Über José Saramago

José Saramago (1922–2010) wurde im portugiesischen Azinhaga geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Während der Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hoffmann und Campe erschienen u.a. Die Reise des Elefanten, Kain und der Gedichtband Über die Liebe und das Meer. 2013 erschien erstmals sein Roman Claraboia aus dem Jahr 1953.

Für Pilar

Du kennst den Namen, den man dir gegeben hat, doch kennst du nicht den Namen, den du trägst.

 

Buch der Gewißheiten

Über dem Türrahmen ist ein schmales längliches, emailliertes Metallschild angebracht. Auf weißem Grund steht in schwarzen Buchstaben Zentrales Personenstandsregister. Die Emailleschicht ist gesprungen und an einigen Stellen abgeblättert. Die Tür ist alt, der letzte braune Anstrich löst sich, die Maserung des Holzes kommt hervor, sie erinnert an faltige Haut. Es gibt fünf Fenster in der Fassade. Kaum tritt man über die Schwelle, spürt man den Geruch nach altem Papier. Gewiß, es vergeht kein Tag, an dem nicht neue Papiere im Personenstandsregister eintreffen, von Individuen männlichen Geschlechts und weiblichen Geschlechts, die dort draußen geboren werden, aber der Geruch ändert sich nie, erstens, weil es die Bestimmung allen neuen Papiers ist, gleich nach Verlassen der Fabrik zu altern, und zweitens, weil gewöhnlich kein Tag vergeht, an dem nicht auf dem alten Papier, doch auch häufig auf dem neuen, Todesfälle eingetragen werden samt entsprechender Orte und Daten, wobei jeder mit seinen eigenen Gerüchen, die für die Schleimhäute in der Nase nicht immer beleidigend sind, etwas beiträgt, wie dies gewisse aromatische Ausdünstungen beweisen, die hin und wieder zart in der Luft des Personenstandsregisters liegen und die feine Nasen aufspüren als ein Parfüm, das zur Hälfte aus Rosen und zur Hälfte aus Chrysanthemen besteht.

Gleich hinter der Tür betritt man durch einen großen verglasten Windfang mit zwei Türflügeln den riesigen rechteckigen Raum, in dem die Angestellten arbeiten, vom Publikum durch eine lange Theke getrennt, die von einer Seitenwand zur anderen reicht, wobei es an einer Seite eine bewegliche Klappe gibt, durch die man ins Innere gelangt. Die Anordnung der Plätze in diesem Saal berücksichtigt selbstverständlich die vorgegebene Hierarchie, da sie sich jedoch, wie zu erwarten, in dieser Hinsicht harmonisch fügt, tut sie dies auch hinsichtlich der Geometrie, was dem Beweis dient, daß kein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Ästhetik und Autorität besteht. Die erste Tischreihe, parallel zur Theke, wird von acht Amtsschreibern eingenommen, die für den Publikumsverkehr zuständig sind. Dahinter, ebenfalls um die mittlere Achse angeordnet, die von der Tür ausgehend sich weit hinten in den dunklen Räumen des Gebäudes verliert, steht eine Reihe von vier Tischen. Dies sind die Tische der Amtssekretäre. Dann folgen die der Stellvertretenden Amtsvorsteher, und das sind zwei. Schließlich, isoliert und allein, wie es sich gehört, der Amtsvorsteher, den sie im täglichen Umgang Chef nennen.

Die Verteilung der Aufgaben auf die Gesamtheit der Angestellten folgt einer einfachen Regel, welche die Elemente jeder Stufe verpflichtet, die gesamte ihnen mögliche Arbeit auszuführen, so daß nur ein geringer Teil an die folgende Stufe weitergereicht wird. Das bedeutet, daß die Amtsschreiber gezwungen sind, ununterbrochen von morgens bis abends zu arbeiten, während die Amtssekretäre dies nur hin und wieder tun, die Stellvertretenden Amtsvorsteher überaus selten und der Amtsvorsteher so gut wie nie. Das unablässige Hin und Her der acht Vorderen, die sich so schnell setzen, wie sie sich erheben, immer vom Tisch zur Theke laufend, von der Theke zu den Karteikästen, von den Karteikästen ins Archiv, dabei unermüdlich diese und andere Abfolgen und Kombinationen wiederholend vor der Gleichgültigkeit der Vorgesetzten, der unmittelbaren wie der weiter entfernten, ist ein unerläßlicher Bestandteil, wenn man verstehen will, wie es möglich war und bedauerlicherweise auch so leicht, Mißbräuche zu begehen, Unregelmäßigkeiten und Fälschungen, die den Kern dieses Berichtes ausmachen.

Um in einem Fall von solcher Tragweite nicht den Faden zu verlieren, ist es erforderlich zu beschreiben, wo die Archive und Karteikästen sich befinden und wie sie funktionieren. Sie sind grundsätzlich strukturiert oder, einfacher gesagt, dem Naturgesetz folgend, in zwei große Abteilungen unterteilt, die der Archive und Kartei der Toten und die der Kartei und Archive der Lebenden. Die Papiere derer, die nicht mehr leben, sind mehr oder weniger geordnet im hinteren Teil des Gebäudes untergebracht, dessen Rückwand von Zeit zu Zeit, infolge der unaufhaltbar steigenden Zahl der Toten, abgerissen und einige Meter weiter vorn wieder aufgebaut werden muß. Wie leicht zu folgern ist, sind die Schwierigkeiten, die Lebenden unterzubringen, wenn auch besorgniserregend, bedenkt man, daß stetig Menschen geboren werden, dennoch weniger dringlich und zudem bisher einigermaßen zufriedenstellend gelöst worden, sei es mittels mechanischen, horizontalen Zusammenpressens der einzelnen Akten in den Regalen, wie im Fall der Archive, sei es durch die Verwendung dünnen und extradünnen Kartons, wie im Fall der Kartei. Trotz des lästigen Problems der bereits erwähnten Rückwand verdient der vorausschauende Blick der damaligen Architekten, die das Zentrale Personenstandsregister entwarfen, uneingeschränktes Lob, da sie gegen die konservativen Ansichten gewisser kleinlicher, der Vergangenheit zugewandter Geister die Errichtung jener fünf riesigen Regalkonstruktionen vorschlugen und verteidigten, die hinter den Angestellten bis zur Decke reichen, am weitesten zurückgesetzt das obere Ende des mittleren Regals, das fast den Schreibsessel des Amtsvorstehers berührt, näher an der Theke die oberen Regale an den Außenseiten, und schließlich die beiden anderen sozusagen auf halbem Wege bis zur Mitte. Von allen Betrachtern als zyklopisch und übermenschlich angesehen, erstrecken sich diese Konstruktionen durch das Innere des Gebäudes weiter, als der Blick reicht, auch, weil ab einem gewissen Punkt Dunkel herrscht und nur Licht gemacht wird, wenn eine Akte eingesehen werden muß. Diese Regalkonstruktionen tragen das Gewicht der Lebenden. Die Toten, das heißt, ihre Papiere, sind weiter hinten untergebracht, allerdings weniger gut, als es die Achtung für sie erforderte, deshalb ist es so mühsam, sie zu finden, wenn ein Verwandter, ein Notar oder ein Justizbeamter ins Zentralregister kommt und Urkunden oder Abschriften von Dokumenten aus anderen Zeiten verlangt. Die Desorganisation dieses Teils des Archivs wird begründet und verschärft durch die Tatsache, daß es gerade die längst Verstorbenen sind, die am nächsten an der aktiv genannten Abteilung liegen, gleich hinter den Lebenden, und so, einer intelligenten Definition des Amtsvorstehers folgend, ein zweimal totes Gewicht bedeuten, vor allem, da sich äußerst selten jemand mit ihnen beschäftigt, nur hin und wieder erscheint jemand, ein exzentrischer Erforscher historischer Details von geringer Bedeutung. Wenn nicht eines Tages entschieden wird, die Toten von den Lebenden zu trennen, und man an einem anderen Ort ein neues Personenstandsregister errichtet, um dort nur die Verstorbenen unterzubringen, gibt es keine Lösung für die Situation, wie deutlich wurde, als einer der Stellvertretenden Amtsvorsteher zu ungünstiger Stunde den Einfall hatte, das Archiv der Toten in entgegengesetzter Richtung anzuordnen, weiter hinten die früher Verstorbenen und weiter vorn die kürzlich Verstorbenen, eine Anordnung, die, in seinen bürokratischen Worten gesprochen, den Zugang zu den zeitgenössischen Verstorbenen erleichtern sollte, welche, wie man weiß, Verfasser von Testamenten sowie Erblasser sind und daher leicht zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden und Anlaß zu Anfechtungen geben, solange die Leiche noch warm ist. Sarkastisch stimmte der Amtsvorsteher dem Vorschlag zu, unter der Bedingung, daß der Urheber dieser Idee nun selbst damit beauftragt werde, Tag für Tag die ungeheure Masse der individuellen Akten der früher Verstorbenen nach hinten zu schieben, damit die kürzlich Verstorbenen den dadurch gewonnenen Platz einnehmen könnten. Um diesen unglücklichen und undurchführbaren Vorschlag vergessen zu machen und auch, um von der Demütigung abzulenken, fand der Stellvertretende Amtsvorsteher kein besseres Mittel, als die Amtsschreiber um die Überlassung eines Teils ihrer Arbeit zu bitten, womit er, sowohl nach oben als auch nach unten, den historischen Frieden der Hierarchie verletzte. Mit dieser Episode wuchs die Nachlässigkeit, blühte die Ratlosigkeit, grassierte die Unsicherheit, und dies so weit, daß sich eines Tages in den labyrinthischen Katakomben des Totenarchivs ein Forscher verlor, der sich Monate nach jenem absurden Vorschlag im Personenstandsregister eingefunden hatte, um einige heraldische Forschungen anzustellen, mit denen man ihn beauftragt hatte. Er wurde wie durch ein Wunder nach einer Woche entdeckt, hungrig, durstig, erschöpft, delirierend, und hatte nur überlebt, weil er zu einem verzweifelten Mittel gegriffen hatte, dem Verzehr ungeheurer Mengen alter Papiere, die er nicht einmal kauen mußte, weil sie sich im Mund auflösten und weder lang im Magen blieben noch besonders nahrhaft waren. Der Chef des Zentralen Personenstandsregisters, der schon die Karteikarte des unvorsichtigen Historikers für seinen Schreibtisch angefordert hatte, um ihn für tot zu erklären, beschloß, den angerichteten Schaden zu übersehen, der offiziell den Ratten zugeschrieben wurde, und erließ eine dienstliche Anweisung, derzufolge unter Androhung von Strafe und Streichung des Gehaltes der Ariadnefaden zu benutzen sei, wann immer jemand sich in das Archiv der Toten begab.

Auf keinen Fall wäre es recht, die Schwierigkeiten der Lebenden zu vergessen. Es ist mehr als sicher und bekannt, daß der Tod, sei es aus ursprünglicher Unfähigkeit, sei es aus erworbenem Mißtrauen, seine Opfer nicht aussucht nach der Dauer des Lebens, das sie gelebt haben, ein Verfahren übrigens, dies sei nebenbei bemerkt, das, will man den Worten unzähliger philosophischer und religiöser Autoritäten Glauben schenken, die sich zu diesem Thema geäußert haben, im menschlichen Wesen indirekt auf unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Weise den paradoxen Effekt einer intellektuellen Sublimierung der natürlichen Angst vor dem Sterben zur Folge hat. Doch zurück zu dem, was uns interessiert, nämlich daß man dem Tod niemals vorwerfen kann, einen alten vergessenen Menschen irgendwo auf unbestimmte Zeit am Leben gelassen zu haben, nur damit er immer älter wird, ohne eigenes Verdienst oder einen anderen ersichtlichen Grund. Man weiß schließlich, daß auch für alte Menschen, und wenn sie noch so lange leben, die Stunde kommen wird. Es vergeht kein Tag, an dem die Amtsschreiber nicht Akten aus den Regalen der Lebenden nehmen, um sie nach hinten in das Lager zu tragen, es vergeht kein Tag, an dem sie nicht die in das obere Regal schieben, die bleiben, auch wenn dies bisweilen aus einer ironischen Laune des rätselhaften Schicksals heraus nur bis zum nächsten Tag währt. Gemäß dem sogenannten natürlichen Lauf der Dinge bedeutet, oben im Regal angekommen zu sein, daß das Schicksal schon müde ist, daß nicht mehr viel Weg bleibt. Das Ende des Regals ist in diesem Sinne auch der Beginn des Falls. Dennoch gibt es Akten, die sich, man weiß nicht, aus welchem Grund, am äußersten Ende, wo die, Leere beginnt, halten, ungerührt angesichts des letzten Taumels, Jahre und Jahre hindurch, länger als das, was die ratsame Dauer eines menschlichen Lebens gemeinhin darstellt. Zunächst wecken diese Akten in den Angestellten berufliche Neugier, aber es dauert nicht lange, bis sie Ungeduld bei ihnen hervorrufen, als würde die unverschämte Hartnäckigkeit der Langlebigen ihre eigene Aussicht auf das Leben vermindern, aufessen, verschlingen. Da hatten die Abergläubischen nicht ganz unrecht, wenn wir die vielen Fälle bedenken, in denen die Akten von Angestellten aller Dienstgrade frühzeitig aus dem Archiv der Lebenden entfernt werden mußten, während die Papiere der hartnäckig Überlebenden außen allmählich mehr und mehr vergilbten, bis sie schließlich zu dunklen, unästhetischen Flecken auf den Regalen wurden, wo sie den Blick des Publikums beleidigten. Da sagt dann der Chef des Personenstandsregisters zu einem der Amtsschreiber, Sr. José, ersetzen Sie jene Aktendeckel.

Außer seinem Eigennamen José hat Sr. José auch Nachnamen, ganz geläufige, ohne Extravaganzen, einen von seiten des Vaters, einen anderen von seiten der Mutter, wie üblich rechtmäßig übertragen, wie wir dies nachweisen könnten im Geburtenverzeichnis des Personenstandsregisters, wenn der Fall das Interesse rechtfertigen und wenn das Ergebnis der Nachforschungen die Arbeit bezahlen würde, das zu bestätigen, was man schon weiß. Aus unbekannten Gründen, wenn nicht schlicht wegen der geringen Bedeutung der Person, ist es jedoch so, daß es Sr. José, wenn man ihn fragt, wie er heißt, oder die Umstände es erfordern, daß er sich vorstellt, Ich bin Soundso, nie genützt hat, seinen vollständigen Namen auszusprechen, da seine Gesprächspartner immer nur das erste Wort im Gedächtnis behalten, José, dem sie später, je nachdem, wie vertraulich oder förmlich sie sind, eine höfliche oder intime Anrede hinzufügen oder auch nicht. Die, das sei angemerkt, nicht so viel wert ist, wie sie zunächst zu versprechen scheint, zumindest nicht hier im Personenstandsregister, wo alle sich mit Senhor anreden, vom Amtsvorsteher bis zum jüngst eingestellten Amtsschreiber, und nicht immer die gleiche Bedeutung in der Praxis der hierarchischen Beziehungen hat, was man sogar beobachten kann, je nachdem, wie entsprechend dem unterschiedlichen Grad der Autorität oder der Laune des Augenblicks das kurze Wort ausgesprochen wird, herablassend, verärgert, ironisch, verächtlich, demütig, schmeichelnd, was zeigt, welche Möglichkeiten die Stimme im Ausdruck zweier sehr kurzer Silben hat, die auf den ersten Blick, derart zusammengesetzt, nur eine einzige Sache zu sagen scheinen. Mit den zwei Silben José und den beiden von Senhor, wenn diese beide dem Namen vorangehen, geschieht ungefähr das gleiche. Man wird immer, wenn man sich im Personenstandsregister oder auch außerhalb an jemanden wendet, in der Anrede des Genannten einen Ton der Verachtung oder der Ironie, der Irritation oder der Herablassung heraushören können. Andere Möglichkeiten wie ein demütiger oder schmeichelnder, ein einlullender oder singender Tonfall sind nie an das Ohr des Amtsschreibers Sr. José gedrungen, waren nie Teil der Tonleiter der Gefühle, die ihm üblicherweise entgegengebracht werden. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß einige dieser Gefühle sehr viel komplexer sind als die zuvor angeführten, in gewisser Weise primären und offensichtlichen, die aus einem Guß sind. Als zum Beispiel der Amtsvorsteher Anweisung gab, Sr. José, ersetzen Sie jene Aktendeckel, hätte ein aufmerksames, feines Ohr in seiner Stimme etwas erkannt, das man bei allem möglichen Widerspruch der Begriffe als autoritäre Gleichgültigkeit bezeichnen könnte, das heißt, eine Macht, die sich ihrer selbst so sicher ist, daß sie nicht nur demonstrativ die Person ignoriert, an die sie sich wendet, ja, sie nicht einmal ansieht, sondern außerdem deutlich werden läßt, daß sie sich nicht dazu herablassen würde, später zu überprüfen, ob die Anweisung ausgeführt wurde. Um die oberen Regale zu erreichen, ganz oben, fast an der Decke, mußte Sr. José eine sehr hohe Leiter anstellen, und da er zu seinem Unglück an einem verwirrenden nervösen Gleichgewichtsmangel leidet, den wir gemeinhin Höhenangst nennen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit einem starken Gürtel festzuschnallen, um nicht mit seinen Knochen auf dem Steinboden zu landen. Dort unten kam keiner der ihm gleichgestellten Kollegen, von den Vorgesetzten lohnt es gar nicht zu sprechen, auf die Idee, nach oben zu blicken, um zu sehen, ob es ihm bei dieser Arbeit gutging. Dies, versteht sich, war eine andere Art und Weise, die Gleichgültigkeit zu rechtfertigen.

Zu Beginn, einem Beginn, der viele Jahrhunderte zurücklag, wohnten die Angestellten im Zentralen Personenstandsregister. Nicht direkt im Inneren, in korporativer Promiskuität, sondern in einfachen, rustikalen Häusern, errichtet außerhalb entlang der Seitenmauern wie kleine, ungeschützte Kapellen, die sich an den robusten Körper einer Kathedrale klammern. Die Häuser hatten zwei Türen, die normale Tür, die zur Straße hinführte, und eine zusätzliche, diskrete, fast unsichtbare Tür, die mit dem großen Schiff der Archive verband, was damals und viele Jahre lang als außerordentlich günstig angesehen wurde für das reibungslose Funktionieren der Behörde, da die Angestellten weder Zeit verschwenden mußten mit Hin- und Herfahrten durch die Stadt, noch sich entschuldigen konnten mit dem Verkehr, wenn sie zu spät kamen, um sich in die Anwesenheitsliste einzutragen. Abgesehen von diesen logistischen Vorteilen konnte man auf das einfachste überprüfen lassen, ob es der Wahrheit entsprach, wenn sich jemand krank gemeldet hatte. Unglücklicherweise zwang eine Änderung der Verwaltungskriterien, die städtische Anlage des Viertels betreffend, in dem das Zentrale Personenstandsregister sich befindet, die kleinen interessanten Häuser abzureißen, mit Ausnahme eines Hauses, das nach einem Beschluß der zuständigen Behörden als architektonisches Dokument einer Epoche und als Erinnerung an ein System der Arbeitsbeziehungen erhalten blieb, das, entgegen oberflächlicher Kritik der heutigen Zeit, auch seine guten Seiten hatte. In diesem Haus nun lebt Sr. José. Es war keine Absicht, man hatte ihn nicht ausgewählt als übriggebliebenen Bewahrer vergangener Zeiten, vielleicht war es einfach nur der Ort, an dem dieses Haus stand, denn es befand sich in einer Ecke, die die neue Stadtplanung nicht beeinträchtigen würde, also handelte es sich weder um eine Bestrafung noch um eine Auszeichnung, was Sr. José so oder so nicht verdiente, weder das eine noch das andere, sondern man erlaubte ihm einfach, weiter in dem Haus zu wohnen. Auf jeden Fall jedoch, als Zeichen dafür, daß die Zeiten sich geändert hatten, und um eine Situation zu vermeiden, die leicht als Privileg hätte interpretiert werden können, wurde die Verbindungstür zum Personenstandsregister dazu bestimmt, das heißt, Sr. José wurde dazu bestimmt, sie abzuschließen, und man teilte ihm mit, er solle sie nicht mehr benutzen. Aus diesem Grund betritt und verläßt Sr. José jeden Tag das Personenstandsregister durch die große Tür, wie jeder andere auch, selbst wenn das wütendste Unwetter über die Stadt hereinbricht. Es sei jedoch erwähnt, daß sein besonnener Geist sich erleichtert fühlt, da hier ein Prinzip der Gleichheit zugrunde liegt, wenn es auch in diesem Fall zu seinen Ungunsten ausfällt und er, um die Wahrheit zu sagen, es lieber sähe, wenn nicht immer er die Leiter hinaufsteigen müßte, um die Deckel der alten Akten auszuwechseln, vor allem, da er, wie gesagt, unter Höhenangst leidet. Sr. José besitzt die lobenswerte Zurückhaltung jener, die nicht herumgehen und sich über nervliche und psychologische Störungen beklagen, seien sie echt oder eingebildet, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er den Kollegen nie etwas von seinem Problem erzählt hat, andernfalls würden sie ihn sicher besorgt beobachten, während er dort oben steht, voller Angst, trotz der Sicherheit des Gürtels von den Stufen herunterzustürzen und ihnen auf den Kopf zu fallen. Als Sr. José schließlich auf den Erdboden zurückkehrt, noch leicht benommen und nach Kräften den letzten Schwindel vor den anderen Angestellten verbergend, den gleichgestellten ebenso wie den Vorgesetzten, kommt es ihnen überhaupt nicht in den Sinn, in welcher Gefahr sie geschwebt haben.

Jetzt ist der Augenblick gekommen zu erklären, daß Sr. José, obwohl er all diese Umwege auf sich nehmen muß, um in die Behörde zu gelangen und nach Hause zurückzukehren, die Verpflichtung zur geschlossenen Tür nur Genugtuung und Erleichterung bescherte. Er war nicht der Mensch, der Kollegen in der Mittagspause empfing, und, wenn er bisweilen krank gewesen war, dann hatte er sich aus eigenem Antrieb im Saal sehen lassen und dem Stellvertretenden Amtsvorsteher auf seiner Seite gezeigt, damit kein Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkäme und man ihm nicht den Amtsarzt zur Kontrolle ans Bett schickte. Mit dem Verbot, die Tür zu benutzen, waren die Möglichkeiten einer unerwarteten Einmischung in sein häusliches, zurückgezogenes Leben noch mehr reduziert worden, zum Beispiel in solchen Momenten, in denen er auf seinem Tisch das ausgebreitet hatte, was ihm seit vielen Jahren soviel Arbeit bereitete, nämlich seine wichtige Sammlung von Berichten über Personen des Landes, die, aus guten oder schlechten Gründen, berühmt geworden waren. Ausländer, so berühmt sie auch sein mochten, interessierten ihn nicht, ihre Papiere waren in fernen Personenstandsregistern archiviert, wenn sie auch dort so hießen, und waren in Sprachen verfaßt, die er nicht entziffern könnte, von Gesetzen angenommen, die er nicht kannte, selbst wenn er die allerhöchste Leiter benutzte, würde er sie nicht erreichen. Solche Menschen wie diesen Sr. José finden wir überall, sie verbringen ihre Zeit oder die Zeit, die ihnen nach ihrer Meinung in ihrem Leben zur Verfügung steht, damit, Briefmarken zu sammeln, Münzen, Medaillen, Krüge, Postkarten, Streichholzschachteln, Bücher, Uhren, Sport-T-Shirts, Autogramme, Steine, Tonfiguren, leere Getränkebüchsen, kleine Engel, Kakteen, Opernprogramme, Feuerzeuge, Stifte, Hocker, Spieluhren, Flaschen, Bonsais, Zeichnungen, Krüge, Becher, Pfeifen, Kristallobelisken, Porzellanenten, altes Spielzeug, Karnevalsmasken, wahrscheinlich tun sie das aus einer, wie wir es nennen könnten, metaphysischen Angst heraus, vielleicht, weil sie die Vorstellung des Chaos als einzigem Regenten des Universums nicht ertragen, und versuchen deshalb, mit ihren schwachen Kräften und ohne göttliche Hilfe, ein wenig Ordnung in die Welt zu bringen, für einige Zeit gelingt es ihnen, aber nur, solange sie ihre Sammlung verteidigen können, denn wenn der Tag kommt, an dem sie aufgelöst wird, und dieser Tag kommt immer, sei es durch den Tod oder durch die Ermüdung des Sammlers, kehrt alles an den Anfang zurück, alles gerät wieder durcheinander.

Nun, da diese Manie des Sr. José offenbar die allerunschuldigste ist, versteht man nicht, warum er so viele Vorsichtsmaßnahmen ergreift, damit niemand den Verdacht schöpfen kann, daß er Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften mit Berichten und Bildern berühmter Menschen sammelt und dies nur wegen ihrer Berühmtheit, zumal es ihm gleich ist, ob es sich um Politiker oder Generäle, um Schauspieler oder Architekten, Musiker oder Fußballspieler, Radfahrer oder Schriftsteller, Spekulanten oder Ballettänzerinnen, Mörder oder Bankiers, Betrüger oder Schönheitsköniginnen handelt. Nicht immer war er so heimlichtuerisch gewesen. Nun hatte er nie mit den wenigen Kollegen, zu denen er etwas Vertrauen hatte, über diese Art seiner Zerstreuung gesprochen, das hatte jedoch mit seiner zurückhaltenden Art zu tun und nicht mit der bewußten Befürchtung, sie könnten ihn der Lächerlichkeit preisgeben. So eifersüchtig besorgt um die Wahrung seiner Privatsphäre war er erst seit dem Abriß der Häuser, in denen die Angestellten des Personenstandsregisters gelebt hatten, oder, genauer gesagt, nachdem angekündigt worden war, daß er die Verbindungstür nicht mehr würde benutzen können. Es mochte sich schlicht um einen Zufall handeln, wie es so viele gibt, solange man keinen unmittelbaren Zusammenhang sieht zwischen dieser Tatsache und der Notwendigkeit so plötzlicher Geheimhaltung, es ist jedoch zur Genüge bekannt, daß der menschliche Geist oft Entscheidungen trifft, deren Gründe er nicht zu kennen scheint, woraus man schließen kann, daß er dies erst tut, nachdem er im Geist mit solcher Schnelligkeit Wege zurückgelegt hat, daß er im nachhinein diese nicht mehr wiedererkennen und noch viel weniger rekonstruieren kann. Ob so oder so, ob diese oder eine andere Erklärung zutrifft, Sr. José hatte eines Nachts zu fortgerückter Stunde, als er bei sich zu Hause ruhig an der Aktualisierung der Papiere eines Bischofs arbeitete, die Erleuchtung, die sein Leben verändern sollte. Es ist gut möglich, daß die plötzliche Besinnung auf das Personenstandsregister jenseits der dicken Wand, jene riesigen Regale, beladen mit Lebenden und Toten, die kleine blasse Lampe, die von der Decke über dem Tisch des Amtsvorstehers hing und Tag und Nacht eingeschaltet war, die dichte Finsternis, die die Korridore zwischen den Regalen erfüllte, die abgrundtiefe Dunkelheit, die im hinteren Teil des Schiffes herrschte, die Einsamkeit, die Stille, es ist also gut möglich, daß ihm all das auf einen Schlag durch die verblüffenden, hier schon erwähnten Wege des Geistes, klargemacht hatte, daß seinen Sammlungen etwas Grundsätzliches fehlte, das heißt, der Ursprung, die Wurzel, die Herkunft, in anderen Worten, schlichtweg der Eintrag der Geburt jener berühmten Menschen, denen er sich mit der Sammlung von Berichten über ihr öffentliches Leben gewidmet hatte. Er wußte zum Beispiel weder, wie die Eltern des Bischofs hießen, noch, wer die Taufpaten gewesen waren, noch, wo genau er geboren worden war, in welcher Straße, in welchem Gebäude, in welchem Stockwerk, und was das Geburtsdatum angeht, war es gewiß ein Zufall, wenn es in einem dieser Ausschnitte stand, nur der offizielle Eintrag im Personenstandsregister würde dies selbstverständlich wahrheitsgemäß bestätigen, nie dagegen eine aus der Presse aufgegriffene Information, wer weiß, wie genau diese war, der Journalist konnte sich verhört oder sie falsch abgeschrieben haben, der Korrektor konnte sie ins Gegenteil verkehrt haben, es wäre nicht das erste Mal, daß in der Geschichte des deleatur so etwas geschah. Die Lösung befand sich in seiner Reichweite. Die unerschütterliche Überzeugung des Amtsvorstehers, daß kraft des absoluten Gewichts seiner Autorität jeglicher Befehl aus seinem Munde mit größter Strenge und größter Sorgfalt ausgeführt würde, ohne das Risiko eigensinniger Konsequenzen oder willkürlicher Abweichungen seitens des Subalternen, der ihn erhalten hatte, war der Grund dafür, daß der Schlüssel zur Verbindungstür sich weiterhin im Besitz von Sr. José befand. Der es nie wagen würde, ihn zu benutzen, der ihn nie aus der Schublade nehmen würde, in der er ihn verwahrt hatte, wäre er nicht zu dem Schluß gekommen, daß seine Bemühungen als freiwilliger Biograph objektiv gesehen recht wenig Sinn hätten, wenn er nicht einen dokumentarischen Beweis oder eine beglaubigte Abschrift der Existenz, nicht nur der tatsächlichen, sondern auch der offiziellen, der betreffenden Personen beifügte.

Nun stelle man sich die nervliche Anspannung, die Aufregung vor, als Sr. José zum ersten Mal die verbotene Tür öffnete, den Schauder, der ihn am Eingang innehalten ließ, als hätte er den Fuß auf die Schwelle zu einer Kammer gesetzt, in der ein Gott begraben lag, dessen Macht, im Gegensatz zu dem, was überliefert ist, nicht von seiner Wiederauferstehung herrührte, sondern daher, daß er diese verweigert hatte. Nur tote Götter sind immer Götter. Die fabelhaften Umrisse der mit Papieren beladenen Regale schienen die unsichtbare Decke zu durchbrechen und in den schwarzen Himmel hinaufzusteigen, das schwache Licht über dem Schreibtisch des Amtsvorstehers wirkte wie ein entfernter, erstickter Stern. Obwohl er das Terrain genau kannte, auf dem er sich bewegte, begriff Sr. José, nachdem er sich einigermaßen wieder gefaßt hatte, daß er die Hilfe eines Lichtes benötigte, um nicht an die Möbel zu stoßen, vor allem jedoch, um ohne zu großen Zeitverlust an die Dokumente des Bischofs zu gelangen, erst die Karteikarte, dann die ihn betreffende Akte. In der Schublade, in der er den Schlüssel aufgehoben hatte, lag eine Taschenlampe. Er holte sie und ging dann, als hätte das Licht, das er bei sich trug, ihm neuen Mut gegeben, geradezu entschlossen durch die Tische hindurch bis zur Theke, unter der sich die große Kartei der Lebenden befand. Rasch fand er die Karteikarte des Bischofs, und er hatte Glück, daß die entsprechende Akte im Regal nicht weiter weg war als auf Armhöhe. Er brauchte also keine Leiter zu benutzen, überlegte jedoch besorgt, wie sein Leben wohl aussähe, wenn er in die oberen Regionen der Regale hinaufsteigen müßte, dort, wo der schwarze Himmel begann. Er öffnete den Schrank mit den Formularen, nahm eines von jeder Sorte heraus und kehrte in sein Haus zurück, ließ die Verbindungstür jedoch offen. Dann setzte er sich, und mit der noch zittrigen Hand übertrug er auf die leeren Formulare die persönlichen Daten des Bischofs, den vollständigen Namen, ohne einen Rufnamen oder einen Zusatz auszulassen, Datum und Ort der Geburt, die Namen der Eltern, die Namen der Paten, den Namen des Pfarrers, der ihn getauft hatte, den Namen des Beamten im Zentralen Personenstandsregister, der ihn eingetragen hatte, alle Namen. Als er diese kurze Arbeit beendet hatte, war er erschöpft, seine Hände schwitzten, ein Schauer lief ihm über den Rücken, er wußte sehr wohl, daß er eine Sünde wider den Geist der Beamtenschaft begangen hatte, in Wahrheit gibt es nichts, was einen Menschen mehr ermüdet, als gegen eine Abstraktion anzukämpfen, mehr als gegen den eigenen Geist. Mit der Entnahme jener Dokumente hatte er sich gegen Disziplin und Ethik, vielleicht sogar gegen das Gesetz vergangen. Nicht, weil die Informationen, die darin enthalten waren, geheim oder nicht allen zugänglich gewesen wären, das war nicht der Fall, denn jeder Mensch hätte im Personenstandsregister vorstellig werden und um Abschriften oder Beurkundungen der Dokumente des Bischofs bitten können, ohne die Gründe für eine solche Bitte und den Zweck ihrer Bestimmung zu nennen, sondern weil er die Kette der Hierarchie mißachtet hatte und ohne die erforderliche Anordnung oder Zustimmung eines Vorgesetzten vorgegangen war. Er erwog noch, alles zurückzulegen, sein widerrechtliches Vorgehen wiedergutzumachen, indem er die unerlaubten Abschriften zerriß und verschwinden ließ und den Schlüssel dem Amtsvorsteher übergab, Herr Amtsvorsteher, ich möchte keine Verantwortung dafür tragen, wenn irgend etwas in der Behörde fehlt, und nach vollbrachter Tat dann die Minuten zu vergessen, sozusagen sublime Minuten, die er gerade erlebt hatte. Jedoch empfand er vielmehr Genugtuung und Stolz, dies alles erfahren zu haben, das war das Wort, das er benutzte, alles, Alles aus dem Leben des Bischofs. Er betrachtete den Schrank, in dem er die Kästen mit der Sammlung seiner Ausschnitte verwahrte, lächelte aus innerstem Entzücken und dachte dabei an die Arbeit, die nun auf ihn wartete, an die nächtlichen Ausflüge, die geordnete Aufnahme der Karteikarten und Akten, das Kopieren in seiner besten Schrift, so glücklich fühlte er sich, daß nicht einmal der Gedanke an die Leiter, die er benutzen müßte, seine Stimmung beeinträchtigte. Er kehrte zurück in das Personenstandsregister und legte die Dokumente des Bischofs an ihren Platz. Und dann, mit einem Selbstvertrauen, das er noch nie in seinem ganzen Leben empfunden hatte, leuchtete er mit der Taschenlampe umher, als wollte er etwas in Besitz nehmen, das ihm schon immer gehört hatte, das er aber erst jetzt als das Seine erkennen konnte. Er hielt einen Augenblick inne, betrachtete den Schreibtisch des Chefs, verklärt durch das bläßliche Licht von der Decke, ja, das sollte er tun, sich auf jenen Stuhl setzen, ab heute wäre er der wahrhaftige Herr der Archive, nur er konnte, wenn er wollte, nachdem er die Tage hier verbringen mußte, aus eigenem Antrieb auch die Nächte hier verbringen, Sonne und Mond würden unermüdlich um das Zentrale Personenstandsregister kreisen, Welt und Zentrum der Welt. Um den Beginn von etwas anzukündigen, spricht man immer vom ersten Tag, wenn eigentlich die erste Nacht zählen müßte, sie ist die Vorbedingung für den Tag, die Nacht wäre ewig, käme nicht eine neue Nacht. Sr. José sitzt auf dem Stuhl des Amtsvorstehers und bleibt dort bis zum Morgengrauen, lauscht dem gedämpften Rauschen der Papiere der Lebenden über der dichten Stille der Papiere der Toten. Als die Beleuchtung der Stadt erlosch und die fünf Fenster über der großen Tür in einem dunklen Grau erschienen, erhob er sich von dem Stuhl, betrat sein Haus und schloß die Verbindungstür hinter sich. Er wusch sich, rasierte sich, frühstückte, legte die Papiere des Bischofs getrennt beiseite, zog seinen besten Anzug an, und als es Zeit war, ging er durch die andere Tür, die zur Straße, einmal um das Gebäude herum und betrat das Personenstandsregister. Keinem der Kollegen fiel auf, wer eingetroffen war, alle antworteten wie üblich auf die Begrüßung, sagten, Guten Tag, Sr. José, und wußten nicht, mit wem sie es zu tun hatten.

Glücklicherweise gibt es nicht so viele berühmte Menschen. Selbst wenn man wie Sr. José nach Kriterien verfährt, die so eklektisch und großzügig sind, was die Auswahl und den repräsentativen Charakter angeht, ist es nicht leicht, besonders, wenn es sich um ein kleines Land handelt, ein rundes Hundert wirklich berühmter Persönlichkeiten zu versammeln, ohne auf die saloppe Herangehensweise jener Anthologien der hundert besten Liebessonette oder der hundert schmerzlichsten Elegien zu verfallen, angesichts derer es uns unbenommen bleibt zu vermuten, daß die letzten, die ausgewählt wurden, nur Eingang fanden, um die runde Summe zu erreichen. In ihrer Gesamtheit betrachtet übertraf die Sammlung von Sr. José bei weitem die Hundertschaft, aber für ihn wie für den Herausgeber einer Anthologie von Elegien und Sonetten, war die Zahl Hundert eine Grenze, ein Limit, ein nec plus ultra, oder, um es populärer auszudrücken, wie eine Literflasche, die nie, auch wenn man es noch so gern möchte, mehr als einen Liter Flüssigkeit fassen kann. Diesem Verständnis folgend, glauben wir, könnte man dem relativen Charakter des Ruhms eine dynamische Eigenschaft zuschreiben, zumal die Sammlung von Sr. José notwendigerweise in zwei Teile zerfällt, das heißt, auf der einen Seite die hundert berühmtesten, auf der anderen Seite jene, die es noch nicht so weit gebracht haben, sie also in ständiger Bewegung ist in jenem Bereich, den wir nun Grenze genannt haben. Der Ruhm, weh uns, ist ein Luftzug, der ebenso kommt, wie er geht, eine Wetterfahne, die sich ebenso nach Norden wie nach Süden dreht, und so, wie es geschehen kann, daß ein Mensch aus der Anonymität zur Berühmtheit gelangt, ohne recht zu wissen, warum, so ist es auch nicht selten, daß jemand, der sich selbstgefällig in der Öffentlichkeit bewegt hat, plötzlich nicht mehr weiß, wie er heißt. Wenn man diese traurigen Wahrheiten auf die Sammlung von Sr. José anwendet, begreift man, daß es auch darin glorreichen Aufstieg und dramatischen Abstieg gab, einer trat aus der Reservegruppe in die Gruppe der Aktiven, ein anderer paßte schon nicht mehr in die Flasche und mußte hinausgeworfen werden. Die Sammlung von Sr. José ist dem Leben sehr ähnlich.

Mit großer Ausdauer arbeitend, bisweilen bis spät in die Nacht, sogar bis zum Morgengrauen, mit vorhersehbaren negativen Folgen für seine Leistungsfähigkeit, die er während der normalen Arbeitszeit einzusetzen hatte, beschloß Sr. José in weniger als zwei Wochen die Aufnahme und Übertragung der Herkunftsdaten in die jeweiligen Akten der hundert berühmtesten Personen seiner Sammlung. Er erfuhr Augenblicke unbeschreiblicher Panik, jedesmal, wenn er sich auf die letzte Sprosse der Leiter hocken mußte, um die obersten Regale zu erreichen, wo, als leide er nicht schon genug an Höhenangst, alle Spinnen des Zentralen Personenstandsregisters beschlossen zu haben schienen, die dichtesten, staubigsten und klebrigsten Netze zu spinnen, die je ein menschliches Gesicht gestreift hatten. Sein Widerwille oder, dramatischer gesprochen, sein Entsetzen, führten dazu, daß er wie wild mit den Armen fuchtelte, um den ekligen Kontakt zu vermeiden, nur gut, daß er mit dem Gürtel fest an die Sprossen der Leiter geschnallt war, aber es gab Augenblicke, in denen nur wenig gefehlt hätte und er Hals über Kopf nach unten gestürzt wäre, inmitten eines triumphalen Papierregens und eine Wolke historischen Staubes mit sich reißend. In einem dieser quälenden Augenblicke dachte er sogar daran, sich loszubinden und das Risiko eines ungeschützten Sturzes einzugehen, und zwar, als er sich vorstellte, welche Schande für immer seinen Namen und sein Gedächtnis beflecken würde, wenn der Chef eines Morgens hereinkäme und ihn fände, ihn, Sr. José, zwischen zwei Regalen, tot, mit zerschlagenem Schädel und hervorquellendem Hirn, lächerlich an die Leiter geschnallt mit einem Gürtel. Dann bedachte er, daß sich loszubinden ihn zwar von der Lächerlichkeit befreien mochte, nicht jedoch vom Tod, und daß es sich deshalb nicht lohnte. Gegen die furchtsame Natur ankämpfend, mit der er auf die Welt gekommen war, entwickelte und perfektionierte er gegen Ende seiner Aufgabe, obwohl er folglich die Arbeit fast im Dunkeln verrichten mußte, eine Technik, die Akten zu lokalisieren und zu handhaben, was ihm gestattete, in wenigen Sekunden die Dokumente herauszunehmen, die er brauchte. Als er zum ersten Mal den Mut hatte, den Gürtel nicht zu benutzen, war dies wie ein unsterblicher Sieg in dem so überaus bescheidenen Lebenslauf eines Amtsschreibers. Er fühlte sich erschöpft, übernächtigt, verspürte ein Kribbeln im Magen, war jedoch, nach eigener Erinnerung, so glücklich wie nie zuvor, als die hundertste Berühmtheit klassifiziert, nach allen Regeln des Zentralen Personenstandsregisters identifiziert war und ihren Platz in dem entsprechenden Kasten einnahm. Da dachte Sr. José, daß ihm nach so großer Anstrengung eine Ruhepause guttäte, und da das Wochenende am nächsten Tag begann, beschloß er, die folgende Arbeitsphase auf den Montag zu verlegen, das heißt, die gut vierzig Berühmten, die noch ihrer Aufnahme harrten, vorschriftsmäßig einzutragen. Er träumte nicht davon, daß ihm etwas viel Ernsteres zustoßen könnte, als einfach von einer Leiter zu fallen. Die Folge des Sturzes könnte sein Leben beenden, was zweifelsohne bedeutsam wäre von einem statistischen und persönlichen Standpunkt aus gesehen, aber was besagt das schon, fragen wir uns, wenn das Leben biologisch immer dasselbe ist, das heißt, dasselbe Wesen, dieselben Zellen, dieselben Gesichtszüge, dieselbe Statur, dieselbe Art zu sehen und zu beobachten, und ohne daß die Statistik diese Wandlung hätte wahrnehmen können, dieses Leben ein anderes Leben würde, und ein anderer Mensch dieser Mensch.

Es fiel ihm schwer, die ungewohnte Langsamkeit zu ertragen, mit der die beiden Tage sich dahinschleppten, jener Samstag und Sonntag, sie erschienen ihm ewig. Er verbrachte die Zeit damit, Berichte aus Zeitungen und Zeitschriften auszuschneiden, bisweilen öffnete er die Verbindungstür, um das Zentrale Personenstandsregister in seiner ganzen schweigsamen Majestät zu betrachten. Er fühlte, daß er seine Arbeit mehr denn je liebte, es war ihr zu verdanken, daß er in die Intimität so vieler berühmter Menschen hatte vordringen können, um zum Beispiel Dinge zu erfahren, die manche von ihnen unbedingt geheimhalten wollten, wie zum Beispiel, daß sie Kinder eines unbekannten Vaters oder einer unbekannten Mutter waren oder daß beide Eltern unbekannt waren, wie im Fall eines dieser Menschen, oder daß sie sagten, sie stammten aus diesem oder jenem Bezirk, wenn sie in Wahrheit an einem verlassenen Ort geboren waren, an einer Kreuzung unaussprechlichen Nachklangs, wenn es nicht überhaupt ein Fleck gewesen war, der nach Dung und Pferdestall roch und der ebensogut ohne Namen auskommen konnte. Mit solchen und anderen, ähnlich skeptischen Überlegungen kam Sr. José am Montag zurück, recht erholt von den übermäßigen Anstrengungen, die er hinter sich hatte, dennoch entschlossen, trotz der unvermeidlichen nervlichen Anspannung, verursacht durch ein Wollen und Sollen in ständigem Konflikt, sich weiteren nächtlichen Exkursionen und verwegenen Aufstiegen auszusetzen. Der Tag wurde ihm jedoch gleich morgens versäuert. Der Stellvertretende Amtsvorsteher, dem die Verwaltung des Materiallagers unterstand, berichtete dem Amtsvorsteher, er habe in den vergangenen Wochen einen übermäßigen Verbrauch von Karteikarten und Aktendeckeln bemerkt, der, selbst wenn man eine bestimmte, verwaltungsmäßig zulässige Zahl irrtümlich ausgefüllter Materialien einkalkulierte, nicht der Anzahl der im Personenstandsregister registrierten Neugeborenen entsprach. Der Amtsvorsteher wollte wissen, welche Maßnahme der Untergebene ergriffen hatte, um eine derart ungewöhnliche Unregelmäßigkeit im Verbrauch zu ergründen, und welche Maßnahmen er zu ergreifen gedachte, damit diese Gegebenheit sich nicht wiederholte. Der Stellvertretende Amtsvorsteher erklärte behutsam, daß er bisher noch nichts unternommen, sich auch nicht erlaubt hatte, hierüber nachzudenken und noch viel weniger eine Initiative zu ergreifen, bevor er den Fall nicht dem Vorgesetzten vorgetragen hatte, wie er es in diesem Augenblick tat. Der Amtsvorsteher entgegnete, trocken wie immer, Das haben Sie getan, jetzt handeln Sie, und ich möchte nicht wieder damit behelligt werden. Der Stellvertretende Amtsvorsteher ging zu seinem Tisch, um nachzudenken, und nach einer Stunde legte er dem Amtsvorsteher den Entwurf einer internen Mitteilung vor, derzufolge der Formularschrank nun abgeschlossen und der Schlüssel immer in seinem, des verantwortlichen Verwalters, Besitz bleiben würde. Der Amtsvorsteher schrieb, Einverstanden, der Stellvertretende Amtsvorsteher schloß den Schrank ostentativ ab, damit alle die Veränderung wahrnahmen, und Sr. José seufzte nach dem ersten Schreck vor Erleichterung auf, da er Zeit gehabt hatte, den wichtigsten Teil seiner Sammlung zu vollenden. Er versuchte sich nun zu erinnern, wie viele Karteikarten er noch zu Hause in Reserve hatte, vielleicht zwölf, vielleicht fünfzehn. Das war nicht weiter schlimm. Wenn sie ausgingen, würde er auf einem einfachem Blatt Papier die dreißig abschreiben, die ihm noch fehlten, der Unterschied wäre nur ein ästhetischer, Nicht immer kann man alles haben, dachte er, um sich zu trösten.

Es gab keinen Grund, warum man ihn als möglichen Verantwortlichen für das Verschwinden der Formulare mehr in Verdacht haben sollte als jeden anderen der gleichgestellten Kollegen, zumal nur sie, die Amtsschreiber, die Karteikarten und Aktendeckel beschrieben, aber seine schwachen Nerven ließen Sr. José jeden Tag befürchten, daß die Erschütterungen seines schlechten Gewissens von außen wahrgenommen und registriert werden könnten. Dennoch verließ er unbeschadet das Verhör, dem er unterzogen worden war. Mit einem Gesichtsausdruck und einer Stimme, die er der Situation anzupassen versuchte, erklärte er, er wende äußerste Sorgfalt in der Nutzung der Formulare an, erstens, weil dieses Vorgehen seiner Natur entspräche, doch vor allem, weil ihm allzeit gegenwärtig sei, daß das in der Behörde verbrauchte Papier mit öffentlichen Geldern bezahlt werde, die so viele, viele Male unter Opfern von den Steuerzahlern entrichtet würden, und daß er als gewissenhafter Angestellter die ausdrückliche Pflicht habe, dies zu achten und nichts zu verschwenden. Von Inhalt und Form her fand diese Erklärung das Wohlgefallen der Vorgesetzten, so daß auch die Kollegen, die herbeizitiert und befragt wurden, diese mit winzigen stilistischen Abweichungen wiederholten, doch es lag vor allem an der stillschweigenden und allgemeinen Überzeugung, die das Personal dank der besonderen Persönlichkeit des Amtsvorstehers verinnerlicht hatte, daß nichts im Amt, es mochte geschehen, was wollte, den Interessen der dort verrichteten Arbeit zuwiderlaufen dürfe, daß niemand bemerkte, daß Sr. José seit seinem Jahre zurückliegenden ersten Arbeitstag noch nie so viele Wörter hintereinander gesprochen hatte. Wäre der Stellvertretende Amtsvorsteher in der erhellenden Methode angewandter Psychologie bewandert gewesen, wäre die trügerische Rede von Sr. José im Handumdrehen zusammengefallen wie ein Kartenhaus, in dem der Pik-König ins Schwanken gerät wie ein Mann, der zu Schwindeln neigt und auf einer Leiter steht, an der jemand rüttelt. Da er befürchtete, daß der Stellvertretende Amtsvorsteher, der das Verhör geleitet hatte, im nachhinein doch noch vermuten könnte, da sei eine Katze hinter dem Ofen versteckt, deren Schwanz noch zu sehen war, beschloß Sr. José, um größere Übel zu verhindern, diese Nacht zu Hause zu bleiben. Er würde sich nicht aus seiner Ecke herauswagen, nicht in das Personenstandsregister gehen, selbst wenn man ihm das unerhörte Glück in Aussicht stellte, das meistgesuchte Dokument der Welt zu entdecken, seit die Welt eine Welt ist, nicht mehr und nicht weniger als die offizielle Beurkundung der Geburt Gottes. Weisheit soll Klugheit zur Dienerin haben, heißt es, und wenn sie auch bedauerlicherweise unbestimmt und undefinierbar ist, muß man doch zugeben, daß in Sr. José, trotz der Unregelmäßigkeiten, die er in letzter Zeit begangen hat, eine gewisse unfreiwillige Weisheit anzutreffen ist, so als sei sie über die Atemwege in seinen Körper eingedrungen oder habe ihn berührt, weil die Sonne ihm auf den Kopf schien, weshalb derlei Weisheit keinen besonderen Beifall verdient. Wenn nun die Klugheit ihm zum Rückzug riet, dann würde er weise der Stimme der Klugheit folgen. Eine oder zwei Wochen Stillstand in den Nachforschungen würden helfen, jede Spur von Angst oder Sorge auf seinem Gesicht zu tilgen, die dort noch zu finden wäre.

Nach einem äußerst bescheidenen Abendessen, wie er es gewohnt war und seine Verhältnisse es verlangten, hatte Sr. José nun einen Abend ohne Aufgabe vor sich. Eine halbe Stunde gelang es ihm noch, sich abzulenken und in einigen der berühmtesten Lebensläufe seiner Sammlung zu blättern, er fügte ihnen noch einige neuere Ausschnitte hinzu, aber seine Gedanken waren nicht dort, sie streiften durch die Dunkelheit des Personenstandsregisters wie ein schwarzer Hund, der die Spur eines letzten Geheimnisses aufgenommen hat. Nun überlegte er, daß es keinerlei Gefahr bedeutete, wenn er einfach die Karteikarten, die er in Reserve hatte, verwendete, auch wenn es nur drei oder vier waren, um noch ein wenig vom Abend zu nutzen und danach ruhig zu schlafen. Die Vorsicht versuchte, ihn zurückzuhalten, am Ärmel zu packen, aber, wie jeder weiß oder wissen müßte, ist die Vorsicht nur tauglich, wenn es darum geht, das zu bewahren, was nicht mehr interessiert, was sollte ihm schon geschehen, wenn er die Tür öffnete, schnell drei oder vier Karteikarten heraussuchte, vielleicht auch fünf, eine rundere Zahl, und die Aktendeckel würde er für eine andere Gelegenheit aufheben, so brauchte er die Leiter nicht zu benutzen. Vor allem dieser Gedanke bestärkte ihn in seinem Entschluß. Er leuchtete sich den Weg mit der Taschenlampe in der zitternden Hand, betrat die riesige Höhle des Personenstandsregisters und ging auf die Karteikästen zu. Nervöser, als er zunächst gedacht hatte, wandte er den Kopf zur einen und zur anderen Seite, als glaubte er sich beobachtet von Tausenden im Dunkel der Korridore zwischen den Regalen verborgener Augen. Noch hatte er sich nicht vom Schock des Morgens erholt. So schnell seine aufgeregten Finger es ihm erlaubten, öffnete und schloß er Schubladen, suchte unter den verschiedenen Buchstaben des Alphabets die Karteikarten, die er brauchte, irrte sich das eine oder andere Mal, bis er schließlich die ersten fünf Berühmtheiten der zweiten Kategorie beisammen hatte. Nun wirklich schreckerfüllt, rannte er zurück in sein Haus, mit klopfendem Herzen, wie ein Kind, das aus der Speisekammer eine Süßigkeit gestohlen hat und nun von dort zurückkehrt, verfolgt von allen Gespenstern der Finsternis. Er schlug ihnen die Tür ins Gesicht und drehte den Schlüssel zweimal um, er wollte nicht daran denken, daß er in dieser Nacht noch einmal zurückkehren müßte, um die verflixten Karteikarten an ihren Platz zurückzubringen. Zur Beruhigung trank er einen Schluck Branntwein aus einer Flasche, die er für bestimmte Gelegenheiten, gute wie schlechte, aufbewahrte. Vor lauter Eile und aus mangelnder Gewohnheit, denn in seinem unbedeutenden Leben waren das Gute wie das Schlechte selten gewesen, verschluckte er sich, hustete, hustete noch einmal, erstickte fast, ein ärmlicher Amtsschreiber, der fünf Karteikarten in der Hand hielt, zumindest glaubte er, es seien fünf, durch die Hustenanfälle hatte er sie fallen lassen, und es waren nicht fünf, sondern sechs, über den Boden verstreut, wie jeder sehen und nachprüfen kann, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, ein einziger Schluck Branntwein hat noch nie eine solche Wirkung gehabt.

3636