Über dieses Buch:
Sie wollen schmunzeln, lachen und sich in eine herrliche Heldin verlieben, die das Herz am rechten Fleck hat und noch dazu eine ausgesprochen scharfe Zunge? Dann freuen Sie sich auf Pauline Frohmuth! In »Ein Mann für jede Tonart« wird die zum Gefühlschaos neigende Sängerin direkt von zwei Männern umschwärmt, wobei der eine für ihren Geschmack deutlich zu verheiratet ist… Kann das gut gehen? Natürlich nicht! Aber von Herzschmerz und anderen Nebensächlichkeiten will Pauline sich auch in »Frau zu sein bedarf es wenig« nicht aufhalten lassen, zumal sie inzwischen mit einem bezaubernden kleinen Paulchen auf dem Arm ganz andere Probleme zu haben scheint als die Suche nach dem Traummann…
Über die Autorin:
Hera Lind, geboren in Bielefeld, studierte Germanistik, Theologie und Gesang. Sie machte sich europaweit als Solistin einen Namen und war 14 Jahre lang festes Mitglied des Kölner Rundfunkchores. Während ihrer ersten Schwangerschaft schrieb sie ihren Debütroman »Ein Mann für jede Tonart«. Dieser wurde sofort ein Bestseller und erfolgreich verfilmt – eine Erfolgsgeschichte, die sich mit zahlreichen Romanen wie »Das Superweib«, »Die Zauberfrau«, »Das Weibernest«, Kinderbüchern und Tatsachenromanen bis heute fortsetzt. Hera Linds Bücher wurden in 17 Sprachen übersetzt und verkauften sich über 13 Millionen Mal. Hera Lind ist Mutter von vier Kindern und lebt mit ihrer Familie in Salzburg.
Die Autorin im Internet: www.heralind.com
Hera Lind veröffentlichte bei dotbooks die Romane »Frau zu sein bedarf es wenig«, »Das Superweib«, »Das Weibernest«, »Die Zauberfrau«, »Der gemietete Mann«, »Hochglanzweiber«, »Mord an Bord«, »Der doppelte Lothar«, »Karlas Umweg«, »Fürstenroman« und »Drei Männer und kein Halleluja«, die Kurzromane »Rache und andere Vergnügen«, »Gefühle und andere Katastrophen« und »Hunde und Herzensbrecher« sowie das Kinder- und Vorlesebuch »Der Tag, an dem ich Papa war«.
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Sammelband-Originalausgabe Dezember 2014, März 2021
Copyright © der Originalausgabe »Ein Mann für jede Tonart« 1989 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Originalausgabe »Frau zu sein bedarf es wenig« 1992 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der eBook-Neuausgaben 2012 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/pausestudio, Kiefer Pix, Triff, Jusky
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 9-783-95520-898-1
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Hera Lind
Ein Mann für jede Tonart & Frau zu sein bedarf es wenig
Zwei Bestseller in einem Band
dotbooks.
Die Handlung und die Personen dieser Romane sind selbstverständlich völlig frei erfunden. Ehrlich!
Die Sängerin Pauline Frohmuth trifft auf der Bühne stets den richtigen Ton – in ihrem turbulenten Privatleben neigt sie dafür umso stärker zum Gefühlschaos. Zugegeben: Es ist durchaus reizvoll, sich von zwei Männern umschwärmen zu lassen. Und dass der eine von ihnen für ihren Geschmack ein bisschen zu verheiratet ist – nun, niemand ist perfekt. Doch dann wird Pauline schwanger. Und sie hat keine Ahnung, welcher ihrer beiden Verehrer der Vater ist …
Nebenan trällerte ein Sopran.
Recht hübsch soweit. Richtig mit Talent.
Die Stimme klang ausgeschlafen, geradezu jungfräulich und auch ein bißchen selbstverliebt.
»Duaa duaa duaa«, drang es durch die Hoteltapete. (»Die Klarinett, die Klarinett, macht dua dua dua gar so nett.«)
Ich gähnte, reckte mich unfein und schwang mich aus dem quadratisch-praktisch-guten Bett. Blick auf den Radiowecker: halb elf.
Immerhin, sechs Stunden Tiefschlaf waren mir vergönnt gewesen. Bis die Sopranine nebenan zu zwitschern begann. Andere Menschen werden vielleicht durch Vogelgezwitscher geweckt. Ich nicht. Jedenfalls nicht, wenn ich auf Dienstreisen bin. Dann müssen mir immer irgendwelche streberhaften Kollegen den ersten Morgengruß durch die Wand schicken. Man singt sich eben anständig ein, wenn man auf Dienstreise ist.
Vorbildliche Kollegin, die von rechts nebenan. Die hatte bestimmt nicht bis halb fünf gesumpft.
Kind, du wirst nie eine Dame. Warum mußtest du denn wieder die Nacht zum Tage machen. Guck mal in den Spiegel. Wie du wieder aussiehst! Ringe unter den Augen, Flecken im Gesicht. (Sind das etwa Knutschflecken?) Und die HAARE! Kind, du mußt dringend zum Friseur.
