf zwischen der Wärme ihres Körpers und der Kälte der Schuhe, zwischen ihrer Willensstärke und dem Gefängnis des Aschenputtel-Märchens. Die Schuhe waren erstaunlich schön, befremdlich, beängstigend. Es waren Schuhe, die Füße töten wollen, zu zerbrechlich, um in ihnen zu laufen, Schuhe von der Sorte, die man Stilettos nennt, als könnte man jemanden mit ihnen erstechen. In dem Zwei-Stunden-Video, das sie auf etwa vierzig Minuten der Leidensprobe komprimiert hat, schmelzen und brechen sie langsam auseinander, wie eine auseinanderfallende Geschichte, wie ein schwindender Glaube, wie eine dahinschmelzende Angst.
Wenn deine Füße oder Hände vor Kälte taub werden, spürst du nach einer Weile überhaupt nichts mehr. Erst wenn sie wieder auftauen, tut es weh, wie auch ein Bein nicht schmerzt, wenn der Blutfluss stockt und es einschläft, sondern erst, wenn der Blutfluss wieder beginnt. Ana, die groß und sportlich ist, hat mir erzählt, dass der höllische Schmerz erst kam, als ihre Füße auftauten. Sie ertrug den Schmerz um der symbolischen Eroberung einer schädlichen Geschichte willen, um einer künstlerischen Arbeit willen, die ihren überzeugten Feminismus und ihre brillante Phantasie ausdrücken sollte. In Aschenputtel verstümmeln sich Frauen, um in einen Schuh zu passen; Ana zerstörte die Schuhe, machte etwas Schönes aus dem Krieg zwischen Fleisch und Eis, zwischen einem untauglichen Märchen und ihrer eigenen kompromisslosen Wärme. Nicht jeder hat diese Stärke.
Wo beginnt eine Geschichte? Die Vorstellung ist eher die, dass sie beginnt und endet, nicht so sehr, dass der Stoff einer Geschichte wie eine Tasse Wasser ist, die aus dem Meer geschöpft und dorthin wieder zurückgeschüttet wird. Müsste ich die Geschichte meiner Eltern an irgendeinem Punkt beginnen lassen, wäre es bei meinen Großmüttern, die beide mutterlos gewesen sind. Ein paar Geheimnisse der Erziehung verschwanden ein oder zwei Generationen, bevor ich auf die Welt kam, wenn es solche unter den armen, marginalisierten Menschen von den Rändern Europas überhaupt gab, von denen ich abstamme. Meine Eltern wuchsen beide mit einer tiefen Erfahrung von Armut auf, die vor allem emotional war, aber die sie noch lange, nachdem sie in der Mittelklasse angekommen waren, als materiell empfanden – und so kam es, dass sie sich eher wie rivalisierende ältere Geschwister als wie Eltern benahmen, die ihre Kinder als Verlängerung ihrer selbst und ihrer Hoffnungen betrachten. Im Getrenntsein klemmten sie fest.
Ich merkte gar nicht, dass irgendetwas nicht stimmte, bis ich eines Tages allein und selbstständig lebte und feststellte, dass nicht alle Eltern ihren Kindern finanziell den Hahn abdrehten, sobald es das Gesetz erlaubt. Erfolglos hatte ich mich mit vierzehn, fünfzehn und sechzehn bemüht, das Haus zu verlassen, erst mit siebzehn schaffte ich es und ging in ein anderes Land, so weit weg wie nur möglich, und erst als ich dort angekommen war, bemerkte ich, dass ich stärker als gedacht auf mich gestellt war: Fortan war ich allein für mich verantwortlich, und so begannen ein paar Jahre der Armut. Keinen der standesgemäßen Koffer vom Dachboden meiner Mutter durfte ich für meine Odyssee benutzen, stattdessen gab sie mir einen riesigen kaputten, in dem meine wenigen Kleider und Bücher durcheinanderflogen wie Würfel in einem Würfelbecher. Mein Vater schenkte mir einen kaputten Reisewecker, von dem er behauptete, er sei eine Reparatur wert, sodass ich ihn über Jahre aufhob, ehe ich herausfand, dass es nicht stimmte. Das waren die Geschenke, die sie mir mit in die Welt gaben. Vielleicht machten die Aprikosen vom Baum meiner Mutter deshalb einen solchen Eindruck auf mich.