Clare Clark wurde 1967 in London geboren und studierte Geschichte am Trinity College in Cambridge. Nach einem mehrjährigen USA-Aufenthalt lebt die Autorin wieder in London. Ihr Debüt, Der Vermesser (Hoffmann und Campe 2005), der im 19. Jahrhundert unter den Straßen von London spielt, wurde begeistert aufgenommen und wie auch der 2010 erschienene Roman Die französische Braut für den Orange Prize nominiert. 2007 erschien ihr ebenfalls im historischen London angesiedelte Roman Der Apotheker. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in London.
Für Chris – wie immer
An der Stelle, wo der Kanal eine Biegung nach rechts machte, konnte man trotz des stärkeren Gefälles nicht mehr aufrecht stehen. Und obwohl sich William, der die Laterne ausgestreckt vor sich hielt, duckte, stieß er mit dem Hut an die schlammüberzogene Decke. Fäkaliengeruch stach ihm in die Nase. Er konnte die Hand nicht ruhig halten, so dass der Lichtschein in der Dunkelheit zitternd hin und her hüpfte. Das Wasser, das durch den schmaleren Kanal schoss und immer höher stieg, presste ihm die kniehohen, eingefetteten Lederstiefel an die Waden. Das Rauschen übertönte sogar das Klappern der Pferdehufe und der eisenbereiften Räder über ihm. Natürlich – er befand sich bereits in großer Tiefe. Zwischen ihm und der gepflasterten Straße lagen mindestens sechs Meter schwerer Londoner Lehm, dessen Gewicht die Dunkelheit noch erdrückender machte. Die morschen Backsteine unter seinen Füßen waren tückisch, weich wie Käsekrümel, und bei jedem Schritt schmatzte der dicke schwarze Schlamm unter seinen Sohlen. Obwohl er so große Erregung verspürte, dass ihm die Haare zu Berge standen, zwang sich William, so langsam und vorsichtig zu gehen, wie es ihm die Ausspüler gezeigt hatten. Er drückte die Fersen fest in den unsicheren Boden, um dann sein Gewicht über den Fußballen abrollen zu lassen, und suchte dabei die Wasseroberfläche nach aufsteigenden Blasen ab. Im Schlamm verbargen sich Blasen mit Faulgas, wie die Ausspüler es nannten, und angeblich genügte schon der leiseste Hauch, um einen Menschen auf der Stelle ohnmächtig niedersinken zu lassen, wie von einer Kugel getroffen. Das Wenige, das William über die giftige Wirkung von Schwefelwasserstoff wusste, reichte aus, ihnen vorbehaltlos zu glauben.
Der fahle Schein seiner Laterne brach sich auf der schwarzen Wasseroberfläche und warf den Schatten eines Bösewichts an die gewölbte Wand. Ansonsten herrschte vollkommene Finsternis, selbst im ersten Tunnelabschnitt, wo Einstiegsgitter direkt nach oben auf die Straße führten. Den ganzen Tag hatte dichter Nebel über London gehangen, eine schokoladenfarbene Düsternis, die nach Schwefel stank und selbst der Morgendämmerung trotzte. Vergeblich drückten die Gaslaternen ihre Lichtkreise in die Dunstglocke. Kutschen tauchten jäh aus der Dunkelheit auf, und das gedämpfte Getrappel und Wiehern der Pferde vermengte sich mit den Warnrufen der Kutscher. Fußgänger mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten und hochgeschlagenen Kragen huschten aufeinander zu, um ebenso rasch wieder im Nichts zu verschwinden. Die klobigen Schemen der Express-Dampfboote auf der Themse erinnerten an eine hingekritzelte Kohlezeichnung, über die ein Kind unachtsam mit dem Ärmel gewischt hatte. Jetzt, um fast sechs Uhr abends, war das schmutzige Braun des Nachmittags von der Schwärze der Nacht verschluckt worden. Verstohlen wie ein Kanaljäger schloss William jedes Mal, wenn er zu einem Einstiegsgitter kam, die Blende seiner Laterne. Nicht genug damit, dass er allein umherstreifte, ohne Unterstützung von der Straße aus, was einen groben Verstoß gegen die Vorschriften der Baubehörde darstellte. Wie sollte er seine Anwesenheit hier erklären, in einem Kanalabschnitt, der erst kürzlich für einsturzgefährdet erklärt und geschlossen worden war, bis umfangreiche Reparaturarbeiten vorgenommen werden konnten? William konnte schwerlich behaupten, er habe davon nichts gewusst. Schließlich stammte der Bericht von ihm, in dem genau dies gefordert wurde, sein erster offizieller Bericht an die Baubehörde:
Im südlichen Abschnitt des Zweigs in der King Street ist der Verfall des Backsteinmauerwerks weit fortgeschritten, wobei besonders die Bogenlaibung unter beträchtlicher Zersetzung leidet. Zwar ist davon auszugehen, dass der Gezeitenstrom eine übermäßige Anhäufung von Ablagerungen verhindert, doch die große Menge einströmenden Wassers, der der Tunnel bei Flut und schweren Regenfällen standhalten muss, stellt eine gravierende Gefahr für die Stabilität der gesamten Konstruktion dar. Eine Unterfangung des Gewölbes ist dringend erforderlich, um dem weiteren Verfall entgegenzuwirken. GEFAHR.
Den Sachverhalt in so präzise Worte zu kleiden hatte ihn befriedigt. Sie zeugten von einer Welt, die mit Methodik und Vernunft das Chaos bannte. Als er an seinem ersten Arbeitstag als Assistent des Ausschusses zusammen mit den anderen jungen Männern mit Mr. Bazalgette persönlich bekannt gemacht worden war, hatte einer aus der Gruppe, eifrig bestrebt, sich bei seinem Dienstherrn einzuschmeicheln, diesen gebeten kundzutun, was für ihn einen erfolgreichen Ingenieur ausmache. Bazalgette hatte kurz nachgedacht, die Finger an den Lippen. Dann antwortete er ganz leise, fast als spräche er zu sich selbst. Der große Ingenieur, sagte er, sei ein Pragmatiker, der durch die augenscheinlichen Mängel überstürzt entworfener Bauwerke und Maschinen Vorsichtig an den Tag lege. Er habe feste Gewohnheiten, sei zuverlässig, diszipliniert und systematisch, wenn es darum gehe, Probleme zu lösen. Er sei ausgeglichen und gesetzestreu. Nachlässigkeit, Maßlosigkeit, Unordnung und Launenhaftigkeit seien ihm fremd. Im Durcheinander seiner natürlichen Instinkte habe er Ordnung geschaffen.
»Wie unsäglich langweilig er uns gern hätte!«, hatte einer der Assistenten William zugeraunt, als sie wieder entlassen wurden. William beachtete ihn nicht weiter. In den folgenden Monaten hatte er sich an Bazalgettes Worte gehalten und sie sich so oft wiederholt, bis sie zur Beschwörungsformel für ihn wurden. Auf Gebete vertraute William nicht mehr.