Draußen summte ein Staubsauger. Zwei ausländische Zimmermädchen debattierten laut auf dem Flur. Ich hängte das Schild »Bitte nicht stören« raus. Schade, daß es kein Schild »Bitte nicht röhren« gibt. Das hätte ich der Tante von rechts nebenan unter der Tür durchgeschoben.
Das Frühstücksbuffet war natürlich längst abgeräumt. Ich grabbelte mir einen Topf Magerquark aus der Plastiktüte unten im Schrank und frühstückte, auf dem Bettrand hockend. Dann kramte ich meine kleine Freundin, die Stimmgabel, aus der Handtasche und verzog mich zum Einsingen ins Badezimmer. Schließlich war in drei Stunden die Verständigungsprobe mit dem großen Meister.
Die Stimmgabel sagt mir immer, was ein »a« ist, auch wenn ich verrotzt und heiser bin. Diesmal war das »a« entsetzlich hoch. Los, Kind. Selber schuld, kein Mitleid, jetzt wird geübt.
»Mim mim mim«, brummte ich, aber mein Kopf brummte lauter. »Summ, mim man«, versuchte ich es erneut.
Das Badezimmer warf erbarmungslos das Echo an die Kacheln. Kratz, rotz, schepper.
Erste Töne sind immer schrecklich, kosten Überwindung, klingen schüchtern, als gehörten sie nicht zu mir. Besonders in Hotelbadezimmern, wenn rechts und links Kollegen lauschen. Und Zimmermädchen beim Ausschalten des Staubsaugers überrascht den Staubwedel sinken lassen.
Frau Jammersängerin.
Tonleiter, rauf, Tonleiter runter. Schrecklich. Steckte völlig im Hals.
Wo waren noch gleich diese Aspirin-Brausedinger? In der Plastiktüte unten im Schrank. Ich löste mir eins im Zahnputzglas auf.
Der Sopran nebenan jubelte mindestens bis zum »b«. Au, mein Kopf!
Ich sank auf den Badewannenrand. Warum, Alte? Warum bist du nicht so bieder wie die Rabiata nebenan? Warum gehst du nicht um halb elf ins Bett und nimmst deine Noten mit und sonst niemanden?!
Gestern war es also halb fünf, bis ich im Bett war, allein, meine ich. Kind, MUSSTE das denn wieder sein?
Mein innerer Schweinehund war wieder mal ausgerissen und hatte sich unerlaubterweise die halbe Nacht rumgetrieben. Einfach die Leine durchgebissen hatte das Vieh.
Ich stand wieder auf und fragte die Stimmgabel nach ihrer Meinung. Das »a« schepperte erbarmungslos an mein Katerhirn. Los, Kind. Nicht hängenlassen.
Tonleiter rauf, Tonleiter runter. In schiß-Moll.
Es klopfte. Der Ton blieb mir im Halse stecken. Bitte nicht stören! Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? Wahrscheinlich war es einer von beiden. Von den beiden gestern. Oboe und Tenorhorn. (Überhaupt. Wie kann man nur Tenorhorn ...?) Kollegen aus dem Orchester. Wehe, wenn sie losgelassen. Sie werden alle zum Rittersmann, und das nicht zu knapp.
»Ja bitte ?« fragte ich im Originalton Tante Lilli. Freundlich, aber bestimmt nannte sie das, doch es war noch eine gute Prise Pfeffer und Essig dabei.
»Jürgen is hier!«
Welcher Jürgen? Ach so, die Oboe. Also doch.
Ich ging zur Tür; mir fiel nichts ein. Jürgen. Ein blasses Dienstreisenkapitel. Ausgesprochen nett soweit. Und ausgesprochen verheiratet. Erster Oboist.
»Hallo, Jürgen. Was treibt dich vor meine Zimmertür?«
»Ich hörte dich singen, und da dachte ich, du bist schon wach.«
»Nein. Ich singe immer im Tiefschlaf. Was war es denn? Die Königin der Nacht?«
Jürgen öffnete den Mund, sagte aber nichts. Mir fiel wieder diese Narbe an der Oberlippe auf, die hatte er vom ewigen Pressen in das Mundstück seines Instrumentes.
Ich war zu hart gewesen. Der Rittersmann war extra herbeigeeilt, über Stock und Stein, will sagen, über Trepp und Flur, und jetzt mag das Burgfräulein ihr gülden Haar nicht runterlassen.
»Entschuldige, Jürgen«, lenkte ich wohlerzogen ein. (Kind, sei immer höflich, nett und bescheiden, das öffnet dir alle Türen!) Eigentlich wollte ich die Tür eher zuknallen. Aber das ging nicht. Der Schweinehund lag noch in seiner Hütte und knabberte an den Vorderpfoten. Er war noch nicht richtig wach nach der Toberei heute nacht.
»Ich mag deine Stimme, darf ich dir ein bißchen beim Üben zuhören?« Jürgen hatte schon einen Fuß über meine Schwelle gesetzt.
»Nein. Ich bin noch nicht eingesungen.« Das mußte er doch begreifen. Das Pferd wenden und wieder wegreiten.
