

Foto: Catherina Hess
Asta Scheib arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. In den achtziger Jahren veröffentlichte sie ihre ersten Romane. Heute gehört sie zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen. Ihr Roman Eine Zierde in ihrem Hause. Die Geschichte der Ottilie von Faber-Castell wurde zum gefeierten Bestseller. Bei Hoffmann und Campe erschienen bisher In den Gärten des Herzens, Die Leidenschaft der Lena Christ (2002), Der Austernmann (2004), Frost und Sonne (2007) und ihr großer Erfolg Das Schönste, was ich sah, eine Romanbiographie über den Maler Giovanni Segantini (2009). 2011 wurde ihr Erzählungsband Streusand veröffentlicht. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.
Für Herbert, Julia und Cosima Rosendorfer
Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
Friedrich Hölderlin
Es fröstelte ihn auf dem kalten Tisch, auf dem er abgelegt worden war. Sie hatten ihm nur flüchtig die Augen ausgewischt und ihn mit Tüchern bedeckt, doch die waren steif gestärkt und wärmten nicht. Carl begann zu brüllen.
»Der wird Apotheker«, sagte sein Vater Simon Spitzweg zu seiner ermatteten Frau, die ihren zweiten Sohn im Arm hielt. »Unser Ältester wird Kaufmann, und wenn du mir noch einen zur Welt bringst, soll er Arzt werden. So gehen die Geschäfte Hand in Hand.«
München, 5. Februar 1808. In der Haupt- und Residenzstadt von Bayern ging ein sonniger, eiskalter Wintertag zu Ende. Am Morgen hatte das Thermometer 21 Grad unter null gezeigt. Es waren einzelne Schneeflocken gefallen, die sich auf die weiße Decke legten, die seit Tagen die Straßen der Hauptstadt einhüllte. Es war Fasching. Besonders die Münchner Jugend feierte auf den Bällen und Redouten mit hoher Erwartung an die Magie der Musik, der Verkleidung, des Ausgelassenseins. Sie ergriffen Besitz von den Straßen und Festsälen. Die allgegenwärtige, mächtige Polizei hatte Not, sie zu bändigen, da sie im Schutz ihrer Maskierung über die Stränge schlugen.
Der Spezereigroßhändler Simon Spitzweg hatte seinen Hausburschen und den Kutscher bereits in aller Frühe angewiesen, die Straße vor dem Anwesen Kaufmann-Kapfer-Haus in der Eisenmannsgasse Nummer 14 sorgfältig von Schnee und Eis zu befreien.
»Den ganzen Tag muss der Schnee geräumt sein, hört ihr, den ganzen Tag.« Da besonders der Hausbursche gar so langsam schaute, rief ihm der Hausherr zu: »Und schlaf mir nicht ein.« Im Weggehen befahl Spitzweg noch: »Und dass ja kein Eis liegen bleibt!« Hias murmelte etwas, das wie »Uhu« klang, und der Kutscher ermahnte ihn: »Tu fei ja nicht launenhaft sei.« Stolz über sein Herrschaftswissen, das er dem Kindermädchen Lisi verdankte, ahmte er deren Hochdeutsch nach: »Kann sein, dass heut der Doktor kommt und die Hebamme.«
Endlich, nach stundenlangem Zögern, hatte sich Carl Spitzweg entschieden, auf die Welt zu kommen. Er glitt in die Hände der Hebamme, ein dürrer Säugling, seine Hände fest auf die Augen gepresst, mit grämlichem Gesichtsausdruck. Seiner Verpflichtung, augenblicklich loszuschreien, kam er ohne besondere Ermunterung nach. Als wüsste er, was ihn erwartete. Sein Vaterland war durch Napoleons Machtstreben umgekrempelt worden. Versunken war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Bayern war nun Königreich von Napoleons Gnaden, und die älteste Tochter des Königs, Amalie Auguste, musste den Stiefsohn Napoleons heiraten, Eugène Beauharnais, Vizekönig von Italien. Napoleon meinte, diese Heirat sei so viel wert wie der Sieg von Austerlitz.
Ulm. Austerlitz. Trafalgar. Carl lernte, dass es in der Welt immer noch nach Krieg roch, dass die Menschen Not litten. Städte waren jetzt Steinhaufen, in denen man zerborstene Dächer und Fenster sah, verschüttete Straßen, zerstörte Brücken, erloschene Laternen.
Doch Carls Mutter spielte auf dem Cembalo die Brandenburgischen Konzerte von Bach, und sie erzählte Carl einige Jahre später, dass ein Maler namens Caspar David Friedrich in seinem Geburtsjahr ein Bild begonnen hatte, das Der Mönch am Meer hieß.
Wenigstens hatte seine Frau ihm nach dem Stammhalter noch einen zweiten Sohn geboren. Simon Spitzweg wollte überhaupt nur Söhne. Mädchen machten Scherereien. Wenn er nur an seine Werbung um Franziska dachte. Sie hätte ins gesellschaftliche Abseits führen können. Ins Nichts. Immer wieder kamen die Bilder seiner Werbung um die Mutter seine Söhne zurück.
Sie hatte ihm an dem kleinen Tischchen gegenübergesessen. In ihrem weißen Tüllkleid mit den kurzen, stark gepufften Ärmeln, zu denen sie lange seidene Handschuhe trug, sah sie viel hübscher aus, als Simon Spitzweg sie in Erinnerung hatte. Ihre Halskette und der Gürtel schienen aus Stahl zu sein. Er hatte irgendwo gehört, dass solcher Schmuck jetzt von den Damen der Gesellschaft getragen werde. Das rötliche Haar Franziskas war zu Locken frisiert, sodass Simon Spitzweg Mut fasste. Warum war sie so aufwändig gekleidet und frisiert? Wollte sie trotz ihrer abweisenden Haltung möglicherweise doch Eindruck auf ihn machen? Ziemlich verwirrend war das alles.
In Tassen aus Porzellan stand duftender Kaffee vor ihnen. In einer Kristallschale war Bayerische Creme mit eingemachten Kirschen serviert worden. Eine Spezialität Franziskas, doch sie hatte offenbar vergessen, Simon davon etwas anzubieten. Himmel, dachte er, wahrscheinlich war hier im Haus alles vom Feinsten. Und er sollte außen vor bleiben? Das wollte er doch einmal sehen.
Als er auf dem Flur Schritte hörte, sprang er auf, riss Franziska in seine Arme, presste sie an sich und küsste sie, so vehement er nur konnte. »Vater«, rief Franziska hilflos und schaute auf Kaspar Schmutzer, der wie angenagelt in der Tür stehen blieb. Simon hielt Franziska wie in einem Schraubstock. Schmutzer musste es so vorkommen, als hätte er die beiden ertappt. Franziska konnte sich aus Scham ohnehin nicht rühren. Ihre Lippen brannten. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund.
Ihr Vater wusste offenbar nicht, ob er lospoltern sollte und entweder seine Tochter oder den Spitzweg rauswerfen. Doch er besann sich darauf, dass er den vielversprechenden jungen Mann gern als Schwiegersohn hätte. Sehr gern sogar. Der passte in die Familie, war haargenau der gewünschte Nachfolger. So zielbewusst, wie er seine Karriere aufgebaut hatte, betrieb er wohl die Brautwerbung. Es imponierte Kaspar Schmutzer insgeheim und schmeichelte ihm, dass Spitzweg offensichtlich keine andere Frau wollte als Franziska. Er hätte in München die Wahl gehabt. Was allerdings das Benehmen des jungen Mannes anging, lag doch einiges im Argen.
Simon Spitzweg bemühte sich weder um eine Erklärung noch um eine Entschuldigung. Er beteuerte, er wolle unbedingt Franziskas Leben mit seinem verbinden, dieser Wille beherrsche ihn völlig.
Franziska schalt sich ungeschickt und blöde. Es sah ihr ähnlich, dass sie sich selbst die Schuld gab. Einen Ausweg, der nicht einen Skandal bedeutet hätte, wusste sie nicht. Simon Spitzweg begriff das schnell. Da sie jetzt schwieg, hatte er von ihr nichts mehr zu befürchten. Er schickte noch am selben Tag Blumen und Konfekt an Franziska und ihre Mutter, sogar an Franziskas Schwester Crescenz, und er beeilte sich, vor dem künftigen Schwiegervater von seinem Erbe zu sprechen, das sich sehenlassen könne.
Am 27. August 1803 hatte er an seinen Vater, den Posthalter in Unterpfaffenhofen, geschrieben:
Mein bester Vater! Empfangen Sie hiermit zum Namenstag den zärtlichsten Wunsch aus meinem Herzen von tiefer Liebe. Entziehen Sie mir Ihre Unterstützung nicht bei dem baldigen Schritte, der vielleicht über das Glück oder Unglück meines künftigen Lebens entscheiden wird. Sie werden mir diese bestimmt nicht versagen, wenn Sie meine Braut kennenlernen. Sie stammt aus einer der ersten Bürgerfamilien der Stadt. Man gratuliert mir schon überall zu meiner Wahl.
Simon Spitzweg wusste genau, dass in seinem Brief das Wort Liebe eigentlich nichts zu suchen hatte. Der süße Ton entsprach nicht seinen Gefühlen. Er hatte von seinem Vater schroffe Einschüchterung erfahren und strenge Befehle. Vor allem, als es um seine Jugendliebe Mali gegangen war. Dieser alte Schmerz würde ohnehin nie verheilen.
Doch jetzt ging es für ihn um alles. Er wollte heraus aus dem Schatten des Vaters, und er wollte so hoch hinaus wie möglich. Er malte den Eltern ein leuchtendes Bild von Franziska. Es gebe in München keine junge Frau, die aus so gutem Hause komme und so gebildet sei. Sie habe nichts von dem lächerlichen Stolz der anderen Bürgerstöchter. Sie tänzele nicht, wie die anderen, von einem Vergnügen zum nächsten. Sie gehe nur in Begleitung der Eltern aus. »Deren Zustimmung hängt natürlich auch von dem Gelde ab, das Sie, lieber Vater, liebe Mutter, mir zu geben willens sind.«
Wie es passieren konnte, dass sie mit einem Mal die Braut Simon Spitzwegs wurde, wusste Franziska später nicht mehr zu sagen. Ein Ereignis war dem anderen gefolgt, und alles lief auf eine Heirat hinaus. So zwingend, dass Franziska nicht mehr zurückkonnte. Sie war wie ein Pferd mit Scheuklappen und ließ sich in die Ehe mit Simon Spitzweg treiben. Sie hatte vieles gelernt in ihrem Leben: Sprachen, Geschichte, Religion, Klavier und Violine spielen, aber sie hatte nicht gelernt, einem Mann Widerstand zu leisten, der durch die Heirat mit ihr immer mehr Macht und Bedeutung in der Stadt München erlangen wollte.
Am 30. Juni 1804 führte Simon Spitzweg seine Braut Franziska Schmutzer im Dom zu Unserer Lieben Frau zum Altar. Bald darauf erfolgte von der hohen städtischen Behörde mit Schrift und Siegel die Verbriefung des eingebrachten Hochzeitsgutes, das jetzt sein Eigentum war. So stand es im Heiratsvertrag.
Crescenz spürte als Einzige, dass die Hochzeitsnacht für ihre Schwester eine Katastrophe gewesen sein musste. So brennend ihre Neugierde auch war – sie wartete, bis Franziska sie aufsuchte. Sie sah wirklich erbärmlich aus. Blass, mit Augenringen und einem Zug um den Mund, den Crescenz noch nie bei ihrer Schwester gesehen hatte.
»Mutter ist nicht da – ich hole uns einen Johannisbeerlikör«, entschied Crescenz, und Franziska hatte nichts dagegen. Endlich etwas Süßes, das ihr dennoch scharf durch die Kehle rann. Franziska hielt ihr wortlos nochmals das Glas hin.
»Ich hab die Augen fest zugemacht«, erklärte sie ohne Umschweife, »ich hab daran gedacht, dass im Leben alles vorübergehe – es hat nichts geholfen.«
Aha. Crescenz war so klug wie vorher. So ganz genau wusste sie auch nicht, was da los gewesen sein konnte in der Nacht nach der Hochzeit.
»Erklär mir doch mal, was war denn so schwierig?«, fragte Crescenz verunsichert, und nach dem dritten Likör sagte Franziska fast heiter: »Ich bin rein wie ein Glas Wasser. Es gab kein herzliches Wort zwischen mir und Spitzweg, schon gar nichts Vertrauliches. Er konnte nicht in mich hinein – es tat entsetzlich weh.«
Franziska wollte wieder nach der Likörflasche greifen, doch Crescenz stellte sie weg, bot ihrer Schwester stattdessen eine Schale mit Pralinen an. Doch Franziska winkte ab.
»Und was hat Spitzweg dazu gesagt?«, fragte Crescenz ratlos. Sie sah immer noch nicht ganz klar.
Franziska atmete tief durch. Dann zuckte sie mit den Schultern und schaute schwermütig aus dem Fenster. »Ach – der hat düster geschaut, und dann ist er aus dem Bett gestiegen und hat gesagt, er habe es sich ja denken können.«
»Wie sollte es anders sein«, stellte Crescenz sachlich fest, »der gibt dir die Schuld. Aber er hat nichts Besseres verdient. Mach dir nur ja keine Vorwürfe.« Crescenz ahnte, dass die Hochzeitsnacht für den ungeliebten Schwager auch eine Niederlage bedeutet hatte. Das gönnte sie ihm von Herzen.
Sie setzte sich zu Franziska und legte ihren Kopf auf die Schulter der Schwester. Nach einer Weile seufzten sie beide tief auf. Sie sahen sich an und mussten lachen. Sie fielen sich in die Arme und lachten, bis ihnen die Tränen kamen.
»Das Beste ist, du gehst zu Doktor Trautner«, entschied schließlich Crescenz.
Am nächsten Tag suchte Franziska den Hausarzt der Familie auf. Sie kannte Doktor Trautner seit ihrer Kindheit, und sie hatte zu ihm mehr Vertrauen als zu jedem anderen. Ohne Umschweife erklärte sie ihm, der als Gast an ihrer Hochzeit teilgenommen hatte, dass ihre Ehe ein Missverständnis sei. Eigentlich ein Albtraum.
Doktor Trautner räusperte sich, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und beschäftigte sich sorgfältig mit seiner Pfeife. Franziska sah ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht aufscheinen. Es gab ihr Mut.
»Ich bin nun mal verheiratet«, sagte sie, »und ich will auch nichts daran ändern. Könnte ich vermutlich auch gar nicht. Und ich will Kinder haben. Doch wenn es so weitergeht wie bisher, dann wird das nie klappen. So viel weiß ich.«
Das hatte sie nun schon mal heraußen. Erwartungsvoll schaute Franziska den Arzt an. Der hörte nicht zum ersten Mal, dass die Brautnacht ein Fiasko gewesen und die Braut ratlos war. Oft weinten die Frauen so, dass er kein Wort verstand von dem, was passiert war. Aber dass die Männer dabei eine wenig ruhmreiche Rolle spielten, hörte er immer heraus. Er suchte dann auch nach den richtigen Worten, nach einem Rat, der Erfolg versprach. Während seines Studiums hatte er nichts darüber gelernt, wie man katastrophale Hochzeitsnächte erfreulich wiederholen könnte. Doch Franziska, seine zarte Patientin, kannte er seit ihrer Kindheit. Sie schien zu wissen, wovon sie redete. Er konnte ihr offen begegnen. Schon bei der Hochzeit war ihm aufgefallen, dass die Eheleute offenbar keine Illusionen hatten. Sie schienen einander völlig fremd.
Wenn Doktor Trautner ihr nicht half, dachte Franziska, dann konnte sie gleich ins Kloster zu den Armen Schulschwestern gehen. Mit dem Gedanken hatte sie seit ihrer seltsamen Verlobung öfter gespielt, dieser Verlobung, die schlicht eine Zwangsverlobung gewesen war. Und nun war sie verheiratet, weil die Zwangsverlobung zur Zwangsheirat geführt hatte. Bis dahin hatte sie es ertragen. Aber was jetzt anstand, die Zwangsintimität, dem war sie nicht gewachsen. Ihr Körper spielte nicht mit, weil die Seele nicht wollte.
Franziska war erstaunt, wie logisch alles war. Aber das half ihr nicht. Sie schwieg ratlos.
Nach einigen medizinischen Ausführungen sagte Doktor Trautner, dass Franziska sich wahrscheinlich verkrampfe. Abhilfe könne sie dadurch schaffen, dass sie lerne, sich körperlich zu entspannen. »Erinnere dich, was du als Kind gemacht hast. Damals hast du dich mir auch anvertraut, und ich habe dir gesagt, dass es keine Sünde ist, wenn du dir schöne Gefühle machst. Das kannst du auch jetzt noch tun. Du bist kein Einzelfall, das darfst du mir glauben. Mache es regelmäßig, dann wird das Empfinden noch stärker. Auf diese Weise kannst du vielleicht lernen, dich zu entspannen. Das ist der einzige Weg, den ich dir raten kann.«
Bei der Geburt ihres ersten Sohnes hatte Franziska sich nicht an ihrem Kind freuen können, obwohl alle das erwartet hatten. Sie selber auch. Doch sie weinte stattdessen, lehnte das Essen ab, konnte sich nur schwer von der Geburt erholen. Und schon gar nicht von dem Gefühl, dass ihr Mann sie an seine Seite gezwungen hatte. Simon Spitzweg war stolz über den Stammhalter, aber er hatte den Eindruck, dass seine Frau auch zur Mutter nicht taugte.
Diesmal jedoch, bei Carl, ihrem zweiten Sohn, kam die Freude sozusagen mit auf die Welt. Inzwischen liebte Franziska auch ihren Erstgeborenen zärtlich, der ein unkomplizierter, fröhlicher Junge war. Wenigstens sagte das seine Großmutter, und sie sagte auch, dass ihre beiden Töchter sie als Kinder mit ihrem ständigen Gekreische fast um den Verstand gebracht hätten. Darüber lachten Franziska und Crescenz.
Mit der Geburt ihres zweiten Sohnes war alles anders geworden. Neu. Franziska war überzeugt von der Wichtigkeit dieses Neuen. Alles, was hinter ihr lag, zählte nicht mehr. Sie fühlte nur noch leisen Groll gegen ihren Mann. Er gehörte zu ihrem alten Leben.
Wenn sie allein war mit ihren beiden Kindern, tanzte sie mit ihnen herum. Sie sang übermütig alte Kinderlieder, und der kleine Simon versuchte begeistert, dabei mitzutun. Franziska teilte ihr unverhofftes Glück mit Crescenz und mit ihren Eltern, die beide Enkelsöhne stolz heranwachsen sahen. Sie wich den zuweilen prüfenden Blicken ihrer Mutter aus, und die ließ es gern dabei bewenden. Selbst Crescenz hatte verwunden, dass der Schwager sich mit Gewalt in die Familie gedrängt hatte. Immerhin war sie Tante geworden. Sie liebte es, ihre Neffen im Kinderwagen auszufahren. Manchmal wurde sie als die junge Mutter angesehen. Das gefiel ihr. Den Schwager nahm sie in Kauf. Ihre Eifersucht hatte sich gelegt, seit ihr klar geworden war, dass Franziska viel mehr ihrer Familie gehörte als ihrem Mann.
Franziska erinnerte sich gern an den Tag, an dem sie den zweiten Sohn zur Welt gebracht hatte. Mit erstem Namen hieß er Franz, nach ihr selbst. Sein zweiter Name war Carl. So sollte er gerufen werden.
Als man ihr Carl zum ersten Mal brachte, war er gebadet und gewickelt. Er hatte aufgehört zu brüllen, und Franziska fand, dass er schön war, obwohl er sich die langen dürren Fingerchen vor die Augen hielt und eher mürrisch dreinschaute. Sein mageres Gesicht hatte für Franziska einen Liebreiz, der sie bis ins Innerste berührte. Die Augen, groß und von auffallendem Blau, waren Franziskas Augen. Das kleine Kinn war schon perfekt entwickelt. Sie ahnte, dass ihr zweiter Sohn viel Raum in ihrem Herzen einnehmen würde. Diese Liebe ging eigentümlich tief, sie überraschte Franziska.
Am Tag nach seiner Geburt wurde Franz Carl Spitzweg in der katholischen Kirche St. Peter getauft. Pate war auf Wunsch des Vaters ein Freund der Familie, der Branntweiner und wohlhabende Bürger Franz Xaver Lauterer, genannt Schuhbauernbrenner vom Promenadenplatz. Franziska hätte lieber ihre Schwester Crescenz als Patin gehabt, da sie jünger war als Lauterer und überhaupt. Doch ihr Mann hatte gemeint, Söhne bräuchten eine starke Hand.
In Wahrheit konnte Spitzweg seine junge Schwägerin immer noch nicht ausstehen. So eine vorlaute, ausgeschamte Weibsperson. Die gehörte in ein Kloster, damit sie lernte, was sich für ein junges Mädchen schickt. Er konnte Kaspar Schmutzer nicht verstehen. Alles ließ er dem kleinen Satan durchgehen. Er, als Schwager, fühlte sich von Crescenz ständig provoziert.
Franziska wusste das ebenso gut wie ihre Schwester, und beide kamen überein, dass sie diesmal Simon Spitzweg seinen Willen lassen wollten. Der gemütliche Pate Franz Xaver Lauterer würde sie ganz gewiss nicht dabei stören, den kleinen Franz Carl nach ihrer eigenen Façon zu erziehen.
Simon war schon drei Jahre alt, und er war stolz darauf, der ältere Bruder des Täuflings zu sein. Drei Jahre vorher hatte der Stadtpfarrer von St. Peter ihn selbst getauft. Hier, in dieser Kirche, die seine Taufkirche war. Das hatten sie ihm oft genug erläutert, damit er brav blieb und nicht brüllte. Es wurde ihm aber erst klar, als er im Samtanzug mit weißem Spitzenkragen durch das Kirchenschiff lief. Das war doch seine Kirche, allein seine. Er war hier getauft worden. Da musste für seinen Bruder eine andere Kirche her. Er sollte auch eine eigene haben. Simon verlangte sofort lauthals von seinen Eltern, dass man in eine andere Kirche gehen solle. Diese hier sei seine Kirche. Da niemand Anstalten machte, das Gotteshaus zu verlassen, dafür aber einige Taufgäste tuschelten und lächelten, warf Simon seine Milchflasche, die ihm das Mädchen zur Beruhigung zugesteckt hatte, wütend auf den Steinboden, wo sie zerschellte.
Ja, so etwas. Was sollte man dazu sagen. Ausgerechnet der Sohn des Kaufherrn Simon Spitzweg. Der presste fast unmerklich die Lippen zusammen. Franziska und Crescenz sahen sich verstohlen an. Sie hätten gern über Simon gelacht.
Zum festlichen Essen gab es Samtsuppe aus getrockneten Waldpilzen, gedünstetes Rindfleisch mit Wirsingpüree, Hühnchenkeulen in Majoran, zum Schluss Cremetöpfchen mit Kaffee. Dazu Wein aus Franken und von der Mosel. Während des vorzüglichen Menüs wurde der Pate, der bislang ein ernstes und würdiges Gesicht zur Schau trug, immer fröhlicher. Schließlich stand er auf, löste die sorgsam geknotete bettlakengroße Serviette von seinem Hals und klopfte an sein Glas.
»Werte Eltern, werte Großeltern, werter Täufling, du trägst gleich mir den Namen Franz, man wird dich jedoch Carl rufen, genauso wie ich von allen Xaver genannt werde. Was uns beiden noch gemeinsam ist, ist unsere Geburtsstadt. Wir sind Münchner, lieber Carl, du bist ein Sohn der Stadt München. In deiner nächsten Nachbarschaft befinden sich das Pschorrbräu und die Akademie der Wissenschaften. Das verpflichtet.
Du wirst hoffentlich schnell merken, dass deine Stadt etwas Besonderes ist. Anders als das lustige Wien, das goldene Mainz, das heilige Köln oder das ewige Rom. Und was fesselt alle an München? Dass es gemütlich ist. Das gemütliche München. Wie wäre es sonst möglich, dass Hunderte hervorragender Männer sich hier einwurzeln? Weil deine Stadt vor allem eine gemütliche Stadt ist. Es muss also, wie es eine höhere Mathematik geben soll, auch eine höhere Gemütlichkeit geben. Sie ist unerreichbar für den einfachen Handwerker, für den schlichten Bauern. Doch sie wird von dem Mann der höheren Kreise geschätzt und am meisten von den Nordlichtern.
Der Bayer, lieber Carl, wird auch seltener Spezialist als der Norddeutsche. Der Bayer wartet lieber, ob es ihm der liebe Gott gegeben hat, und er lässt es laufen, wenn es ihm nicht gegeben ist. Fällt es ihm zu, dann wird er was Rechtes und redet nicht darüber. Außer wenn es nötig ist. Denn der Bayer, genau wie sein Bruder, der Österreicher, will nicht in seinem Beruf verkümmern.
Hier in München haben Berufe das Schöne, dass sie ihre Träger nicht alle Kraft kosten, sondern ihre Gesundheit bewahren. Dass sogar Könige hier Menschen bleiben, das zeigte uns unser Maximilian Joseph, damals noch Kurfürst von Bayern. Als er an die Regierung kam, vor nunmehr neun Jahren, waren die Münchner froh. Den Karl Theodor, den haben sie nicht mögen, die Bayern. Er war ein schlimmer Regent. Noch kurz vor seinem Tod wollte er ein Dekret unterschreiben, nach dem fünfzehntausend Bayern den Österreichern für den Krieg hätten überlassen werden sollen. Glücklicherweise hat der Schlag den Regenten noch rechtzeitig getroffen. Nach Karl Theodors Tod läuteten die Glocken bei den Theatinern, und die Münchner beteten um Vergebung seiner Sünden, die er gegen uns Bayern begangen hat.
Als dann am Abend der Kurfürst mit großem Gefolge in seiner Kutsche einfuhr in die Münchner Stadt, da brachen die Münchner in Jubelgeschrei aus, dass die Pferde scheu wurden. Und der Kaltenegger Wirt, manche sagen auch, der Pschorr sei es gewesen, er rannte der Kutsche entgegen. Überwältigt von seinen Gefühlen, ergriff der Wirt die Hand des Kurfürsten und sagte: ›Weilsd nur grad da bist, Maxl!‹ Die ganze Nacht hindurch riefen die Münchner ›Vivat Maximilian‹.
Jetzt bin ich ein bisschen abgeschweift, liebe Taufgäste. Wenn man vom Maximilian redet, läuft einem das Maul über.
Doch nun wieder zu meinem Patensohn:
Du, mein lieber Carl, wirst einmal Apotheker. Vielleicht kommst du in der Residenzapotheke unter, beim Apotheker Pettenkofer. Der betreibt sein Geschäft musterhaft. Als Apotheker und als Mann der Wissenschaft. Mache du es genauso, Carl. Große Männer können alles, was sie wollen. Und ich sage dir heute: Lieber Carl, werde ein bedeutender Mann, aber bleibe dabei ein Mensch.
Liebe Familie, dankbar ergreifen wir unsere Gläser; es lebe die Stadt, es lebe das gemütliche München. Es lebe unser neuer Bürger Carl!«
Die Gäste brachen in Vivatrufe aus und applaudierten dem Redner Lauterer, der sich lächelnd verneigte. Danach war es für einen Moment still im Salon, und daher vernahmen alle umso deutlicher die Stimme des dreijährigen Simon. Abgrundtiefe Langeweile musste ihn geplagt haben, denn er brüllte: »Aufhören, sappralott!«
Das war der zweite und letzte Protest, den Simon Spitzweg bei der Taufe seines Bruders vorbrachte. In der Folgezeit schleppte er Carl wie eine Schlenkerpuppe herum und wollte ihm von seinem Futter abgeben. Franziska ließ die beiden nicht aus den Augen, versuchte aber, Simon in seinem Eifer nicht allzu hart zu bremsen. Carl überstand problemlos jede Form der brüderlichen Zuwendung. Er war kein so hübscher Junge wie Simon, der ein feines Gesicht und dichtes blondes Haar hatte, das zum Pagenkopf geschnitten war. Carls frühere Magerkeit, sein eher mürrischer Gesichtsausdruck hatten sich gewandelt: Das knubbelige Mondgesicht mit den dicken Backen war mehr drollig als schön, und da man sein eher spärliches Haar zu einem Schippel bürstete, verstärkte das diesen Eindruck noch. Simon war ein ernster Junge, der mit seinen vier Jahren schon bei der Mutter am Cembalo sitzen und mitspielen wollte. Seine Kinderseele schien außerordentlich labil. Er spürte die Spannungen zwischen den Eltern, zwischen der Tante und dem Vater. Er nahm jedes eisige Schweigen, jeden scharfen Ton ernst und schwer. Nur mit dem kleinen Bruder lachte er kindlich und fröhlich, wie es sich für sein Alter gehörte.
Carl zeichnete sich in seinen ersten Lebensjahren durch ein heiteres Gemüt und unbekümmerte Faulheit aus. Obwohl er schon zwanzig Monate alt war, dachte er nicht daran, zu laufen. Er liebte es, in seinem kleinen, mit Rollen versehenen Laufstall gegen die Möbel zu prallen. Da er dabei unschuldsvoll grinste und keinen Schaden anrichtete, ließ man ihn gewähren.
Von Anfang an waren die Brüder eng miteinander verbunden. Carl lernte zwar spät laufen, aber ungewöhnlich früh sprechen. Es war, als wollte er um jeden Preis mit seinem Bruder reden. Von seinem ersten Satz an sah man die beiden ständig miteinander tuscheln. Die Mutter und Tante Crescenz wurden nicht müde, ihnen unauffällig dabei zuzuschauen. Auch die Großeltern waren entzückt, mit welchem Aufwand von Mimik und Gesten das vor sich ging. Der dicke Carl verzauberte alle, und Crescenz fragte ihre Schwester, woher sie so ein Exemplar von einem Kind habe. »Du stilles Wasser und dein beinharter Spitzweg – wie kommt ihr bloß zu diesem Komödianten?«
Als im Jahre 1811 Eduard Spitzweg auf die Welt kam, war die Aufmerksamkeit der Familie naturgemäß auf den Jüngsten konzentriert, der ein zarter, kränklicher Säugling war. Dieser Umstand beschwerte vor allem das Kindermädchen Lisi. Sie war fünfzehn, die Tochter eines Gärtners aus Freising. Ihr Vater hatte sie nach der Elementarschule auf die Lateinschule geschickt, da Lisi sein einziges Kind war. Als er an Tuberkulose starb, übernahmen andere die Gärtnerei und behaupteten, der Vater habe nur Schulden gehabt. Lisi musste Arbeit suchen und war erleichtert, durch Vermittlung von Verwandten im Hause Spitzweg untergekommen zu sein.
Sie wollte alles richtig machen. Nur nicht auffallen, nur nicht eitel sein, hatte man ihr eingebläut. Ihr spärliches dunkles Haar trug sie festgezurrt als kleinen Knoten auf dem Kopf. Diese schmucklose Haartracht und das dunkle, hochgeschlossene Gewand ließen das Kindermädchen viel älter aussehen. Dazu kam die Sorge um Eduard, der ein Speikind war und jeden, der ihn auf den Arm nahm, unweigerlich mit seinem weißlichen Brei bespuckte. Hausarzt Doktor Trautner trichterte Lisi ein, dass Eduard immer aufrecht sitzen müsse. Morgens, mittags, abends, nachts. Anderenfalls würde er an seinem Erbrochenen ersticken. Diese Mahnung brachte Lisi fast um. Ständig war sie besorgt, den offenbar knochenlosen Säugling mit Kissen abzustützen. Man hätte sich durchaus am Anblick Eduards erfreuen können, wenn es nicht so ernst um ihn gestanden wäre. Damit er sich nicht auch noch verkühlte, trug der sechs Wochen alte Eduard stets eine weiße Zipfelmütze, was zusammen mit seiner ungewöhnlichen Sitzhaltung ziemlich bizarr aussah. Die Brüder Simon und Carl brachen bei seinem Anblick oftmals in Lachen aus, was außer Lisi auch die Mutter, die Tante und die Großeltern grob und unanständig fanden.
So war es verständlich, dass Lisi es nach Möglichkeit vermied, alle drei Spitzweg-Buben miteinander an die frische Luft zu bringen. Dazu musste sie Eduard im Kinderwagen mit Kissen fixieren, bei jedem Kopfstein seine Sitzhaltung korrigieren. Dabei noch den einfallsreichen Carl und den stillen, aber hintersinnigen Simon zu beaufsichtigen ging über ihre Kräfte. Doch die Buben pochten auf ihre Rechte.
»Lisi, wir wollen draußen spielen!«
»Heute nicht, es geht ein arger Wind.«
»Aber die anderen Kinder sind auch auf der Gassen«, beschwerte sich Simon.
»Das ist was anderes. Das sind andere Kinder.«
»Die Mutter sagt, wir sind alle von Erde gemacht«, meldete Simon stolz.
Doch Lisi kannte die sozialen Unterschiede. »Ja, schon, aber ihr seid von gesiebter Gartenerde!«
Die Mutter sah sehr wohl, dass Lisi mit dem kranken Eduard überfordert war und nicht auch noch Simon und Carl bändigen konnte. Diese Einsicht brachte den Brüdern willkommene Freiheiten. An Simons siebtem Geburtstag war Carl vier, und die beiden wünschten sich, allein auf den Markt zu dürfen, wenn Schranne abgehalten wurde. Es waren nur wenige Schritte bis dorthin, und man erlaubte es ihnen. Der große Platz hatte für die Buben etwas Anheimelndes, aber auch Abenteuerliches. Ringsumher zogen sich Bogen oder sogenannte Lauben an den Häusern hin. Dort konnten Simon und Carl mit den Nachbarsjungen Verstecken spielen. Laden reihte sich an Laden, in denen man merkwürdige Dinge feilbot, die von den Kindern kaum beachtet wurden. Barchent oder Leinwand konnte man kaufen, Knöpfe, Bänder, lederne Hosen und Jacken, Nachthemden und Schuhe. Schon stieg einem der penetrante Geruch nach Käse in die Nase, deren Laibe von den Käskäuflern ausgebreitet wurden. Schöne Kleider sahen die Spitzweg-Söhne auch, und sie gedachten, der Mutter davon zu erzählen. Die großen Bottiche mit Sauerkraut mieden Simon und Carl, denn sie konnten Kraut und Blutwürste, die es daheim einmal die Woche gab, nicht leiden.
Am unteren Ende des Marktes lag behäbig das Rathaus. Der Vater, der hier ein und aus ging, hatte seinen Söhnen berichtet, dass der hintere Flügel noch von einer stolzen Burg stamme, die hier einmal gestanden hatte. Heinrich der Löwe habe sie erbaut.
Bevor sie beim Rathaus ankamen, sprangen Simon und Carl erst einmal ausgelassen über den Eiermarkt. Es dauerte nicht lange, da hatte Carl eine Herrschaftsköchin, die eine Tüte mit Eiern trug, unabsichtlich angerempelt, sodass die Tüte hinflog und eine Menge Spiegeleier nebst Schalen das holprige Pflaster noch schlüpfriger machten.
»Hundsbankat, reidiger!«, rief die Marktfrau, und die Herrschaftsköchin »Saubande, dreckade!«. Simon fasste Carl bei der Hand, und sie rannten, immer zickzack zwischen den Mehlsäcken hindurch, zur Hauptwache. Hier beachtete sie niemand mehr. Zu viele Menschen schoben sich über den Platz, auf den fünf bedeutende Straßen mündeten: die Dienergasse, die Wein- und Kaufingerstraße, die Rosen- und die Talstraße. Dazu noch einige Steige und Durchgänge.
Die Buben atmeten auf. Sie wollten noch den schönen Turm von St. Peter anschauen gehen und den von Heiliggeist. In der Mitte des Platzes staunten sie die rote Marmorsäule an, auf der ganz oben Maria stand, die Mutter Gottes.
Während der ganzen Woche, so fanden Simon und Carl, war der Platz langweilig. Die Wachparade und den Zapfenstreich hatten sie schon öfter mal beobachtet. Das war aber nicht sehr lustig. Mit den Fiakern, die um die Mariensäule herumstanden, war auch nicht viel anzufangen. Aber am Freitag, so wie heute, da begann das Leben zu rumoren auf dem Platz. Vierspännige Bauernwagen rasselten heran. Von denen wurden die Leinensäcke abgeladen, die man je nach Inhalt zusammenstellte. Auf dem Platz, in den Gassen, überall standen diese wunderlichen prallen Säcke beieinander. Sie waren so geschickt aufgestellt, dass sie Gassen bildeten, denn bald kamen die Käufer, die sich durch diese Gassen bewegten, sich manchmal auf die Säcke setzten, auf die man zum Schutz gegen Regen Bretter gelegt hatte.
Doch erst am nächsten Tag, dem Sonnabend, ging es richtig los. Die Kinder hörten schon im Wachwerden die Rösser und Wagen, die neue Vorräte herbeischafften. Und es kamen Leute vom Land, die man sonst nicht sah. Wenigstens nicht in so großen Gruppen. Wie sie gekleidet waren! Die mit den spitzen Hüten und der knapp sitzenden Gebirgstracht, das waren die Oberländer. Ihre Frauen hatten Jacken mit hochgepolsterten Schultern und lange Röcke. Die Mädchen vom Unterland kannte man an den weitschwingenden Röcken, dem knappen Mieder und den bunten Bändern und Tressen. Sie hatten enganliegende Spitzenhauben auf.
Für die Buben war es am interessantesten, wenn die Händler untereinander feilschten, sich anbrüllten, manchmal auch eine Rauferei begannen. Säcke wurden geöffnet, Proben genommen, abgemessen, aufgeladen. Die Müller, mit schweren Wagen und starken Rössern, holten die Säcke, um den Inhalt gleich zu vermahlen. Das Abmessen des Getreides besorgten alte Weiber, die geschäftig hin und her liefen, den Scheffel so temperamentvoll schwangen, dass reichlich Getreide auf den Boden fiel.
Um die Mittagsstunde hatten Simon und Carl wieder daheim zu sein. Doch der Geschäftsführer des Pschorr’schen Bräuhauses war noch nicht da gewesen. Der Vater hatte ihnen erklärt, dass der immer am Schluss käme, alles Getreide aufkaufte und wieder verschwand. Danach setzten sich die Arbeiter und die alten Frauen auf ein paar übrige Säcke, aßen Brot und tranken Bier. Der Platz wurde gefegt und die aufgelesenen Körner von armen Leuten gesiebt und in Taschen verstaut.
Als Simon und Carl sich aufmachten zum Mittagessen, kamen schon langsam die Fiaker wieder und versammelten sich um die Mariensäule. Hand in Hand gingen die Brüder über den Markt, schwadronierten miteinander und lachten über ihre eigenen Geschichten.
Mit den heranwachsenden Buben ging im Hause Spitzweg eine neue Sonne auf. Crescenz und ihre Eltern, die früher selten bei den Spitzwegs anzutreffen waren, kamen jetzt fast täglich in deren Wohnung vorbei, um sich mit den beiden größeren Enkeln zu beschäftigen. Natürlich wollten sie auch Franziska entlasten, denn die Geburt des Jüngsten hatte sie geschwächt. Sie erholte sich nur langsam. »Ich bin froh, dass meine Großen so gut miteinander spielen können«, sagte sie zu Crescenz.
Als Simon in die Schule kam und nach dem Mittagessen seine Hausaufgaben machte, wich Carl ihm nicht von der Seite. Während Simon seine Buchstaben und Zahlen sorgsam auf die Tafel schrieb, holte Carl seine Farbstifte, setzte sich zu Simon an den Tisch und begann zu zeichnen. Manchmal saß er lange, schaute ins Nirgendwo, war abwesend. Einmal malte er ein Trinkglas und brachte die Zeichnung Lisi, wobei er sie stumm anstrahlte. Die schaute verblüfft, fragte dann, ob Carl etwas trinken wolle. Der nickte. Lisi verstand ihn. Ein anderes Mal zeichnete Carl lange und sorgfältig an einem Viereck herum, bis er einen Kreuzerwecken zustande gebracht hatte. Wieder brachte er seine Zeichnung Lisi, wieder verstand sie ihn und gab ihm den Wecken. Irgendwann sagte Simon »male mir doch bitte einen Hund«, und Carl begann mit der Arbeit. Manchmal fing er mit den Ohren an, dann mit den Pfoten oder mit dem behaarten Rücken. Kam die Mutter oder Tante Crescenz, schenkte er ihnen eine Zeichnung, auf der Getreidesäcke zu sehen waren. Oder eine Blume, von denen viele auf dem Markt verkauft wurden. Alle staunten über Carls Werke.
Der Vater dagegen war unzufrieden mit seinem Zweitgeborenen. Er solle lieber wie Simon Buchstaben und Zahlen lernen, dann habe er später einen Vorsprung vor den anderen Schülern.
Manchmal schnitt Carl seine Tiere und Blumen mit der Stickschere seiner Mutter aus. Da war der Mutter eine Idee gekommen. Sie klebte eine ausgeschnittene Glockenblume auf ein Papier und sagte, dass sie diese schöne Blume wunderbar als Lesezeichen brauchen könne. Daraufhin bekamen alle im Hause Spitzweg nach und nach Lesezeichen von Carl. Er traute sich aber nicht, auch dem Vater eines zu schenken. Dafür brachte er den Großeltern zwei besonders schöne Exemplare. Überrascht von seiner Kunstfertigkeit, lobten sie ihn.
Da wurde Carl verlegen. Lob vertrug er schlecht.
Vater Simon Spitzweg verdross es immer mehr, dass die Eltern Schmutzer und vor allem Crescenz ständig um seine Frau und die Kinder waren.
»Du, deine Schwester und deine Eltern, ihr verweichlicht die Kinder. Wie sollen meine Söhnchen wissen, dass das Leben völlig anders ist als ihr Zuhause. Das Leben ist hart, fremd und ohne Gnade. Darauf müssen sie vorbereitet werden.«
»Aber sollen sie denn der gleichen Willkür, Ungerechtigkeit und Grausamkeit ausgeliefert werden, wie du sie erfahren hast?«, fragte Franziska scharf. »Willst du ihnen die sinnlosen Quälereien deines Vaters und die Schikanen deiner Lehrer zumuten? Das werde ich zu verhindern wissen. Meine Eltern und ich wissen genauso viel über Kindererziehung wie du.«
Simon Spitzweg sah seine Frau überrascht an. Er sah, dass sie gesundheitlich immer elender wurde, doch ihr Widerstand ihm gegenüber schien umso stärker zu wachsen. Wenn er es auch vor sich selbst nicht eingestand, hatte er doch ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Er verdankte ihr viel, aber sie hatte es ihm nicht aus freien Stücken gegeben. Und dennoch, die drei Söhne waren seine Söhne, sie waren Spitzwegs, und er wollte doch einmal sehen, ob er nicht ein Wörtchen mitzureden hatte bei ihrer Erziehung.
»Warte nur, bis sie einmal größer sind! Wenn Simon und bald danach Carl ins Wilhelms Gymnasium eintreten. Angemeldet habe ich sie schon, dann wird es vorbei sein mit der Verzärtelung.«
Spitzweg redete sich jetzt in Rage, sein hageres Gesicht rötete sich, er war aufgesprungen und stand selbst wie ein Schulmeister vor Franziska, die keinen Fluchtweg sah und stumm vor sich hin schaute. Lass ihnen doch ihre Kindheit, Spitzweg, sie haben doch noch so viel Zeit, dachte sie müde.
Spitzweg wies jetzt mit seinem langen dürren Zeigefinger auf sie.
»Du, Franziska, hast nie gelernt, dass der Lebenskampf durch Arbeit bestritten wird. Das heißt durch zielbewusste und zweckbestimmte Anspannung aller Kräfte. In der höheren Schule werden die Söhne arbeiten lernen, und zwar systematisch und grundsätzlich. Die Zeit eurer Spiele, des Cembalogeklimpers von Simon und der Kleckserei von Carl ist dann endgültig vorbei. Verstehst du, endgültig. Die Schule stellt Aufgaben, und dann ist es weiß Gott nicht egal, ob man sie löst oder nicht. Diese Aufgaben werden den Alltag meiner Söhne beherrschen, dafür werde ich sorgen.«
»Wann willst du dich denn um die Kinder kümmern, du bist doch den ganzen Tag außer Haus«, sagte Franziska, ermattet von der lautstarken Rede ihres Gemahls, die auch Crescenz angelockt hatte. Sie war bei der Tür stehen geblieben, und Simon Spitzweg hatte sie noch gar nicht wahrgenommen.
»Ich werde einen Hauslehrer für die Söhne anstellen, vom ersten Schultag an. Die Erziehung meiner Kinder wird dir damit aus der Hand genommen, meine Liebe.« Simon Spitzweg sah triumphierend auf Franziska herab, doch sie sah zur Türe, wo Crescenz immer noch stand.
»Du wirst schon einen Hanswursten auftreiben, der dir in allem zustimmt«, sagte Crescenz trocken, und Simon Spitzweg fuhr herum. Er wollte seine Schwägerin anschreien, brachte aber bei ihrem Anblick kein Wort heraus. Stattdessen starrte er sie nur stumm an und ging dann grußlos an ihr vorbei aus dem Zimmer.
Crescenz trug ein neues Hauskleid aus tiefroter Seide, das eng geschnitten war und umso weitere kurze Ärmel hatte. Das Rot ließ ihre helle, fast milchige Haut schimmern.
»Du hast ihn mundtot gemacht«, sagte Franziska lächelnd. »Du siehst wunderbar aus, Schwesterchen, das erträgt Spitzweg einfach nicht. Wenn mich nicht alles täuscht, ist er in dich verliebt. Aber er würde lieber sterben, als das zuzugeben.«
»Ich weiß«, sagte Crescentia lächelnd, »er haut immer ab, wenn ich in sein Blickfeld gerate.« Die Schwestern sahen sich an, sie prusteten los vor Lachen. »Wir benehmen uns wie Simon und Carl«, sagte Franziska. »Von wem sollen sie es denn sonst haben, wenn nicht von uns beiden?«, wollte Crescenz wissen.
Auch wenn Simon Spitzweg nicht zum letzten Mal aufbegehrt haben sollte – es bestand kein Zweifel, dass Franziska und Crescenz die Erziehung der Söhne übernommen hatten.
Immerhin, als Bürger der Stadt München war Simon Spitzweg auf Erfolgskurs. Er nahm es in Kauf, dass seine Ehe und das Familienleben sich völlig anders gestalteten, als er es sich vorgestellt hatte. Nichts, aber auch gar nichts glich der Hierarchie, die er aus seinem Elternhaus kannte. Er hatte eine kranke Frau, aber fügsam war sie nicht. An ihre Verwandtschaft konnte er nicht denken, ohne in Wut zu geraten. Doch das half ja nichts. Er musste ruhig und geduldig sein mit den Verwandten. Er hatte unbedingt dazugehören wollen, und schließlich wartete ein Vermögen auf ihn.
Vater Spitzweg vergaß offenbar, dass er selbst in seiner Jugend beileibe nicht getan hatte, was sein Vater von ihm erwartete. Er hätte das Anwesen der Familie und die Posthalterei als Erbe übernehmen sollen. Schließlich konnte er nur mit Hilfe des Pfarrers den Vater überzeugen. Der Pfarrer meinte, dass Simon in die Welt hinausmüsse, da er sehr begabt sei. Schließlich nahm sein Pate in München ihn bereitwillig bei sich auf, und so besuchte Simon Spitzweg das Alte Gymnasium, anschließend noch das Lyzeum in München.
»Unter den Besten ganz hervorragend« stand 1798 unter seinem Zeugnis. Anstatt zu studieren, wurde Spitzweg Kaufmann. Er ging nach Frankfurt und Wien, später zog es ihn über Passau, die Steiermark, Krain und Görtz bis nach Triest. Dann hatte er genug vom Alleinsein, vom Herumziehen.
Simon Spitzweg wusste, dass er den Erfolg nicht allein seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit verdankte, sondern seiner Angst. Oft, wenn er nicht schlafen konnte, bedrückten ihn Bilder seiner Vergangenheit, lebte er wieder in dieser Vergangenheit, in der Posthalterei.
Die Erziehung seines Vaters und seiner Lehrer hatte offenbar nur ein Ziel gehabt – die Kinder in Ängstlichkeit zu halten. Simon jedenfalls lebte in Angst. Vor der mächtigen Stimme des Vaters, der in Simon nur seinen Stammhalter sah, vor dem Rohrstock des Lehrers, vor den Strafen, die daheim und in der Schule dieselbe Funktion hatten. Simon Spitzwegs Vater war Wirt und Posthalter in Unterpfaffenhofen, wohlhabend, angesehen und einflussreich. Das stand auf dem Spiel. Simon hatte, seit er denken konnte, Angst gehabt, dem Vater nicht zu gefallen oder dem Lehrer eine falsche Antwort zu geben. Manchmal war er von seiner Angst wie besessen gewesen.
Am Stammtisch berichtete der Lehrer dem Wirt stets alles über den Sohn. Manchmal fühlte Simon sich wie ein Kutschpferd, das vor Müdigkeit nicht mehr laufen konnte, aber doch laufen musste, bis es zusammenbrach. Er war immer wieder nachts aus Angstträumen erwacht und am Morgen völlig verschwitzt in die Schule geschlichen. Mechanisch hatte er alles getan, was man ihm sagte. Das Abenteuer der Kindheit, die hochgradige Erregbarkeit seiner Seele, die Kräfte, die in dieser Erregbarkeit lagen, waren bei Simon Spitzweg Ängste. Angst formte seine Seele, und ein unheilbarer Minderwertigkeitskomplex, den er jeden Tag neu durch Tüchtigkeit und Raffinesse ersetzen musste, blieb ihm sein Leben lang.
Erst seine Heirat mit Franziska Schmutzer hatte ihn selbstbewusster gemacht. Immer wieder dachte Simon Spitzweg an den Tag, an dem ihn der Zufall in die Lage versetzt hatte, sein Leben in einem ganz bestimmten Sinne selbst zu lenken.
Bei einem langweiligen Spaziergang mit seinem Paten hatten sie am Sendlinger Tor die Familie Schmutzer getroffen. Der rotbackige Herr im hohen Zylinder und mit seidenen Rockaufschlägen war ein bekannter Münchner Früchtegroßhändler. Er war der größte Kaufmann in der Branche. Spitzweg wollte eigentlich nur grüßen, doch dann fiel sein Blick auf die beiden hübsch gekleideten Mädchen, die neben ihrer Mutter standen und ungeduldig von einem Bein aufs andere traten. Die Kleine mit den frech blitzenden Augen kam nicht in Betracht, aber die Ältere – mein Gott. Mit einem Male wusste er, warum er dort stand, wo er stand. Er war nicht mehr irgendwer oder irgendwo, er war ein Mann, der seinen Weg machte und unverhofft sein Idealbild von einer Frau vor sich hatte. Mit ihren rötlichen Haaren und den klaren blauen Augen machte das junge Mädchen einen tiefen Eindruck auf ihn, obwohl sie ihn nicht anschaute. Genau diese Frau wollte er haben. Ohne eine passende Ehefrau war an eine Karriere nicht zu denken. Ihr Name, so erfuhr er, war Franziska.
Oftmals hatte Spitzweg das Gefühl, für seine Frau und ihre Familie ein Fremder zu sein. Bei den Honoratioren der Stadt München dagegen wurde Simon Spitzweg geachtet. Er war in das Schützenkorps der Bürgerwehr eingetreten. Der verwitweten Handelsmännin Maria Anna von Bachmeyr kaufte er um eine Summe von 1200 Gulden ihre bürgerliche Handlungsgerechtigkeit ab. Ein Jahr später ging noch eine weitere Berechnung Simon Spitzwegs auf – der Erwerb eines eigenen Geschäftshauses, das er von dem Kurfürstlichen Hofrat von Zeitz kaufte. So konnte Simon an der Ecke der Neuhauser und Eisenmannsgasse im Kaufmann-Kapfer-Haus Nummer 14 eine repräsentative Materialwarenhandlung errichten, über deren Eingang auf einer großen schwarzen Tafel zu lesen stand:
Simon Spitzweg, Tuch – Wollen – Baumwollen, Seiden- und Spezereiwaren, Kommission und Spedition.
Da Simon Spitzweg weit gereist war und Erfahrungen in mehreren Ländern gemacht hatte, brachte er sein Unternehmen rasch in Schwung. Er war freigebig mit Rat und Tat, und die Münchner Geschäftsleute vertrauten ihm bald und übertrugen ihm die Würde eines bürgerlichen Magistratsrates. 1818 wurde er als Vertreter der Stadt zum Landtagsabgeordneten gewählt. Seine Stimme galt. Später stellte er einen Antrag auf Gründung einer Erziehungs- und Bildungsanstalt für künftige Bürger. Er verlangte die Einführung von Redeübungen an der Universität im Interesse des öffentlichen und mündlichen Strafverfahrens. Er setzte die Errichtung einer höheren Töchterschule durch. Da er das Italienische und das Französische beherrschte, holte man ihn als Assessor an das Wechsel- und Mercantilgericht. Franziska und Crescenz waren sich darin einig, dass Spitzweg sich nach außen hin modern gab und allem Neuen aufgeschlossen. Er machte Karriere im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben der Stadt.
Jede Phase seines Aufstiegs berichtete er Franziska und ihrer Familie in allen Einzelheiten. Stets mit dem wütenden Unterton, dass man überall auf seinen Rat höre, ihn ehre, nur zu Hause nicht.
»Ihr seid unerfahren«, schalt er Franziska und meinte damit auch Crescenz. »Weil ihr nicht wisst, wie es aussieht in der Geschäftswelt. Es kommt euch schließlich allen zugute, wenn ich in der Stadt zu Ansehen gelange.«
»Wir kennen uns bestens aus, was die Münchner Kaufleute und den Handel angeht«, wies Franziska ihn zurecht. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du unserer Familie Ansehen verschafft hättest«, griff Crescenz ihren Schwager an. »Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Ohne unsere Familie wärst du immer noch der Garniemand, zumindest gesellschaftlich!«
Diese Auseinandersetzungen schlossen Spitzweg immer mehr aus vom familiären Glück, das er durchaus wahrnahm, wenn er daheim war. Doch er war und blieb allein, denn naturgemäß blieb ihm wenig Zeit, sich um Frau, Kinder und Schwiegereltern zu kümmern.
Der Familie war das nur recht. Unter der Obhut ihrer Mutter und ihrer Tante lebten die Söhne nach deren Vorstellung vom Leben. Dazu gehörte möglichst viel Freiraum für die drei Jungen. Simon, als der Älteste, beschützte seine Brüder und wollte dafür das Kommando. Carl folgte ihm willig, denn Simon beschaffte ihm Material zum Zeichnen. Gemeinsam gaben sie auf den kleinen, immer noch zarten Bruder acht. Sie durchstreiften ihre Stadt, kannten sie im Licht und im Schatten. München hatte viele Gesichter. Im Laufe der Zeit unterschieden die Brüder ihre mannigfaltigen Umgebungen, ihre Menschen, Tiere, ihre Gerüche und Geräusche. Die Brüder schauten die Bäume an, den Himmel mit seinem geheimnisvollen Gestirn. Alles gehörte ihnen.
War der Vater nicht im Haus, saß Carl oftmals auf dem Boden im Salon und versuchte eines der Bilder, die an der Wand hingen, abzuzeichnen. Auf dem ersten waren zwei Pferde zu sehen, eine weiße Stute und ein brauner Hengst, die nebeneinanderstanden. Der Hengst hatte seinen Kopf wie liebkosend auf den Hals der Stute gelegt.
Der Großvater hatte seinem Enkel Zeichenkohle geschenkt, und nun machte Carl sich daran, die Stute zu zeichnen. Wieder und wieder versuchte er es. Die Beine waren besonders schwierig, und der Körper des Pferdes glich eher dem eines Hundes. Bei dem Hengst gelang es ihm schon besser, seinen Vorstellungen von einem Pferd nahezukommen. Es war aufregend für Carl, auf dem Papier ein Wesen entstehen zu sehen, das er geschaffen hatte.
Doch er wusste, dass er es noch besser machen konnte, machen musste. Er würde wieder die Pferde malen. An einem anderen Tag. Aber für heute legte er seine Pferdezeichnungen beiseite und begann, sich mit dem Gemälde einer Felsenlandschaft zu beschäftigen, deren hochaufragendes Massiv ihm schon immer imponiert, jedoch auch mit Furcht erfüllt hatte. Er wollte seinen eigenen Felsen malen, so wie er ihn empfand, er wollte lernen, von einem Bild zum anderen immer mehr lernen. Er wollte ein Maler werden.
Spitzweck»Spitzweg – Spitzweck«.17