LYNSAY SANDS
zur rechten Zeit
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Ralph Sander
Zu diesem Buch
Die Vampirin Basha Argeneau will mit ihrer Familie nichts mehr zu tun haben. Seit einem schrecklichen Vorfall in ihrer Jugend ist sie auf der Flucht und versteckt sich hinter einer falschen Identität – in ständiger Angst, von den Spionen ihres Onkels Lucian, Kopf des mächtigen Argeneau-Clans, aufgespürt zu werden. Als sich der attraktive Marcus der Kirmes anschließt, auf der sie als Wahrsagerin arbeitet, befürchtet sie, dass ihre Tarnung auffliegen könnte. Denn Marcus ist ebenfalls ein Unsterblicher, und er scheint ein besonderes Interesse an ihrer Person zu zeigen. Ist er tatsächlich ein Spion ihres Onkels? Und wenn ja, warum muss der Kerl dann so unglaublich attraktiv sein? Marcus Notte will nur seinen Auftrag erfüllen und Lucian einen Gefallen tun, schließlich hält er Basha für eine Abtrünnige, die ihrer gerechten Strafe zugeführt werden muss. Als er ihr dann aber gegenübersteht, ist er fasziniert von ihrer betörend hübschen Erscheinung – alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie seine Gefährtin sein könnte. Aber könnte er die Frau, die er liebt, dem sicheren Tod ausliefern?
August 2009
Divine brachte ihren Kunden nach draußen und wunderte sich, dass vor der Tür niemand auf eine Wahrsagung wartete. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sich vor ihrem Wohnmobil keine Schlange gebildet hatte. Ein Blick auf die Armbanduhr lieferte ihr die Erklärung: Es war Essenszeit. Das war die einzige Zeit am Tage, an dem der Kundenstrom etwas nachließ. In diesem Moment mussten an den Essensständen auf der Kirmes immens lange Schlangen stehen, da die Besucher es auf etwas Fetthaltiges abgesehen hatten, um für den Rest des Abends Kraft für die Fahrgeschäfte und die anderen Attraktionen zu tanken. Für sie hieß das, dass sie mal ein paar Minuten durchatmen und entspannen konnte.
Der Gedanke war ihr eben durch den Kopf gegangen, da entdeckte sie eine Gruppe Frauen, die zielstrebig auf das Wohnmobil zusteuerten. Nach kurzem Zögern drehte sie das Schild in der Tür so, dass es »Bin in fünf Minuten zurück« anzeigte, schob die Fliegengittertür zu und stieg die wenigen Stufen hinunter. Ohne sich darum zu kümmern, dass die Frauen beunruhigt wirkten und sich beeilten, ging sie ihnen aus dem Weg, indem sie sich um ihren Wagen herum davonschlich. Die meisten potenziellen Kunden wären spätestens jetzt stehen geblieben, hätten sich enttäuscht gezeigt und dann trotz allem auf ihre Rückkehr gewartet, wenn auch vermutlich voller Ungeduld. Deshalb war Divine überrascht, als jemand von hinten nach ihrem Arm griff. Noch überraschender jedoch war die Kraft, mit der sich die Hand um ihren Arm legte … bis sie sich umdrehte und feststellte, dass es sich nicht um eine der Frauen, sondern um einen Mann handelte.
Er war ein paar Zentimeter größer als sie, dunkelhaarig und gut aussehend, von der Statur eines Linebacker. Er stand über sie gebeugt, offensichtlich um ihr Angst einzuflößen. In einem knurrenden Tonfall fragte er: »Was zum Teufel haben Sie meiner Frau gesagt?«
Divine verdrehte genervt die Augen, da sie sich fragte, wie sie ihm darauf wohl eine Antwort geben sollte, wenn sie nicht mal wusste, wer eigentlich seine Frau war. Genau das wollte sie ihm auch sagen, aber dann bemerkte sie an dem Mann etwas seltsam Vertrautes. Sie tauchte kurz in seine Gedanken ein und entspannte sich nur einen Herzschlag später.
»Allen Paulson«, murmelte sie und empfand eine fast kindliche Genugtuung, als er ungläubig die Augen aufriss.
»Woher wi…«
»Ich habe Ihrer Frau gesagt, dass Sie eine Affäre mit Ihrer vollbusigen blonden Sekretärin haben, der zwanzigjährigen Tiffany«, fiel Divine ihm energisch ins Wort. »Ich habe ihr gesagt, dass Tiffany auf eine Heirat drängt und dass Sie sie nicht verlieren wollen. Da Sie aber nur ungern auf das Vermögen Ihrer Frau verzichten wollen, sind Sie zu dem Schluss gekommen, dass Sie lieber als Witwer dastehen möchten, aber nicht so gern als der Verlierer bei einer Scheidung. Ich habe ihr von Ihren Plänen erzählt, sich beim anstehenden Urlaub zum Witwer machen zu wollen. Wenn ich mich nicht irre, wollten Sie sie ertrinken lassen oder sie beim Camping im Yosemite National Park durch einen Sturz zu Tode kommen lassen.« Sie legte den Kopf schräg. »Wenn ich mich recht erinnere, war der Ausflug für diese Woche vorgesehen, richtig?«
Als er den Mund aufmachte, aber keinen Ton herausbekam, fügte Divine an: »Angesichts der Tatsache, dass Sie hier sind und nicht mehr in Yosemite, darf ich annehmen, dass sie auf meinen Ratschlag gehört hat, sich gleich am nächsten Morgen mit ihrem Anwalt in Verbindung zu setzen, um ihr Testament zu ändern und Sie als Begünstigten bei ihrer Lebensversicherung zu streichen.«
Er nahm die Hand weg, sein Arm fiel schlaff herab.
»Zweifellos hat sie auch auf meinen Rat gehört, einen Privatdetektiv einzuschalten. Ich vermute, sie hat sich von ihm ein Foto liefern lassen, das Ihre Untreue beweist, weil es zeigt, wie Sie sich jeden Tag zur Mittagspause mit Ihrer Sekretärin in dieses billige Motel zurückziehen.« Sie tauchte kurz in seine Gedanken ein, stieß in seinem Chaos auf die Antwort und lächelte zufrieden. Nicht nur, dass seine Frau auf ihren Ratschlag gehört hatte, sie war mit ihrem Beweis auch schnurstracks zu einem guten Scheidungsanwalt gegangen. Die Frau war nun vor einem Anschlag auf ihr Leben sicher, und sie befand sich auf dem besten Weg zurück ins Singledasein. Anschließend hatte sie ihrem fürsorglichen Ehegatten natürlich davon erzählt, dass sie von einer Wahrsagerin auf der Kirmes vorgewarnt und diese Ratschläge erhalten habe, und dass es die einträglichsten zwanzig Dollar gewesen seien, die sie jemals ausgegeben habe. Und genau deshalb hatte Divine jetzt einen aufgebrachten Noch-Ehemann am Hals.