»Ich mag aber deine Stimme, auch wenn du NICHT eingesungen bist«, beharrte Jürgen, und das war entschieden zuviel für meine verkaterte trübe Psyche. Mein Schweinehund schoß aus seinem Verschlag, fletschte die Zähne und geiferte mit giftigen Spucketröpfchen: »Jetzt aber raus!«
Ich knallte die Tür zu und stellte mir vor, wie der Rittersmann das dunkle Holz anstarrte und das heftig wackelnde Schild »Bitte nicht stören.«
Ein Brummen und Summen ging durch den Probensaal, man redete, lachte, begrüßte sich, scherzte, manch einer stimmte auch angelegentlich sein Instrument oder gab eine Passage aus dem Notenblatt zum besten. Jürgen saß versunken auf seinem Stuhl und liebkoste sein Oboenmundstück. Emsig, mit feuchten Lippen und Preßgrübchen im Gesicht. Das Mundstück gab gequälte Laute von sich, die Oboe selbst lag teilnahmslos herum. Ich könnte mal hingehen und sagen, ich höre dir so gern beim Mundstückeinweichen zu, dachte ich erbost. Ich mag deine Oboe auch ohne Mundstück. Oder so was. Vielleicht würde er merken, wie blöd er vorhin war. Aber der gekränkte Ritter würdigte mich keines Blickes.
Warum auch. Wer sich zum Chor umdreht oder lacht, kriegt den Buckel vollgemacht.
Als der Maestro kam, klopfte man gönnerhaft Beifall aufs Pult. Ein angesehener Meister des Taktstocks. Man kennt ihn. Wenn auch nur vom Plattencover oder aus dem Radio.
Der Meister zupfte sich seine strähnigen, fettigen dünnen Haare in den Hinterkopf, wo er sie mit einer Spange befestigte. Dann schüttelte er dem ersten Geiger kräftig die Hand. Dienstfertiges Aufspringen. Heftiges Schütteln seinerseits. Was sie sich an Herzlichkeiten sagten, konnte ich nicht verstehen.
Mit überraschend dünnem Stimmchen verkündete der Maestro: »Takt zwanzig, Damänchärän, bittä Ruhä, wir sind doch nicht im Kindergartän.«
Da hatte er nicht unrecht. Wir rissen uns zusammen. Dienst ist Dienst.
Im Saal lungerten einige Leute herum. Irgendwelche Gönner und Kunstkenner und Insider und Besserwisser. Also vielleicht Inspizienten und Chordirektoren und Korrepetitoren und Notenkofferschlepper oder Stimmgabelträger, was weiß ich. Wichtige Persönlichkeiten jedenfalls. Ich versuchte, mich auf die Probe zu konzentrieren.
»Takt dreizehn auf der drei bitte sforzato, und ab Takt sechzehn beginnendes Diminuendo.«
Aha. Allgemeines Bleistiftzücken und Kopfnicken.
Ich überlegte, was ich nach dem Diminuendo, also heute abend, machen würde. Essen gehen? Mit Kollegen? Das hatten wir doch schon so oft.
Allein? Kino? Oder ins Hotelzimmer und bieder sein? Fernsehen? Heile Welt mit Thekla Carola Witta Meisel? Sicherlich das Beste und Gesündeste!
Jürgen stand nicht zur Debatte. Dann lieber Bobby Ewing.
Ziffer zwölf. Pianissimo. Aber gern.
Um mich herum vermischten sich die verschiedensten Stimmen zu einem interessanten Gemisch von Vibrato, Lufthauch, ungeräuspertem »Gestern-abend-Timbre«. Einige selbstverliebte Schwelltöne. Die Talentierten unter uns. Die verhinderten Solisten. Die werden noch entdeckt. Vielleicht heute abend, durch eben jene selbstverliebten Schwelltöne.
Zittervibrato von hinten, Knoblauchgeruch von rechts. Ich beschloß, den Abend allein im Hotelzimmer zu verbringen.
***
»Was machen Sie, sind Sie allein?«
Ich hatte mich mit »Ja bitte« gemeldet.
»Wer ist da bitte?« (Tonfall: »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?«)
»Georg Lalinde.«
Aha. Wo hatte ich den Namen schon gehört?
»Wir haben uns vor zwei Wochen kennengelernt, nach der Neunten in Braunschweig. Haben Sie mich schon vergessen?«
Ach der. Der Kritiker.
»Guten Abend, Herr Lalinde. Was verschafft mir die Ehre?«
»Ich bin hier in Frankfurt. Ich habe Sie eben gesehen, war bei der Probe.«
Aha. Einer von den Rumlungerern. Ich hatte nicht so genau hingeschaut.
»Und – hat es Ihnen gefallen?« – Was sollte ich sonst sagen?
»Ich würd es gern mit Ihnen bei einem Glas Wein besprechen. Haben Sie Lust?«
Lust auf Wein – bedingt. Lust auf Probenbesprechung – sehr mäßig. Lust auf Herrn Lalinde – nun ja. Vielleicht interessanter als das Wirtschaftsmagazin auf dem Mini-Flimmer-Gerät.
Was zieh ich an, was sag ich, was will der von mir?
»Also gut, ich hab heute abend nichts vor. Wo treffen wir uns?«
»Ich bin hier unten in der Halle.«
Also ... Ein Mann der Tat. Ich legte auf und zog mich um. Bloß nicht zu fein. Der Mann ist viel zu alt für dich. Eigentlich geschmacklos von dir, mit ihm auszugehen. Gestern Panne-Jürgen, heute dieser Kritiker, dieser furztrockene, wohlgescheitelte Mittvierziger im hellen Popelinemantel und mit Krawatte. Wieso war der überhaupt in Frankfurt?
Es wurde ein unheimlich netter Abend. Zuerst bummelten wir durch Sachsenhausen, tranken hier und da einen Apfelwein aus groben, trüben Gläsern, landeten dann in einer herrlich einfachen Kneipe mit blankgescheuerten Holztischen und hockten uns nebeneinander auf eine schmale Bank.
»Zwei Äppelwoi und zweimal Handkäs mit viel Musik!«
»Wird gemacht, die Herrschaften!« Ein dicker glatzköpfiger Wirt mit nicht mehr ganz reiner Schürze legte sich elegant in die Kurve und zog ab Richtung Theke.
»Warum haben Sie mich eigentlich angerufen? Wieso sind Sie hier in Frankfurt? Haben Sie zu Hause im Moment nichts zu tun?«
»Ich schreibe über die Probenarbeiten. Keiner meiner Kollegen hatte Lust dazu. Die meisten bleiben lieber zu Hause.«
»Und Sie?«
»Im Moment nicht so gern.«
Pause. Schweigen. Blick zu mir, Blick auf den Handkäs. Ungeschicktes Herumstochern in den Zwiebelstückchen. Ich dachte an die morgige Probe und an die ganz neue Duftkomponente in der zweiten Reihe. Die Kollegen waren zum Knoblauchtanken beim Griechen.
»Was macht Ihre Frau, wie geht’s den Kindern?«
Wir hatten uns damals flüchtig darüber unterhalten. Ich hatte vergessen, was er über sie erzählt hatte. Im Grunde hatte ich den ganzen Mann vergessen.
»Dem Kind geht’s gut. Nina spielt jetzt im Klavierwettbewerb. Sie hat gute Chancen.«
Aha. Also ein Mädchen. Wie alt? Er hatte es mir bestimmt damals erzählt. Was man so auf Empfängen plaudert, wenn über die Musik nicht mehr gesprochen wird und der Sekt noch nicht ausgetrunken ist. Und der Chorbus noch nicht fährt.
»Und Ihre Frau? Geht’s ihr gut?«
Ich hatte sie auch kennengelernt. Kind, das ist eine Dame. Anfang Vierzig vielleicht, Typ: Hosenanzug Größe 38 und Strähnchen im kurzgeschnittenen Haar.
»Sie ist viel unterwegs.«
Aha. Sollte ich mir jetzt darauf etwas zusammenreimen? Schweigen. Drehen des Äppelwoiglases. Ich erzählte von mir. Von den Proben, den anderen Dienstreisen, den Kollegen. Ein unerschöpfliches Thema. Rettet jede Stimmung, bringt immer auf erfrischende Gedanken. Georg Lalinde lachte wieder. Wollte Genaues wissen. Taute regelrecht auf.
»Noch zwei Äppelwoi!«
Irgendwann nahm er meine Hand. Ich brauchte sie aber zum Gestikulieren, zum Nachahmen, zum Unterstreichen. Und zum Zigarettehalten. Er hatte mir eine angeboten, aus seinem goldenen Etui. Sie schmeckte so scheußlich, wie erste Zigaretten eben schmecken. Ein unangenehmes Schwindelgefühl schoß mir in den Kopf. Kind, warum tust du das jetzt? Ausgerechnet jetzt, nach achtundzwanzig Jahren passionierten Nichtrauchens?
Das Ausdrücken gelang mir nicht. Ich verbrannte mir den Finger. Georg Lalinde lächelte schmallippig-zynisch.
»Seit wann rauchen Sie denn?«
»Seit ich meine Hände beschäftigen muß.« Kind, laß doch diese Anspielungen.
Ich wollte gehen. Er wollte mir in den Mantel helfen. Nein danke. Ich halte nichts von diesen überalterten Umgangsformen. Schließlich ziehe ich mir seit mindestens vierundzwanzig Jahren allein den Mantel an.
Beide Hände in den Manteltaschen vergraben, wanderte ich neben ihm her. Sachsenhausen hatte inzwischen die Bürgersteige hochgeklappt. Feuchter Sprühregennebel zog über das Kopfsteinpflaster.
»Taxi oder laufen?«
»Laufen.«
Der Main lag kalt und dunkel und teilnahmslos vor der beleuchteten Stadtsilhouette. Ich atmete tief und mit System. Nur wieder klar im Kopf werden. Nur ins warme Hotelbett. Allein.
»Müde?«
»War ein langer Tag.«
»Leben Sie gerne so?«
»Wie meinen Sie das?« Wußte er von meinen oberflächlichen Eskapaden? Ich war eigentlich nicht »so eine«. Das lag mir gar nicht.
»Ja, so in der Gruppe und doch allein. Soviel unterwegs. So ohne Familie, was weiß ich, ohne Mann und Kind und Einbauküche oder was auch immer.«
»Im Moment lebe ich gerne so. Reisen und Musik machen und Leute treffen und damit auch noch Geld verdienen ...«
»Und später? Karriere oder Familie?«
»Karriere sicher nicht. Dafür bin ich nicht der Typ. Familie ...«
»Keine Karrierefrau?« Vielleicht ein etwas zu bohrender Unterton.
»Nein. Oder halten Sie mich dafür?«
»Dann müßten Sie als erstes lernen, sich in den Mantel helfen zu lassen.«
»Also keine Karriere.«
»Und der Mann, den Sie heiraten, darf Ihnen auch nicht in den Mantel helfen?«
Was für ein kleinkarierter Spießer. Popelinemantel, Krawatte, goldenes Zigarettenetui. Er könnte eben mein Vater sein. Schätzungweise war er achtzehn bis zwanzig Jahre älter als ich.
»Ehrlich gesagt, lege ich auf solche lächerlichen Kleinigkeiten keinen Wert.«
Es entspann sich eine Diskussion über dieses unerquickliche Thema. Es war doch fein, wieder nüchtern zu sein und streitlustige Rechthabereien von sich geben zu können.
»Bringen Sie mich eigentlich zum Hotel? Das müssen Sie nicht. Ich kann auch gut alleine gehen.«
Er blieb stehen. Sah mich enttäuscht an.
»Sind Sie wirklich so eine verunglückte Scheinemanze?«
Lalinde hatte recht. Ich benahm mich unmöglich.
»Entschuldigung. Ich rede mich manchmal in Rage. Ich würde mich sogar freuen, wenn Sie noch bis zum Hotel ...«
»Kleine Schwätzerin.«
Er hakte mich unter, und wir schoben weiter. Arm in Arm. Hoffentlich begegneten wir keinem Kollegen. Wie peinlich. Ich mit dem Kritiker.
Er roch angenehm. Sehr unaufdringlich und angenehm. Vor dem Hotel hielt er meine Hand etwas länger als nötig.
»Gute Nacht, Löwenfrau. Es war schön mit Ihnen.«
»Ich bin Skorpion. Wieso Löwenfrau?«
»Für mich sind Sie eine Löwenfrau.«
»Aha. Ja da kann man nichts machen. Dann werd ich jetzt wohl noch ein, zwei Schakale zerreißen und dann in meine Höhle gehen.«
Er drehte sich um, tat zwei Schritte, blieb stehen. Diese Bewegung, diese Geste der Unentschlossenheit sollte ich bei ihm noch oft erleben. Noch allzuoft.
»Ich bin sehr glücklich.«
Damit verschwand er im Nebel.
Am nächsten Morgen ein Anruf im Hotel: Ich solle meinen Agenten zurückrufen. Einspringer fürs Wochenende. Händel in K.
Ich freute mich. Terminlich paßte das hervorragend. Unsere Arbeit in Frankfurt würde Freitag abend beendet sein.
Die nächsten Tage verbrachte ich einigermaßen konzentriert mit Üben und der Probenarbeit.
Am Freitag war das große Chorkonzert in der Alten Konzerthalle. Der Saal war brechend voll, vermutlich ausverkauft. Wir waren gut und bekamen viel Beifall.
Ich suchte Lalinde im Saal. Er hatte sich seit jenem Dienstag nicht mehr gemeldet. Da saß er, zusammengesunken, die Hand am Mund, seine typische konzentrierte Zuhör-Haltung.
Ich lächelte ihn an. Er veränderte seine Mimik nicht. Kind, laß das. Na ja, er war ja dienstlich hier, genauso wie ich.
Beim Beifall stand er bereits auf, knöpfte sich das Jackett zu und verließ eiligen Schrittes den Saal. Er mußte vermutlich noch am selben Abend die Kritik verfassen und bei seiner Zeitung einreichen.
Als er durch eine der bereits geöffneten hinteren Türen verschwand, tat es mir fast leid.
Ich nahm den Spätzug nach K., um am nächsten Tag rechtzeitig bei der Generalprobe für mein Solo-Konzert zu sein. Zuerst war ich allein im Abteil. Ich genoß es, versuchte, es mir gemütlich zu machen, legte die Beine hoch und vertiefte mich in meine Noten.
»Guten Abend, hier noch frei?«
Ein Mann, aha. Mitte Dreißig vielleicht. Sah nett aus.
»Wie man unschwer erkennen kann.«
Er kam rein, wuchtete seine lederne, wichtig aussehende Aktentasche ins Gepäcknetz, setzte sich. Stand wieder auf, drehte an der Heizung, blätterte im Zugbegleiter, einem zerfledderten Heftchen mit mehr oder weniger wichtigen Informationen der Bundesbahn. Setzte sich mit Schwung.
Meine Noten wackelten. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Schwere Phrase, ausgesprochen lange, schwere Phrase.
Der Neuling räusperte sich.
Ich schloß die Augen. Dreiviertel-Takt, langsames Tempo.
»Sind das Noten?«
»Nein, das ist der Fahrplan auf südnepalesisch.« Ich mußte kichern. Leider. Ich muß oft über meine eigenen Witze lachen.
»Schlagfertig sind Sie jedenfalls.«
»Ein Profi bleibt aber ernst.« Ich ärgerte mich.
Was jetzt? Händel oder Small talk?
»Fahren Sie weit?«
Also Small talk.
»K. Und Sie?«
»Auch. Das ist ja ein netter Zufall.«
Ich lächelte. Ausgesprochen netter Zufall. Armer Georg Friedrich. Die Händel-Noten lagen auf meinem Schoß. Ziemlich unstudierte Händel-Noten.
»Machen Sie das beruflich?«
»Sie meinen, Noten lesen? Ja. Beruflich. Und Sie?« Ich bestrafe Neugier immer mit noch mehr Neugier. Das ist ein guter Trick. Er funktioniert immer. Man zwingt den Fragenden, selbst auszupacken.
»Raten Sie mal.«
Ach Gott, die Masche. Rate mal mit Rosenthal. Sie haben dreißig Sekunden Zeit, auf los geht’s los.
Ich betrachtete ihn reserviert. Sehr teurer Pullover, Marke »K.s einzig wahrer Herrenausstatter«, sehr adrett sitzende Bügelfaltenbeinkleider, geputzte Schuhe. (Kind, der Mann ist gediegen.) Vollbart, aber gepflegt. Und ein Haarschnitt, dynamisch und schick. Er war kein Schönling, dieser Mann. Kein gestylter Schickimicki. Aber gepflegt. Nicht zu lässig. Ob sein Pyjama Bügelfalten hatte? Einen Ehering trug er jedenfalls nicht. Also wenn Bügelfalten, dann verpaßte ihm die seine Haushälterin oder schlimmstenfalls seine Mutter.
Ich sagte: »Erweisen Sie der Menschheit einen Dienst?«
Daran, daß er nicht lachte, sondern ernsthaft und spontan antwortete: »Ja«, erkannte ich, daß er entweder keinen Humor hatte oder noch nie Robert Lembke gesehen hatte.
»Arbeiten Sie im geschlossenen Raum?«
»Ja.«
»Mitunter auch im Freien?«
»Selten.«
»Ein klares Nein, fünf Mark ins Schwein.«
Jetzt lachte er.
Aha. Also doch schon mal Robert Lembke gesehen.
»Stellen Sie etwas aus?«
»Nicht direkt.«
»Sagen Sie lieber Jein. Jein bringt noch zwei fünfzig ein.«
Er sah mich entgeistert an. »Sie haben wohl viel Zeit zum Fernsehen?«
Solche Fragen sind peinlich.
»Also, machen wir es kurz, Sie sind Anwalt. In Sachen Scheidung und Ehe- und Familienrecht.«
»Sehe ich so aus?«
Das ist wieder typisch. Erst raten lassen und dann beleidigt sein.
»Oder Dozent für Biochemie. Oder Marketing-Mensch.«
»Mit der Biochemie sind Sie schon nahe dran.«
»Zoodirektor.« Kind, bleib höflich.
Er spürte, daß ich keine Lust mehr hatte.
»Nein. Ich bin Mediziner.« Bescheidener Unterton.
Was erwartete er jetzt? Weitere Fragen? Womöglich nach Dienstgradstellung, Fachrichtung, Gehalt? Gynäkologe oder Zahnarzt? Und dann einige Fragen zum Thema, Beispiel: »Wo sitzen eigentlich die Lymphdrüsen?«
Ich sagte: »Aha.« Sonst nichts. Das war er wahrscheinlich nicht gewöhnt.
»Und Sie?«
Aha. Doch kein selbstverliebter Süchtling.
»Ich singe.«
Jetzt war es an ihm, verständnislos zu gucken. Klar, daß jetzt Fragen kommen mußten wie: »Richtig so? Schlager oder Oper? Und was machen Sie tagsüber?« Aber er sah nur auf den vergessenen Händel und sagte: »Oratorium?«
Ich strahlte ihn an. Daß er so ein schweres Wort wußte! Und hundertprozentig richtig anwendete! Plötzlich war er mir ausgesprochen sympathisch.
Wir redeten während der ganzen Fahrt bis K. über alles mögliche. Die Noten rutschten auf den Nebensitz. Ich erzählte ihm von den Probenarbeiten in Frankfurt, verriet ihm auch, daß ich am nächsten Tag ein Solo-Konzert in K. haben würde. Nicht ganz ohne Stolz.
Er selbst hatte vor zwei Jahren eine Praxis aufgemacht. Psychoanalyse oder so ähnlich. Damit hatte ich zum Glück noch nie zu tun.
»Sie können ja mal in der Praxis vorbeikommen.«
»Kein Bedarf. Ich bin unverschämt gesund. Aber Sie können ja mal im Konzert vorbeikommen!«
»Kein Bedarf. Ich bin unverschämt unmusikalisch.«
Wir liefen in K. ein. Verabschiedeten uns flüchtig – anscheinend wurde er erwartet.
Ich stieg aus, drehte mich nicht mehr um. Nahm mir ein Taxi und fuhr nach Hause.
Nichts Besonderes auf dem Anrufbeantworter. Keine besondere Post. Nichts Erwähnenswertes im Kühlschrank.
Ich nahm ein heißes Bad und ging ins Bett. Dachte etwas an Lalinde, dachte etwas an den Seelen-Doc aus dem Intercity. Und schlief ziemlich bald ein.
***
Der Dirigent von St. Hildebold war ein älterer robuster Herr, der den Taktstock mit solcher Vehemenz schwang, daß man Angst hatte, er ruderte sich einem Herzinfarkt entgegen. Der Chorbestand aus jeder Menge rüstiger Omas, die mich alle mehr oder weniger an meine Tante Elsbeth erinnerten. Rotwangig und frisch vom Friseur.
War ja auch ein großes Ereignis, Händel in St. Hildebold. Dafür hatten die monatelang geprobt. Wahrscheinlich war in letzter Zeit über nichts anderes mehr in der Gemeinde gesprochen worden.
Ich bewunderte die Omas, wie sie fast zwei Stunden lang in Reih und Glied standen, ohne zu schwanken. Selbst während der langen Arien der Solisten rührten sie sich nicht und hörten andachtsvoll zu.
Sie alle hatten weiße Blusen an mit mehr oder weniger vielen Rüschen und lange schwarze Röcke. Sie schienen alle dieselbe Schneiderin zu haben.
Die Herren – es waren unverhältnismäßig wenige – trugen dunkle Anzüge und weiße Fliegen. Sie bölkten diensteifrig und laut durcheinander. So eine Händel-Fuge ist nicht ohne. Im Tenor standen noch einige Damen zur Verstärkung. Eigentlich hätten sie auch dunkle Anzüge mit weißer Fliege tragen sollen. Wegen der Optik.
Während ich auf meine Arien wartete, betrachtete ich den Chor ausgiebig. Es gibt immer ein oder mehrere Gesichter, die innerhalb des Gesamtbildes besonders auffallen, sei es durch angenehme oder unangenehme Eigenschaften oder einfach nur komische. Die Dame außen rechts zum Beispiel bewegte ihren Mund ganz unnatürlich und übertrieben. Als würde sie vor Taubstummen singen. Eine andere verschwand völlig hinter ihren Noten. Man konnte das Gesicht dahinter nur erahnen. Eine jüngere Frau in der ersten Reihe tappte heftig mit dem Fuß im Takt auf den marmornen Altarraumboden. Sie hielt sich wahrscheinlich für besonders musikalisch.
Der Dirigent ruderte. Längst lief ihm der Schweiß über das Gesicht, und ein Tropfen blieb an seinem Kinn hängen, bevor er bei einer heftigen Auftaktbewegung auf das nicht mehr ganz frischgestärkte Hemd fiel.
Das Vorspiel zu meiner Arie. Ich unterdrückte leichtes Herzklopfen, atmete mit System. Blick aus den Noten, Kind. Freundlich schauen. Die Leute wollen auch was fürs Auge.
Plötzlich entdeckte ich Lalinde. Dritte Reihe außen links, zusammengesunkene Haltung, Hand am Mund. Konzentriertes Zuhören.
Das soeben unterdrückte Herzklopfen verstärkte sich wieder. Was machte der denn in diesem Vorstadtkonzert? Der konnte doch unmöglich über solch eine provinzielle Angelegenheit eine Kritik schreiben wollen.
Fast verärgert sang ich meine Koloraturen, in Gedanken nicht ganz ausschließlich bei Georg Friedrich Händel.
Der große alte Meister mochte es mir verzeihen. Ich hasse Überraschungen im Konzert. Meine Fans sollen sich gefälligst vorher anmelden.
Aber vielleicht war er gar nicht meinetwegen gekommen? Die Sopranistin war recht bekannt, dazu ausgesprochen hübsch. Jung und hübsch und musikalisch und frisch geschieden. Solche Gedanken hegte ich während meiner nicht ganz astrein abgelieferten Koloraturen. Wann hätte ich sie auch üben sollen, wenn nicht im Hotelbadezimmer in Frankfurt. Im Intercity ließ man mich ja nicht.
Ich setzte mich wieder.
Lalinde zeigte keine Regung. Er wechselte nur die Hand. Mein Herzklopfen ließ nach. Der Chor jubelte zu neuen Schärfen auf. Ende des ersten Teils.
Stimmpause. Allgemeines Räuspern, Nachstimmen der Instrumente. Der Dirigent und wir Solisten schritten hinaus. Das unterstrich unsere Wichtigkeit, würde uns schätzungsweise beim erneuten Eintreten einen weiteren Beifall einbringen. Außerdem mußte ich mal. Und der Dirigent brauchte ein frisches Hemd.
Um ihn beim Umziehen allein zu lassen, verlustierten wir uns einige Minuten im Pfarrgarten. Gingen auf und ab, summten etwas, sprachen nicht viel. Sprechen schadet der Singstimme. Jedenfalls bildeten wir uns das ein. Waren wohl alle etwas aufgeregt.
Am Gartenzaun stand Lalinde. Während ich noch überlegte, ob ich ihn begrüßen sollte und welcher Herzlichkeitsgrad mir dafür angemessen erschien, eilte die Sopranistin auf ihn zu, schüttelte ihm herzlich die Hand. Aha. Ihretwegen also. Auch gut. Wahrscheinlich lud er sie nun für heute abend auf ein Glas Wein ein.
Die Kollegin sprach auf ihn ein, gestikulierte, lachte. Lalinde stand, das Gesicht von mir abgewandt, halb schräg am Gartenzaun und hörte ihr zu, die Hand am Mund. Dann sagte er etwas, leise, knapp. Sie lachte, drehte sich um und winkte mir zu, ich solle mal herkommen.
Unwillig ging ich hinüber. Wäre nicht der Gartenzaun gewesen, hätte ich erwartet, daß er zu mir käme, wenn er mich zu sprechen wünschte. Ich fühlte mich durch und durch als Kammersängerin und nicht geneigt, so ohne weiteres einem x-beliebigen Kritiker in der Konzertpause mein Ohr zu leihen.
»Hallo, Löwenfrau«, sagte er und lächelte andeutungsweise.
Die Kollegin stutzte, murmelte etwas von »noch ein bißchen einsingen« und entfernte sich.
»Sie sollten Ihre Wortneuschöpfungen nicht veröffentlichen«, sagte ich ärgerlich. »Was machen Sie überhaupt hier?«
»Ich wollte Sie hören!«
»Scherz beiseite. Schreiben Sie etwa eine Kritik über dieses Omatorium?«
»Ich bin rein privat hier.«
»Also die Sopranistin?« Im gleichen Moment hätte ich mir die Zunge abbeißen können.
Man rief nach mir. Ich drehte mich um. »Geht’s weiter?«
Die Pfarrhaustür stand offen, eine ältere Frau im weißen Kittel verhandelte mit dem Baß. Er rief mich.
»Telefon für dich!«
»Für mich?« fragte ich dumm zurück und schaute fragend auf Lalinde.
»Covent Garden!« spöttelte der.
Ich ließ ihn stehen, ging in das Pfarrhaus. Das mußte eine Verwechslung sein.
In einem vor Biederkeit schon wieder progressiven Wohnzimmer mit Brokatkissen auf den Sofas und liebevoll bestickten Deckchen überall fand ich das Telefon.
»Ja bitte?« Es roch stark nach Rotkohl.
»Spreche ich mit der Sängerin?« fragte eine Männerstimme, und ich wußte, daß ich sie kennen mußte.
»Es gibt hier mehrere«, antwortete ich unsicher und hoffte inständig, es sei ein hilfloser Dirigent, dem eine Solistin ausgefallen war. Ein schöner, fetter Einspringer vielleicht? Herzklopfen.
»Ich meine die Dame, die gestern abend von Frankfurt nach K. gefahren ist.«
Der Gediegene. Aus dem Intercity. Immer noch Herzklopfen.
»Ich bin mitten im Konzert!«
»Weiß ich, es ist aber gerade Pause. Ich habe vor zwanzig Minuten schon mal angerufen, aber die Haushälterin des Pfarrers sagte, Sie seien gerade unabkömmlich.« Er kicherte.
»Ja, in der Kirche ist leider kein Telefon«, sagte ich und schaute auf die Uhr. Es müßte doch längst weitergehen!
»Wie lange sind Sie noch beschäftigt?« fragte der Gediegene.
»Den ganzen Abend. Nach dem Konzert ist Empfang beim Chorvorstand. Ich muß jetzt wieder rein!«
Aufzulegen getraute ich mich nicht. Aber dreist war er ja, der Gediegene. Ausgesprochen dreist.
»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«
»Ich habe im Verkehrsamt der Stadt angerufen, wo heute um 17 Uhr ein Händel-Konzert stattfindet. Sie heißen also Elisabeth Peters? Sehr erfreut.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Ich bin eingesprungen. Stehe auf keinem Plakat. Und jetzt muß ich wieder rein. Auf Wiedersehen!« Ganz plötzlich legte ich auf.
Meine Hand zitterte leicht, ich blieb noch einen Moment im Reich der Brokatdeckchen stehen. Er würde doch nicht sofort wieder anrufen?
Das biedere Telefon auf dem weißbestickten Deckchen blieb still. Ich eilte hinaus in den Garten. Die Solisten waren schon weg, Lalinde natürlich auch.
Mit hochgerafftem Kleid rannte ich zur Sakristei. Man wartete auf mich.
»Los, Auftritt, meine Damen und Herren!« Der frischbehemdete Dirigent hatte neuen Schwung. Er machte eine rudernde Bewegung mit dem Arm, als wollte er eine Ziegenherde an sich vorbeitreiben.
Beim Reingehen – das Publikum klatschte tatsächlich – drehte sich die Sopranistin halb zu mir um.
»Kennst du Lalinde privat?«
»Kaum«, hauchte ich in ihre steifduftende Hochfrisur.
»Er läßt dich nämlich herzlich grüßen«, murmelte sie beim Verbeugen.
Ich konnte nicht antworten. War direkt dran, in einem Duett mit dem Tenor. Versuchte, mich zu konzentrieren. Händel und nochmals Händel. Wir hatten schließlich kaum proben können.
Als wir wieder saßen und der Chor eine schwierige Fuge verhackstückte, lugte ich verstohlen ins Publikum. Lalinde saß auf seinem Platz. Er hatte nicht die Hand am Mund, saß zurückgelehnt, fast entspannt. Ein ungewohnter Anblick. Bildete ich mir das ein, oder lächelte er mich an? