Cover

Jutta Profijt

Allein kann ja jeder

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Jutta Profijt

Jutta Profijt wurde gegen Ende des Babybooms geboren. Nach einer kurzen Flucht ins Ausland kehrte sie ins Rheinland zurück und arbeitete als Projektmanagerin im Maschinenbau. Heute schreibt sie erfolgreich Bücher und lebt mit ihrem Mann und allerlei Haustieren auf dem Land. In dem Fortsetzungsband ›Zusammen ist kein Zuckerschlecken‹ (dtv 26106) stellt sie die Wohngemeinschaft in der Villa vor neue Herausforderungen.

Mehr über die Autorin unter www.juttaprofijt.de

Über das Buch

Ellen (46), Rosa (71), Kim (13), Hans (56), Konrad (72) und Mardi (14). Was haben diese Menschen miteinander zu tun? Sie wohnen unter einem Dach. Und zwar nicht ganz freiwillig und aus sehr unterschiedlichen Beweggründen. Aus der Not heraus haben sie eine heruntergekommene alte Villa besetzt und versuchen nun, jeder auf seine Art, mit dieser Situation klarzukommen. Zwei von ihnen sind Mütter, die ihre Kinder nicht immer verstehen; zwei sind Töchter, die eigentlich nicht mehr mit ihren Müttern zusammenwohnen wollen; einer ist nicht das, was er vorgibt; einer ist eigentlich gar nicht da; drei sind verliebt; einer wird schmerzlich vermisst. Geheimnisse gibt es hier viele, und so manches wird gelüftet. Aber der Mörder ist garantiert nicht der Gärtner …

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2016

© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42629-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21649-4

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423426299

Prolog

»Mutter, was willst du hier?«, fragte Ellen verwundert und schaute auf das halb offen stehende Gartentor, hinter dem sich ein fast zugewucherter Weg durch einen verwilderten, parkähnlichen Garten auf eine alte Villa zuschlängelte.

»Wohnen«, sagte Rosa lapidar, während sie sich ebenso streckte wie Ellen. Nein, dachte Ellen, nicht ebenso. Ihre einundsiebzigjährige Mutter Rosa praktizierte seit vierzig Jahren Yoga und das merkte man. Ihre Bewegungen waren fließend und wirkten, als wisse sie genau, in welche Richtung sie Arme und Schultern dehnen musste, um das optimale Resultat zu erzielen. Ellen war fünfundzwanzig Jahre jünger als ihre Mutter und kam sich trotzdem alt und steif neben ihr vor.

»Mutter, dieses Haus ist eine …«

»Bevor du das Wort Ruine wieder in den Mund nimmst, sieh es dir erst mal an. Oder warst du bereits drin?«

»Natürlich nicht«, ereiferte sich Ellen. »Ich betrete keine fremden …«

»Es ist nicht fremd, es gehört mir.«

Abermals hörte Ellen das Blut in ihren Ohren rauschen. Dieser Tag war zu viel. Die ganze Woche war grässlich gewesen. Sie hatte schlecht geschlafen, war immer früh aufgestanden, hatte ihr Arbeitspensum nicht geschafft, dann heute der Anruf ihrer Mutter, über den sie sich erst fürchterlich geärgert hatte, um dann trotzdem zwei Stunden lang unter Rosas chaotischer Anleitung Möbelstücke, Kleidung und Kartons in ein mehr als schrottreifes Auto zu packen.

»Was hast du geraucht?«, fragte Ellen.

»Leo hat bestätigt, dass der Notarvertrag rechtmäßig sei. Das heißt, dass ich einen Eigentumsanteil an der Immobilie besitze, die auf diesem Grundstück steht. Natürlich ist im Vertrag von einer neuen Immobilie die Rede, aber solange die nicht existiert, nehme ich eben, was da ist. Und davon gehört mir ein Anteil in Höhe meiner Investition.«

Ellen starrte ihre Mutter einen Moment sprachlos an, dann ging ihr ein Licht auf. »Du sprichst von diesem … Haus?«

»Das habe ich dir doch gerade erklärt«, sagte Rosa.

»Du willst dieses Haus besetzen?«

»Es wäre nicht das erste Mal«, sagte Rosa zufrieden.

»Mutter! Die wilden Siebziger sind vorbei.«

» Meine fangen gerade erst an.«

»Es stimmt also, was der Volksmund sagt«, murmelte Ellen fassungslos. »Je oller, je doller.«

»Was damals gut war, ist heute nicht falsch«, entgegnete Rosa.

»Gut?«, rief Ellen empört. »Das sehe ich anders.« Sie erinnerte sich nicht gern daran. Sie selbst war fünf oder sechs gewesen. Rosa hatte wegen eines Streits die WG, in der sie mit ihrer Tochter gelebt hatte, bei Nacht und Nebel verlassen und sich einer Hausbesetzergruppe angeschlossen. Rosa hatte versucht, Ellen diese Zeit als Abenteuerurlaub schmackhaft zu machen, aber tatsächlich war dieser Winter damals in einem Haus ohne Toiletten, warmes Wasser und Heizung eine einzige Zumutung gewesen.

»Mutter, du hast hier keinen Strom, kein Telefon …«

»Für ein Handy braucht man keinen Anschluss.«

»Du hast kein Handy, Mutter. Und selbst wenn – du bräuchtest eine Steckdose, um den Akku aufzuladen.«

Rosa stutzte. Ellen meinte bereits, einen Punkt für sich verbucht zu haben, als Rosa abwinkte. »Nun, das wird sich regeln lassen.«

Genau das hatte Ellen kürzlich auch gedacht. Vor ziemlich genau siebzehn Tagen, als Jens ihr die Hiobsbotschaft überbrachte. Und zwar telefonisch. Da hatte alles angefangen …

1

»Wir sind obdachlos?«

Ellen bemerkte selbst, dass ihre Stimme diesen schrillen Ton hatte, den Jens gar nicht leiden konnte. Allerdings waren die Vorlieben ihres Exmannes gerade ihr geringstes Problem.

»Werd jetzt bitte nicht hysterisch, Ellie.«

Sie hatte es immer schon gehasst, wenn er sie Ellie nannte. In diesem Moment kam ihr das gelegen, denn ihre aufsteigende Hysterie verwandelte sich in Wut – eiskalt wie ein guter Wodka. Der Vergleich gefiel ihr, den musste sie sich merken und im nächsten Roman verwenden.

»Wir haben eine Vereinbarung«, sagte Ellen schneidend. »Kim und ich bleiben hier wohnen, bis …«

»Ich werde Vater.«

Ellens Finger krallten sich fester um den altmodischen Hörer, ein kalter Schweißfilm legte sich zwischen ihre Hand und das schwarze Bakelit, und plötzlich fühlte sich die liebevoll restaurierte Antiquität wie ein glitschiger Fisch an. Sie wechselte den Hörer in die andere Hand.

»Ich habe schon einen Interessenten für das Haus, aber sicherheitshalber auch eine Anzeige im Internet aufgegeben«, fuhr Jens fort. »Ich schicke dir den Link. Wenn du noch Änderungswünsche hast, kannst du mir die mailen.«

»Ach«, entfuhr es Ellen. Ein Geräusch, wie wenn aus einem bereits schlabberigen Luftballon mit einem letzten Pffft sämtliche Luft entweicht. So wollte sie aber nicht klingen, um gar keinen Preis, deshalb zwang sie die Wut zurück in ihre Stimme. »Ich fasse es nicht! Das nennt sich also Vaterliebe. Jetzt, da du ein neues Kind bekommst, setzt du das alte auf die Straße? Oder was glaubst du, wo wir wohnen werden, deine Tochter und ich?«

Jens schickte ein leises Seufzen durch den Hörer, dieses Geräusch des unschuldig gepeinigten, vom Schicksal geprüften, aber sein schweres Los duldsam ertragenden Ehegatten, als den er sich selbst gern darstellte. Ellen konnte vor ihrem geistigen Auge förmlich sehen, wie ihr Blutdruck in die Höhe schoss, ähnlich dem Zeiger beim Hau-den-Lukas.

»Bei deiner Mutter ist doch Platz satt.«

Dinggggggg!, hörte Ellen in Gedanken die Glocke der imaginären Jahrmarktattraktion läuten. Sie lachte rau. »Jetzt weiß ich, dass du mich wirklich hasst, sonst würdest du mir diese Folter nicht ernsthaft vorschlagen.«

»Wenn du kindisch wirst, lege ich auf«, erwiderte Jens und legte auf, ohne ihre Reaktion abzuwarten.

Ellen knallte den Hörer auf die Gabel und erwischte sich selbst bei dem Gedanken, dass diese Geste so viel befriedigender war als das Antippen des Hörersymbols auf einem Handy. Dann stellte sie sich vor, wie sie den Hörer wieder in die Hand nahm, die Nummer ihrer Mutter wählte und um Asyl bat. Sie griff nach dem Apparat, nahm ihn vom Tisch und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand.

 

Eine halbe Stunde später hatte Ellen das Telefon erst auseinandergenommen und dann sorgfältig wieder zusammengesetzt. Darin war sie inzwischen richtig gut. Nach erfolglosen Versuchen, ihre Seelenruhe und Ausgeglichenheit in Meditation, Mandala-Malen und Yoga zu finden, war sie eines Tages zufällig in einem Repair-Café gelandet und hatte so das Reparieren für sich entdeckt. Das entpuppte sich als äußerst effektiv und war auch noch ziemlich praktisch für eine frisch geschiedene Frau. Und auf jeden Fall billiger als ein Therapeut.

Während Ellen an dem unverwüstlichen Telefon herumbastelte, verebbte ihre Wut und ihr Verstand meldete sich zurück. Der Verkauf des gemeinsamen Hauses, den ihr Exmann beschlossen hatte, würde ihr nicht viel Geld bringen. Zunächst musste die Hypothek getilgt werden. Von der Summe, die danach übrig blieb, ging die Hälfte an Jens. Zwanzigtausend hätte sie im besten Fall zu erwarten. Falls Jens es sehr eilig hatte und auf das erstbeste Angebot einging, eher weniger.

Mit ihren Honoraren, dem Kindergeld und Unterhalt hatte sie ein Einkommen, mit dem Kim und sie gerade so über die Runden kamen. Auf jeden Fall zu wenig, um sich ein anderes Haus zu kaufen. Selbst für eine Eigentumswohnung würde es nicht reichen, jedenfalls für keine, die ihren Ansprüchen genügen könnte. Drei Zimmer waren das Minimum, vorausgesetzt, sie würde ihren Schreibtisch ins Schlafzimmer stellen. Dabei hasste sie es, neben dem Bett zu arbeiten, genauso wie sie es hasste, neben dem Schreibtisch zu schlafen. Aber vier Zimmer waren nun mal nicht drin, vermutlich auch kein Balkon, von einem Garten ganz zu schweigen. Jedenfalls nicht in akzeptabler Entfernung von Kims Schule.

 

Meine Romanheldin würde einen Ausweg finden, ging ihr durch den Kopf, während sie sich im Badezimmer kaltes Wasser ins ungeschminkte Gesicht warf und ihr Spiegelbild einer kritischen Betrachtung unterzog. In ihr kastanienbraunes schulterlanges Haar hatten sich bereits einzelne Silberfäden gemischt, die Fältchen um Augen und Mund waren deutlich erkennbar, und bestimmt hatte sie von ihren ein Meter siebzig Körpergröße bereits etliche Zentimeter eingebüßt, denn ihre Haltung war irgendwie schlaffer geworden und die Schultern deutlich nach vorn gesackt. Sie seufzte. Ein neuer Haarschnitt, eine Tönung, vernünftiges Make-up und regelmäßiger Sport waren das Mindeste, das sie in Angriff nehmen musste, wenn sie nicht bald zehn Jahre älter aussehen wollte, als sie wirklich war.

Jede Heldin der Heftchenromane, von denen Ellen alle zwei Wochen einen ablieferte, erlebte eine Situation wie die, in der ihre Schöpferin sich jetzt befand. Schicksalsschläge, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl zu versagen, vor den Trümmern des eigenen Lebens zu stehen und keinen Ausweg zu finden. Aber der Ausweg offenbarte sich dann doch, die Hoffnung starb zuletzt und am Schluss wurde jede Geschichte von einem Happy End gekrönt. Im Heftchenroman. In der Realität leider nicht.

Aus diesem Grund würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als gleich zu Rosa, ihrer Mutter, die nicht Mutter genannt werden wollte, weil es sie alt mache, zu fahren und um Asyl zu bitten. Passenderweise war Rosa am Vorabend von einem dreitägigen Seminar aus Haltern am See zurückgekehrt. Lachyoga, wenn Ellen sich nicht täuschte. Das würde ihr allerdings auch nichts nützen, denn Ellen war bereit, ein komplettes Honorar darauf zu verwetten, dass ihrer Mutter angesichts der unerwarteten Neuigkeit das Lachen im Halse stecken bleiben würde.

***

»Zwei Stunden Physik, ich ertrage es nicht«, stöhnte Kim.

Jenny nickte. »Lass uns blaumachen«, schlug sie vor. »In der Ehrenrunde gibt es heute Schokokuchen.«

Kim zögerte. Die Verlockung des legendären Schokoladenkuchens stand gegen das Risiko, entdeckt zu werden, denn das unmittelbar neben der Schule gelegene Café Ehrenrunde wurde regelmäßig von Lehrern nach Schwänzern gefilzt. Sie war noch unentschlossen, als sie ein Kitzeln am Ohr spürte.

»Diese Physikstunde solltet ihr nicht verpassen, Mädels«, raunte Tarik so nah an Kims Ohr, dass ihr schwindelig wurde. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Als sie sich zu ihm umdrehte, war er schon weitergegangen.

Jenny riss die Augen auf. »Hast du was mit dem?«

Kim spürte, dass ihre Wangen glühten, und sie verfluchte ihre blasse Haut, auf der jeder hektische rote Fleck doppelt ins Auge fiel.

»Quatsch!«

Leider, fügte sie in Gedanken hinzu. Welches Mädchen hätte nicht gern etwas mit Tarik gehabt? Er war ein Jahr älter als der Rest der Klasse und sah fantastisch aus mit seinen blauschwarzen, lockigen Haaren, der milchkaffeebraunen Haut und den breiten Schultern. Der absolute Hingucker waren allerdings die grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln.

»Dieser Psycho ist echt unheimlich«, seufzte Jenny.

Natürlich meinte sie nicht Tarik, sondern den Physiklehrer. Wie aufs Stichwort betrat Hans Seefeld das Klassenzimmer. Als er seine Tasche auf dem Pult abstellte, schlug der Gong zur dritten Stunde. Zehn Minuten später explodierte die Bombe.

 

Kim stand vorn am Lehrerpult und bemühte sich, den Versuchsaufbau nach den Anweisungen, die Seefeld an die Tafel gezeichnet hatte, hinzukriegen. Sie hasste es, so nah an Seefeld herankommen zu müssen, konnte aber gar nicht so genau sagen, warum. Er war nicht schmuddelig, wie der olle Mörring, der Geschichte unterrichtete und immer Flecken seines Frühstücks auf dem gelben Pullunder hatte. Er roch nicht unangenehm wie Frau Rosentreter, die wahre Biotope unter ihren Achseln züchtete und Deo offenbar für Teufelszeug hielt. Und er war nicht anzüglich wie der Typ, der im letzten Schuljahr vertretungsweise Mathe gegeben, dann aber von einem Tag auf den anderen die Schule wieder verlassen hatte. Seefeld war anders. Er war immer so … steif. Er bewegte sich, als hätte er einen Stock verschluckt, sprach ausschließlich im Kommandoton und kannte keine Toleranz. Nicht bei der Pünktlichkeit, nicht bei den Hausaufgaben, nicht im Umgang miteinander. Er siezte die Schülerinnen und Schüler und redete sie mit Nachnamen an, obwohl das in der siebten Klasse eigentlich nicht üblich war. Kim hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich ein rotes Lämpchen an Seefelds Stirn aufgeleuchtet und einen niedrigen Batteriestatus angezeigt hätte. Sie unterdrückte ein Kichern, als sie sich Seefeld als Cyborg vorstellte, der gelegentlich ein Auge herausnahm, um es neu zu verdrahten. Er sollte auch mal seine soziale Programmierung updaten lassen, dachte Kim und überprüfte mit einem schnellen Blick, ob sie alles korrekt aufgebaut hatte. Schien okay zu sein.

Kim schaute zu Seefeld, der ihre Bemühungen reglos mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtet hatte. Er schüttelte den Kopf und öffnete den Mund – dann brachte der Donnerknall die Welt zum Einsturz.

Kim spürte noch, wie ihr die Beine weggezogen wurden und sie zu Boden ging, aber sie spürte keinen Aufprall. Im nächsten Moment fand sie sich in embryonaler Schutzhaltung auf dem Boden liegend wieder. Seefeld stand in geduckter, sprungbereiter Haltung neben ihr und hielt den dreibeinigen Ständer des Erlenmeierkolbens wie eine Waffe in der rechten Hand.

Nach einer Zeit, die ihr unendlich erschien, regte sich der Lehrer, schaute zu ihr hinunter und bewegte die Lippen.

»Hä?«, fragte Kim, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das Wort wirklich ausgesprochen hatte. Zumindest hatte sie nichts gehört. Da fiel ihr auf, dass sie gar nichts hörte.

Seefeld kniete jetzt neben ihr, drehte ihren Kopf leicht nach links und rechts, blickte ihr tief in die Augen, ließ einen Finger vor ihren Augen kreisen und nickte ihr zu. Dann verschwand er aus ihrem Gesichtsfeld. Kim rappelte sich auf und beobachtete Seefeld, der erst unter den Rolltisch sah, auf dem der Versuchsaufbau gestanden hatte, und dann halb unter das danebenstehende Pult kroch. Er hob etwas vom Boden auf und betrachtete es mit ausdruckslosem Gesicht. Kim meinte, einen zerfetzten Feuerwerkskörper zu erkennen, einen, wie ihn ihr Vater einmal an Sylvester gezündet hatte. Einmal und nie wieder. Diese Dinger wurden unter dem Namen Kanonenschlag verkauft.

***

Rosa drehte sich vor dem großen Spiegel, der in ihrem Schlafzimmer stand. Ein monumentales Stück in einem verschnörkelten silberfarbenen Rahmen mit kunstvoll imitierter Patina, das kaum unter die Dachschräge passte. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Eine Einundsiebzigjährige hatte sie sich früher immer ganz anders vorgestellt: grauhaarig, mit Dragonerbusen, ausladendem Gesäß und schwabbeligen Oberschenkeln, über die sich Stretchhosen spannten, gekleidet in beige Übergangsjacken und mit bequemen Schnürschuhen.

So würde Rosa nicht einmal mit hundert aussehen. Ihr naturgelocktes Haar war immer noch mehr als schulterlang und mit Henna leuchtend rot gefärbt. Sie war vollschlank, aber nicht dick, und bevorzugte ausdrucksstarke farbenfreudige Kleidung. Heute gefiel sie sich ganz besonders gut, denn das Mitternachtsblau stand ihr hervorragend. Sie hatte den Eindruck, von innen heraus zu strahlen. Das Lachyoga-Seminar war wirklich inspirierend gewesen. Eigentlich fühlte sie sich immer gut, aber jetzt kam sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr vor. Wie schön, dass sie Robert gleich mit dieser kraftvollen Aura gegenübertreten konnte. Er würde ihr ein besonders herzliches Kompliment machen, auch wenn er nichts von Dingen wie Energiefluss, Aura oder solchem Kram, wie er es nannte, verstand. Dass er die aufregendste Übersiebzigjährige der ganzen Stadt an seiner Seite hatte, das kapierte er auch ohne den esoterischen Hintergrund.

 

Rosa verließ ihr Haus durch die Hintertür. Mangels Kapital hatte sie ihre Hälfte des Doppelhauses nie umgebaut. Der Flur lief immer noch von der Haustür geradewegs zur Hintertür, das links liegende Wohnzimmer besaß ein großes Fenster, aber keinen Ausgang zum Garten. Im Gegensatz dazu war die andere Doppelhaushälfte, in der Robert seit Mariannes Tod allein lebte, schon vor Jahren modernisiert worden. Der Flur war ins Wohnzimmer integriert, eine Glastür zur Terrasse eingebaut worden. Ein großzügiger, heller Raum war entstanden, um den Rosa ihre Nachbarn immer ein bisschen beneidet hatte.

Als Marianne starb, hatte Robert den Trennzaun zwischen den Rasenstücken abgerissen und die beiden kleinen Grundstücke zu einem großzügig wirkenden Garten mit einem Teich in der Mitte umgestaltet. Wenn Rosa und Robert nun verabredet waren, gingen sie stets durch den Garten. Kamen sie unangemeldet, klingelten sie jeweils vorn an der Haustür. So viel Privatsphäre musste sein. Oder besser: Hatte sein müssen.

Bald würde sich ihre Wohnsituation deutlich verbessern. Rosa lächelte, als sie auf Roberts Terrasse trat.

In dem Moment stieß sie mit dem Fuß gegen etwas, das dort nichts zu suchen hatte. Seltsam. Bei Robert lag nie etwas herum, über das man hätte stolpern können. Sie blickte nach unten und erkannte das Brecheisen, das Robert benutzt hatte, um die Tür des Gartenschuppens aufzubrechen, nachdem Rosa den Schlüssel in den Teich hatte fallen lassen. Unabsichtlich, natürlich. Sie bückte sich, um die gebogene Metallstange aufzuheben, aber im letzten Moment zog sie die Hand zurück. Nichts anfassen, dachte sie. Vor allem: Vorsichtig sein. Hier stimmte etwas nicht.

Sie ließ den Blick über die Terrasse zur Glastür schweifen und sah den Schaden sofort. Der Holzrahmen war gesplittert, das Schloss herausgebrochen. Die Scheibe hatte Sprünge, hielt aber noch zusammen. Zögernd warf Rosa einen Blick ins Wohnzimmer. Dort herrschte totale Unordnung, aber es war niemand zu sehen. Erst als sie weiter hinten ins Zimmer schaute, in Richtung des großen Mauerdurchbruchs, sah sie ihn. Sie stieß einen kurzen Schrei aus.

Robert lag am Fuß der Treppe, und mit dem ersten Blick auf die verrenkt daliegende Gestalt wusste Rosa: Er ist tot.

Sie wusste nicht, wie lange sie so unbeweglich vor der Terrassentür gestanden hatte, als sie plötzlich wieder zu sich kam. Sie griff nach der Türklinke, ließ sie aber im nächsten Moment los, als hätte sie sich die Hand verbrannt.

Fingerabdrücke!, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie raffte den Saum ihres Kaftans, legte sich den Stoff um die rechte Hand und drückte die Klinke vorsichtig nieder. Mit zögernden, unsicheren Schritten betrat sie das Wohnzimmer und ging auf Robert zu. Seine Füße lagen seitlich verdreht auf der letzten Treppenstufe, der Körper bäuchlings auf dem Teppich. Der linke Arm sah seltsam verrenkt aus, der rechte lag unter dem Körper. Seine Augen standen offen. Rosa kniete sich hin und stupste ihn vorsichtig an. Leise, dann immer lauter rief sie seinen Namen. Zum Schluss schrie sie die zwei Silben wieder und wieder, bis sie nicht mehr konnte. Schließlich kauerte sie sich erschöpft auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf.

***

Fast hätte Ellen die Straßenbahnhaltestelle, an der sie aussteigen musste, verpasst. Im letzten Moment sprang sie auf, drängelte sich Richtung Tür und zwängte sich nach draußen. Auf dem Bahnsteig atmete sie mehrmals tief ein und aus. Genau wie die schlanke, biegsame, solariumgebräunte Yogalehrerin es ihr beigebracht hatte, bevor Ellen erfuhr, dass ihr eigener Mann die Vorturnerin vögelte. Den Rest des Kurses hatte Ellen danach nicht mehr absolviert. Vermutlich war das auch der Grund, warum sie nie den Zustand der totalen Entspannung erreichte.

Jens hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, den treusorgenden Gatten zu mimen, während er sie tatsächlich ausnutzte und hinterging. Aber was er sich jetzt geleistet hatte, war der Gipfel aller Unverschämtheiten. Ellens Gedanken kreisten unablässig um die drängende Wohnfrage, als sie in die Straße einbog, in der ihre Mutter wohnte. Die Sonne warf tanzende Schatten unter das Blätterdach der Platanen, weshalb ihr das zuckende Blaulicht erst wenige Meter vor ihrem Ziel auffiel. Polizei, Notarzt und Krankenwagen standen vor dem winzigen Haus, in dem Ellen viele Jahre ihres Lebens verbracht hatte – und nun wohl auch weitere würde verbringen müssen. Beunruhigt beschleunigte sie ihre Schritte.

 

»Ellen, woher weißt du es?«, hörte Ellen ihre Mutter rufen, noch bevor sie sie richtig. sah. »Wie lieb, dass du gleich gekommen bist.«

Rosa stand auf den Stufen vor ihrer Haustür und zog alle Blicke auf sich. Das rote Haar setzte einen bemerkenswerten Kontrast zum blauen Kaftan mit silberner Litze. Der großzügige Ausschnitt betonte den Ansatz ihres Busens, und die Ringe und Armreifen untermalten ihre durchdringende Stimme mit einem metallischen Klimpern, als sie die Hand in einer theatralischen Geste an den Hals führte.

Was immer hier passiert ist, wird gerade zur Nebensache degradiert, dachte Ellen mit dem üblichen Gefühl des Fremdschämens, das sich zuverlässig seit sechsundvierzig Jahren einstellte, wenn sie ihre Mutter bei einem ihrer Auftritte erlebte. Ellen schluckte und trat zur Seite, um einen Leichenwagen passieren zu lassen, der in die Einfahrt rollte.

»Robert ist tot.« Mit diesen Worten sank Rosa auf die Stufen und wurde ohnmächtig.

 

»Den Arzt her, schnell!«, rief einer der Polizisten, die vor der Tür herumstanden und rauchten.

Robert tot? Ellen blieb wie angewurzelt stehen. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Tot …, hallte es in ihrem Kopf nach. Das kann nicht sein, dachte sie. Robert war kerngesund, hatte immer Idealgewicht, bewegte sich viel, kannte keine Exzesse beim Essen oder Trinken. Im Gegensatz zu Rosa.

»Mutter?«, murmelte Ellen und erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie nahm die Stufen zügig. Nein, das hier sah nicht aus, als spielte Rosa die Drama-Queen. Ihre Wangen waren unter dem Rouge tatsächlich blass und eingefallen, der Puls hektisch. Ellen überließ ihren Platz dem Notarzt.

»Es geht schon wieder«, hauchte Rosa, während sie sich streckte. Zittriger als gewohnt, fand Ellen.

»Danke, junger Mann.«

Nur einen winzigen Moment verlor Rosa angesichts der Spritze, die der Arzt aus seiner Tasche nahm, die Fassung, dann schob sie seine Hand mit dem Instrument energisch von sich und rappelte sich auf.

Ellen spürte, wie sich ihr Magen hob. Sie rannte durch die offen stehende Haustür, schaffte es bis ins Gäste-WC und würgte ihr Frühstück wieder hoch.

2

»Nein, ich habe weder etwas gehört noch gesehen«, erklärte Rosa eine halbe Stunde später. Sie war immer noch blass und bewegte sich mit einer ungewohnten Steifheit, die Ellen an eine Marionette erinnerte. Ihr Make-up hatte sie inzwischen erneuert und saß nun dem Kommissar, dessen Namen Ellen nicht verstanden hatte, in ihrem Wohnzimmer gegenüber.

»Ich bin gestern Abend von einem dreitägigen Seminar wiedergekommen. Weil ich wusste, dass Robert ins Konzert wollte, habe ich mich nicht bei ihm gemeldet. Aber wir waren für heute um zwölf verabredet. Robert hatte mich zum Frühstück eingeladen.« Rosa atmete tief durch und hielt sich eine Hand vor den Mund.

Ellen sah den fragenden Blick des Kommissars, der offensichtlich nicht gleich eine Verbindung zwischen der genannten Uhrzeit und dem Wort »Frühstück« herstellen konnte. Sie verkniff sich ein bitteres Grinsen. Früher hatte sie nie sicher sein können, dass ihre Mutter schon aufgestanden war, wenn Ellen aus der Schule kam. Sie stellte das Tablett mit dem Kaffee und den Tassen auf dem Couchtisch ab. Dann setzte sie sich in den freien Sessel.

»Sie sind um zwölf Uhr hinübergegangen?«, fragte der Kommissar nach einem Blick zur Uhr.

Rosa nickte huldvoll.

»Ihr Anruf bei der Polizei ist um halb zwei eingegangen.«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«

»Eineinhalb Stunden«, murmelte der Polizist irritiert. »Was haben Sie neunzig Minuten lang gemacht, nachdem Sie die Leiche entdeckt hatten?«

Rosa senkte die Stimme, als sie bedeutungsschwer sagte: »Ich habe Abschied genommen.«

Der Stift des Kommissars schwebte über seinem Notizblock, er schaute auf das Papier, aber er notierte nichts. Ellen wurde sich wieder einmal bewusst, wie Rosa auf fremde Menschen wirkte: ziemlich neben der Spur. Und dieser Eindruck war, jedenfalls was ihre eigene Einschätzung anging, absolut korrekt.

»Sie sind also um zwölf Uhr durch den Garten zu Ihrem Nachbarn gegangen. Bitte beschreiben Sie mir genau, was Sie gesehen und vor allem auch, was Sie gemacht haben«, sagte der Kommissar und nahm dankend eine Tasse Kaffee entgegen, die Ellen ihm reichte.

Sie musterte ihn unauffällig. Er war sicherlich noch keine vierzig (schade eigentlich), hatte mittelblondes lockiges Haar, das dringend einen Schnitt benötigte, trug eine modische Jeans, ein hellblaues Kapuzenshirt mit Aufdruck und knöchelhohe Lederschuhe. Seine Jacke aus dunkelblauem grobem Stoff lag neben ihm auf der Sessellehne. Hanf, erkannte Ellen an dem dezent aufgestickten handförmigen Blatt. Ein Ökobulle, dessen Kleidung auch einem Mittzwanziger gut gestanden hätte.

»Wissen Sie, junger Mann, was immer Sie fragen und was immer ich Ihnen sagen kann, wird Robert nicht wieder lebendig machen. Also lassen wir doch diese lästigen Detailfragen und akzeptieren einfach den Verlust. Erst wenn wir aufhören, Fragen nach dem Wie oder – schlimmer noch – nach dem Warum zu stellen, können wir unser Schicksal annehmen. Und nur dann können wir in Frieden mit uns selbst und unserer Umwelt leben.«

Der Kommissar blickte hilfesuchend zu Ellen, aber die zuckte nur die Schultern. Sie hörte solche Weisheiten seit über vierzig Jahren. Und mindestens ebenso lange ärgerte sie sich über das Desinteresse, das mit dieser Weltsicht einherging. Anteilnahme wegen Hänseleien in der Schule, Trost bei Enttäuschungen oder Einschreiten gegen Ungerechtigkeiten hatte Ellen sich immer umsonst von ihrer Mutter erhofft.

»Der Zustand der Wohnung lässt aber vermuten, dass der Tod Ihres Nachbarn kein Unfall war.«

Rosa reagierte nicht.

»Ich will damit sagen …«

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen«, unterbrach sie ihn. »Robert ist ermordet worden.«

»Möglich. Genau das muss ich herausfinden. Und wenn es so war, wollen Sie doch sicher auch, dass der Mörder …«

»Nein.« Rosa schüttelte den Kopf. »Wozu auch? Der Mörder wird seine Strafe bekommen, auf die eine oder andere Art. Mich interessiert das nicht. Ich habe mich von Robert verabschiedet und dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Alles Weitere würde nur verhindern, dass die Wunde des Verlustes sich schließt.«

Die Türklingel enthob den Polizisten einer Antwort.

 

»Leo«, sagten Rosa und der Ökobulle gleichzeitig, als Ellen den Gast hereinführte. Leo Dietjes war zwar vier Jahre jünger als Rosa, sah aber üblicherweise zehn, heute eher zwanzig Jahre älter aus. Das lag nicht nur an seiner schwammigen Figur und der leicht gebeugten Haltung, sondern auch an seiner grau-braun-beigen Altherrenkleidung. Das Brillengestell, das er sich mitten auf die Stirn geschoben hatte, war, soweit Ellen sich erinnerte, seit Jahr und Tag dasselbe.

Ellen sparte sich eine Begrüßungsrunde, da Leo Dietjes offenbar allen Anwesenden bekannt war, und stellte stattdessen eine zusätzliche Tasse auf den Tisch.

»Herr Dietjes, was für eine Überraschung. Was führt Sie denn hierher?«, fragte der Ökobulle den Neuankömmling verwundert.

»Keine Sorge, Kollege Mittmann, mein Besuch ist privat«, entgegnete Leo, während er dem Ökobullen die Hand schüttelte. Mittmann hieß er also. Leicht zu merken.

»Sie sind zu jung, als dass Sie das Opfer noch kennengelernt hätten, aber er ist – war – einer von uns.«

Leo begrüßte Rosa fürsorglich, die ihm erst die rechte, dann die linke Wange für die obligatorischen Küsschen entgegenhielt, und ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen.

»Der Tote ist Robert Tetz, KK 11, seit zwölf Jahren pensioniert. Robert und ich pflegten noch einen lockeren Kontakt, so habe ich auch Rosa, ich meine Frau Liedke, kennengelernt.«

Rosa erlaubte Leo, ihr die Hand zu tätscheln, was Ellen ein zynisches Grinsen entlockte. Sie beschrieb diese Geste gerne in ihren Heftromanen, aber im echten Leben hatte sie sie eigentlich noch nie beobachtet. Dann stutzte sie. Rosas Hände zitterten.

Auch Kommissar Mittmann hatte das offenbar beobachtet und warf Ellen einen fragenden Blick zu. Sie deutete ein Schulterzucken an und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der arme Kommissar würde sich noch öfter wundern, bis er Rosa die Ereignisse des heutigen Tages in einer verständlichen Form entlockt haben würde. Mittmann erwiderte Ellens Lächeln mit einem komplizenhaften Grinsen. Nett, schoss es Ellen durch den Kopf, der erste Lichtstrahl des Tages. Aber war es nicht reichlich pietätlos, wenige Meter neben der Leiche des lieben Nachbarn zu flirten?, meldete sich leise ihr schlechtes Gewissen.

Kollege Mittmann, wie Leo den Ökobullen konsequent nannte, brauchte exakt fünfundvierzig Minuten, um Rosa einen einigermaßen brauchbaren Bericht von ihrer Entdeckung der Leiche zu entlocken.

Schließlich beendete Rosa freundlich, aber bestimmt das Gespräch. »Wenn das dann alles war, würde ich gern ein bisschen meditieren. Ich muss jetzt zur Ruhe kommen, das verstehen Sie sicher.« Leo tätschelte Rosa tröstend den Rücken, Ellen tauschte einen weiteren Blick mit Kommissar Mittmann. Er steckte seinen Notizblock ein und stand auf.

»Sobald die Spurensicherung fertig ist, sollte jemand im Haus nachsehen, was genau fehlt. An wen können wir uns da wenden?«

Leos Hand verharrte auf Rosas Rücken. Er starrte sie fassungslos an. »Hast du Andrea etwa noch gar nicht benachrichtigt?«

 

Ellen hatte befürchtet, dass die unangenehme Aufgabe im Zweifelsfall an ihr hängenbleiben würde, aber zum Glück bestand Kommissar Mittmann darauf, der einzigen Tochter des Opfers die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen. Erleichtert brachte Ellen den Kommissar zur Tür.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie leise und wusste selbst nicht so genau, ob sie die Ermittlung oder ihr eigenes Leben meinte.

Mittmann zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seiner Jacke und reichte sie ihr. »Für alle Fälle, Frau …«

»Feldmann.« Sie straffte die Schultern. »Ellen Feldmann.« Im gleichen Moment fragte sie sich, ob sie den Namen ihres Exmannes wirklich behalten wollte.

***

»Nun, korrekt ist es eigentlich nicht …«, murmelte Leo.

Kurz nach Mittmann war auch Ellen gegangen. Nur Leo war geblieben, um Rosa beizustehen. Dass sie keinen Beistand brauchte, glaubte er ihr auch nach ihrer dritten Beteuerung nicht, und so fand sie sich mit seiner Gegenwart ab. Leo redete ohne Unterbrechung, und gelegentlich hörte Rosa ein paar Sätze lang zu. Und plötzlich war ihr die Idee gekommen, die Leo nun infrage stellte, wenn auch nicht sehr überzeugend. »Korrekt ist es eigentlich nicht«, hatte er gesagt Ein klares Signal, dass sein Widerstand gebrochen war. Sicher fände er noch ein paar Einwände, aber letztlich würde er es tun.

»Du bist schließlich Polizist«, sagte sie, als sie aufstand. »Und für die Polizei gilt das Siegel ja wohl nicht.«

Sie ging denselben Weg durch den Garten wie vor ein paar Stunden, nun aber in dem Bewusstsein, was sie erwartete, nämlich der Schauplatz eines unnatürlichen Todes, entweder Unfall oder Verbrechen, aber zumindest ohne Leiche. Robert war abtransportiert worden, die Autopsie lief vermutlich schon, denn bei einem Mord, sofern es einer war, waren die ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat entscheidend. Hatte Robert ihr das erzählt? Oder Leo? Oder hatte sie die Erkenntnis aus dem Fernsehen? Eher unwahrscheinlich, da sie üblicherweise keine Krimis schaute. Im Grunde war es sowieso egal. Sie versuchte sich zu konzentrieren.

»Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein«, flüsterte Leo. Er ging so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spüren konnte.

»Du kümmerst dich um das Siegel, damit hast du schließlich professionelle Erfahrung«, entschied Rosa.

Leo nickte.

Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. Dabei war er es gewesen, der sie mit seinen wenig schmeichelhaften Bemerkungen über den jungen Kollegen Mittmann überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte.

Einer dieser modernen jungen Männer sei er, hatte Leo über Mittmann gesagt. Er, Leo, habe ihn mit ausgebildet und sich oft darüber geärgert, dass die jungen Kollegen solche Softies seien. Verständnisvoll gegenüber allem und jedem, manchmal mehr Beichtvater als Kommissar. Sie traten höflich auf, baten um Auskünfte, wo sie hartnäckig hätten nachfragen sollen und lobten die Teamarbeit über alles, anstatt sich ihren Platz in der Hierarchie zu erkämpfen.

Rosa hatte ihr Pokerface gewahrt, obwohl es sie Mühe gekostet hatte, ein Lächeln zu unterdrücken. Der lässige Kommissar Mittmann war ihr sympathisch gewesen. Leo spielte jetzt zwar den harten Bullen alter Schule, war aber bis zur Pensionierung auf der Karriereleiter selber nicht viel höher gekommen als Mittmann heute schon stand.

Während Leo über die Eignung der jüngeren Kollegen im Allgemeinen und Mittmann im Besonderen schwadroniert hatte, war Rosa plötzlich dieses eine Dokument in Roberts Haus eingefallen. Ein Dokument, von dem sie auf keinen Fall wollte, dass es der Polizei in die Hände fiel, bevor sie selbst die Gelegenheit gehabt hatte, es zu lesen.

Sogar den pensionierten Leo rechnete sie in diesem Fall noch zur Polizei, Mittmann natürlich sowieso. Daher hatte sie eine Ausrede benutzt, um Leo zu diesem »Einbruch« zu überreden: Sie müsse sich die Stelle, an der Robert gelegen hatte, noch einmal ansehen, um wirklich realisieren zu können, dass er tot sei. Für ihre Seelenhygiene sei das unverzichtbar.

Wie erwartet hatte Leo bei dem Wort Seelenhygiene gezuckt und schnell genickt. Mit solchen Dingen befasste er sich lieber nicht intensiver.

 

In Roberts Wohnzimmer schwand Rosas Begeisterung für ihren eigenen Plan. Angesichts des Umrisses von Roberts Leiche am Fuß der Treppe musste sie mehrmals hart schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Aber nachdem sie Leo erklärt hatte, dass sie keine Betreuung benötige, wollte sie sich diese Blöße nicht geben, sonst würde sie ihren selbst ernannten Witwentröster nie wieder los.

»Und was ist, wenn Andrea plötzlich hier auftaucht …?«, flüsterte Leo.

Darüber hatte Rosa auch schon nachgedacht. Sie winkte ab. »Andrea wohnt in Köln. Selbst wenn Mittmann sie nach seinem Besuch hier sofort telefonisch verständigt hat, und selbst wenn sie sich umgehend auf den Weg machen kann, muss sie es erst mal nach Düsseldorf schaffen.«

»Nun, dann … Was tun wir jetzt hier?«, fragte Leo.

Ich suche etwas, wovon du nichts wissen sollst, dachte Rosa.

Während seiner aktiven Zeit als Kriminalkommissar hatte Robert sich, genau wie alle Kollegen und Vorgesetzten, oft über massive Ermittlungsfehler aufgeregt, sie aber als systemimmanent hingenommen. Bis vor einem Jahr. Damals hatte Robert ihr erzählt, dass er auch viele Jahre nach seiner Pensionierung immer noch an einen ganz bestimmten Fall dachte, der aufgrund mehrerer eklatanter Fehler zu einer Katastrophe geführt hatte. Da ihm die Sache keine Ruhe ließ, hatte er beschlossen, den Fall für sich noch einmal aufzurollen und zu analysieren, um daraus konkrete Richtlinien für korrektes polizeiliches Vorgehen zu erarbeiten. Er hatte sich Zugang zum Archiv verschafft und meterweise Akten gesichtet, weil ihm »die Sache sonst für den Rest des Lebens als Stachel im Fleisch« säße, wie er sich ausgedrückt hatte. Jeden Mittwochnachmittag war er in dieser Angelegenheit unterwegs gewesen, jeweils einmal im Monat gar einen ganzen Tag. Rosa kannte keine Details über den Fall, aber sie wusste, dass zwei Kriminalkommissare in Roberts Untersuchungsbericht nicht gut wegkommen würden. Der eine war heute Polizeipräsident. Den anderen Namen hatte Robert ihr verschwiegen.

Bestimmt gab es bei der Polizei Leute, die kein Interesse an der Veröffentlichung dieses Berichts hätten. Was, wenn dieser Bericht im Laufe der polizeilichen Ermittlungen um Roberts Tod auftauchte – und dann klammheimlich entsorgt würde? Der Fall war Robert unglaublich wichtig gewesen, und er hatte viel Zeit und Arbeit investiert, um ähnliche Fehler für die Zukunft zu verhindern. Wenn es also so etwas wie ein Vermächtnis des Verstorbenen gab, dann war es dieser Bericht. Deshalb wollte Rosa die Papiere sicherstellen, den Bericht lesen und dann entscheiden, wie damit weiter zu verfahren sei.

Rosa bemühte sich, jegliche Anspannung aus ihrer Stimme herauszuhalten, als sie bemüht leichthin sagte: »Ich nehme Abschied, Leo. Du kannst auf der Terrasse warten, wenn es dir lieber ist. Hauptsache, du bringst nachher die Sache mit dem Siegel wieder in Ordnung.«

***

Kim schloss die Wohnungstür auf und schnupperte. Natürlich war es total uncool, zu Hause zu Mittag zu essen, während ihre Freundinnen sich in der Stadt in Cafés oder Dönerbuden trafen. Aber wenn es etwas gab, das Kim vorbehaltlos und uneingeschränkt an ihrer Mutter mochte, dann waren es deren Kochkünste. Ansonsten war Ellen, wie Kim ihre Mutter gegen deren ausdrücklichen Wunsch nannte, natürlich oberpeinlich. Eine Heftchenromanautorin! Gefühlsduselige Liebesgeschichten für unbefriedigte Frauen zu schreiben, war so dermaßen daneben. Aber kochen konnte sie. Und Kim liebte nun mal die Gerichte ihrer Mutter mehr als die Pizzas und Döner und Baguettes, die ihre Freundinnen dauernd futterten. Abgesehen davon machte Ellens Essen nicht dick. Nicht allzu sehr, jedenfalls.

»Du bist spät dran«, rief ihre Mutter. »War irgendwas Besonderes?«

Wenn du wüsstest, dachte Kim. Nach der Explosion war die Polizei gekommen, da wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt wurde. Dann waren alle Schüler der Klasse von einem herbeigerufenen Arzt untersucht und zwei gleich ins Krankenhaus geschickt worden. Die anderen hatten versprechen müssen, sich innerhalb einer Woche von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt ihres Vertrauens untersuchen zu lassen und eine entsprechende Bescheinigung vorzulegen. Und alle, die im Physikraum gewesen waren, als der Kracher explodierte, hatten vom Arzt ein absolutes Kopfhörerverbot bis zum ärztlichen Attest aufgebrummt bekommen. Das ging ja wohl gar nicht! Kim dachte nicht im Traum daran, ihrer Mutter von dem Vorfall zu berichten.

 

»Was gibt es denn?«, rief sie durch den Flur, während sie ihre Schuhe in die Ecke schleuderte und ihre Tasche fallen ließ.

»Nudeln mit Pesto«, rief ihre Ma zurück. »Wasch dir die Hände.«

Ja-ha, dachte Kim genervt, ich bin doch kein Baby mehr. In der Küche fiel Kims Blick gleich auf die Zeitung auf dem Küchentisch, die bei den Immobilienanzeigen aufgeschlagen war. In der Rubrik der Drei-Zimmer-Wohnungen waren mehrere Anzeigen rot angestrichen.

»Hey, was soll das?«, fragte Kim lauter als nötig.

Ellen fuhr herum, folgte Kims Blick und riss die Zeitung vom Tisch. »Setz dich erst mal«, forderte sie sie auf. Ihr Lächeln missglückte. »Das Essen ist fertig.«

Die Nudeln dufteten nach Basilikum und heißem Olivenöl, und Kim hatte Hunger, aber die Vorfreude auf eins ihrer Lieblingsgerichte war verflogen.

»Ma, was soll das?«, wiederholte Kim mit vollem Mund und ärgerte sich im selben Augenblick. Wenn sie ihre Mutter Ma nannte, wusste die gleich, dass Kim Sorgen hatte. Aber okay, dachte Kim, die Sache mit der Wohnung war tatsächlich beunruhigend.

Ellen legte ihr Besteck weg und lehnte sich zurück. Sie wartete, bis Kim ihre Nudeln gegessen hatte. »Dein Vater braucht Geld, weil seine …«, sie machte eine Pause, vermutlich, um ein Schimpfwort zu unterdrücken, dachte Kim. Ellen versuchte immer noch, in ihrer Gegenwart politisch megakorrekt zu sein, um ihr kein schlechtes Beispiel zu geben. Kinderkram!

»… weil seine neue Frau ein Kind erwartet«, fuhr Ellen fort. »Er verkauft dieses Haus. Ich kann nichts dagegen tun, weil ich selbst kein Geld habe, um ihn auszuzahlen.«

Kim glaubte, sich verhört zu haben. Erst letztes Wochenende hatte sie mit ihrem Dad in der Stadt beim Italiener gegessen, da hatte er noch kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass er Kohle für ein Baby brauchte.

»Aber Dad …«

»Dein Vater überlässt es lieber mir, dir die unangenehmen Dinge des Lebens mitzuteilen«, sagte Ellen.

»Und meine Mutter hat nichts Besseres zu tun, als über meinen Vater herzuziehen, wenn er nicht da ist«, blaffte Kim zurück.

»Und meine Tochter hält natürlich wie immer zu ihrem Vater! Einem Vater, der seine Familie erst betrügt, dann verlässt und sie zum Schluss auch noch auf die Straße setzt.«

Kim sprang auf. Sie spürte, dass ihre Lippen zitterten, ihre Fäuste sich ohne ihren Willen ballten, ihre Augen brannten und gleich überlaufen würden. »Ich …«

»Sag es nicht«, sagte Ellen genervt. »Ich weiß, dass alle Welt mich hasst, aber ich will es gerade einfach nicht hören, okay?«

Kim starrte ihre Mutter fassungslos an, dann drehte sie sich um, rannte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

***

Ellen holte noch einmal tief Luft und nahm das Telefon wieder zur Hand. Am Vortag hatte sie nicht angerufen, da war Andrea sicher nicht ansprechbar gewesen. Erst die Nachricht vom Tod ihres Vaters, dann vermutlich Termine bei der Polizei und beim Beerdigungsinstitut. Ellen hatte sich zurückgehalten. Aber nun wählte sie Andreas Handynummer, die Rosa ihr gegeben hatte. Es klingelte mehrmals, bis sich die bekannte tiefe Stimme meldete.

»Hallo?«

»Andrea? Hier ist Ellen. Ich wollte dir mein Beileid aussprechen und fragen, ob ich etwas für dich tun kann.«

Am anderen Ende war im Hintergrund lautes Geschrei zu vernehmen, dann hörte es sich an, als ob Geschirr zerbrechen würde.

»Andrea?«

Eine Tür knallte, dann war Andreas Stimme wieder zu hören. »Entschuldigung, wer ist dran?«

Diese Stimme kannte ganz Deutschland. Sie war so ungewöhnlich tief für eine Frau, dass es keinen einzigen Bericht über Andrea Tetz gab, in dem die Stimmlage nicht erwähnt wurde. Sogar Experten waren dazu befragt worden, wie eine so schlanke Person von einem Meter neunundsechzig zu solch einer männlichen Stimme kam. Ellen wunderte sich immer etwas über das ganze Tamtam. Sie war die Stimme gewohnt. In Kinder- und Jugendtagen waren Andrea und sie wie Pech und Schwefel gewesen. Beste Freundinnen. Bis zu dem Tag, an dem Andrea beim Casting für ihre erste Fernsehrolle in einer Vorabendserie genommen worden war. Seitdem sahen sie sich nur alle Jubeljahre anlässlich einer Feier bei Robert, aber auch dann wurde Andrea immer von einer Vielzahl Bewunderer umlagert.

»Hier ist Ellen. Mein Beileid zum Tod deines Vaters.«

»Ellen! Das ist aber lieb von dir.«

Andrea klang überrascht, ihre Freude aber ehrlich. Ellen spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. Ein Kondolenzanruf war grässlich, aber kaum hörte sie Andreas Stimme, war die alte Vertrautheit wieder da.

»Ich wollte fragen, ob ich etwas für dich tun kann.«

Andrea seufzte. »Ach, Ellen, du bist der erste Mensch, der das wirklich ernst meint. Außer Rosa natürlich.« Ihre Stimme klang müde, als sie fragte: »Woran hattest du denn gedacht?«

»Was auch immer …« Ellen zögerte. Sie hatte sich noch keine konkrete Hilfe vorgestellt, und sie wusste auch nicht so genau, was Andrea jetzt am meisten benötigte. Aber dann hatte sie plötzlich eine Idee. »Ich dachte mir, da du ja in Köln wohnst und viel arbeitest, dass ich vielleicht hier vor Ort helfen könnte, wenn du Interessenten für das Haus deines Vaters hast. Ich nehme ja an, dass du es verkaufen oder vermieten willst. Du wirst wohl kaum selbst wieder zu Hause einziehen wollen, oder?«

Andrea antwortete nicht.

»Bist du noch dran?«

»Du weißt es wirklich nicht?«, fragte Andrea mit einem seltsamen Unterton, der ebenso gut amüsiert wie ungläubig hätte sein können.

Sofort verspürte Ellen einen Anflug von Gereiztheit. Offenbar gehörte sie zu den Menschen, die grundsätzlich alles als Letzte erfuhren. Aber sie riss sich zusammen, um Andrea nicht anzuschnauzen, sondern fragte nur: »Was denn?«

»Dass mein Vater sein Haus bereits verkauft hat? Er zieht in dieses neue Luxuswohnding in Kaiserswerth. Ich meine natürlich: er wollte dorthin ziehen.«

»Das ist ja seltsam«, murmelte Ellen. »Rosa hat mir gar nicht erzählt, dass Robert wegzieht. Ich hätte erwartet, dass sie darüber nicht sehr glücklich wäre …«

Den folgenden Laut konnte Ellen nicht identifizieren. Es war ein Grollen oder Glucksen, vielleicht auch ein Knurren, entwickelte sich dann aber zu einem Geräusch, bei dem sich Ellens Nackenhaare aufstellten. Andrea lachte!

»Es ist wie früher, Ellen, alle wissen Bescheid, nur du hast wieder nichts mitbekommen. Deine Mutter und mein Vater haben beide ihre Häuser verkauft und sich eine gemeinsame Eigentumswohnung in Kaiserswerth zugelegt. Ab Ende des Monats wollten sie …«

Den Rest bekam Ellen nicht mehr mit, denn in ihrem Kopf rauschte das Blut.

***

»Wann genau wolltest du es mir denn sagen?«, fragte Ellen.

Sie stand im Wohnzimmer ihrer Mutter und hatte den Regenmantel noch an. Der Nieselregen, der eine Woche schönsten Frühlingswetters abgelöst hatte, passte zu ihrer Stimmung.

»Warum führst du dich so zickig auf?«, fragte Rosa zurück. »Ich muss wohl meine Tochter nicht um Erlaubnis bitten, wenn ich umziehen möchte.«

Ellen hatte schon eine patzige Bemerkung auf der Zunge, als ihr auffiel, dass ihre Mutter schlecht aussah. Die Wimperntusche war verlaufen, der Lippenstift klumpte in den Mundwinkeln zusammen, und ihre Haut war fahl und faltig. Ellens Wut verflog.

»Ich hätte es einfach ganz gern von dir erfahren«, sagte sie müde.

»Mach uns einen Kaffee«, bat Rosa, »einen starken.«

 

»Robert hatte Probleme mit dem Rücken«, sagte Rosa zehn Minuten später, als sich Mutter und Tochter mit ihren Kaffeetassen gegenübersaßen. »Die Gartenarbeit, die ihm immer viel Spaß gemacht hat, wurde plötzlich zur Belastung.«

Ellen verkniff sich eine spitze Bemerkung, denn Robert hatte nicht nur seinen, sondern auch Rosas Garten gepflegt. Rosa nutzte ihren Teil der grünen Oase ausschließlich zum Entspannen.

»Irgendwann legte er einen Prospekt auf den Tisch und sagte: ›Sieh dir das an, vielleicht ist das etwas für uns.‹« Rosa trank einen Schluck Kaffee. »Es ist eins von diesen modernen Mehrgenerationen-Projekten mit Wohnungen für Familien, Singles und Senioren.«

Ellen hatte nie darüber nachgedacht, dass Rosa eines Tages nicht mehr in ihrem winzigen Haus wohnen könnte. Sie war so vital, dass sich der Gedanke an ein Altenheim sowieso verbot, aber auch in einer modernen Wohnung konnte sich Ellen ihre Mutter nicht vorstellen. Das in den Neunzehnhundertdreißigerjahren gebaute, verwinkelte Haus passte perfekt zur chaotischen Rosa. Errichtet zu einer Zeit, als es noch keine Zentralheizung gab, in den Fünfzigern auf damaligen Stand modernisiert und seitdem gelegentlich renoviert, war es alles, was Rosa sich je hatte leisten können. Während die Nachbarn ihre Firste und Traufen anhoben, die Dachflächen für Gauben öffneten und nach hinten hinaus große Wohnzimmer anbauten, blieb Rosas Haus klein und altmodisch. Immerhin war es ihr Haus, in dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Als Miteigentümerin in einem modernen Wohnprojekt jedenfalls konnte Ellen sich ihre Mutter nicht vorstellen.

Und jetzt also eine Eigentumswohnung in Kaiserswerth, direkt am Rhein? Kaiserswerth, das Bonzenpflaster, so hatte Rosa es immer abfällig genannt. Da zählt nur, wie viel Kohle du auf dem Konto hast. Zum Kotzen. Rosas Worte. Und dort hatte sie hinziehen wollen?

»Robert liebt den Rhein«, sagte Rosa in Ellens Gedanken hinein.

Liebte, dachte Ellen, aber sie schwieg.