Divine wartete ab und machte sich auf einen Wutausbruch des Mannes gefasst, aber entgegen allen Erwartungen fragte er auf einmal leise und verängstigt: »Woher wussten Sie das? Niemand wusste davon. Ich habe mit niemandem darüber geredet. Nicht mal mit Tiffany.«
»Haben Sie sich eigentlich die Mühe gemacht, das Schild an meinem Wohnmobil zu lesen, als Sie Ihre Frau vor zwei Wochen in Pahrump zu mir brachten?«, entgegnete sie amüsiert und zitierte: »›Madame Divine. Lassen Sie sich von ihr Ihre Zukunft vorhersagen.‹«
»Ja, aber das ist doch … das ist doch nur Schwindel«, protestierte er. »Sie sind Schaustellerin. Sie lassen sich dafür bezahlen, damit Sie den Leuten etwas erzählen, was die amüsiert.«
»Ja, natürlich«, stimmte Divine ihm in frostigem Tonfall zu. »Und warum sind Sie dann nicht amüsiert?«
Allen Paulson zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Dann schließlich wichen sein Unglauben und seine Bestürzung dem Zorn, den sie ursprünglich erwartet hatte. Divine sah ihm an, wie diese Wut von ihm Besitz ergriff. Sie musste nicht seine Gedanken lesen, sie wusste auch so, dass er jeden Moment explodieren würde. Dennoch begab sie sich in seinen Verstand. Es war so, als würde ein Keramikmesser in halb geschmolzene Butter einsinken. Der Mann war so außer sich vor Wut, dass seine Gedanken für sie wie ein offenes Buch waren. Divine war nicht allzu erstaunt darüber, dass er eine Waffe mitgebracht hatte, die er auch benutzen wollte. Sie wartete in aller Ruhe ab, bis er die Pistole aus der Innentasche zog und auf sie richtete. Sie ließ auch zu, dass er den Finger auf den Abzug legte. Erst dann schoss ihre Hand nach vorn, packte ihn am Hals und hob ihn hoch, bis seine Füße den Kontakt zum Boden verloren. Dann wirbelte sie ihn herum und rammte ihn gegen ihr Wohnmobil.
Als ihm die Waffe aus der Hand rutschte und er vor Schmerzen aufstöhnte, ließ sie ihn los. Wie eine Stoffpuppe sackte er zu Boden und landete breitbeinig auf seinem Hintern. Benommen sah er sie an. Sofort setzte sie sich rittlings auf seinen Schoß. Der Kies drückte schmerzhaft gegen ihre Knie, aber das ignorierte sie. Stattdessen fasste sie in seine Haare, zog seinen Kopf zur Seite und versenkte ihre Fangzähne in seiner Kehle.
Ein wohliger Schauer durchfuhr Divine, als dickflüssiges, warmes Blut aus der Wunde strömte, das von ihren Zähnen aufgenommen und in ihren Körper weitergeleitet wurde. Sie verspürte einen sofortigen Rausch, da die Nanos in ihren Adern ausschwärmten, um den neuen Nahrungsvorrat in Empfang zu nehmen. Der Mann hatte noch überrascht zusammengezuckt, als ihre Zähne seine Haut durchbohrten, und er hatte auch noch die Arme in der Absicht hochgehoben, sie irgendwie abzuwehren. Aber es war ihm nicht mehr gelungen, noch irgendwelche Gegenwehr zu leisten. Stattdessen war er für einen Moment erstarrt, weil sein Verstand von dem Lustgefühl überwältigt wurde, das sie selbst auf ihn übertrug. Gleich darauf begann er zu stöhnen und versuchte mit einer Hand, sie näher an sich heranzuziehen, während er die andere Hand um ihren Kopf legte. »Oh ja, Baby, bitte«, murmelte er dabei, um sie anzuspornen.
Gleichzeitig drückte er seinen Rücken so durch, dass er seine Erektion an ihr reiben konnte. Normalerweise fügte Divine ihren Opfern keinen Schmerz zu, doch er hatte es verdient. Außerdem war sie nicht darauf aus, sich mitten auf dem Kirmesplatz von einem Mann vögeln zu lassen, der den Mord an seiner Ehefrau geplant hatte. Also entzog sie ihm ganz gezielt die Lustgefühle, die sie selbst erlebte und die sie ungewollt mit ihm geteilt hatte. Dabei drang sie aber auch in seinen Geist ein, um seine Reaktion auf die Schmerzen zu kontrollieren und zu verhindern, dass er vor Entsetzen und Schmerz laut zu schreien begann, sobald sein Verstand klar genug war, um zu begreifen, was mit ihm geschah.
Divine legte stets großen Wert darauf, ihre Wirte nicht zu töten. Warum sollte man die Kuh schlachten, die einem Milch gab? Außerdem war Töten falsch, auch wenn die Person noch so abscheulich war. Nachdem sie etwas mehr als unter normalen Umständen getrunken hatte, zog sie sich in dem Moment zurück, an dem er sich schlapp und schwindlig fühlte, aber noch weit davon entfernt war, das Zeitliche zu segnen.
Seine entsetzte Miene entlockte ihr nur ein kaltes Lächeln, als sie aufstand und ihn vom Boden hochzog. Als sie beide wieder standen, ließ sie ihn so gegen das Wohnmobil sinken, dass er sich dort anlehnen konnte, ohne dass sie ihn noch einmal anfassen musste.
»Hör gut zu, Allen Paulson«, sagte sie in finsterem Tonfall. »Du wirst deiner Frau nicht wehtun, und du wirst auch nie wieder auf die Idee kommen, aus Profitgier oder aus irgendwelchen anderen Gründen einem Menschen wehtun oder ihn töten zu wollen. Falls doch, werde ich davon erfahren, und dann werde ich dir einen Besuch abstatten.« Sie hob die Hand, um mit einem Finger über die Einstichstellen an seinem Hals zu streichen. »Und dann werde ich diese Mahlzeit zum Abschluss bringen, dir den Kopf abschneiden und deine kalte Leiche an einem Ort ablegen, an dem sie niemand wiederfinden wird. Hast du das verstanden?«
Allen Paulson nickte schwach. Sein Gesicht war so weiß wie sein T-Shirt, die Augen waren vor Entsetzen in ihren Höhlen fast versunken, während er sich an ihrem Wohnmobil entlangschob. Er schien die Flucht ergreifen zu wollen, sich gleichzeitig aber zu sehr vor den Konsequenzen zu fürchten, die ihn erwarteten, wenn er es versuchte, aber daran gehindert würde. Divine warf ihm einen finsteren Blick zu. »Falls du irgendwem von diesem Zwischenfall und von mir erzählen willst«, fügte sie mit besonderer Betonung an, »dann werde ich dir noch viel Schlimmeres antun müssen.«
Hastig schüttelte er den Kopf und flüsterte ihr zu: »Das werde ich nicht, ich schwöre es.«
Sie kniff die Augen zusammen, dann rümpfte sie die Nase, als sie den stechenden Geruch von Urin wahrnahm. Sie schaute nach unten und sah den Fleck, der sich auf seiner Hose bildete und rasch größer wurde. Angewidert machte sie einen Schritt nach hinten. »Verschwinde von hier, bevor ich es mir anders überlege und dein ganzes Gedächtnis lösche.«
Allen Paulson hatte keine Ahnung, wie er diese Worte auffassen sollte. Das konnte sie seiner Miene deutlich ansehen. Aber er hatte auch nicht vor, sich danach zu erkundigen. Stattdessen nickte er eifrig und rutschte weiter an dem Wohnmobil entlang, bis er endlich den Mut fasste, ihr den Rücken zuzudrehen und davonzulaufen.
»Du hättest besser seinen Verstand gelöscht.«
Divine versteifte sich, als sie diese Worte vernahm, dann drehte sie sich langsam um. Vor ihr stand ein großer blonder Mann, der diese Bemerkung gemacht hatte. Er war ein Grünschnabel, ein unerfahrener Arbeiter, vermutlich jemand aus der Stadt, den man angeheuert hatte, damit er vorübergehend auf der Kirmes aushalf. Er nannte sich Marco. Divine kannte ihn nur indirekt, denn auch wenn sie normalerweise bei der Einstellung von Arbeitern anwesend war, um Bob und Madge Hoskins – den Betreibern von Hoskins Amusements – mit ihren »besonderen Fähigkeiten« bei der Auswahl der Leute behilflich zu sein, hatte sie das diesmal nicht tun können. Familienangelegenheiten hatten sie zu sehr in Anspruch genommen, und als das alles endlich hinter ihr lag, waren die Einstellungen bereits beschlossene Sache gewesen. Wäre sie hier gewesen, um mögliche Unruhestifter von vornherein nicht in die engere Wahl kommen zu lassen, dann hätte sie alles unternommen, um seine Einstellung zu verhindern. Erstens konnte sie ihn nicht lesen, was bei einem Sterblichen üblicherweise ein Hinweis auf eine Geisteskrankheit war. Und zweitens, was wiederum der Grund war, warum sie ihn nicht lesen konnte: Der Mann war so wie sie ein Unsterblicher. Das hatte sie sehr schnell durchschaut. Divine war sich nicht sicher, wieso es ihr aufgefallen war, schließlich begegnete sie nicht ständig irgendwelchen Unsterblichen. Genau genommen hatte sie ihr Leben so eingerichtet, dass es gar nicht erst zu solchen Begegnungen kam. Aber als sie nach ihrer Rückkehr auf die Kirmes kurz vor Mittag das erste Mal an ihm vorbeigegangen war, da hatte ihr Körper auf seinen reagiert, so als hätten ihre Nanos ihn bemerkt und würden seinen Nanos Signale senden. Seitdem hatte sie alles getan, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Das hatte sie aber nicht davon abgehalten, so viel wie möglich über ihn herauszufinden. Er nannte sich Marco und mit Nachnamen ausgerechnet Smith. Die Frauen waren alle von ihm angetan. Die Männer hielten ihn für so etwas wie einen Gott, weil er ungewöhnlich stark war und die Arbeit von vier Leuten erledigen konnte. Bob und Madge hofften zudem, dass er nicht nur als Aushilfe bleiben würde, solange sie in der Stadt waren, sondern dass er sich ihnen dauerhaft anschließen und von einer Stadt zur nächsten reisen würde. Divine sah das Ganze mit Skepsis. Aus gutem Grund hatte sie bislang den Kontakt zu anderen Unsterblichen vermieden, und es gefiel ihr gar nicht, jetzt einen von ihnen in ihrer Nähe zu haben. Es verunsicherte sie, und sie wollte sich nicht verunsichert fühlen.
»Hast du nicht irgendwas zu tun?«, fragte sie und ging an dem Mann vorbei zu ihrem Wohnmobil. Das Schild in der Tür besagte, dass sie in fünf Minuten zurück sein würde, und diese fünf Minuten waren schon lange um. Außerdem hatte sie Allen Paulson als Snack gehabt, sodass sie sich jetzt gesättigt fühlte. Die Pause war vorüber.
»Du hättest seine Erinnerungen löschen sollen«, sagte Marco erneut und ging neben ihr her.
»Er wird auch so den Mund halten«, murmelte sie verärgert, vor allem deshalb, weil sie wusste, dass er recht hatte. Der Grund dafür, dass sie Allen Paulson so hatte entkommen lassen, lag darin, dass dieser Mann einen schleimigen Verstand hatte, mit dem sie sich nicht länger befassen wollte als unbedingt nötig. Außerdem verdiente er ein Leben mit der Angst, sie könnte ihm eines Tages wieder einen Besuch abstatten, wenn er sich irgendeinen Fehltritt erlaubte.
»Und wenn er den Mund nicht hält?«, fragte Marco, als sie sich dem Heck des Wohnmobils näherten. »Was, wenn er zur Polizei geht?«
»Wenn er zur Polizei geht und nicht auf der Stelle als völlig verrückt hinter Gitter gesperrt wird, und wenn ein Polizist herkommt, um mir Fragen zu stellen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich den Verstand dieses Typen und den des Polizisten löschen und zu einem anderen Kirmesunternehmen wechseln.«
»Bist du so auch an die Hoskins-Kirmes geraten?«, erkundigte sich Marco, während sie um den Wagen herumgingen. »Du hast eine Erinnerung nicht gelöscht, die du hättest löschen sollen, und musstest deswegen weiterziehen?«
Divine drehte sich abrupt zu ihm, aber dann verkniff sie sich die wütende Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen zwang sie sich zur Ruhe. »Du bist ein neugieriger Zeitgenosse, Marco. Das kommt hier nicht gut an. Schausteller kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Ich schlage vor, du machst es genauso.«
Mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und lächelte den zwei Frauen zu, die vor der Tür ihres Wohnmobils warteten. Andere Leute hatten sich zu ihnen gesellt, und so war bereits wieder eine Warteschlange entstanden, bei der sie förmlich zusehen konnte, wie sie länger und länger wurde. Dennoch galt ihr Lächeln nur den beiden Frauen am Kopf der Schlange. »Wer von Ihnen ist zuerst an der Reihe? Oder möchten Sie gemeinsam reinkommen?«
»Oh, ich zuerst«, antwortete eine der Frauen. »Das war meine Idee.«
Divine nickte und ließ die Frau in den Wagen, während Marco und jeder Gedanke an ihn draußen vor der Tür blieben.