Dort, wo der Untergrund wieder eben wurde, blieb er stehen und hielt die Laterne an die Wand. Das Wasser zerrte ungeduldig an seinen Stiefeln. Im Lichtschein sah er, dass das Mauerwerk von Pilzkissen überzogen war, die einander überlappten. Üppig sprossen sie aus dem porösen Backstein, die fleischigen Unterseiten aufgebläht und stumpf, und polsterten die Löcher aus, mit denen die Wände übersät waren. Sie waren das Äußerste, was die Tunnel an pflanzlichem Leben gebaren, doch William konnte keinen Gefallen an ihnen finden. Er duckte sich noch mehr und zog die Schultern ein, um nicht ihr bleiches Fleisch zu streifen. Ihr kalter, hefiger Geruch überlagerte selbst den Fäkaliengestank des Abwassers. William schnürte es die Kehle zu. Einen Augenblick spürte er, wie das Schiff krängte und es in seinem Haar von Ungeziefer wimmelte. Rings um ihn stöhnten Männer und schrien um Hilfe, die nicht kam. Plötzlich verspürte er den Drang, seine Laterne an der Wand zu zerschmettern. Eine Scherbe davon würde scharf wie ein Messer durch die stinkenden Pilze gleiten, bis sie von der Wand abfielen. Würden sie bluten oder einfach nur eine gelbliche Flüssigkeit absondern wie eine Leiche, die zu lange in der Sonne gelegen hatte? Der Taumel wurde immer heftiger, William atmete flach und stoßartig. Er stellte sich vor, wie sich seine Finger um einen gläsernen Dolch legten, fest und immer fester, bis ihm das Blut in schwarzen Rinnsalen zwischen den Knöcheln hervorsickerte. Das brennende Verlangen danach schnürte ihm Brust und Kehle zu. Er starrte auf die Laterne und die Flamme, die sich wie ein Wurm wand, als er sie langsam vor- und zurückpendeln ließ. Ein einziger harter Schlag nur. Mehr wäre nicht nötig. Er holte aus …
Nein! Die Laterne schwang wie benommen hin und her, als er den Arm zurückriss, und ein fahles Pilzkissen wirbelte im Strom davon. Ein feiner Riss zog sich durch das Laternenglas, aber das Licht war nicht erloschen. Gemächlich züngelte die Flamme hoch, zitterte und brannte schließlich wieder ruhig. Unter Williams Hutrand tropfte Schweiß hervor. Er hielt die Laterne fest am Griff und ärgerte sich über seine Unbesonnenheit. Ohne diese Lampe würde er den Rückweg zum Schacht niemals finden. Er leckte sich die Lippen. Feste Gewohnheiten, Zuverlässigkeit, Disziplin, Systematik beim Lösen von Problemen. Ausgeglichenheit und Gesetzestreue. Während er weiter in den Tunnel eindrang, sprach er sich diese Worte vor. Ihm zitterten die Knie.
Wieder wurde die Röhre enger. Hier war kaum noch Platz, sich mit den Schultern durchzuzwängen, und das Wasser war mehr als kniehoch. Beim Höchststand der Flut würde sich der Kanal fast bis zur Decke füllen. Wo das Wasser die Wände streifte, gab es keine Pilze mehr. Im Schein der Laterne war das Mauerwerk durch die fettigen Ausblühungen des Salpeters mit einem seidigen Glanz überzogen. Von einem schmalen Backsteinvorsprung in der Deckenwölbung vor ihm hingen Stalaktiten wie vergilbte Zähne herab. Hier war es, hier war der junge Jephson zusammengebrochen.
Der Zwischenfall ereignete sich nicht ganz ohne Vorwarnung. Jephson, ebenfalls Mitarbeiter der Baubehörde, von schlaksiger Statur und mit den groben Knöcheln eines Mannes ausgestattet, der offensichtlich nicht zur Oberschicht gehörte, hatte mindestens schon einen halben Kilometer lang lamentiert. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er klagte über Magenschmerzen, Kopfweh und Atemnot. Er bestand darauf, dass der Vorarbeiter alle paar Schritte anhielt und seine an einem Stab befestigte Lampe in die Dunkelheit vor ihnen hielt, um nach giftigen Gasen Ausschau zu halten. Bei den Messungen hatten Jephsons Hände so heftig gezittert, dass William ihm die Wasserwaage abgenommen hatte, damit sie nicht im Schlamm unter ihren Füßen verloren ginge. Als sie die Stelle, an der William jetzt stand, erreicht hatten, drehte der Kerl durch. Seine Angst hatte sich wie Gas hinter ihm im Tunnel ausgebreitet und die anderen Männer angesteckt – außer William. Mit kühler Gleichgültigkeit hatte der zugesehen, wie Jephson schreiend in der dreckigen Brühe um sich schlug. William hatte die salatgrüne Färbung in dessen abgehärmtem Gesicht bemerkt, als die Strömung seinen Hut davontrug. Er hatte beobachtet, wie sich die leuchtend roten Flecken auf seinen hervortretenden Wangenknochen ausbreiteten und er mit den knochigen weißen Fingern an den bröckelnden Wänden Halt suchte. Und er hatte nur eine leichte Ungeduld verspürt, als sich Jephson schlagend und kreischend gegen den Klammergriff des Vorarbeiters und seines Assistenten zur Wehr setzte. Die Ausspüler waren kräftig wie Metzgerburschen, und mit ihren großen Fäusten packten sie Jephsons Arme, als wären es Axtstiele, doch eine Zeit lang wehrte sich der junge Mann derart heftig, dass sie alle Mühe hatten, ihn festzuhalten. Zuletzt strampelte Jephson so wild, dass er eine Schicht Backsteine lostrat. »Schafft ihn hier raus!« Der bedrohliche Unterton in der sonst eher melancholischen Stimme des Vorarbeiters war unüberhörbar gewesen. Als sie Jephson schließlich nach oben auf die Straße gezerrt hatten – der übrige Vermessungstrupp folgte in bedrücktem Schweigen –, war sein Haar dreckverkrustet, und seine Fingernägel waren alle abgebrochen.
Danach war Jephson in Grants Abteilung versetzt worden. Zurzeit führte er Untersuchungen über Portlandzement durch und experimentierte mit der Belastungsfähigkeit von Balken unterschiedlicher Stärke. Also blieb es William überlassen, die von der Baubehörde angeforderte Beurteilung des Tunnelzustands vorzunehmen. Denn nach diesem Zwischenfall hatte Lovick ihm die Verantwortung für die Überprüfung des bestehenden Kanalnetzes im Norden übertragen. Es hieß, William habe bei dem Vorfall mit Jephson demonstriert, dass er auch in einer kritischen Situation einen klaren Kopf bewahren konnte.
