Inhalt
Titel
Widmung
Zu diesem Buch
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Sophie Jackson bei LYX:
Impressum
SOPHIE JACKSON
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Katrin Reichardt
Für Mum.
Ich stehe für immer in deiner Schuld.
Zu diesem Buch
Fünfzehn Jahre ist es her, dass Kat Lane als kleines Mädchen mit ihrem Vater in einen brutalen Raubüberfall geriet und mit ansehen musste, wie er seinen schweren Verletzungen erlag. Seitdem wird sie von Panikattacken und Albträumen geplagt. Doch Kat hatte ihrem Vater damals versprochen, stets an das Gute im Menschen zu glauben und sich ihr Leben lang dafür einzusetzen. Als sie das Angebot erhält, als Literaturdozentin in einem New Yorker Gefängnis Straftäter zu unterrichten, sieht sie ihre Chance gekommen, sich endlich ihren Ängsten zu stellen und mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Doch schon nach der ersten Unterrichtsstunde kommen Kat Zweifel, ob das wirklich so eine gute Idee war: Denn Störenfried Wesley Carter wird zu Einzelunterricht mit ihr verdonnert! Carter ist unnahbar, gefährlich – aber gleichermaßen attraktiv und faszinierend. Er übt eine nie gekannte Anziehungskraft auf Kat aus, der sie sich nicht entziehen kann – ohne zu ahnen, dass sie mit jeder Berührung, mit jedem Kuss und mit jedem Moment, in dem sie sich mehr in Carter verliebt, die Dämonen ihrer Kindheit unaufhaltsam zurück in ihr Leben lässt …
Prolog
Das Pfund Fleisch, das ich verlange,
Ist teur gekauft, ist mein, und ich will’s haben.
Der Kaufmann von Venedig, Vierter Akt, Erste Szene
Ihr Herz schlug wild im Einklang mit dem Echo ihrer hektischen Schritte auf dem Asphalt, während ihr Vater ihre Hand geradezu schmerzhaft festhielt. Sie war erst neun, und mit ihren kurzen Beinchen konnte sie kaum mit ihm mithalten. Sie stolperte neben ihm her, rannte fast. Seine sonst freundliche und unbeschwerte Miene war so hart, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, und sein Blick war zornig und finster wie der Himmel über ihren Köpfen. Sie verspürte den albernen Drang, in Tränen auszubrechen.
Ein Geräusch hinter ihnen ließ sie den Kopf drehen. Aus der Mündung einer dunklen Gasse schlichen fünf mit Kapuzen vermummte Männer. Sie hielten die Köpfe gesenkt, fielen jedoch ohne Schwierigkeiten in den schnellen Schritt ihres Vaters mit ein und verfolgten sie wie ein Rudel wilder Tiere auf Beutezug.
Gut möglich, dass ihr Vater ihr aufmunternde Worte zuraunte. Worte, die ihr die Angst nehmen sollten, die plötzlich über ihren Nacken nach oben kroch, doch sie wurden vom Asphalt verschluckt, als plötzlich etwas Schnelles und Hartes ihren Vater von hinten zu Boden warf. Sie wurde mitgerissen. Orientierungslos und mit brennenden Knien vom Rutschen über den Asphalt blickte sie auf und schrie, als der Baseballschläger zwei Mal mit widerwärtigen dumpfen Schlägen den Rücken ihres Vaters traf.
Sie konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung die Hand kam, die ihr eine so feste Ohrfeige versetzte, dass sie vom Gehweg auf die Straße rollte, mit Sternen vor den Augen und dem wütenden Brüllen ihres Vaters in den Ohren. Taumelnd richtete er sich auf und stürzte sich auf einen der Angreifer. Entsetzt verfolgte sie, wie sich zur Vergeltung ein Gewitter aus Fäusten, Füßen und Schlägern über ihm entlud.
Durch die Kakofonie der gebrüllten Forderungen nach seiner Geldbörse, durch die Barrikade an Körpern, die ihn umschloss, hörte sie, wie ihr Vater ihr zubrüllte, sie solle davonlaufen. Er flehte und bettelte, während sie immer weiter auf ihn einschlugen, doch eine eisige Kälte ließ sie erstarren. Wie konnte er von ihr verlangen, dass sie gehen sollte? Sie musste ihm doch helfen, ihn retten! Tränen rannen ihre Wangen hinab, und ein animalischer Schrei brach aus ihrer Kehle.
Als eine weitere Faust seine Schläfe traf, stöhnte er schmerzerfüllt, und seine Knie trafen gerade am Boden auf, als sie schon auf ihn zuschnellte. Sie versuchte, die Hand nach ihm auszustrecken, doch plötzlich wurde ihr Arm kraftvoll zurückgerissen. Ein erleichtertes Wimmern entfuhr ihr, denn sie rechnete damit, einen Polizisten oder den Leibwächter ihres Vaters zu sehen – doch derjenige, der vor ihr stand, war kaum größer als sie selbst und trug einen schmutzigen schwarzen Kapuzenpullover.
Als er begann, sie wegzuzerren, obwohl ihr Vater immer noch verprügelt wurde, schrie sie aus Leibeskräften, wand sich und brüllte auf ihn ein, während er ihr unter seiner Kapuze nur etwas zuzischte. Begriff er denn nicht, dass ihr Vater sie brauchte, dass er ohne ihre Hilfe sterben würde? Doch der Fremde zog sie weiter mit sich, die Straße hinab und in den Eingang eines verlassenen Gebäudes hinein, zwei Blocks entfernt von der Stelle, an der das schreckliche Geräusch von Schüssen ertönte.
Wieder schrie sie nach ihrem Vater, riss sich von ihrem Retter los und rannte zurück. Doch sie kam nicht weit, denn sie wurde zu Boden geworfen und starke Arme hielten sie fest. Schreiend wand sie sich unter seinem Körper und wehrte sich mit aller Kraft, doch bald schon wurde sie schwer und müde, und ihre Schreie verwandelten sich in abgehacktes Schluchzen, das dumpf auf dem Asphalt vor ihrer Stirn verhallte.
Das Gewicht, das auf ihrem Rücken gelastet hatte, verschwand, und zwei kräftige Hände hoben sie hoch, zogen sie zurück in den kalten Durchgang. Sie sank gegen ihn und maunzte gequält in seinen schmuddeligen Pullover hinein. Sie musste zurück zu ihrem Daddy. Sie musste wissen, dass es ihm gut ging. Es musste ihm einfach gut gehen. Ein Arm, der sich um ihre Schulter legte, und eine eisige Hand, die ihre Wange streichelte, waren ihr Verhängnis, und sie sackte schlaff an die Brust ihres unbekannten Retters.
Es hätten Stunden sein können, die so vergingen. Vielleicht schlief sie sogar ein. Das Nächste, an das sie sich erinnern konnte, war, dass ein bärtiger Mann sie zu einem Krankenwagen trug. Sie schlug die vom Weinen verquollenen Augen auf und sah Polizisten und Sanitäter, umgeben von einem Meer aus blinkenden roten und blauen Lichtern.
Ihre Mienen, deren Anblick sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würde, verrieten ihr unmissverständlich, dass ihr Vater sie an diesem Abend nicht ins Bett bringen würde.
Und auch an keinem anderen Abend mehr.
Wesley James Carter, Insasse der Arthur Kill Correctional Facility und Querulant aus Leidenschaft, grinste den missmutigen Wachmann an, der ihn nun schon seit geschlagenen zehn Minuten nach seiner Häftlingsnummer befragte. Zu behaupten, dass Carters unverfrorenes Verhalten und seine amüsierte Miene den übergewichtigen Mann mit lichtem Haar verärgerten, wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Dem armen Kerl stand schon fast Schaum vorm Mund.
Es war Freitag, fünf Minuten nach dem offiziellen Schichtende der Wachmannschaft.
Für Carter ein Grund mehr, sich querzustellen.
Der Beamte fuhr sich ungeduldig über den wulstigen Nacken und kniff die müden Augen zusammen. »Jetzt hören Sie mir mal genau zu«, sagte er in drohendem Ton, der bei anderen Häftlingen sicherlich wirkte wie ein Messer an der Kehle. »Es ist ganz einfach. Sie geben mir ihre Nummer. Ich schreibe sie in dieses Formular hinein, das ich für den für Sie zuständigen Sozialarbeiter vorbereitet habe, und anschließend kann ich nach Hause gehen.«
Carter funkelte den pummeligen Armleuchter aufmüpfig an.
Der Beamte lehnte sich sichtlich unbeeindruckt auf seinem Bürostuhl zurück. »Wenn Sie mir Ihre Nummer nicht geben, wird meine Frau stinksauer. Und ich muss meiner stinksauren Frau dann erklären, dass irgendein dreister Nichtsnutz mich hat warten lassen. Dann wird sie sich noch mehr aufregen und keifen, dass es unsere Steuern sind, von denen die drei Mahlzeiten täglich und die Gefängnisoveralls für Loser wie Sie finanziert werden.« Er beugte sich vor. »Also, zum letzten Mal: Insassennummer.«
Betont lässig schielte Carter zur Faust des Beamten hin, mit der er den Schlagstock an seinem Gürtel umschlossen hielt, und stieß gelangweilt den Atem aus. Normalerweise hätte er es darauf angelegt, dass der Kerl ihm eine verpasste, und die Prügel mit einem Lächeln eingesteckt. Doch heute war er nicht in Stimmung.
»081 056«, antwortete Carter gleichgültig und konnte es sich nicht verkneifen, dem Kerl kurz zuzuzwinkern.
Mit verkniffener Miene kritzelte der Beamte die Zahl auf das Formular und rollte sich mit dem Stuhl zum Schreibtisch seiner blonden Sekretärin hinüber. Der Fettsack war tatsächlich zu faul, um aufzustehen und sechs Schritte zu laufen.
Carter wartete, während Blondie die Nummer eintippte, die nun schon seit neunzehn Monaten als sein Zweitname fungierte. Er wusste, welche Vergehen auf dem Monitor erscheinen würden: Autodiebstahl, Umgang mit einer gefährlichen Waffe, Drogenbesitz, Trunkenheit und Ruhestörung – um nur ein paar zu nennen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung war er auf diese Liste an Straftaten und Vergehen, die zwei Bildschirme füllte, nicht stolz. Doch sie gab ihm eine Art Selbstempfinden, nach dem er schon fast die ganzen siebenundzwanzig Jahre seines Lebens ziellos gesucht hatte. Noch immer suchte er danach, und bis er dieses besondere Etwas gefunden hatte, war diese Liste alles, was er hatte.
Wie auch immer.
Er fuhr sich über das kurz geschorene Haar. Er war es leid, über dieses Thema nachzugrübeln.
Das Geräusch von Papier, das aus einem altertümlichen Drucker gerissen wurde, riss ihn aus seinen Gedanken.
»Nun, Mr Carter«, setzte der Wachmann seufzend an. »Es sieht so aus, als würde sich Ihr Aufenthalt bei uns noch weitere siebzehn lange Monate hinziehen. Das hat man davon, wenn man sich mit Koks erwischen lässt.«
»Der Stoff gehörte nicht mir«, antwortete Carter ausdruckslos.
Der Wachmann zog eine falsche Mitleidsmiene. Dann grinste er. »Was für ein Pech!«
Carter verkniff sich eine Erwiderung, weil er wusste, dass schon in wenigen Wochen seine Bewährungsverhandlung anstand, und schnappte sich schweigend das Formular.
Flankiert von einem weiteren Wachmann schlenderte Carter am Schreibtisch vorbei und durch einen engen Korridor zu einer weißen Tür, die er aufstieß, indem er mit der flachen Hand dagegen schlug. Der Raum dahinter wirkte klaustrophobisch beengt und steril und stank nach Eingeständnissen. Obwohl er hier schon unzählige Stunden zugebracht hatte, bekam er trotzdem wieder schwitzige Hände, und sein Herz schlug schneller.
Mit durchgedrücktem Rücken und steifen Schultern ging Carter auf den billigen Holzschreibtisch zu, hinter dem ihm ein Gorilla von einem Mann zulächelte.
»Wes«, begrüßte ihn Jack Parker, der für ihn zuständige Gefängnis-Sozialarbeiter. »Schön, dich zu sehen. Bitte setz dich doch.«
Carter schob die Hände in die Taschen seines Overalls und ließ sich plump auf den Stuhl fallen. Jack war der Einzige hier, der ihn mit seinem Vornamen ansprach; alle anderen nannten ihn Carter. Doch Jack bestand auf der zwanglosen Anrede, da er sie als wichtige Voraussetzung dafür erachtete, dass er und Carter eine vertrauensvolle Beziehung zueinander aufbauen konnten.
Worauf Carter ihm mitgeteilt hatte, dass er das für kompletten Schwachsinn hielt.
»Hast du was zu rauchen?«, fragte er mit einem abschätzigen Seitenblick auf den Wachmann, der sich bei der Tür postiert hatte.
»Klar.« Jack warf ein Päckchen Camel und ein Streichholzbriefchen auf den Schreibtisch.
Carters lange blasse Finger kämpften mit der Schutzfolie. Schon zwei lange Tage waren seit seiner letzten Zigarette vergangen. Carter hielt es kaum noch aus. Zwei zerbrochene Streichhölzer und eine Menge Flüche später inhalierte er endlich den dichten köstlichen Rauch. Er schloss die Augen, hielt den Atem an, und für den Bruchteil einer Sekunde war die Welt in Ordnung.
»Besser?«, erkundigte sich Jack mit einem hinterlistigen Grinsen.
Carter blies den Rauch über den Schreibtisch hinweg und nickte.
Es beeindruckte ihn, dass Jack der Versuchung widerstand, den Rauch wegzuwedeln. Sie wussten beide, dass dieses Verhalten Carter nur dazu animiert hätte, es wieder zu tun. Er sprang sofort auf jedes Anzeichen von Schwäche oder Verärgerung an und biss sich mit der Zähigkeit eines Terriers an seinen Opfern fest.
Anscheinend ein instinktiver Abwehrmechanismus. Sie hatten über dieses Verhalten in einer ihrer ersten Sitzungen gesprochen. Er hatte diesen Mechanismus inzwischen so sehr verinnerlicht, dass er nach außen hin stark, dominant und, wie die meisten Angestellten und Insassen von Arthur Kill bestätigen konnten, höllisch einschüchternd wirkte.
Jack zog eine fast zwanzig Zentimeter dicke Akte aus der Tasche und schlug sie auf, blätterte die zahlreichen Berichte, gerichtlichen Verlautbarungen und Zeugenaussagen durch, die sich über die Jahre angesammelt hatten, in denen Carter als »Gefahr für die Allgemeinheit« bezeichnet wurde, als »willensstark« und »intelligentes Individuum, dem es an Selbstbewusstsein mangelte, um sich zu behaupten und seinen starken Willen in geordnete Bahnen zu lenken«.
Nun – wie auch immer.
Carter war es leid, sich anzuhören, wie viel Potenzial doch in ihm steckte. Ja, er war intelligent und hielt mit unerschütterlicher Loyalität zu den Menschen, die ihm wichtig waren, doch solange er zurückdenken konnte, hatte er einfach keinen Lebensweg für sich finden können, der ihm passend erschienen wäre. Sein ganzes Leben schon wanderte er ziellos umher, fand keinen Ort, an dem er sich langfristig wohl oder willkommen gefühlt hätte, und schlug sich mit seiner abgefuckten Familie und seinen bescheuerten Freunden herum, bei denen alle fünf Minuten ein neues Drama aufkam.
Hier im Knast war es wenigstens etwas einfacher für ihn. Die Probleme des wahren Lebens waren hier nur Legenden, von denen bei gelegentlichen Besuchen erzählt wurde. Nicht dass Carter oft Besucher empfing.
Jack schlug die letzte Seite im Aktenordner auf, schrieb das aktuelle Datum auf das leere Blatt und schaltete den kleinen Digitalrekorder ein, der zwischen ihnen auf dem Tisch stand.
»Vierundsechzigste Sitzung, Wesley Carter, Häftlingsnummer 081 056«, leierte er monoton herunter. »Wie geht es dir heute?«
»Superduper«, antwortete Carter und drückte mit einer Hand seine Zigarette aus, während er sich mit der anderen schon wieder eine neue anzündete.
»Gut.« Jack schrieb eine kurze Notiz auf das Blatt vor ihm. »So, gestern war ich bei einer Besprechung zugegen, bei der es um deine Teilnahme an den verschiedenen Kursen ging, die hier in der Vollzugsanstalt angeboten werden.«
Carter verdrehte genervt die Augen.
Jack ignorierte es. »Ich kenne deine Ansichten zu diesem Thema, aber es ist wichtig, dass du, solange du hier einsitzt, Dinge tust, die dich herausfordern.«
Carter legte den Kopf in den Nacken und blickte verdrossen zur Decke. Herausforderung? Dieser ganze Laden war eine einzige Herausforderung. Jeden Tag aufs Neue war es eine Herausforderung, nicht die Beherrschung zu verlieren und einem dieser dämlichen Vollidioten, die hier herumliefen, eine zu verpassen.
»Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl«, fuhr Jack fort. »Englische Literatur, Philosophie, Soziologie. Ich habe Mr Ward und den Bildungsspezialisten erklärt, dass du zwar mit deinen bisherigen Tutoren einige Schwierigkeiten hattest, du dich inzwischen aber nicht mehr wie ein siebzehnjähriger Schulabbrecher benimmst. Das stimmt doch, oder?«
Carter zog eine skeptische Miene.
Jack stützte das Kinn auf die Fingerspitzen. »Welchen Kurs möchtest du belegen?«
»Ist mir egal«, erklärte Carter schulterzuckend. »Ich wünschte, sie würden mich verdammt noch mal einfach in Frieden lassen.«
»Aber die Teilnahme ist Voraussetzung für die Bewilligung einer frühen Umwandlung deiner Gefängnisstrafe in eine Bewährung. Du musst beweisen, dass du Fortschritte in deinem Rehabilitationsprozess machst. Und wenn es dazu nötig ist, hier ein paar Kurse zu belegen, dann wirst du eben mitspielen müssen.«
Das wusste Carter ebenfalls, und es machte ihn unsagbar wütend. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr war er von einem Anwalt, Bewährungshelfer oder Therapeuten zum nächsten durchgereicht worden und hatte sich dabei nie Gedanken darum gemacht, ob oder wie er eines Tages etwas Sinnvolles mit seinem Leben anfangen sollte. Und was genau »sinnvoll« war, wusste er auch nicht.
Doch nun, nach neunzehn Monaten in Kill, bekam er langsam das Gefühl, dass den Rest seiner Tage im Gefängnis zu verbringen, doch keine so verlockende Perspektive war, wie er ursprünglich geglaubt hatte.
Damals als verirrter, arroganter, zorniger Teenager hatte er seinen schlechten Ruf noch genossen. Doch inzwischen war die Begeisterung verflogen. Gerichtssäle, Untersuchungshaftanstalten und Gefängnisse kannte er inzwischen nur zu gut, und langsam, aber sicher ödete ihn das Rechtssystem an. Wenn er sich nicht bald am Riemen riss, wäre er in null Komma nichts über dreißig und würde sich fragen, was eigentlich aus seinem Leben geworden war.
Jack räusperte sich. »Hast du in letzter Zeit Besuch bekommen?«
»Paul war letzte Woche da. Und Max kommt am Montag.«
»Wes.« Jack zog seufzend die Brille von der Nase. »Du musst vorsichtig sein. Max … er ist nicht gut für dich.«
Wutentbrannt knallte Carter die Hand auf den Tisch. »Glaubst du, du hast das Recht, solch einen Mist zu behaupten?«
Carter wusste, dass Jack seinen Kumpel Max O’Hare für eine Art Infektionsherd hielt, der alle in seiner Umgebung mit seinen Drogenproblemen ansteckte, mit seiner langen kriminellen Vorgeschichte und der unnachahmlichen Fähigkeit, seine Freunde in die Scheiße zu reiten – wofür Carters derzeitiger Aufenthalt in Kill der beste Beweis war. Doch Carter hatte tief in Max’ Schuld gestanden. Die Gefängnisstrafe war seine Wiedergutmachung dafür, und er hätte noch einmal genauso gehandelt, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Nein«, meinte Jack beschwichtigend, »das denke ich durchaus nicht …«
»Gut«, fiel Carter ihm ins Wort. »Denn du hast keine Ahnung, was Max alles durchgemacht hat und noch immer durchmachen muss. Wirklich keine Ahnung.« Er nahm einen tiefen Zug und sah Jack durchdringend über die Glut hinweg an.
»Ich weiß, er ist dein bester Freund«, sagte Jack nach einem Augenblick angespannten Schweigens.
»Allerdings«, sagte Carter mit einem entschlossenen Nicken. »Das ist er.«
Und nach dem zu urteilen, was ihm die anderen bei ihren Besuchen berichtet hatten, brauchte sein Freund ihn gerade mehr denn je.
Selbst wenn Kat Lane schlief, war die Welt um sie herum beklemmend und voller Schatten, die ihre Träume mit Angst erfüllten. Ihre kleinen Hände gruben sich in die Laken, krampften sich verzweifelt zusammen. Ihre geschlossenen Lider zuckten, die Kiefermuskeln spannten sich an, und ihr Kopf presste sich in die Kissen. Ihr Rücken wurde ganz steif, und ihre Füße bewegten sich im Schlaf, als sie erneut panisch und verstört die schummrige Gasse entlangrannte.
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, gefangen in den endlos wiederkehrenden Bildern der Ereignisse der Nacht vor sechzehn Jahren. »Bitte«, wimmerte sie ins Dunkel hinein.
Doch niemand würde kommen und sie vor den fünf gesichtslosen Männern retten, die sie jagten. Mit einem Schrei setzte sie sich abrupt auf, schwitzend und atemlos. Ziellos zuckte ihr Blick durch das stockdunkle Zimmer. Erst als sie sich erinnern konnte, wo sie war, schloss sie die Lider wieder und schlug die Hände vors Gesicht. Sie atmete langsam ein und aus, ließ den Atem durch ihre wunde Kehle strömen, wischte die Tränen fort und versuchte, sich zu beruhigen.
In den vergangenen zwei Wochen war sie jeden Tag auf diese Art aufgewacht, und die Trauer, die sie jedes Mal, wenn sie die Augen aufschlug, aufs Neue überwältigte, war ihr inzwischen viel zu vertraut. Erschöpft schüttelte sie den Kopf. Ihre Ärztin hatte sie gewarnt, die Schlaftabletten abrupt abzusetzen – vielmehr sollte sie die Dosis schrittweise reduzieren. Kat hatte nicht auf ihren Ratschlag gehört, entschlossen, eine Nacht ohne chemische Hilfsmittel durchzustehen. Doch ihre Entschlusskraft half ihr nicht. Frustriert rammte sie die Faust in die Matratze und schaltete die Nachttischlampe an. Doch auch das Licht vermochte nicht, die Ängste und das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit zu vertreiben, die ihre Träume jedes Mal mit sich brachten.
Mit einem resignierten Seufzen stand sie auf und ging ins Badezimmer. Das grelle Licht dort blendete sie. Nachdenklich betrachtete sie ihr Bild im Spiegel. Lieber Himmel, sie sah viel älter aus als vierundzwanzig! Sie wirkte abgespannt – die grünen Augen matt und leblos. Sie strich mit dem Finger über die dunklen Ringe, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihre früher voluminöse rotbraune Mähne hing ihr platt und trocken auf die Schultern.
Ihre Mutter hatte angemerkt, dass sie abgenommen hätte, aber Kat hatte ihren Worten kaum Beachtung geschenkt. Sie musste immer irgendeinen Kommentar abgeben.
Kat war weiß Gott nicht dünn – sie war schon immer eher kurvig als knochig gewesen –, doch ihre Jeans in Größe 30 saßen inzwischen wirklich etwas lockerer als sonst.
Sie öffnete den Badschrank und nahm eine Glasflasche mit Schlaftabletten heraus. Wie sehr sie sich wünschte, wieder einmal eine Nacht ohne Medikamente schlafen zu können! Obwohl die Pillen eigentlich ohnehin nicht viel halfen. Sie dämpften lediglich ein wenig den Schmerz, der nie ganz verschwand. Nachdem sie zwei der blauen Kapseln geschluckt hatte, tapste sie über den bloßen Holzfußboden zurück ins Bett.
Kat hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass ihr Schlaf niemals tief genug war, um den Albträumen zu entfliehen. Sie waren tief in ihr verwurzelt, ein Teil ihrer selbst – und würden niemals verschwinden. Sie wusste, dass keine Pille und keine Therapie die Finsternis und Traurigkeit in ihrem Inneren auslöschen könnten.
In der Folge hatte sie sich zu einer hitzigen willensstarken Frau entwickelt. So fiel es ihr leichter, andere Menschen auf Abstand zu halten und ihre Verzweiflung und Angst hinter einem scharfen Verstand und einer spitzen Zunge zu verbergen.
Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken. Würde es jemals leichter werden?
Sie wusste es nicht. Das Einzige, was sicher war, war, dass der Sonnenaufgang einen neuen Tag bringen würde und ihre Vergangenheit einen Tag weiter entfernt läge.
Am nächsten Morgen trat Kat aus dem Apartmenthaus in SoHo und stieg in ihr Auto. Der Albtraum hatte wie immer ein betrübtes, angespanntes Gefühl in ihr hinterlassen, und erneut fragte sie sich, weshalb um alles in der Welt sie ausgerechnet einen Job als Kursleiterin in einem Gefängnis angenommen hatte.
Dass sie vor gut einem Monat begonnen hatte zu unterrichten, hatte nicht nur die Albträume zurückgebracht, sondern auch eine tiefe Kluft zwischen ihr und ihrer Mutter aufgerissen. Schon immer war ihre Beziehung zueinander ein beständiges Auf und Ab gewesen, doch als Kat sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie im Arthur-Kill-Gefängnis arbeiten würde, hatte das zu dem schlimmsten Streit zwischen ihnen geführt, den sie jemals gehabt hatten. Eva Lane war eine komplexe, starrköpfige Frau und würde niemals verstehen können, weshalb Kat diesen Job unbedingt machen musste.
Kat konnte die Bedenken ihrer Mutter und einiger ihrer Freunde nachvollziehen. Auch wenn in dieser Strafanstalt keine Mörder einsaßen, war die Liste der Vergehen dennoch beunruhigend: Vandalismus, Autodiebstahl, Drogenbesitz und -konsum. Doch trotzdem bestand für sie kein Zweifel daran, dass sie genau dort arbeiten wollte. Denn tief in ihrem Inneren hatte ein hochheiliges Versprechen, das sie ihrem Vater einst gegeben hatte, an ihrer Seele genagt.
Dieses leise Gefühl war da seit dem Tag, an dem ihr Vater gestorben war. Es war da an dem Tag, an dem sie die Highschool beendete, und an dem, als sie mit einem Abschluss in Englischer Literatur von der Universität abging. Schon seit ihrer Kindheit hatte Kat davon geträumt, eines Tages zu unterrichten, und sie genoss jede Sekunde in ihrem Job.
Sie hatte das große Glück gehabt, nach London und China reisen zu können, und bei ihrer Tätigkeit für verschiedene Privatschulen hatte sie sich täglich mehr in ihren Beruf verliebt. Sie hatte Freunde gefunden, fremde Kulturen kennengelernt und wunderbare Verbindungen geknüpft, die sich niemals lösen würden. Trotzdem wusste sie tief in ihrem Herzen, dass sie in einer Schule, deren Besuch die Schüler fünfzigtausend Dollar jährlich kostete, ihr Versprechen nicht erfüllte.
Den fleißigen, begabten Kindern zu helfen war nicht ihre Aufgabe.
»Wir müssen auch etwas zurückgeben, Katherine«, hatte ihr Vater an dem Abend, an dem er gestorben war, zu ihr gesagt.
Sie hatte erwogen, eine Stelle in einer innerstädtischen Schule anzunehmen, doch auch das besänftigte das unablässige Nagen nicht.
Die Arbeit im Gefängnis schon.
Sie musste näher bei ihren Ängsten sein, bei Männern, die keinerlei Bedenken hatten, das Gesetz zu brechen und die Leben anderer Menschen ohne Rücksicht auf Konsequenzen auf den Kopf zu stellen. Sie musste ihnen näherkommen, um zu begreifen, weshalb eine Person zu einem derartigen Verhalten fähig sein konnte. Sie hasste ihre Angst. Sie hasste die Wurzel dieser Angst, doch sie wusste, dass sie sich ihr stellen musste – auch wenn sie sich schrecklich davor fürchtete.
Ihre Therapeutin hatte äußerst besorgt auf ihren Entschluss reagiert, hatte immer wieder nachgefragt, ob Kat mit dieser Entscheidung auch wirklich glücklich sei, ob sie sie für richtig hielte – und wenn ja, warum. Sie argumentierte sogar mit den Sorgen ihrer Mutter, um Kat umzustimmen.
Doch diese Entscheidung zu treffen stand allein Kat zu – niemandem sonst. Und wenn sie erst einmal getroffen war, gab es kein Zurück mehr. Egal, was dabei herauskam oder was ihre Mutter dazu zu sagen hatte – Kat würde damit leben, weil sie wusste, wie viel es ihrem Vater bedeutet hätte.
Die Arthur-Kill-Vollzugsanstalt sah aus, als entstamme sie der Serie Prison Break. Wachmänner mit großen, bösartig aussehenden Hunden patrouillierten unter hohen Wachtürmen, die rundum mit Zäunen und tückischem Stacheldraht gesichert waren.
Kat fuhr ans Tor vor den Parkplätzen und wartete auf den diensthabenden Beamten. Nachdem der schweigend ihren Sicherheitsausweis in Empfang genommen hatte, verschwand er in der Wachstube. Gleich darauf kam er wieder zurück und wies sie an, zu dem tristen Gebäude hinüberzufahren, in dem sie arbeitete.
Kat stellte den Wagen ab. Links von ihr spielten einige Häftlinge hinter einem hohen Maschendrahtzaun Basketball. Sie hatten sich die Oberteile ihrer grünen Overalls ausgezogen und an den Hüften zusammengebunden, und ihre schweißüberströmten Oberkörper glänzten in der heißen Junisonne. Der Weg vom Auto bis ins Gebäude erschien ihr meilenweit, insbesondere, da sie ihn begleitet vom anzüglichen Geheul und den Pfiffen der Männer auf dem Basketballfeld zurücklegen musste.
Sie ging schneller und umklammerte schließlich die Klinke der großen Tür wie einen Rettungsring. Drinnen strich sie sich fahrig die Ponysträhnen aus dem Gesicht. Ein leises Kichern ertönte zu ihrer Begrüßung. Als sie aufsah, stand der narzisstische Wachmann Anthony Ward vor ihr.
Ward war Ende dreißig. Sein Gesicht wirkte noch immer voll und jugendlich, doch in den streng zurückgekämmten Haaren trug er viel zu viel Gel. Prüfend musterte er Kat mit seinen dunkelgrauen Augen, ehe ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen huschte, bei dem auf seiner linken Wange ein großes Grübchen erschien. »Ms Lane«, sagte er und streckte ihr die Hand hin.
Kat ignorierte sie und versuchte, sich ein wenig zu sammeln, indem sie ihren knielangen graphitfarbenen Rock glatt strich. »Mr Ward.«
Mit einem befangenen Nicken zog er die Hand zurück und richtete sich kerzengerade auf, um größer zu wirken. Kat war dieses Verhalten schon häufiger aufgefallen, gerade in Gegenwart der Häftlinge. Doch es war vergeblich. Der arme Kerl war eben untersetzt, daran ließ sich nichts ändern.
»Also«, begann er. »Wie geht es Ihnen? Leben Sie sich gut ein?«
Kat lächelte. »Ja, ich denke schon.« Bisher waren ihre Unterrichtsstunden weitestgehend ohne Zwischenfälle verlaufen, und wenn ihre Studenten mit ihr sprachen, benutzten sie inzwischen nicht mehr das Wort mit F als Kommaersatz.
Ward rückte seine Krawatte zurecht. »Gut. Nicht vergessen, ich werde Ihrem Kurs heute Morgen beiwohnen. Und falls Sie irgendetwas brauchen, dann zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden.«
»Das werde ich tun. Vielen Dank.«
Sie ging an ihm vorbei und ignorierte seine Blicke, die einen Hauch zu lange an ihren Brüsten klebten. Kat konnte seine lüsternen Anwandlungen und seine Unfähigkeit, in den Häftlingen mehr als nur Abschaum zu sehen, nicht ausstehen. Für ihn war die Vorstellung, dass sich die Verurteilten während ihrer Gefängnisstrafe tatsächlich bessern könnten, offenbar völlig abwegig, wodurch er unbewusst Kats Job als sinnlos abstempelte. Also ging sie ihm, soweit sie konnte, aus dem Weg.
Als Kat den Unterrichtsraum betrat, war sie dankbar für die angenehm kühle Brise, die die im Fenster verankerte Klimaanlage erzeugte. Im Rest des Gebäudekomplexes herrschten Temperaturen wie in der Sauna. Sie drehte sich die Haare im Nacken zusammen und fuhr herum, als ihre Lehrassistentin Rachel mit geröteten Wangen den Raum betrat.
Sie stieß den Atem durch ihre roten Lippen aus. »Himmel, heute ist es heiß wie in der Hölle!«, klagte sie und wedelte sich in Hoffnung auf Abkühlung mit ihrem T-Shirt Luft zu.
Rachel war in ihrem neuen Job eine Art Lebensretterin für Kat gewesen. Sie war dafür ausgebildet, Insassen mit Lernschwierigkeiten zu unterstützen, und dank ihrer Hilfe hatte Kat ihre neuen Schüler sehr schnell besser kennengelernt – insbesondere Riley Moore, einen schrägen Vogel, der unter einer stark ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche litt. Was ihn allerdings nicht davon abgehalten hatte, einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften an der NYU zu erreichen.
Riley gehörte zu ihren Lieblingsschülern. Es saß wegen des Verkaufs gestohlener Autoteile ein, und mit seinen stattlichen eins neunzig und den breiten Schultern ließ er selbst Atlas alt aussehen. Er war witzig und flirtete schamlos mit beiden Frauen. Doch im Gegensatz zu Ward war Riley charmant und alles, was er sagte, eindeutig ironisch gemeint. Es war ungemein schwer, ihm die unaufhörlichen und doch harmlosen vieldeutigen Anspielungen übel zu nehmen, vor allem dank seiner schelmisch blitzenden haselnussbraunen Augen und seines bärtigen Engelsgesichts.
Es gab noch vier weitere Teilnehmer in ihrem Kurs, die allesamt engagiert mitarbeiteten und sich bemühten, sich unter Kontrolle zu halten, und Kat war ziemlich stolz darauf, wie schnell sie sie auf Linie gebracht hatte. Sie alle hatten großartige Fortschritte gemacht.
Zwei Minuten nach neun durchbrach Rileys dröhnende Stimme die Stille. Kat drehte sich grinsend zu ihm um. Er wurde von einem Wachmann und den anderen Schülern begleitet.
»Ms L!«, brüllte er und hielt Kat die Hand zum High-five hin.
Sie schlug ein.
»Schönes Wochenende gehabt?«
»Ja, danke der Nachfrage, Riley. Und Ihres?«
»Ach, na ja.« Er zuckte mit den Schultern. »Hab hier und da ein bisschen Ärger gemacht. Dafür gesorgt, dass Wards Haaransatz wieder ein Stück nach hinten wandert.«
Kat bemühte sich, nicht zu lachen, da Ward gerade mit ihren übrigen Schülern Sam, Jason, Shaun und Corey hereinkam. Jason lächelte Kat unter seinen schlaffen braunen Ponysträhnen hervor ergeben an. Corey und Shaun hoben zur Begrüßung nur das Kinn, und Sam huschte zu seinem Platz und setzte sich, ohne Kat zur Kenntnis zu nehmen. Anfangs hatte Kat sein Benehmen irritiert, doch inzwischen akzeptierte sie es als Teil der Routine, die sie sich aufgebaut hatten. Und Routinen zu haben war, wie Rachel erklärt hatte, für die Männer, die in Kill einsaßen, von essenzieller Bedeutung. Für viele war ein geregelter Tagesablauf das Einzige, an das sie sich klammern konnten, um nicht den Verstand zu verlieren.
Ohne Ward, der hinten im Kursraum Stellung bezogen hatte, weiter zu beachten, begann Kat mit dem Unterricht. Sie fasste die vorangegangene Stunde noch einmal zusammen und bat die Männer dann, ihre persönlichen Lieblingsplätze mithilfe von Metaphern und Personifizierungen zu beschreiben. Sofort begannen ihre Schüler, still zu schreiben.
»Okay«, rief sie schließlich. »Wer von euch hat den Mut, vorzulesen, was er …?«
Die Tür wurde derart schwungvoll aufgerissen, dass sie gegen die Wand prallte. Ein ziemlich aufgelöster Wachmann kam atemlos keuchend in den Raum gehetzt. Ward sprang auf.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Sir«, ächzte der Beamte, »aber wir haben ein Problem in Zimmer sechs.«
»Wer?«, fragte Ward barsch und stürmte zur Tür.
»Carter, Sir.«
Ward kniff die Augen zu und presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren. Als er schließlich die Tür hinter sich zugeknallt und mit dem andern Wachmann davongeeilt war, sah Kat fragend ihre Schüler an. »Carter?«
Riley lachte laut auf, und die angespannte Stimmung, die Wards Abgang hinterlassen hatte, zerstob. »Carter. Verdammt noch mal! Dieser Kerl wird sich nie ändern.«
»Du schläfst schlecht, oder?« Ben, einer von Kats engsten Freunden und obendrein ein irritierend guter Beobachter, lächelte traurig, als der Kellner einen dreifachen Espresso vor Kat auf den Tisch stellte.
Wahrscheinlich hatten sie nicht nur die permanenten Versuche, während des Essens das Gähnen zu unterdrücken, verraten. Kat wusste, dass sie furchtbar aussah. Selbst Estée Lauder konnte die Ringe, die die Müdigkeit unter ihren Augen hinterließ, nicht tilgen. Außerdem kannten sie und Ben sich nun schon seit sechs Jahren, und ihm entging nie etwas. »Ich habe es versucht«, sagte sie und schüttelte ein Päckchen Süßstoff.
»Hast du noch immer Albträume?«, fragte Beth, die links neben Kat saß.
Beth und Kat kannten sich bereits seit der Highschool, und obwohl Beth erst vor wenigen Monaten nach New York zurückgekehrt war, nachdem sie vier Jahre in Texas unterrichtet hatte, war es den beiden Frauen leichtgefallen, ihre alte Freundschaft ganz selbstverständlich wieder aufzunehmen.
Kat fand es schön, sie wieder bei sich zu haben. Sie vervollständigte ihren Dreierbund. Auch wenn die andauernde Besorgnis ihrer Freunde Kat manchmal fast in den Wahnsinn trieb. Ihr war durchaus bewusst, dass sie es nur gut meinten, aber in Kombination mit den permanenten Ängsten ihrer Mutter bezüglich ihres neuen Jobs wurde es langsam ermüdend.
Ben schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst, oder?«
Wie fürsorgliche Geschwister hatten sich Ben und Beth schon mehrfach bereit erklärt, Kat in den Nächten, in denen die Albträume zuschlugen, Gesellschaft zu leisten, und ihr zusätzlich angeboten, bei ihnen zu Hause zu übernachten. Kat hatte jedes Mal abgelehnt.
»Und dich und Abby mitten in der Nacht wecken?«, fragte sie schulterzuckend. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil wir deine Freunde sind und uns um dich sorgen«, erklärte Beth, bevor sie sich einen vollen Löffel Crème brûlée in den Mund schob.
»Insbesondere wegen deines Jobs«, fügte Ben hinzu.
Kat verzog missmutig das Gesicht. »Fang nicht wieder damit an.«
Ben hob defensiv die Hände. »Hatte ich nicht vor.«
Kat rührte in ihrem Kaffee. »Dieser Job …«
»Ist dir wichtig – das wissen wir«, unterbrach Beth. Ihre Züge wirkten etwas kantiger als früher in der Highschool, doch die kastanienbraunen Augen und ihr kurz geschnittenes, wirres aschblondes Haar verrieten Kat, dass sie noch immer das Mädchen war, das sie schon seit vielen Jahren kannte. »Aber trotzdem machen wir uns Sorgen.«
Ben legte die Hand auf Kats. »In den nächsten Monaten kommt einiges auf dich zu.«
Kat senkte den Blick auf die Tischplatte.
»Es dauert nicht mehr lange bis zum Jahrestag deines Vaters. Du sollst einfach nur wissen, dass Abby und ich für dich da sind, okay? Wir haben dich lieb.«
»Und ich hab dich auch lieb«, meinte Beth grinsend. »Auch wenn Adam mir diesen Diamanten gekauft hat, bist und bleibst du meine Nummer eins.« Dazu wackelte sie mit dem Finger, an dem der mit einem wunderschönen, quadratisch geschliffenen Diamanten besetzte Verlobungsring steckte.
Kat rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß. Und ich bin euch beiden sehr dankbar.«
»Und vergiss nicht, dass ich Anwalt bin«, bemerkte Ben. »Wenn dir jemand dort das Leben schwer macht, dann bin ich dein Mann. Du weißt, wenn nötig könnte ich für dich sogar dem Papst nachweisen, dass er Dreck am Stecken hat.«
Beth und Kat lachten, aber im Grunde hatte Ben den Nagel auf den Kopf getroffen. Die meisten seiner Fälle gewann er, weil er dank seiner Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit hervorragend im Dreck wühlen konnte … und weil ihm viele Leute Gefallen schuldeten. Mit dem Instinkt eines Jagdhunds witterte er Skandale oder Bestechungsfälle schon zehn Kilometer gegen den Wind.
»Hey, hat deine Mutter dich eigentlich schon angerufen?«, erkundigte sich Beth.
»Letzte Nacht allein drei Mal«, erwiderte Kat seufzend.
Beth runzelte die Stirn. »Mich hat sie auch angerufen. Sie ist eben beunruhigt.«
Kat schnaubte höhnisch. »Hör mal, ich weiß, dass du auf der Seite meiner Mom stehst …«
»Ich stehe auf niemandes Seite«, konterte Beth. »Ich kann nur verstehen, was in ihr vorgeht. Es muss schwer für sie sein.«
»Schwer für sie?«, entgegnete Kat ärgerlich. »Seit dem Tag, an dem ich diesen verflixten Job angenommen habe, beklagt sie sich andauernd bei mir.« Im Tonfall ihrer Mutter fuhr Kat fort: »Es ist nicht sicher dort, ich begebe mich vorsätzlich in Gefahr, wenn ich mit diesen Tieren dort arbeite, bla, bla, bla.« Sie ließ den Kopf hängen. »Warum kann sie mich nicht unterstützen?«
»Sie meint es doch nur gut«, sagte Ben. »Irgendwann wird sie schon ein Einsehen haben.«
»Sicher«, antwortete Kat wenig überzeugt.
Carter erwachte. Er hatte tief und fest geschlafen. Das kleine Komplott gegen Anthony Ward hatte ihn offenbar mehr angestrengt als gedacht. Carter lächelte. Dieser Vollidiot hatte ja keine Ahnung, mit wem er sich angelegt hatte.
Bis vier Uhr – also noch zwei Stunden – musste Carter in seiner Zelle bleiben. Dann endete seine vierundzwanzigstündige Strafe, die er dafür aufgebrummt bekommen hatte, dass er einen Stuhl gegen die Wand gestoßen hatte. Was für ein Schwachsinn!
Zugegeben, vielleicht hatte er den Stuhl etwas kraftvoller gehandhabt, als es unbedingt nötig gewesen wäre, doch der Leiter seines Philosophiekurses hatte trotzdem eindeutig überreagiert. Und Ward? Der wusste nur zu gut, wie man Carter auf die Palme bringen konnte.
Jack erschien mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck, von dem sich Carters Magen unwillkürlich zusammenzog, und einem neuen Besuchstermin für Max. Wenn man bedachte, was Jack von Max hielt, war das schon eine recht großzügige Geste. Und wieder einmal hätte sich Carter dafür, dass er seinem Sozialarbeiter gegenüber so unverschämt gewesen war, selbst in den Hintern treten können. Manchmal redete er einfach, ohne nachzudenken.
»So, wir mögen also Philosophie nicht besonders?«, fragte Jack mit einem angedeuteten Grinsen. »Aristoteles ist nichts für dich?«
»Nicht wirklich.«
Jack nickte und rieb sich den Nacken. »Danke übrigens, dass ich mir eine Moralpredigt von Anthony Ward anhören durfte. Dafür schulde ich dir etwas.«
»Ach so, das«, murmelte Carter von seiner Pritsche aus. »War mein Fehler.«
Das musste Jack als Entschuldigung reichen.
»Allerdings«, stimmte Jack zu. »Meine Güte, Wes, so etwas hast du nun wirklich nicht nötig!«
Carter seufzte bedrückt und zog die Knie an die Brust. »Jack, der Kerl hat Mist geredet. Er hatte es verdient.«
»Nun, ungeachtet der Gründe für dein Verhalten hast du jetzt einiges wiedergutzumachen.«
»Ach ja?«, blaffte Carter.
»Und ob!«, gab Jack unbeeindruckt zurück. »Ich habe dich für den Literaturkurs angemeldet. Ich weiß, dass du liest.« Er deutete auf die Regale an der rechten Zellenwand, die mit zerschlissenen eselsohrigen Büchern vollgestellt waren. »Und die Kursleiterin ist eine Frau. Vielleicht mindert das deine Feindseligkeit ein wenig.«
»Feindseligkeit?«
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Jack scharf. »Du hast versprochen, dich zu bemühen. Nun beweise mir, dass es dir auch ernst damit ist. Ich musste diesem Ar…« Er spähte zu dem Wachmann hinüber, der keinen Meter von ihnen entfernt stand. »Ich musste Ward sehr höflich davon überzeugen, dir noch eine Chance zu gewähren. Ich will nicht hoffen, dass das nur Zeitverschwendung war.«
Carter fuhr sich durchs kurz geschorene Haar. Er steckte in einer Sackgasse. Ward hatte nicht nur Jack bei den Eiern, sondern auch ihn. Er hätte nichts lieber getan, als diesem arroganten Saftsack eins mit seinem eigenen »Regelbuch« überzubraten, doch er durfte Jack nicht noch mal enttäuschen. Er war gestresst und frustriert.
»Du kriegst das hin«, sagte Jack leise und trat einen Schritt näher.
Der Wachmann regte sich unruhig.
»Ja«, murmelte Carter. »Mal sehen.«
Trotz des langen Schlafs fühlte Carter, wie die Müdigkeit schon wieder herankroch. Die Wände schienen näher zu kommen, und sein Kopf war schwer. So fühlte man sich eben, wenn man zweiundzwanzig Stunden im selben Raum eingesperrt war. Selbst er war nicht dagegen gefeit.
»Morgen früh«, sagte Jack und nickte ihm aufmunternd zu. »Ms Lane leitet den Kurs. Sie ist sehr gut. Versuch … versuch es einfach, okay?«
»Okay.« Carter reckte drei Finger in die Luft. »Pfadfinderehrenwort.«
Jack lächelte. »Und vorsorglich habe ich angeordnet, dass alle Stühle im Klassenzimmer am Boden festgeschraubt werden.«
Carter lachte lauthals auf. »Gut mitgedacht, J«, rief er Jack nach, bevor der Wachmann die Zellentür zuschlug und Carter wieder mit sich selbst allein war.
Die letzten beiden Stunden seiner Strafe krochen im Schneckentempo dahin, und als der Wachmann endlich wieder die Zellentür öffnete, rannte Carter ihn fast über den Haufen. Er reckte die Arme, dehnte seinen Nacken und eilte hinaus ins Freigelände.
»Yo, Carter!«
Riley Moores donnernde Stimme hallte übers Basketballfeld.
Carter lächelte. »Moore«, begrüßte er ihn und schlenderte auf den hünenhaften Mann zu.
»Wo hast du dich herumgetrieben?«, erkundigte sich Moore mit einem Klaps auf Carters Schulter. »Ich hab dich vermisst, du alter Querulant.«
»Gib mir was zu rauchen, und ich erzähle es dir.«
Riley holte eine Zigarette aus der Tasche und zündete ein Streichholz für Carter an. Die beiden gingen zu einer kleinen Bank im hinteren Teil des Spielfelds.
»Mach Platz!«, bellte Riley.
Sofort stoben die beiden Neuankömmlinge, die eben noch auf der Bank gesessen hatten, hektisch davon. Carter quittierte es mit einem Schnauben. Er setzte sich, schloss die Augen und genoss die heiße Sonne und den Rauch, der zwischen seinen Lippen hervorquoll.
»Also, was war los? Warst du etwa seit gestern damit beschäftigt, dir einen runterzuholen?« Lachend zündete sich Riley eine Zigarette an.
»Schön wär’s«, antwortete Carter mit Blick auf das Baseballspiel auf dem Platz. »Nein, Ward war schuld.«
»Nicht dein Ernst«, murmelte Riley kopfschüttelnd.
»Ich hatte eine geringfügige Auseinandersetzung mit meinem Kursleiter, und dafür verdonnerte er mich zu vierundzwanzig Stunden Arrest.«
»Üble Sache, Mann.« Riley schlug gegen Carters ausgestreckte Faust. Die beiden Männer kannten sich schon seit vielen Jahren, von innerhalb und außerhalb der Strafanstalt. Wenn Carter Moore bräuchte, dann wäre er immer für ihn da.
Plötzlich ertönten vom Spielfeld her Pfiffe und Gejohle. Die Männer wandten die Köpfe.
Riley gab ein Schnauben von sich. »Da wir gerade von Kursleitern sprechen …«, sagte er und hob eine Augenbraue.
Carter folgte seinem Blick und entdeckte jenseits des Maschendrahtzauns eine Rothaarige mit dem sinnlichsten Po, den er jemals gesehen hatte. Sie trug einen sexy schwarzen knielangen Rock und steuerte auf ein nettes Lexus-Sportcoupé zu, das auf dem Parkplatz abgestellt war. Die schwarzen hochhackigen Schuhe, die sie trug, betonten ihre schönen Beine und wirkten selbst aus der Entfernung äußerst anregend auf Carter.
»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Carter und versuchte, an den anderen Insassen vorbeizuspähen, die sich am Zaun aufgereiht hatten wie eine Bande Kinder im Zoo.
»Das ist Ms Lane«, erklärte Riley und lehnte sich auf seine Ellbogen zurück. »Die Leiterin meines Literaturkurses. Sie ist ziemlich cool.«
»Na, wenigstens etwas«, sagte Carter höhnisch und drückte seine Zigarette an der Bank aus.
»Was meinst du?«, fragte Riley verwundert.
Carter gestikulierte in die Richtung, in der das Auto verschwunden war. »Zumindest die Tutorin meines Literaturkurses gefällt mir.«
»Du belegst auch Literatur?«, fragte Riley schmunzelnd.
»Ja.« Carter verdrehte genervt die Augen. »Jack will, dass ich denen da oben beweise, dass ich mich innerlich ›bessern‹ kann. Hat etwas davon gefaselt, dass es mir helfen könnte, früher auf Bewährung rauszukommen. Ich glaube nicht recht daran.«
»Klingt für mich nach Schwachsinn.«
»Finde ich auch.« Carter lehnte sich zurück und reckte das Gesicht wieder der glühenden Sonne entgegen.