Andrea Maria Schenkel
FINSTERAU
Kriminalroman
Zu dieser Ausgabe
Diese E-Book-Ausgabe von Finsterau von Andrea Maria Schenkel ist ein sogenanntes »enhanced E-Book«, ein angereichertes E-Book, das über den Inhalt der klassischen Buchausgabe hinausgeht.
Zusätzlich zum Roman enthält diese digitale Ausgabe einen Social-Reading-Stream, der den Austausch mit anderen Lesern ermöglicht.
Hermann Müller
Roswitha Haimerl stand da, den Mantel zugeknöpft, die Tasche unter dem Arm. »Hermann, ich geh jetzt heim. Ich hab die Schankstube aufgeräumt und die Stühle hochgestellt, bis auf die beim Tisch in der Ecke. Da sitzt wieder so ein windiger Krattler, den musst schon selber rausschmeißen. ’zahlt hat er schon.«
»Nur mit der Ruhe. Du weißt gar nicht, ob das ein Sandler ist, auch wenn er so ausschaut. Aber passt schon. Morgen ist ziemlich viel los, da sind wieder die vom Stammtisch da.«
Der Wirt spülte gerade die letzten Gläser aus, stellte sie zum Trocknen auf das Abtropfgitter neben dem Spülbecken und wischte sich die feuchten Hände am Geschirrtuch ab.
»Dass ich es nicht vergesse, ich wollte dich eh noch fragen, ob du ein bisserl zeitiger kommen kannst.«
»Ja, wird schon gehen. Also dann bis morgen.«
Roswitha Haimerl ging zur Tür. Hermann Müller begleitete sie.
»Gute Nacht, und pass gut auf, dass dich keiner mitnimmt.«
»Da brauchst keine Angst haben, Hermann, wenn mich bei der Nacht einer holt, der bringt mich spätestens am anderen Morgen wieder zurück. Servus, und schau, dass den Vaganten loswirst.«
Roswitha Haimerl ging lachend fort, während der Wirt hinter ihr abschloss. Den Schlüssel ließ er stecken. Dann ging er hinüber zum Ecktisch.
Der Gast lag mit dem Oberkörper über den Tisch, eine Hand unter seinem Gesicht, die andere hielt das halbvolle Bierglas fest. Der Wirt griff nach dem Glas und stellte es außer Reichweite des Schlafenden. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter und versuchte ihn zu wecken.
»Feierabend ist. Schluss ist. Hörst mich?«
Der Mann richtete sich benommen auf. »Ja, ja, ich geh schon.«
»Soll ich dir ein Taxi holen? Oder kannst zu Fuß heim?«
Der Fremde versuchte aufzustehen, rutschte aus, fiel wieder zurück auf den Stuhl. »Lass mich! Ich geh ja schon. Nimm die Bratzen weg.«
»Immer mit der Ruhe. Soll ich dir helfen?«
»Mir braucht keiner helfen, keiner.« Er versuchte wieder hochzukommen, mit beiden Händen hielt er sich an der Tischplatte fest, sein Schlüssel fiel zu Boden.
Hermann Müller bückte sich, hob die Schlüssel auf. »Weißt was? Ich hol dir ein Taxi. Auto fahren tust du mir nicht mehr, Freunderl! Sonst hält dich am Ende noch die Polizei auf, und ich hab dann das Geschiss, weil ich dir kein Taxi gerufen hab.«
»Die Polizei, dass ich nicht lach!«
Der Gast versuchte zu lachen.
»Denen ist doch alles scheißegal. Wenn einer einmal einen Rausch hat, da mischen sie sich ein, den halten sie auf, die Herren von der Polizei, aber wennst einen umbringst, dann scheren sie sich einen Dreck drum. Das ist denen völlig gleich, sag ich dir.«
»Was redest denn da für einen Schmarren? Was ist wem gleich?«
Irgendwie hatte der Betrunkene es geschafft, auf die Beine zu kommen, schwankend beugte er sich etwas nach vorne, kam ganz nah an den Wirt heran.
»Die Polizisten lassen die Mörder laufen. Das sag ich dir.«
Mit dem Zeigefinger tippte er immer wieder an die Brust des Wirts.
»Ich weiß von einem Mord. Zwei Jahre nach dem Krieg war’s, und keiner will es hören. Aber ich weiß es, ich gebe keine Ruhe. Ich weiß, wer es war und warum. Aber die, die wollen nichts davon wissen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei nichts davon wissen will.«
»Die? Nichts wollen s’ wissen, gar nichts. Denen ist es egal, scheißegal! Nicht richtig gesucht haben s’, die Herren.«
Der Fremde hielt sich den Zeigefinger vor den Mund.
»Pscht! Kein Wort! Leise musst sein, ich weiß alles.«
Er ließ sich rückwärts wieder auf den Stuhl fallen.
»Weißt, es ist wie mit den drei Affen: Nichts sehen, nichts reden, nichts hören. Und wenn die Herren die Kollegen im Ausland einschalten müssten, ja, da lassen sie doch lieber gleich die Finger davon. Lieber stillhalten als in Frankreich anrufen. Sich nur keine Blöße geben.«
»Du redest einen Schmarren, warum sollte die Polizei lieber nichts machen, nur um nicht im Ausland ermitteln zu müssen?«
Doch der Mann antwortete nicht mehr, er lag wieder kopfüber auf dem Tisch und schlief. Zuerst versuchte Hermann Müller, ihn zu wecken, nach einer Weile gab er auf, löschte das Licht, verriegelte den Schankraum und ging mit der Kasse in seine Wohnung, die über der Gaststube lag.
Am anderen Morgen war der Mann nicht mehr da. Irgendwann im Laufe der Nacht war er durch ein Fenster der Gaststube verschwunden. Die Brieftasche hatte er unter dem Tisch liegenlassen.
Darin fand Roswitha Haimerl, als sie den Gastraum für den Tag herrichtete, neben ein paar Rechnungen und einem Zwanzigmarkschein einen alten, vergilbten Zeitungsausschnitt. Neugierig geworden, faltete sie ihn auseinander.
»Hermann, schau einmal her. Kennst den nicht? Ist das nicht der Dr. Augustin?«
Sie hielt dem Wirt den Artikel hin. »Schau, da war er noch jung.«
Der Wirt nahm den Ausschnitt: »Lass sehen.«
Dann legte er ihn wieder zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche.
»Weißt was, Roswitha, den Ausschnitt werde ich dem Augustin heute zeigen, wenn er zum Frühschoppen kommt. Das wird ein Fez, da bin ich jetzt schon gespannt, was er sagt. Vor allem, wenn ich ihm die Geschichte von dem besoffenen Sandler gestern erzähle.«
Afra
Die Fensterläden sind die ganze Nacht halb offen gestanden, so kann die Schwüle des Tages entweichen und die kühlere Luft des Morgens ins Zimmer strömen. Mit ihr ist auch die Mücke hereingekommen, deren Summen sie nun geweckt hat. Die Augen noch geschlossen, liegt Afra in ihrer Bettstatt in der Kammer und lauscht. Das Geräusch wird stärker, wenn sich das Insekt nähert, und schwächer, wenn es sich wieder entfernt. Manchmal fliegt es sogar so nah an ihrem Gesicht vorbei, dass sie einen leichten Lufthauch auf ihrer Haut spürt. Afra liegt da, ruhig, wartet. Das Surren wird lauter, schließlich bricht es ab. Sie fühlt die Mücke auf ihrer Wange, bleibt noch einen Augenblick still liegen, dann holt sie mit der flachen Hand aus. Der mit Blut vollgesogene Körper der Schnake platzt, und die klebrige Flüssigkeit haftet an ihren Fingern und der Wange.
Afra öffnet die Augen. Angewidert wischt sie sich die Hand am Leintuch ab. Das Zimmer ist grau. Die wenigen Möbel heben sich dunkel von den Wänden ab. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, Zeit aufzustehen. Sie schiebt die Zudecke beiseite; den kalten Lehmboden unter ihren nackten Füßen spürend, bleibt sie am Rand des Bettes sitzen und blickt hinüber zu Albert, der in seinem Kinderbettchen liegt und schläft. Das Kind ist ihr lieb und fremd zugleich. Es ist ihr Fleisch und Blut, und deshalb müsste sie es lieben, aber manchmal, wenn sie wie jetzt auf ihrem Bett sitzt, wünscht sie sich, es wäre nicht da, ihr Leben wäre einfacher. Sofort schämt sie sich, ermahnt sich selbst, dass es unrecht und eine Sünde ist, so zu denken, dass das Kind nichts dafürkann und es auch schöne Momente gibt, die sie nicht missen möchte. Aber trotzdem wird sie den Gedanken nicht los, er quält sie, kommt immer wieder. Nur an wenigen Tagen ist sie ganz frei davon, gestern war so ein Tag. Die Eltern sind in aller Frühe zur Messe gegangen und danach zu Verwandten. Afra und das Kind sind allein im Haus geblieben. Den ganzen Tag war vom Alpdruck, der sonst auf ihr lastete, nichts zu spüren gewesen. Um nicht mitgehen zu müssen, hatte sie vorgegeben, die Weißwäsche waschen zu müssen, und trotz der Plackerei war es der schönste Sonntag seit langem gewesen. In der Früh um vier Uhr war sie aufgestanden, hatte gefrühstückt und war hinaus in den Hof gegangen. Ehe die anderen im Haus wach wurden, stand sie bereits am hölzernen Trog und rieb die am Vorabend in Soda eingeweichte Wäsche Stück für Stück auf der Ruffel. Als sie den großen Topf mit Wäsche und Seifenlauge auf den Herd in der Küche gestellt hatte, waren Vater und Mutter gerade dabei gewesen, sich für den Kirchgang fertig zu machen. Nachdem sie fort waren, weckte sie Albert und zog ihn an, verrichtete die Arbeit im Haus, und von Zeit zu Zeit rührte sie die kochende Wäsche mit dem großen hölzernen Kochlöffel um. Das Kind lief wild hin und her, und sie hatte Angst gehabt, es könnte sich in einem unachtsamen Moment an der heißen Lauge verbrühen. So nahm sie es schließlich auf den Schoß, und gemeinsam sangen sie das Lied von der kleinen Hexe, die morgens um sechs aufsteht, um in die Scheune zu gehen. Immer und immer wieder sangen sie es, bis es Zeit war, die Wäsche aus der Lauge zu nehmen und im Hof erneut über das Waschbrett zu ziehen. Albert wurde nicht müde, so gut er konnte, zu helfen. Er trug die kleinen Stücke hinüber zum Grand, um sie dort im kalten Wasser des Brunnens auszuspülen, bis er von oben bis unten durchnässt und die Hände ganz blau waren vor Kälte. Afra zog ihm das nasse Gewand aus, trocknete ihn ab und setzte ihn mit einem Kanten Brot auf die Bank vor dem Haus, in die Sonne. Und als sie endlich die Wäsche geschweibt und zum Bleichen auf der Wiese ausgebreitet hatte, setzte auch sie sich in die Sonne und sah dem Buben dabei zu, wie er versuchte, mit einer dünnen Gerte die Nachbarsgänse zu vertreiben, damit sie nicht über die ausgebreitete Wäsche liefen. Von Zeit zu Zeit stand sie auf und wässerte die zur Bleiche ausliegenden Stücke, bis sie schließlich am Abend alles wieder in die Wanne legte, um es am nächsten Morgen zum Trocknen aufzuhängen.
Als sie gerade dabei gewesen war, alles zusammenzuräumen und mit dem Buben ins Haus zu gehen, waren zwei Wanderburschen am Hof vorbeigekommen und hatten sich nach einer Bleibe für die Nacht erkundigt. Der eine der Burschen erinnerte sie ein wenig an Alberts Vater, es war weniger sein Aussehen, eher die Art und Weise, wie er sie ansah und dabei lächelte. Sie hatte sich mit ihnen noch ein bisschen unterhalten und sie dann weitergeschickt hinüber zum Nachbarn. Danach war sie mit dem Kind ins Haus gegangen, die Abendsuppe herrichten. Noch während sie damit beschäftigt war, war Albert auf dem Kanapee in der Küche eingeschlafen, und sie trug das schlafende Kind in die Kammer hinüber, ohne es zu wecken.
Afra atmet tief durch. Warum können nicht alle Tage so unbeschwert sein wie der vergangene? Dann steht sie auf, zieht sich leise an, um Albert nicht zu wecken, und geht in die Küche.
Draußen vor dem Fenster beginnt es nun endlich Tag zu werden. Sie zögert, soll sie das Licht in der Küche noch einschalten? Die Hand bereits am Schalter, beschließt sie, es bleiben zu lassen, läuft im Dämmerlicht hinüber zur Höll neben dem Küchenherd, nimmt Zündhölzer, Papier, Reiser und Holzscheite, öffnet die Ofentür und schürt den Herd an. Sie greift nach der hölzernen Schale im Regal und geht in die Speis. Auf der Fensterbank steht der Milchweitling. Afra schöpft die gestockte Milch aus dem irdenen Gefäß in die kleine Schüssel. Füllt diese bis zum Rand. Vorsichtig und darauf bedacht, nichts zu verschütten, geht sie wieder hinaus in die Küche. Dort stellt sie die Schale mit der Morgensuppe auf den Tisch, dazu noch etwas Brot zum Einbrocken. Afra nimmt den Löffel aus der Tischschublade und legt ihn daneben. Sie sitzt da und wartet. Von draußen hört sie leise die Stimmen der anderen. Jeden Augenblick können der Vater oder die Mutter die Küchentür öffnen. Sie kann sich denken, was passieren wird, wenn sie hereinkommen. Die Mutter wird ihr wieder Vorhaltungen machen, weil sie gestern nicht in der Kirche war, nicht einmal zur Abendandacht ist sie gegangen, und darüber lamentieren, wie sie sich geschämt hat vor dem ganzen Dorf und den Verwandten. Der Vater wird sie ermahnen, sich anständig hinzusetzen und das morgendliche Dankgebet mit ihm zu sprechen.
Sie wird sich schlecht fühlen, von klein an haben sie ihr das Gefühl gegeben, unrecht zu tun oder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Nichts macht sie richtig in den Augen der Eltern. Sie weiß, wie hart es die Mutter ankommt, wenn sie nicht betet, nicht in den Gottesdienst geht. Aber sie will nicht, sie wird es nicht tun. Warum sollte sie? Soll sie danken dafür, dass sie jeden Tag aufs Neue um die einfachsten Dinge kämpfen muss? Wer ist dieser Gott, der ihr so ein Leben aufzwingt? Sie hasst die Armut, die Enge. Aber am meisten ist ihr die untertänige Obrigkeitshörigkeit ihrer Eltern zuwider. Das »Was werden die Leute sagen, Kind? Hast nicht schon genug Schande über uns gebracht? Warum kannst du nicht den geraden, aufrechten Weg gehen?«.
Zornig schiebt sie die Schale mit einem Ruck zur Seite, schert sich nicht um die überschwappende Milch und steht vom Tisch auf.
In diesem Moment betritt der Vater die Küche. Afra sieht ihn nicht an, grüßt ihn nicht, drängt sich an ihm vorbei.
»Wo willst du hin? Wird in diesem Haus nicht mehr gegrüßt? Hier leben immer noch anständige Menschen«!, ruft er ihr nach.
Sie erwidert leise, ohne sich zu ihm umzudrehen: »Rutsch mir doch den Buckel runter, du alter Depp.«