»Hier, Mister.«
Marcus löste seinen Blick von der Tür, durch die Madame Divine und ihre Kundin soeben verschwunden waren, und sah zu einem Jungen hinunter, der neben ihm stand und an seinem Hosenbein zog. In einer Hand hielt er eine halb aufgegessene Zuckerwatte.
»Hier«, sagte der Junge und hielt ihm die Zuckerwatte hin. »Mir ist nicht gut. Sie können den Rest haben.«
Marcus zog eine Braue hoch, nahm dann aber die Zuckerwatte an sich. Vermutlich war dem Jungen nicht gut, weil er sich mit Zuckerwatte, mit irgendetwas Senfhaltigem, Schweinsohren mit dickem Schokoladenüberzug und, wenn er auch diesen Fleck auf dem T-Shirt des Jungen richtig deutete, mit Eiscreme vollgestopft hatte. Es war zu hoffen, dass der Junge an diesem Tag nicht noch mehr gegessen hatte. Ansonsten stellte sich nämlich die Frage, ob nicht in Wahrheit Dante oder Tomasso den Jungen gezeugt hatten. Sie waren von allen Sterblichen und Unsterblichen die Einzigen, die den gleichen Appetit besaßen wie dieser Junge.
»Danny, was machst du denn da? Komm sofort her und lass den Mann in Ruhe.«
Marcus sah die Frau an, die aus dem Mittelgang zu ihnen gelaufen kam, und reagierte mit einem besänftigenden Lächeln. Gleichzeitig drang er in ihren Geist ein, um sie zu beschwichtigen, dass er kein Kinderschänder war und dass sich nichts Unangemessenes zwischen ihnen abgespielt hatte. Als sie bei ihnen ankam, ging sie nur noch zügig, aber nicht mehr hastig. Außerdem hatte sie ein entspanntes Lächeln aufgesetzt.
»Ich hoffe, er ist Ihnen nicht zur Last gefallen«, sagte sie entschuldigend und griff nach der Hand des Jungen.
»Überhaupt nicht«, beteuerte Marcus.
Die junge Mutter lächelte weiter, nickte kurz und wandte sich mit dem Kind zum Gehen. »Komm mit, Schatz. Dein Vater wartet mit deiner Schwester in der Schlange vor dem Riesenrad. Die beiden werden sich schon Sorgen um uns machen.«
Marcus sah den beiden hinterher, dann konzentrierte er sich wieder auf Madame Divines Wohnmobil. Die Tür war geschlossen, die Jalousie heruntergelassen. Er konnte die Frau nur noch vor seinem geistigen Auge sehen, und da sah er sie mehr als deutlich. Madame Divine war in ihrem Zigeuner-Outfit so leicht nicht zu vergessen. Eine weiße Mittelalterbluse, die schief auf den Schultern saß, ein karmesinroter Unterrock, ein leuchtend türkisfarbener Wickelrock, eine orangefarbene Schärpe, die mit fröhlich klimpernden Goldketten behängt war, dazu ein breiter Ledergürtel und ein karmesinroter Schal, der als Kopfschmuck diente. Sie trug große goldene Ohrringe, um den Hals eine Goldkette, und am Handgelenk mehrere Reife und Ketten. Schwarze, mit Schnallen versehene Lederstiefel mit hohen Absätzen komplettierten das Erscheinungsbild.
Die Frau sah darin verdammt sexy aus, so sexy sogar, dass er sie am liebsten gepackt und auf seinen eigenen Schoß gezogen hätte, als er gesehen hatte, wie sie sich an diesem Beinahe-Ehefrauenmörder zu schaffen machte. Sein Verlangen war für Marcus völlig überraschend gekommen. Schon seit einer ganzen Weile machte er sich nichts mehr aus Frauen – sofern man Jahrtausende als »eine Weile« bezeichnen wollte. Aber einer Frau wie Madame Divine war er schon lange nicht mehr begegnet. In dieser Aufmachung strahlte sie Sex pur aus, und sein Körper erwachte und reagierte darauf.
Offenbar hatte er so was wie einen Zigeuner-Fetischismus, überlegte er ironisch. Es ergab auf jeden Fall mehr Sinn als alles andere – vor allem als sein eigenes Leben. Wie es schien, machte er im reifen Alter von 2548 Jahren eine Art Midlife-Crisis durch. Es war die einzige Erklärung dafür, dass er sich damit einverstanden erklärt hatte, Lucian Argeneau einen Gefallen zu tun.
Der Gedanke entlockte ihm ein spöttisches Lächeln. Lucian Argeneau war nicht nur der Kopf des mächtigen Argeneau-Clans, er überwachte auch die Arbeit jener Unsterblichen, die Jagd auf Abtrünnige machten, und er führte den nordamerikanischen Rat der Unsterblichen. Die Jäger waren so etwas wie eine Unsterblichen-Polizei. Sie machten Jagd auf abtrünnige Unsterbliche, um sie dem Rat zu überstellen, der dann ein Urteil über sie fällte und das Strafmaß festlegte, das oft aus einem Todesurteil bestand.
Als Chef dieser beiden Organisationen konnte man Lucian mit Fug und Recht als den mächtigsten Unsterblichen in ganz Nordamerika bezeichnen. Da fiel es schwer zu glauben, dass er von irgendjemandem Hilfe benötigte. Aber es war tatsächlich so. Er war auf der Suche nach einer Verwandten, seiner Nichte Basha Argeneau, die seit Jahrtausenden für tot gehalten wurde, die aber womöglich immer noch quicklebendig war … und von der er befürchtete, sie könnte zur Abtrünnigen geworden sein.
Das waren die Umstände, unter denen es Marcus auf diese Kirmes verschlagen hatte, wo er nun dastand und das Wohnmobil einer Frau anstarrte, die er nicht lesen konnte und die er für unglaublich sexy ansah. Nicht, dass es ihn irritiert hätte, weil er sie nicht lesen konnte. Wenn es sich bei ihr um Basha Argeneau handelte, dann war sie noch viel älter als er, und es war bekannt, dass jüngere Unsterbliche keine anderen Unsterblichen lesen konnten, wenn die älter waren. Schließlich war es ja auch nicht so, als hätten sich die übrigen Merkmale gezeigt, die bei der Begegnung mit einer Lebensgefährtin eine Rolle spielten, wie zum Beispiel wiedererwachtes Interesse an Essen und ähnlichen Dingen. Darüber war er auch froh, denn wäre sie eine mögliche Lebensgefährtin für ihn und würde es sich bei ihr tatsächlich um Basha Argeneau handeln, dann … nun, dann wäre eine solche Beziehung von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn Basha Argeneau wurde als Abtrünnige angesehen, und Abtrünnige wurden nun mal normalerweise hingerichtet. Das Letzte, was er an diesem Punkt in seinem Leben brauchte, war eine abtrünnige Lebensgefährtin.
»Hey, Marco! Willst du den ganzen Abend da rumstehen und futtern, oder hilfst du mir am Pogostand?«
Marcus drehte sich um und wunderte sich, dass Kevin Morrow auf ihn zukam. Der zwanzig Jahre alte Schausteller war groß und spindeldürr. Sein Gesicht war dermaßen mit Sommersprossen übersät, dass er aus einiger Entfernung wie gebräunt aussah. Aus der Nähe konnte man die Sommersprossen allerdings klar und deutlich erkennen. Er schaute missbilligend drein, was Marcus daran erinnerte, dass er seine Arbeit am Imbissstand nur für eine Viertelstunde unterbrechen durfte, wenn er eine Pause machen wollte.
»Ich war …«
»… mit Futtern beschäftigt«, unterbrach ihn der junge Schausteller spöttisch und drehte sich weg, gleichzeitig winkte er Marcus zu, damit der ihm folgte. »Komm schon. Wenn du Hunger hast, kannst du während der Arbeit einen Corn Dog essen. Das ist wahrscheinlich auch besser für dich als dieser Zuckerkram.«
Marcus stutzte und betrachtete die zur Hälfte aufgegessene Zuckerwatte, die der Junge ihm vorhin in die Hand gedrückt hatte. Zumindest war es da noch eine zur Hälfte aufgegessene Zuckerwatte gewesen. Jetzt war davon nichts mehr übrig, abgesehen von dem Stiel, der ihr Halt gegeben hatte. Er hatte das doch nicht etwa gegessen, oder? Seit über tausend Jahren hatte er keinen Bissen mehr zu sich genommen, und er konnte sich nicht daran erinnern, was mit dieser Zuckerwatte passiert war. Allerdings war da dieser süßliche Nachgeschmack in seinem Mund, der gar nicht mal so schlecht war.
»Verdammt«, murmelte er und warf den Stiel in einen Abfallkorb, während er Kevin folgte. Er hatte die Zuckerwatte gegessen. Er konnte Madame Divine nicht lesen, und er war scharf auf diese Frau. Oh nein, das war gar nicht gut.
Divine brachte die letzte Kundin aus ihrem Wohnmobil, dann blieb sie auf den Stufen vor der Tür stehen und ließ den Blick über den Mittelgang wandern. Es war Mitternacht, die Kirmes schloss jetzt, aber die Lichter der verschiedenen Attraktionen leuchteten noch immer hell. Auch ertönte immer noch die blecherne Musik aus den Lautsprechern, nur der Rest der Geräuschkulisse verstummte allmählich. Das laute Getöse der Anwerber vor den Fahrgeschäften, die die Besucher anlocken sollten, war nicht mehr zu hören, auch nicht das Personal, das den Stadtbewohnern die verschiedenen Spiele schmackhaft zu machen versuchte. Das Gelächter, Gerede und Gekreische der Besucher, die ihren Spaß an den diversen Attraktionen hatten, ebbte in dem Maß ab, wie sich der stetige Strom an Menschen allmählich auf ein Rinnsal reduzierte, da hier und da noch Nachzügler zum Ausgang strebten.
Nun, da nicht länger jedes freie Fleckchen mit Besuchern belegt war, konnte man deutlich deren Hinterlassenschaften sehen. Leere Becher und Essensverpackungen bedeckten den gesamten Boden im Mittelgang, weil alles einfach fallen gelassen und aus dem Weg getreten worden war, anstatt die Abfalleimer zu benutzen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Überall fanden sich Reste von Hamburgern oder Corn Dogs, und der Asphalt war dort mit klebrigen Flecken übersät, wo Eiscreme auf dem Boden gelandet und geschmolzen war. Inmitten dieses Schweinestalls konnte sie sogar ein Paar Kinder-Joggingschuhe und ein paar zertrampelte T-Shirts entdecken, was die Frage aufwarf, wieso die betreffenden Leute den Verlust dieser Dinge nicht bemerkt hatten. Zugegeben, die Joggingschuhe hatten Kindergröße, und vielleicht war ja ein Kind von seinem Vater auf die Schultern gesetzt worden. Aber war den Eltern nicht aufgefallen, dass ihr Kind auf einmal barfuß war? Was die T-Shirts anging, hatte sie beobachtet, dass viele Jungs ihre T-Shirts wegen der Hitze ausgezogen und sie um den Hosenbund geschlungen hatten. Allerdings mussten sie sie wieder anziehen, wenn sie auf eines der Fahrgeschäfte wollten. Die einzige Erklärung war die, dass ihnen die Sachen auf dem Weg nach draußen abhandengekommen waren. Sie fragte sich, wie verärgert die Betroffenen wohl waren, wenn sie zu Hause ankamen und merkten, was ihnen fehlte.
Plötzlich verstummten auch die Lautsprecher, und die Beleuchtung am Riesenrad wurde abgeschaltet. Divine sah zum Riesenrad, während nach und nach auch die anderen Attraktionen in Dunkelheit getaucht wurden. Alles machte jetzt zu, und in wenigen Momenten würde der Mittelgang in Finsternis versinken. Die Fahrgeschäfte und die Buden wurden geschlossen. Das Aufräumen und Saubermachen würde man erst am Morgen erledigen, weil es Stromvergeudung gewesen wäre, die gesamte Beleuchtung eingeschaltet zu lassen, nur um den Müll wegzuschaffen. Das konnte man bei Tageslicht viel kostengünstiger erledigen. Außerdem würden sich bis dahin freilaufende Hunde oder Nager über die Essensreste hergemacht haben, womit weniger weggefegt werden musste.
Divine betrachtete wieder den dunklen Mittelgang und die Attraktionen, die im Mondschein nur schwarze Schatten waren. Die ersten Schausteller würden jeden Moment ihre Aufgaben für diesen Tag erledigt haben und sich auf den Weg zu den Wohnwagen machen, die ein Stück hinter ihrem eigenen abgestellt waren. Die Leute würden noch eine Weile trinken, reden und lachen, um von einem langen Arbeitstag und von dem Stress abzuschalten, der sich beim Umgang mit dem Publikum automatisch einstellte. Manchmal gesellte Divine sich eine Zeit lang zu ihnen, aber nicht um zu trinken, weil ihr das nichts gab. Vielmehr genoss sie die Kameradschaft, die dort herrschte. Üblicherweise saß sie an einem trockenen Abend vor dem Wohnwagen von Bob und Madge Hoskins und trank eine Tasse Tee. Wenn es regnete, zogen sie sich in den Wagen zurück, um den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen und um darüber zu reden, wie gut oder schlecht es um die Tageseinnahmen bestellt war.
Divine trat von einem Fuß auf den anderen und überlegte, ob sie sich heute Abend den anderen anschließen sollte oder nicht. Es war der Gedanke an diesen Neuling Marco, der sie zögern ließ. Die meisten Unsterblichen sahen so wie die meisten Sterblichen auf Schausteller herab, ohne die vielen Stunden harter Arbeit zur Kenntnis zu nehmen, die sie leisteten. Sie sahen nur das schäbige, zerzauste Erscheinungsbild, sie sahen nur die schlechten Zähne, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass diesen Leuten das Geld und die Zeit fehlten, um etwas dagegen zu unternehmen. Marco war in all den Jahren – von ihr abgesehen – der einzige Unsterbliche, der sich dazu entschieden hatte, seine Zeit bei einer Kirmes zu verbringen, die von Ort zu Ort zog. Es war seine Gegenwart, die ihr jetzt Sorgen bereitete.
Sie vermutete, dass Marco ein Abtrünniger war, der in seinem Bemühen, unentdeckt zu bleiben, auf der Kirmes gelandet war. Wenn das zutraf, dann … tja, das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein Abtrünniger, der die Aufmerksamkeit der Jäger auf diese Kirmes lenkte. Divine hatte es geschafft, sich seit nunmehr rund hundert Jahren in diesen Kreisen zu verstecken. Da wollte sie auf keinen Fall, dass dieser Neuzugang all ihre Bemühungen mit einem Schlag zunichtemachte. Es würde das Beste sein, einen großen Bogen um ihn zu machen, und da sie nicht sicher sein konnte, dass er sich heute Abend nicht zu den Hoskins setzen würde, sollte sie wohl besser auf ihre Gewohnheit verzichten, den Tag zusammen mit dem Ehepaar ausklingen zu lassen.
Andererseits hatten Aushilfskräfte oft ihr Zuhause gleich um die Ecke, sodass sie über Nacht dorthin zurückkehrten. Wenn das nicht der Fall war und sie hier bei den Schaustellern blieben, dann hielten sie sich oft am Rand der Gruppe auf, weit weg vom Betreiber und seiner Frau. Vielleicht wäre es ja doch gut, dem Ehepaar Gesellschaft zu leisten und sich ein wenig zu entspannen. Auf die Jagd musste sie heute Nacht immerhin auch nicht mehr gehen, da Allen Paulson für ihr Abendessen gesorgt hatte.
Die Entscheidung war gefallen, sie schloss ihr Wohnmobil ab, ging um das Fahrzeug herum und machte sich auf den Weg zu dem Gelände, auf dem Bob und Madge ihr privates Wohnmobil abgestellt hatten. Das Paar besaß eine ganze Reihe von betrieblichen Fahrzeugen, unter anderem einen Trailer, in dem sie Neueinstellungen vornahmen und Angelegenheiten mit Kunden regelten. Ihnen gehörten außerdem mehrere Buden und Fahrgeschäfte, trotzdem waren sie nie ohne ihr eigenes Wohnmobil unterwegs, in dem sie ihre freie Zeit verbrachten und übernachteten. Wenn sie den ganzen Tag mit Schaustellern und Kunden zu tun hatten, war ein privater Rückzugsort ein unabdingbares Muss.
Das Nebengelände war fast so groß wie der Bereich, auf dem die Kirmes stand. Ein halbes Dutzend Wohnmobile der besser verdienenden Vollzeit-Schausteller, die Buden, Fahrgeschäfte oder Stände mit Spielautomaten betrieben, parkten dort. Aber es gab auch Schlafbaracken in Form von Trailern mit winzigen Zimmern, die gerade genug Platz für ein Bett hatten oder Etagenbetten mit einem beengten Durchgang. Divine vermutete, dass man selbst in einer Gefängniszelle mehr Bewegungsfreiheit hatte als dort. Aber letztlich ging es nur darum, einen Schlafplatz zu haben, und diesen Zweck erfüllten die Unterkünfte. Jeder Trailer bestand üblicherweise aus vier bis sechs Kabinen, manche Baracken verfügten über eigene Toiletten, für die anderen gab es separate Wagen mit Waschgelegenheiten und mobile Toiletten. Ein Trailer diente sogar als Klassenzimmer für die Kinder, die mit ihren Schausteller-Eltern mitreisten, ein anderer beherbergte eine Wäscherei, während kleinere Wagen als Tante-Emma-Läden für den alltäglichen Bedarf dienten.
Im Prinzip war die Kirmes eine reisende Kleinstadt mit einer umfassenden Angebotspalette. Ein Schausteller musste sich nicht auf den Weg in die Stadt machen, in der die Kirmes gastierte, es sei denn, er benötigte etwas so Spezielles oder Ausgefallenes, dass er in den mitreisenden Geschäften nicht fündig werden konnte.
»Miss Divine.«
Sie wurde langsamer und sah zur Seite, dann grüßte sie mit einem Nicken, als sie Hal entdeckte, der sich ihr leicht humpelnd näherte. Hal, der sein Leben lang als Schausteller zugebracht hatte, war ein kleiner, drahtiger Mann, o-beinig und mit mehr Falten und weniger Zähnen als ein Elefant. Genau genommen hatte er noch einen einzigen Zahn im Mund, ein hässliches, braun verfärbtes Ding, das so aussah, als hätte es längst ausfallen oder gezogen sein müssen. Divine hatte für Klischees nicht viel übrig, aber manche Carnies entsprachen exakt dem, was man sich über sie erzählte. Sie tranken zu viel, sie liebten das schnelle Leben, sie hatten schlechte Zähne, und sie alterten schneller als andere. Auf Hal passte jedes einzelne dieser Klischees. Trotzdem konnte sie den Mann gut leiden.
Nach allem, auf was sie in seinen Gedanken gestoßen war, hatte er sich jede einzelne Falte verdient. Und es waren auch nicht alle Zähne einfach verrottet, vielmehr schien es so, dass er gut die Hälfte davon über Jahre hinweg infolge von Schlägereien im alkoholisierten Zustand verloren hatte. Außerdem war er eine absolut ehrliche Haut und sagte einem geradeheraus, dass man seine Habseligkeiten gut wegschließen sollte, wenn man nicht wollte, dass sie auf einmal Beine bekamen. »Wer’s findet, darf’s behalten«, hatte er dann augenzwinkernd angefügt, womit keine Zweifel daran aufkamen, wer dabei helfen würde, dass diese Sachen Beine bekamen. Man konnte dem Mann daraus keinen Vorwurf machen, denn er warnte einen ja schließlich vorab. Das machte in diesem Zusammenhang sonst kaum jemand.
»Sie humpeln nicht mehr ganz so schlimm«, merkte Divine an, als er auch noch die letzten Meter zu ihr zurücklegte.
»Ja, stimmt.« Er grinste sie breit an und präsentierte seinen letzten guten Zahn sowie jede Menge Zahnfleisch. Mit den Fingern fuhr er sich durch sein zotteliges graues Haar, während er nickte. »Und das verdanke ich nur Ihnen. Dieses Mittel, das Sie mir gegeben haben, wirkt wahre Wunder. Die Gicht geht weg wie nix.«
Divine lächelte ihn an.
»Noch einen Tag länger, und ich muss gar nicht mehr humpeln«, fuhr er mit strahlender Miene fort und vertraute ihr an: »Ich humpele schon so lange, dass ich völlig vergessen habe, wie sich das anfühlt, wenn man nicht humpeln muss. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Madame Divine. So gut wie jetzt ging’s mir in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Das ist wirklich schön.«
»Gern geschehen«, erwiderte Divine. Ihr war aufgefallen, dass es dem Mann deutlich schlechter ging als noch ein paar Städte zuvor. Man musste keine Gedanken lesen können, um zu begreifen, dass er unter Gicht litt. Daraufhin hatte sie ein altes Heilmittel speziell für dieses Leiden gemischt, das sie noch aus ihrer Zeit bei den Zigeunern kannte. Wie er selbst sagte, schien es ausgesprochen schnell zu wirken. Natürlich hätte es eine noch bessere Wirkung gezeigt, wenn er auf rotes Fleisch, Kaffee und Alkohol verzichtet hätte. Aber das wäre von dem alten Mann zu viel auf einmal verlangt gewesen.
Divine hätte in seinen Geist eindringen und ihn kontrollieren können, um ihn vom Alkohol und von anderen ungesunden Dingen abzubringen, die alle zu seinem Problem beitrugen, aber es lag ihr einfach fern, das Leben anderer Leute zu kontrollieren. Bestien wie Allen Paulson waren ein anderes Thema. Es machte ihr nichts aus, ihn und Leute von seinem Schlag zu kontrollieren, wenn sie dadurch verhindern konnte, dass sie aus rein finanziellem Interesse anderen Schaden zufügten oder sie sogar töteten. Aber von diesen speziellen Fällen einmal abgesehen, vertrat sie das Motto »Leben und leben lassen«. Sie wollte nicht, dass jemand ihr Handeln und ihr Verhalten kontrollierte, und genauso verspürte sie kein Bedürfnis, andere Leute zu kontrollieren. Ihrer Meinung nach mangelte es den Leuten, die so etwas versuchten, ganz erheblich an Selbstbewusstsein … und von der Sorte gab es eine ganze Menge. Angesichts der vielen Leute, die irgendwelche Bewegungen ins Leben riefen, damit die Regierung dies verbot und jenes zuließ, schien man in diesen Kreisen auch sehr viel Freizeit zu haben, um das alles in die Wege zu leiten. Sie vermutete, wenn all diese Leute einen Job, eine Geliebte, einen großen Freundeskreis oder ein Hobby gehabt hätten, wäre ihr Leben viel erfüllter, und sie müssten nicht dauernd versuchen, zu ihrer eigenen Befriedigung anderen Vorschriften zu machen.
»Nun, ich wollte mich einfach bei Ihnen bedanken, bevor ich mich auf den Weg mache, um mit Carl zu feiern«, sagte Hal nochmals. »Damit Sie wissen, dass sich Ihre Anstrengungen gelohnt haben.« Er hielt kurz inne und fügte zögerlich hinzu: »Und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht mitkommen möchten. Wir wollen in die Stadt, zu McMurphy’s Irish Pub. Als wir das letzte Mal in Bakersfield waren, habe ich da die besten Spare Ribs meines Lebens gegessen. Über Eiche geräuchert, hat die Bedienung gesagt, wenn ich mich nicht irre. Wirklich köstlich«, versicherte er ihr.
»Klingt verlockend«, antwortete Divine freundlich. »Aber lieber nicht, Hal. Ich wünsche Ihnen beiden viel Vergnügen, aber fangen Sie keine Schlägerei an«, fügte sie nachdrücklich hinzu. »Wenn Sie ohne Zahn zurückkommen, werde ich Ihnen sehr böse sein.«
»Ich steh nicht so auf Knast, also wird es auch keine Schlägerei geben«, versprach er ihr und hob Zeige- und Mittelfinger, die gekreuzt waren und damit das genaue Gegenteil andeuteten. Der Mann war einfach auf eine herrliche Weise grundehrlich, überlegte sie, als er dann noch anmerkte: »Jedenfalls werden wir keine anzetteln. Wenn natürlich jemand in der Stadt was anfängt, werden wir uns von demjenigen nicht unterbuttern lassen. Aber wir werden nicht anfangen.«
Divine schüttelte amüsiert den Kopf, dann drehte sie sich weg und überlegte sich, dass sie ihr Handy eingeschaltet lassen sollte. Falls Hal und Carl in den Knast gerieten und noch in der Nacht rausgeholt werden mussten, würden sie eher bei ihr anrufen, anstatt Madge und Bob aus dem Schlaf zu reißen. Die beiden waren auch schon älter, und man sah ihnen inzwischen an, wie belastend die Leitung der Kirmes war. Wenn sie ihnen ein wenig Arbeit abnehmen konnte, machte sie das wirklich gern. Außerdem konnte man sie auch nicht aus dem Schlaf reißen, denn normalerweise schlief sie am Tag nur ein oder zwei Stunden. Sie wusste nicht, ob das mit ihrem Alter zusammenhing oder ob womöglich Grund zur Sorge bestand. Es kümmerte sie auch nicht weiter. Es war eben so – Punkt. Im Lauf der Zeit hatte Divine gelernt, sich über Kleinigkeiten nicht den Kopf zu zerbrechen. Es gab im Leben genug, das Grund zur Sorge sein konnte, da musste sie sich nicht auch noch mit dem Kleinkram belasten.
Im Wohnmobil der Hoskins brannte Licht, was bedeutete, dass Madge wie üblich Bob all die Dinge überlassen hatte, die anfallen konnten, wenn die Kirmes abends zumachte, während sie ins Wohnmobil zurückgekehrt war, um eine Kanne Kaffee und einen leichten Snack vorzubereiten, den sie zu sich nehmen konnten, wenn sie sich entspannten. So verliefen alle ihre Tage. Madge eröffnete die Kirmes und ließ den Tag beginnen, Bob machte am Abend alles für die Nacht bereit. Es war Teamwork, wie es besser nicht hätte sein können. Das Paar war seit dreißig Jahren verheiratet und noch immer so verliebt wie am ersten Tag, was zwar nicht völlig ungewöhnlich war, aber doch selten genug vorkam, sodass es eine Erwähnung wert war.
Aber was für Sterbliche eher ungewöhnlich war, stellte für Unsterbliche die Norm dar. Hatte man erst einmal seinen Lebensgefährten gefunden, blieb man mit ihm zusammen. Zehn, hundert oder sogar tausend Jahre später war das Paar noch immer genauso glücklich. Es war das, worauf jeder erwachsene Unsterbliche hoffte, und Divine hatte früher selbst auch davon geträumt. Aber da war sie noch deutlich jünger gewesen. Ihr war schnell klar geworden, dass sie mit ihrer Art zu leben praktisch keine Chance hatte, jemals ihrem Lebensgefährten zu begegnen, wenn sie sich bei einem Kirmesbetrieb versteckte und jedem Unsterblichen aus dem Weg ging. Sie würde für immer allein sein, und das würde eine sehr, sehr lange Zeit sein, sofern sie nicht vorher in einen Unfall verwickelt wurde, bei dem sie enthauptet wurde oder bei lebendigem Leib verbrannte. Oder aber sie wurde zu einer richtigen Abtrünnigen und schaffte es, sich hinrichten zu lassen. An manchen Tagen, wenn ihr Lebensstil ihr genauso zu schaffen machte wie die Tatsache, dass sie weder ein Zuhause noch eine Familie hatte, kam es ihr fast schon verlockend vor, sich einen entsprechenden Plan mit tödlichem Ausgang zu überlegen. Ihre Stimmungstiefs hatten nie lange genug angehalten, um irgendeine Dummheit begehen zu können. Bislang jedenfalls nicht.
Sie verdrängte diese Überlegungen, da sie das Wohnmobil der Hoskins erreicht hatte. Nachdem sie kurz angeklopft hatte, rief Madge »Herein!«, dann zog sie die Tür auf und trat lächelnd ein. Dieses Lächeln erstarrte jedoch auf ihren Lippen, da sie fast Marco umgerannt hätte.
»Ach, da bist du ja, Divine, meine Liebe«, begrüßte Madge sie gut gelaunt. »Ich habe gerade Marco von dir erzählt. Ich dachte mir, es ist schön, wenn er uns heute Abend Gesellschaft leistet. Dann könnt ihr zwei euch näher kennenlernen. Ihr beide habt einiges gemeinsam, er ist nämlich auch gegen die Sonne allergisch.«
»Ist ja nicht wahr«, murmelte Divine und sah den Mann finster an. So viel also zu dem Thema, dem Greenhorn aus dem Weg zu gehen.
Marcus musste sich ein Grinsen verkneifen, als er Divines Gesichtsausdruck sah. Sie war ganz offensichtlich nicht darüber erfreut, ihm hier zu begegnen, gab sich aber alle Mühe, Madge nichts davon merken zu lassen, weil sie dann den Grund dafür hätte erklären müssen. Vermutlich hätte sie in diesem Moment am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und das Weite gesucht, aber ihr fiel wohl keine überzeugende Ausrede ein. Daher stand sie immer noch unschlüssig in der Tür.
»Hi … Marco, richtig?«, fragte sie schließlich und zwang sich zu einem Lächeln, ehe sie sich zu Madge umdrehte, für die sie ein viel zwangloseres Lächeln übrighatte. »Das wäre sicher nett geworden, aber auf dem Weg hierher bin ich Hal begegnet. Seine Gicht ist schon viel besser, und er hat mich eingeladen, mit ihm und Carl in der Stadt zu feiern. Ich fände es zu schade, wenn der alte Kerl auch noch seinen letzten Zahn verliert, nur weil er sich vielleicht wieder mit jemandem prügeln will. Ich bin jetzt nur hergekommen, um Bescheid zu sagen, dass ich unseren üblichen Kaffeeklatsch heute Abend ausfallen lassen muss.«
Dann war ihr ja doch eine überzeugende Ausrede eingefallen, korrigierte sich Marcus. Wie viel von ihrer Geschichte stimmte und wie viel gelogen war, konnte er nicht beurteilen. Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass sie bis gerade eben nicht vorgehabt hatte, mit Hal und Carl in die Stadt zu gehen. Er war sich sogar ziemlich, dass allein seine Anwesenheit sie zu diesem Entschluss gebracht hatte. Na gut, was sie konnte, das konnte er schon lange. Er setzte eine besorgte Miene auf und gab zu bedenken: »Oh, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, wenn du allein mit den beiden unterwegs bist. Ich schätze, wenn die zwei alten Käuze erst mal genug gebechert haben, könnte es schwierig werden, sie beide gleichzeitig unter Kontrolle zu halten. Vielleicht wäre es besser, wenn ich euch begleite.«
»Oh, das ist ja eine großartige Idee«, warf Madge ein, gerade als Divine zu einem Kopfschütteln ansetzte. »Ich wäre sonst so in Sorge um dich, Divine. Wenn Marco auf dich aufpassen würde, wäre mir viel wohler.«
Einen Moment lang war Marcus davon überzeugt, dass Divine sich weigern würde, doch dann ließ sie resigniert die Schultern sinken. Ihre Miene wirkte dagegen wie vor Wut erstarrt. »Gut, dann machen wir uns auf den Weg.«
du
Während Marcus dastand und ungläubig zusah, löste Divine mehrere Haltegurte, klappte eine schmale Rampe aus und schob die Maschine nach draußen. Sie klappte den Ständer aus, holte zwei Helme aus dem Stauraum des Wohnmobils und betätigte wieder eine Taste, woraufhin sich die Klappe schloss.
Er nahm den Helm an, den sie ihm gab, setzte ihn auf und sah ihr dabei zu, wie sie genau das Gleiche machte. Eigentlich wollte er den Riemen unter dem Kinn zuziehen, aber das vergaß er in dem Moment, da Divine sich vorbeugte, zwischen den Beinen hindurch den Rocksaum fasste und den Stoff nach vorn zog. Erst als sie sich aufrichtete und den nach vorn geholten Stoff in den Rockbund stopfte, wurde ihm klar, was sie da eigentlich tat. Dann holte sie mit einem Bein aus und schwang sich auf das Motorrad, startete es und ließ den Motor aufheulen. Dann sah sie Marcus abwartend an. »Und?«
»Bin schon da«, murmelte er und zurrte den Gurt unter seinem Kinn fest. Offenbar wollte sie selbst fahren. Teufel auch! Ein Motorrad. Er konnte nur hoffen, dass sie auch wirklich wusste, wie man diese verdammte Maschine fuhr.