Die Lücke, die in dem Mauerwerk klaffte, war frei von Wasser und maß an ihrer breitesten Stelle fast dreißig Zentimeter. Ob sie in dieser Form das Werk von Jephsons Stiefeln war oder nicht – William musste sie jedenfalls noch ein Stück vergrößern. Sie musste ausreichend tief und breit sein, so dass er darin sitzen und die Laterne abstellen konnte. Mit nur einer Hand würde er es nicht schaffen. William leuchtete in die Vertiefung hinein. Die Wand war von schwarzen Rillen durchzogen, die meisten davon flach, kurz und in Vierer- und Fünferreihen angeordnet wie die Striche, die Sträflinge in die Wand ritzen, um das Vergehen der Zeit zu markieren. Einige waren breiter und gröber und paarweise angeordnet. Ratten. Sie hatten versucht, Löcher zu scharren, wahrscheinlich um sich vor dem steigenden Wasser in Sicherheit zu bringen, und ihre Krallen und sogar die Zähne ins Mauerwerk gegraben. Aber sie hatten kein Glück gehabt. Die Backsteinmauer war zwar weich genug, doch die faulige schwarze Brühe, die Williams Knie umspülte, war einmal ein Fluss gewesen. Vor langer Zeit hatte es hier eine Brücke gegeben, und große Blöcke des Portlandsteins, aus denen ihre Stützpfeiler bestanden, waren im Mauerwerk des Tunnels eingebettet geblieben. Die Bemühungen der Ratten hatten nur kalkige Kratzer auf der harten Oberfläche hinterlassen.
Eine Weile gab sich William der Vorstellung hin, zu einer anderen Zeit hier zu stehen und die Wärme der Sonne auf dem Gesicht zu spüren, während ihm sauberes Wasser um die Füße plätscherte. Er malte sich aus, wie wohlhabende Herren mit gepuderten Perücken neben ihren Frauen die Uferauen entlangpromenierten, die Hand ins Wasser tauchten, um aus dem Fluss zu trinken, oder sich über die Brückengeländer und aus den Booten lehnten, um zufrieden ihr Spiegelbild zu bewundern. Und wie der Blütenstaub über das Wasser trieb, während die silbrig glitzernden Fische träge den wartenden Angelhaken entgegenschwammen und ihnen ihr Maul darboten. Doch William wusste sehr gut, dass gerade dieser Flussabschnitt schon seit Jahrhunderten nur noch eine Kloake war. Seit der Zeit Königin Elizabeths wurde er von Schlachthäusern und Gerbereien gesäumt, die die Fische vergifteten und das Wasser rot färbten, so dass kein Geringerer als Ben Johnson geschrieben hatte, sein Gestank übertreffe selbst die vier Ströme des Hades. Vielleicht hatten die Ratten die grausige Vergangenheit des Flusses gespürt. Die Geschichte hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, sie waren irgendwo anders hin geflüchtet, so dass William nun allein die Finsternis ertragen musste. Unvergossene Tränen, hart wie Stein, brannten ihm in den Augen.
Schreie bildeten sich unter seinem Zwerchfell, drückten nach oben und drängten mit einer solchen Gewalt aus seiner Brust, als wollten sie ihm die Rippen brechen. William zitterten die Hände. Er befestigte die Laterne an seiner Lederschürze und tastete suchend im Werkzeugbeutel, den er an der Hüfte trug. Seine Finger waren kalt und steif, und als er das Messer herauszog, wäre es ihm fast entglitten. Während er es mit beiden Händen am Heft gepackt hielt, fluchte er auf sich selbst, in einem Strom leiser, eindringlicher Verwünschungen, so widerwärtig wie das Wasser, in dem er stand. Es war das erste Mal, dass er an diesem Tag etwas sagte, und seine ungelenke Stimme knarrte bei jedem Wort. Er räusperte sich. Immer leichter und schneller stieß er jetzt Flüche hervor, bis sie das Rauschen des Wassers übertönten. Ihr karges Echo beruhigte ihn ein wenig.
Wieder spürte William das aufwühlende Drängen im Bauch, und wie immer drohte das brennende Verlangen anzuschwellen und ihn mit seiner unersättlichen Hitze zu versengen. Im gefrorenen Morast der Nächte, an die William keine Erinnerung zuließ, waren die Männer unruhig hin und her gelaufen und hatten laut über ihre unbefriedigten Begierden geklagt. Nichts, so schien es – weder der nagende Hunger noch die erbärmliche Kälte und nicht einmal die blanken, lähmenden Schrecken der Nachtwache –, konnte diese urwüchsigen Londoner Burschen von ihren sinnlichen Gelüsten ablenken. Die Frauen trieben sie noch in den Wahnsinn, hatten die Soldaten immer wieder gejammert und sich dabei unter ihre verlausten Uniformen gefasst, wie von einem schrecklichen Juckreiz befallen. Nacht für Nacht hatten sie Stunden damit verbracht, SIE, das fantastische Inbild all ihrer wilden Träume und dürftigen Erfahrungen, heraufzubeschwören. SIE, die ihre mit Federn gefüllte Matratze auf dem durchfurchten Schlamm des Schützengrabens ausrollte und die weißen Schenkel spreizte. Anfangs hatte William dieses wüste Gerede als Beleidigung von Sitte und Anstand und vor allem als Kränkung Pollys angesehen, aber später merkte er, wie sehr es ihn tröstete. Immerhin war es etwas Beständiges.
Erinnerungen an die ersten Nächte kamen ihm in den Sinn, da er und Polly endlich wieder beieinander lagen, und an die vielen Nächte danach, wenn er wach lag und ihrem leisen Schnarchen lauschte. Vor dem Krieg konnte er kaum ihre Stimme hören, ohne sie sogleich berühren zu wollen, aber seit seiner Rückkehr aus Skutari war er unfähig, mehr für sie aufzubringen als eine vage, ziellose Zuneigung. Mit ihren sanften Händen berührte sie sein Gesicht, küsste ihn auf die Mundwinkel, ließ die Zunge über seinen Hals, die Brustwarzen und den Bauch huschen, aber er spürte nichts. Sein Penis hing schlaff wie ein ausrangierter Socken zwischen den Beinen. Er sah ihre Finger, die Lippen, aber sie waren für ihn nur Bilder, beliebige Illustrationen, die man aus einem Buch gerissen hatte. Wenn Polly mit ihm sprach und dabei seinen Kopf so in die Hände nahm, dass er gar nicht anders konnte, als in ihre fröhlich zwinkernden Augen zu blicken, musste er sich erst einmal in die Gegenwart zurückrufen, so weit war er bereits von dem Ort ihres Beisammenseins weggedriftet. Worte verloren ihren Sinn. Farben verblassten oder verschwammen ineinander. Es fiel ihm schwer, alltägliche Gegenstände wiederzuerkennen. Manchmal wusste er nicht mehr genau, wer er war. An anderen Tagen wiederum war sich William sicher, dass er im Begriff stand zu verschwinden, auseinander zu fallen und sich aufzulösen, bis er nur mehr trockener Sand war, der durch die Ritzen zwischen den Bodendielen sickerte.
Außer wenn das Verlangen kam. Ihn mit seiner Flammenzunge leckte und von Ekstase flüsterte. Seine Macht überwältigte ihn. Er hatte keine Hoffnung, ihm widerstehen zu können, und er wollte es auch gar nicht. Das Verlangen war das, was der Hoffnung am nächsten kam. Wenn es in ihm aufzuflammen begann, taute die eisige Finsternis ein wenig auf. In seinem flackernden Licht konnte er endlich den Menschen in sich spüren, einen Menschen, der trotz allem noch am Leben war.
Williams Atem ging rasch, und das Herz zuckte in seiner Brust. Sein Kopf war leer wie ein Ballon, der nur mit einer Schnur an seinem Körper befestigt war, so dass er dessen Bewegungen wie aus weiter Ferne zu beobachten schien. Aber seine Haut prickelte vor Angst und im Vorgefühl der Ekstase. Rasch arbeitete er sich um die Steinblöcke herum, stemmte mit der Messerspitze Backsteine heraus. Es dauerte nicht lange. Der Mörtel in diesem Teil des Kanalsystems war weich wie Wundbrand. Jeden Backstein, den er herausgehebelt hatte, warf er dem sich verengenden Tunnel ins Maul. Das schwarze Wasser verschlang die Steine ohne einen Spritzer. Die Haut auf der weichen Unterseite seines Arms kribbelte und brannte unter dem Stoff seines Hemds.
Als das Loch groß genug war, setzte er sich und stellte die Laterne neben sich ab. Die Klinge des Messers zitterte, als er sie ins Licht hielt. Mörtelreste klebten an dem Gitterwerk aus winzigen Kratzern, das vom Wetzstein stammte. Der Mörtel aus den Abwasserkanälen war voller Krankheitserreger, so viel hatte ihn seine Tätigkeit in Skutari gelehrt. Sorgfältig wischte William die Klinge mit einem großen sauberen Tuch ab. Er hielt sich das Messer nah vors Gesicht und fuhr mit dem Daumen über die Schneide, um ihre Schärfe zu prüfen. Mit einem Mal stieg das Verlangen wieder in ihm auf, diesmal mit solcher Wucht, dass sich ihm die Haare an Nacken und Armen sträubten. Seine Finger zitterten vor Erregung. Er klemmte sich das Messer zwischen die Zähne, faltete das Tuch zweimal der Hälfte nach zusammen und legte es sich als Stoffpolster auf den Schoß. Dann knöpfte er die Manschette auf und rollte den Hemdsärmel bis über den Ellbogen hoch. Behutsam, aber ohne hinzusehen, glitt er mit den Fingerkuppen über die Unterseite des Unterarms. Wenn er hinsehen würde, wäre er nur abgelenkt. Und die Reinheit des ersten Moments wäre dahin. Danach fühlte er sich jedes Mal für eine Weile vollständig geläutert, ganz er selbst, ja sogar glücklich. Dann gelang es ihm eine Zeit lang, sich einzureden, er werde nie mehr hierher kommen, es sei vorbei, für immer zu Ende. Aber tief im Innern wusste er, dass es nie aufhören würde.
Es war so weit. Er war bereit. Er schob die Blende seiner Laterne zu.
Die Dunkelheit schlug über ihm zusammen. Er schloss die Augen, obwohl es keine Rolle mehr spielte, ob er sie offen oder geschlossen hielt. Hinter den Lidern und nunmehr ohne Verbindung zu den Bewegungen seiner Hände und seiner gespenstisch weißen Nasenspitze löste er sich von sich selbst. In der Finsternis spürte er, wie sich das Leben in ihm beschleunigte. Oben, in der endlosen Hast und dem Lärm der Stadt, wurde das Licht dieses Lebens immer schwächer, sein Wärmekreis so unendlich klein, dass man hätte glauben können, es sei vollständig ausgelöscht. Aber hier unten, in der völligen Dunkelheit, unter den Rädern, den Hufen und den Nagelschuhen, wo er knietief in den Ausscheidungen der größten Stadt auf Erden stand, fand Williams Geist Freiheit. Hier, wo es kein Leben gab, keine Wärme, nichts als den Ekel erregenden Fäkaliengestank – hier fand sein Geist seinen Sauerstoff, so dass er neu entflammen und dem gefühllos hingegebenen Leib seine lebendige Form aufprägen konnte. Hier lehnte er sich auf, verschaffte er sich Gehör. William May war nicht tot! Er musste lediglich das Blut in den Adern reinigen, die Luft in den Lungen, sie von der schwarzen Fäulnis befreien, die sie vergiftete und alles infizierte, was mit ihr in Berührung kam. Wenn er nur diesen Unrat, dieses Gift fortspülen und an seiner statt einen Quell klaren, reinen Blutes, klarer, reiner Luft entspringen lassen könnte, der Heil und Leben spendete …
Wie im Traum hob William das Messer. Den beinernen Knauf fest umklammert, schnitt er sich in den Arm.
Der Sinnestaumel setzte ein wie eine Explosion. William drängte es zu lachen, zu weinen, laut zu schreien. In diesem vollkommenen Augenblick der Ekstase nahm er wieder ganz von sich Besitz. Er war wieder er selbst. Die Erlösung war köstlich. Er schnitt sich noch einmal, diesmal tiefer, und spürte, wie er von einer Ruhe erfüllt wurde, die zugleich friedlich und triumphal war. Blut schoss aus den langen Schnitten und tropfte auf das Tuch in seinem Schoß. Er verrieb es über die Haut. Es war warm, real, wunderbar. Einem plötzlichen Drang nachgebend, hob er den Arm an den Mund und leckte an dem Blut. Es schmeckte herrlich. Er leckte erneut. Der Schmerz war nun außerhalb seiner selbst, wo er sicher mit ihm umzugehen wusste. Er war wirklich, fest umgrenzt. Etwas, an das er sich halten, das er kontrollieren konnte. Der Sand seines sich auflösenden Ichs rann ihm nicht mehr durch die Finger. Stattdessen begannen sich die Körnchen wieder zusammenzufinden, zu einem festen Ganzen zu fügen. Das trübe Zwielicht in seinem Kopf verdichtete sich, wurde immer dunkler, bis in dessen Zentrum ein einziger heller Lichtstrahl aufleuchtete. Die Muskeln seiner Schenkel spannten sich, als er die Füße gegen den schartigen Ziegelboden drückte. Er fühlte sich stark und bei klarem Verstand. Ein letztes Mal noch schnitt er sich, und der Schmerz stieg triumphierend aus seinem Fleisch auf. Er fing das Blut mit der Hand auf und schloss sie, so dass es ihm durch die Finger rann. Vor reinem Glück hätte er am liebsten laut aufgeschrien. Ich lebe!, wollte er schreien, bis die Dunkelheit seine Worte zurückwarf und die Backsteine in ihrer Mörteleinfassung vor dieser unumstößlichen Gewissheit bebten. Ich, William Henry May aus der York Street 8, bin am Leben!
Der Langarmige Tom legte den ergrauten Kopf in den Nacken und schnupperte. Einst, es war inzwischen schon lange her, hatte Joe sich einen Spaß daraus gemacht, Tom wegen diesem Geschnuppere aufzuziehen und ihn den Langnasigen Tom, Tom Hundeschnauze oder einfach nur Hund zu nennen, damals, als Tom noch sehr wortkarg war. Joe hatte nicht glauben wollen, dass dieses Schnuppern zu irgendetwas gut sei, bis sie es drüben am King’s Cross nur deshalb noch rechtzeitig aus dem Tunnel geschafft hatten, weil Tom den aufziehenden Regen gerochen hatte; die anderen Kerle waren in dem überschwemmten Kanal ertrunken. Seitdem dachte er anders darüber, obwohl es ihm ein Rätsel blieb, wie Tom es fertig brachte, den Geruch des Regens so deutlich von all den anderen zu unterscheiden. Für Joe vermengten sich sämtliche Gerüche zu einer einzigen großen stinkenden Mixtur, die das spezifische Aroma Londons ausmachte. Nicht so für Tom. Für ihn hatte jedes Stadtviertel seinen unverwechselbaren Geruch, so dass er auch mit geschlossenen Augen sagen konnte, wo er sich gerade befand, ja sogar wie die nächstgelegene Straße hieß. Der Gestank lag in Schichten übereinander, jede so dick und klebrig wie Themseschlamm an den Schuhsohlen. Man musste nur seine Nase benutzen, und schon konnte man sie sauber voneinander trennen.
Die unterste Gestanksschicht bildeten die Ausdünstungen des Flusses. Sie waberten bis in die Straßen, die etliche Blocks vom Ufer entfernt waren, und genau genommen gab es nicht viele Orte in der Stadt, wo einen an warmen Tagen nicht ihr übler Geruch anwehte. In der Thames Street jedoch war er so hartnäckig wie der Boden unter den Füßen. An nebligen Tagen wie diesem war vom Fluss selbst nichts zu sehen, nicht einmal, wenn man sich über die Kaimauer beugte; dennoch bestand kein Zweifel, dass er vorhanden war. Denn sein Geruch war so dicht und so braun wie seine Fluten. Der Fluss kannte weder Scham noch Anstand. Er versteckte seinen Unrat nicht in den engen Gassen und Elendsquartieren der niedriger gelegenen Stadtteile, wie es die Vertreter der Obrigkeit vielleicht gern gehabt hätten. Vielmehr setzte er sein breites braunes Grinsen auf und floss, ohne sich im Mindesten zu genieren, als großer offener Strom aus Scheiße mitten durch die Hauptstadt, wobei sich die Klümpchen und Klößchen von Arm und Reich unterschiedslos in seinen Fluten gegenseitig anrempelten und aneinander rieben. Die feinen Damen konnten ihre Türen verriegeln und sich auf dem stillen Örtchen noch so bemühen, bloß kein Geräusch zu verursachen – ihre Ausscheidungen stanken genauso wie die aller anderen, und hier draußen fand sich der Beweis. Hier waren ihre intimen Hinterlassenschaften für jedermann klar und deutlich zu sehen wie die Prunkstücke im Kristallpalast. Zu gewissen Zeiten, vor allem morgens und abends, wenn zwanzig Dampfer oder mehr mit ihren großen Schaufelrädern unter der London Bridge hindurchpflügten, war das Wasser so dick und braun, dass man glauben mochte, es würde ohne weiteres das Gewicht eines Menschen tragen und man könnte trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. An heißen Tagen haute einen der Gestank schier um. Auf der London Bridge hatte Tom gesehen, wie Damen in ihren zweirädrigen Kutschen in Ohnmacht fielen und leichenblasse Herren sich Taschentücher vor den Mund hielten. An manchen Nachmittagen im November indessen durchzog Meertang in silbernen Fäden die dicke, braune Brühe bis mindestens hinauf nach Southwark. Wenn Tom gelegentlich drüben in Greenwich nachts ans Ufer trat, hätte er schwören können, dass Salz vom Fluss aufstieg und über den schlammigen Wogen glitzerte und tanzte wie Schwärme silbriger Mücken.
Wer es schaffte, sich durch den Gestank der Themse hindurchzuriechen, nahm als Nächstes den sauren, rußigen Nebeldunst wahr. In London trat der Nebel in allen möglichen Spielarten auf, jeweils mit einem unverwechselbaren Geruch. An diesem Tag war es eine gelbbraune schleimige Suppe, die sich herabsenkte und durch die Straßen kroch, sich in Höfe und Keller schlich und um Pfeiler und Laternenpfähle wand. Man schmeckte den Nebel mehr, als dass man ihn roch. Er verklebte die Nasenschleimhäute, würgte einem die Luft ab und kondensierte auf Augenbrauen und Barthaaren zu klebrigen Tropfen. Wenn Tom durch den Mund atmete, hatte er einen Geschmack wie von ranzigem Schweinefett auf der Zunge, das bestäubt war mit schwarzem Mehl aus Kohlenstaub. Dieser Nebel lag nun schon fast eine Woche über der Stadt, ließ Eisen rosten und bedeckte alles, was er berührte, mit einer schmierigen Rußschicht. In seinem fahlen Licht sahen die Gebäude aus wie Fettflecken auf einem Tischtuch.
Südlich des Flusses vermischte sich der Nebel mit dem unvermeidlichen Rauch. In manchen Teilen von Bermondsey und auch in Southwark hätte man meinen können, der Himmel würde allein durch die Schlote oben gehalten. Jeder Rauch hatte seinen eigenen, besonderen Geruch, so dass man immer wusste, wo man war. Der Rauch der Leimsiedereien roch ätzend, er setzte sich im Hinterkopf fest und verursachte Schwindelgefühl, während die Seifenfabriken den widerwärtigen Gestank von kochendem Fett verströmten. Aus den Kaminen der Zündholzmanufakturen quoll gelber Rauch, der so übel stank wie die Gasse hinter einer Schenke. Dann gab es noch den eigentümlichen, betäubenden Hopfengeruch aus den Brauereien, der aber nichts war im Vergleich zu dem Gestank von Leder und Hundekot, den die Gerbereien verbreiteten. Südlich des Flusses brauchte man oft nur die Straßenseite zu wechseln, um zu wissen, dass man sich in einem anderen Viertel der Stadt befand.
Hier in der Thames Street herrschte ein ganz besonderer Geruch. Bei solchem Nebel erschien einem der Marktplatz wie ein schmutziger Klecks inmitten eines morastigen Grabens, und das unablässige Gebrüll der Marktschreier war bereits in dreißig Meter Entfernung nur mehr gedämpft zu vernehmen. Der Gestank nach Fisch, nach frischem wie verdorbenem Fisch, war stattlich und wichtigtuerisch wie ein Gotteshaus. Gewissermaßen das Fundament bildeten die Meeresaromen von Tang und Salzwasser, und darauf lagerten Schicht um Schicht, Gestank um Gestank, die beißenden Dünste von Stint und Bückling, Seezunge, Hering und Merlan, Muschel, Auster und Sprotte, Kabeljau, Steinbutt und Krebs, Glattbutt, Schellfisch und Aal, Krabbe, Rochen und hundert anderen Arten. Die Lastenträger, die zwischen den Booten und den Verkaufsständen hin- und herhetzten, beförderten diese Gerüche vom Ufer zum Markt und wieder zurück und waren von Kopf bis Fuß von der berauschenden stinkenden Mixtur durchtränkt. Die Händler verbreiteten den Gestank, indem sie ihre Messer in die Fischleiber senkten und die Gedärme auf die blutverschmierten Schneidbretter klatschten. Der Inhalt Tausender Fischmägen hatte ihre ledernen Hüte und Schürzen dunkel und steif werden lassen. Blutstriemen verunstalteten die Arme der Fischfrauen, ihre Gesichter, die Säume ihrer gesteppten Unterröcke. Silbrig glitzernde Fischschuppen verfingen sich im Schlamm auf ihren Stiefeln. Eis glitt schmelzend von ihren Tischen, glänzend und dick von Fischschleim. Aus strohgefütterten Holzkisten sickerte eine Lake aus Salz und Fischabsonderungen in die Gräben und Gullys. Selbst wenn man sich in Billingsgate nur eine Stunde aufhielt, setzte sich der Gestank im Mantel fest, so dass man für den Rest des Tages einen Hauch davon verströmte.
Tom beobachtete, wie sich ein Fischweib energisch ihren Weg durch die Menge bahnte, einen triefenden Korb mit Flundern auf dem Kopf balancierend. Wenn die Buden geschlossen wurden und die Fischfrauen nach Hause gingen, war ihr platt gedrücktes Haar unter den Hauben und Mützen vom Gestank gesättigt. In der Thames Street stiegen einem die alltäglichen, allgegenwärtigen Gerüche Londons in die Nase – Gerüche, die einem so vertraut waren, dass man sie sich bewusst machen musste, um sie überhaupt noch wahrzunehmen – nur für einen Augenblick, da sie sofort wieder verdrängt wurden. Tabak, fauliges Stroh und Pferdemist an einem Kutschenstand, heißes Brot, der beißende Schwall aus einer offenen Kloake, ein gelegentlicher Hauch von Braten und verschüttetem Porter aus einer Bierschenke, das heiße, rote Herz eines glühenden Kohlenbeckens – keiner dieser Gerüche kam dem Fischgestank gleich. Nicht einmal der strenge, saure Geruch von verschwitzten Kleidern, ungewaschenen Körpern und fauligem Atem, der Tom schon sein Leben lang begleitete und von dem er keine Notiz mehr nahm, konnte dem stolzen Gebäude aus Gestank, das der Markt von Billingsgate darstellte, mehr als einen winzigen Kratzer zufügen.
Tom schnupperte noch einmal. Er war sich nicht sicher, nicht restlos. Eine Stadt so voller Trugbilder und Tücken wie diese konnte sogar ihn täuschen, aber seinem Gefühl nach lag nicht der geringste Anflug der metallischen Schärfe von Regen in der Luft. Freilich erschwerte der Nebel jede Vorhersage. In seinen Wirbeln und Schwaden verbargen sich mitunter Wolken, die so rasch abregneten, wie ein Stiefel das Straßenpflaster berührte; woraufhin im Nu das Wasser in den Kanälen stieg. Befand man sich dann an einer falschen Stelle, blieb einem nicht viel Zeit, um herauszukommen. Noch hatte die Flut nicht eingesetzt. Sie hatten also acht bis neun Stunden zur Verfügung, rechnete er, vielleicht sogar mehr. Und der Nebel hatte auch seine Vorteile. Da es inzwischen ein Gesetz gab, das jedem eine Belohnung versprach, der merkwürdige Vorkommnisse in den Abwasserkanälen meldete, waren die Kerle auf dem Wasser wachsam wie Spinnen. Aber im Nebel entdeckten sie einen nicht so leicht, und die Polypen hatten bei all dem Getöse und Durcheinander auf den Straßen anderes zu tun. Zudem ließ sich im Nebel nur schwer erkennen, ob unter einem Einstiegsgitter ein Licht brannte. Und falls doch jemand zufällig den Schein einer Laterne entdeckte, würde er ihn vielleicht für eine Sinnestäuschung durch den Nebel halten.
Joe sollte sich im Keller mit ihm treffen. Dort gab es ein Versteck, wo sie die notwendigen Gerätschaften aufbewahrten, die Käfige, Schaufeln und Hacken, an denen man die Laternen befestigen konnte. Tom erinnerte sich noch gut, wie ihm der Alte beigebracht hatte, die Laterne im Tunnel vor sich zu halten, damit man sofort Gase bemerkte. Solange die Flamme nicht erlosch, bestand keine Gefahr. Diesmal hatte Brassey Ratten bestellt, nicht weniger als einhundertfünfzig der Drecksviecher für einen großen Kampf in seinem Wirtshaus in Soho. Der Tag, an dem die Hundekämpfe per Gesetz verboten wurden, war für Brassey ein Glückstag gewesen. Denn von da an suchten all diese Kerle mit ihren Taschen voll Geld nach einem anderen Zeitvertreib, egal welcher Art. Natürlich hieß es, dass es in den großen Häusern noch immer jede Menge Hundekämpfe gebe. Die feinen Herrschaften konnten sich das erlauben, denn bei ihnen platzten die Polypen wahrscheinlich nicht einfach ungebeten herein. In Westminster aber hatten die Hundearenen schon seit einer ganzen Weile dichtgemacht, und nur ein paar wenige Schenken wagten es immer noch, Wettkämpfe zu veranstalten. Die Hunde waren also verschwunden, aber an ihrer statt waren die Ratten gekommen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Brassey ein Licht aufging, wie viel sich damit verdienen ließ. In seinem ehemaligen Salon im ersten Stock hatte er einen Kampfplatz eingerichtet. Tom selbst war dort zwar schon lange nicht mehr bei einem Kampf gewesen, aber Brasseys Geschäft lief zweifellos bestens. Es gab Wochen, da bestellte er zwei-, ja sogar dreimal eine neue Lieferung, so dass Tom kaum nachkam. Nicht, dass Tom sich darüber beklagte. Man konnte damit gutes Geld verdienen, und an den Viechern herrschte kein Mangel. Gewöhnlich lag der Preis bei einem Penny für zwei Ratten, aber diesmal wollte Brassey besonders große Exemplare und war deshalb bereit, sogar einen Penny pro Tier zu zahlen. Insgesamt fünf Pfund. Heutzutage bekam man für Ratten zehnmal so viel wie für das Schwemmgut aus den Kanälen, da biss die Maus keinen Faden ab.
Nebelschleier huschten an Tom vorüber, als er sich in einen Bogengang duckte, der nicht breiter war als eine Tür. Er öffnete sich zu einer Art Hof, sechs Meter lang und nicht mehr als sechzig Zentimeter breit, umgrenzt von hohen Holzhäusern. In den oberen Stockwerken hatten etliche Räume einen Vorsprung, wodurch sich ein Dach über den ganzen Hof bildete, welches den Himmel vollständig verbarg. Der Hof selbst mündete in eine schmale Gasse, diese in eine weitere und noch eine, allesamt verwinkelt und kreuz und quer verlaufend. Am Weg drängten sich baufällige Häuser, die in ihrem halb zerfallenen Zustand wie Betrunkene aneinander lehnten.
In den Gassen wimmelte es von zerlumpten Kindern. Einige versuchten, Tom bei der Hand zu fassen oder ihn bettelnd am Rocksaum zu zupfen, aber er schüttelte sie ab, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Er ging mit schnellen Schritten, schlängelte sich mühelos wie ein Aal durch das Gewirr der Mietskasernen, bis er an eine Stelle kam, wo zwei bröckelnde Backsteinmauern aneinander stießen. Ein verrosteter Eisenträger ragte über ihm aus der Wand, die Glaskugel der Gaslaterne war schon lange zerbrochen. Selbst der Nebel tat sich schwer, bis hierher durchzudringen. Nur der dünne Strich eines dunkleren Schattens verriet, dass die eine Wand ein wenig vor die andere gesetzt war und einen winzigen Innenhof verbarg, nicht breiter als die Spannweite der ausgestreckten Arme eines Mannes. In einer Ecke befand sich eine niedrige, halb verfallene Tür, die schief in den Angeln hing. Tom öffnete sie vorsichtig und stieg mit eingezogenem Kopf eine Treppe in einen fensterlosen Keller hinab.
In der modrigen Düsternis griff er nach der Laterne, die an einem Nagel hing, und holte die Drahtkäfige aus einer Nische. Sie waren breit und flach, ähnlich denjenigen, in denen man Küken zum Markt trug. Wenn es sein musste, konnte man hundert Ratten in einen solchen Käfig sperren, übereinander gestapelt wie Schüsseln. Tom tastete die Ecken der Käfige nach Löchern ab. Es war kein Spaß, wenn eine Ratte entkam, nicht, wenn man im Tunnel steckte. Bei Nebel waren die Ratten wilder und konnten einem gefährlich werden. Nebel machte sie ganz verrückt, obwohl Tom ums Verrecken nicht hätte sagen können, weshalb. Unter der Erde spielte es doch nicht die geringste Rolle, ob sechs Meter weiter oben die Leute kaum noch die eigene Hand vor den Augen oder die goldenen Flammen des Monuments klar erkennen konnten. Außerdem fanden die Viecher hier unten sogar blind ihren Weg, genau wie Tom selbst. Es war vertane Zeit, die Ratten verstehen zu wollen. Sie konnten einen zwar übel beißen, aber sie waren dumm wie Bohnenstroh. Er und Joe fingen sie nun schon seit drei Jahren immer auf die gleiche Weise, und sie kapierten es einfach nicht. Natürlich beklagte er sich nicht darüber. Ohne die Ratten wären es für ihn schlimme Zeiten. Die Arbeit war vielleicht nicht so aufregend wie das Schwemmgutsammeln, bei dem man nie wusste, was einen hinter der nächsten Ecke erwartete. Aber es war ein Geschäft, und dafür musste man dankbar sein. Es gab nicht viele in seinem Alter, die noch ein neues Gewerbe erlernen konnten, selbst wenn es eines zu erlernen gab. Er selbst hätte sich auf knapp sechzig geschätzt, obgleich er noch kräftig war und noch einige Zähne besaß. Er konnte von Glück sagen, dass er die Ratten hatte. Heutzutage änderte sich alles so rasant, dass man meinen konnte, jeden Tag würde eine neue Gemeinheit ersonnen, um den einfachen Leuten das Brot vor der Nase wegzuschnappen.
Beim Anblick der Ratten bekam er jedoch immer noch eine Gänsehaut, auch nach all den Jahren. Eigentlich seltsam, wenn man es sich genau überlegte. Oben hatten sie ihn nie gestört. Dort, wo er herstammte, gehörte ihr ständiges Scharren, ihr Huschen über den Fußboden, das abwechselnde Wachehalten bei dem Allerkleinsten, wenn es schlief, damit es nicht gebissen oder verschleppt wurde, ebenso zum Leben wie der Schlamm. Aber unten in den Tunneln war das anders. Diese Ratten, die sich in riesigen, wimmelnden Haufen in ihren Höhlen im Mauerwerk zusammenrotteten, manche so groß wie Hunde, gebärdeten sich völlig anders. Als wären sie es, die hier das Sagen hatten, und als würden sie einen nur deshalb vorläufig in Ruhe lassen, weil sie Besseres zu tun hatten. An manchen Tagen war Tom davon überzeugt, dass sie ihn verfolgten, zu Tausenden, auf ihren kalten Rattenpfoten, die in der Finsternis scharrten, und nur darauf warteten, dass er stolperte, in die steigenden Fluten fiel oder in den falschen Tunnel abbog. Ein- oder zweimal hatte er versucht, eine zu erschlagen, aber sie waren schneller gewesen. Er hatte nie eine erwischt. Dennoch wusste er, dass sie da waren. Und sobald er einen Fehler beging, hätten sie ihn. Zuhauf würden sie sich auf ihn stürzen, ihm Zähne und Klauen ins Fleisch bohren und ihn bei lebendigem Leib auffressen. Und zwar in null Komma nichts. Wenn der Alte ihn finden würde, wäre von ihm nichts mehr übrig außer ein paar gelben Knochen. Der Alte würde mit der Zunge schnalzen, den Kopf schütteln und die Knochen in seine Tasche stecken. Die Leimsiedereien in Bermondsey nahmen jeden Knochen, den sie kriegen konnten.
Natürlich hatte Tom dem Alten nie davon erzählt. Es war das Beste, was ihm passiert war, dachte Tom, dass er damals am Cuckold’s Point fast ersoffen wäre. Dort hatte man schon Glück, wenn man im Schlamm auf etwas anderes als auf ein Seil, auf Knochen oder gelegentlich ein Stück Eisen stieß. Kohlebrocken waren eine Seltenheit, und fand man einmal eine Münze, konnte man seinen Dusel kaum fassen. Selbst ein junger Bursche schaffte es nur mit Müh und Not, dort sein Auskommen zu finden. Es war im dritten Winter am Point, als er einsank. Danach konnte er sich nur noch daran erinnern, wie verblüfft er war, als ihn der Schlamm nach unten zog und er mit den Füßen vergeblich nach einem festen Halt suchte. Er hatte sich immer damit gebrüstet, jede Ecke dort zu kennen, die Abschnitte, wo man bis zu den Ohren im Schlamm versank, und die Ränder mit festem Untergrund direkt daneben, wo man sicher herumspazieren konnte und der Dreck unter den nackten Füßen härter war als Granit. Andere Burschen gingen wegen des Rufs, den dieser Ort genoss, in Gruppen. Nicht so Tom. Es war sein Revier. Der Schlamm stand ihm schon bis zu den Achselhöhlen, als der Alte ihn entdeckte. Tom hatte sich nicht mehr gerührt. Stattdessen hatte er den Kopf nach hinten in den Schlamm gelegt und in die Luft gestarrt. Selbst wenn er nicht noch tiefer eingesunken wäre, hätte ihn die einlaufende Flut erwischt. Zwei Stunden noch, hatte er geschätzt und überlegt, ob der Schlamm wohl genauso schmeckte, wie er roch.
Nachdem ihn der alte Kanaljäger herausgezogen hatte, arbeiteten sie zusammen, bis der Alte starb. Abgesehen von den Ratten gefiel Tom diese Arbeit recht gut. Der Gestank in den Kanälen störte ihn nicht. Zuerst fand er ihn etwas unangenehm, aber bei weitem nicht so schlimm, wie die anderen erzählt hatten, wohl deshalb, weil er an den Fluss gewöhnt war. Der alte Kanaljäger hatte ihn ins Herz geschlossen und war freundlich gewesen. Er hatte zwar die Ausbeute nicht immer so gerecht geteilt, wie Tom es gefallen hätte, aber er brachte ihm alles über die Tunnel bei, bis Tom sie so gut kannte wie die Gassen von St. Giles. Der Alte schätzte, dass es circa anderthalbtausend Kilometer wären, wenn man sämtliche Abwasserkanäle Londons ablaufen würde, aber sie selbst beschränkten sich aufs Zentrum, wo die Ausbeute am größten war. In den offenen Kloaken am Stadtrand fand man bestenfalls Brunnenkresse. Auch der Süden war nicht so ergiebig. Unter den Zuckerbäckereien strömte Wasser heiß wie Dampf aus einem Kessel in die Kanäle, so dass man dort riskierte, bei lebendigem Leib gekocht zu werden. Unter den Gaswerken war es noch schlimmer, laut Gesetz durften dort die Kanäle überhaupt nicht betreten werden. Es hieß, unter der Gas-, Licht- und Koksgesellschaft könne man in Brand geraten, bevor man wusste, wie einem geschah. Tom war nie dort gewesen. Überhaupt hatte er nur ein einziges Mal gesehen, wie das Gas zuschlug, als jemand vor ihm eine Wolke davon abbekam, worauf sich alle auf den Boden warfen, um nicht auch erwischt zu werden. Er hatte das nie vergessen. Das lodernde Gas war wie ein Feuerwerk über sie hinweggezischt, eine prächtige Flamme oben am Gewölbe. Es hatte wunderschön ausgesehen.
Am liebsten waren Tom die Kanäle unter Mayfair und Belgravia. Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, dass unter den feinsten Häusern der Stadt die Abwasserkanäle so schäbig waren wie nirgendwo sonst in London. Unter den schneeweißen, frisch verputzten Gebäuden am Belgrave Square bröckelte das Mauerwerk dermaßen, dass jeder Versuch, die Kanäle zu reinigen, unweigerlich zu ihrem Einsturz geführt hätte. Neben zerbeulten Töpfen, Lumpen und Steingutscherben gab es dort immer irgendwelche Schätze zu finden. Der junge Tom konnte in Spalten schlüpfen, die für den Alten zu eng waren, und wenn sie zu einem Einstiegsgitter an der Straße kamen, legte er sich in den Schlamm und tastete den Boden der Kloake ab. Die große Reichweite seiner Arme hatte ihm seinen Spitznamen eingetragen. In der Regel fand er Münzen – Pennys, oft auch Shillings und halbe Kronen. Außerdem Metalllöffel, Tabakdosen, Nägel und Nadeln, Bleiklumpen, Murmeln und Knöpfe. Einmal sogar einen silbernen Krug, groß wie ein Kochtopf. Diesen Fund hatten sie in jener Nacht ordentlich gefeiert.
Es waren die ruhmreichen Zeiten gewesen, als die Kanaljägerei noch ein Gewerbe war, das der Vater an den Sohn vererbte. Damals waren die Abwasserkanäle zur Themse hin noch offen gewesen, so dass bei Ebbe jeder frech hineinspazieren konnte. Doch damit war schon seit Jahren Schluss. Inzwischen waren die Rundbogen-Ausgänge mit Backstein verstärkt und mit eisernen Toren versehen, die sich entsprechend den Gezeiten öffneten und schlossen. So sollte sichergestellt sein, dass das Abwasser zwar abfloss, aber niemand hineinkam. Für einige Kanaljäger war es das Aus. Die Tore waren tückisch, und einen anderen Weg ins Innere kannten sie nicht. Natürlich gab es Burschen, die sich einen Spaß daraus machten, sich an die Tore zu hängen, wenn das Wasser sie hoch genug gespült hatte, um hindurchzuschlüpfen, aber das Wasser schoss so schnell dahin, dass es einem die Beine wegzog. Tom hielt nichts von dieser Methode. Es hatte immer andere, sicherere Einstiegsstellen gegeben, wobei er es nicht eilig hatte, den anderen davon zu erzählen. Vor langer Zeit hatte ihm der Alte seine geheime Karte der Schächte und Gullys gezeigt, von denen manche gelegentlich von den Ausspülern benutzt wurden und andere so alt und abgelegen waren, dass wahrscheinlich niemand außer ihm und Joe überhaupt von ihrer Existenz wusste. Die meisten konnte man nur nach Einbruch der Dunkelheit benutzen. Es hätte Verdacht erregt, wenn einen jemand beim Einsteigen gesehen hätte. Sie hatten sie jedenfalls schon benutzt, noch bevor am Themseufer die Tore angebracht wurden. Es ging darum, dass man in den acht, neun Stunden, die einem die Gezeiten ließen, möglichst weit kam, und es hatte keinen Sinn, immer vom Fluss aus zu beginnen, nicht, wenn man mehr wollte als anderer Leute Ausscheidungen. Außerdem gab es Tage, an denen man trotz allem vom Regen überrascht wurde. Dann musste man in der Lage sein, möglichst schnell wieder herauszukommen.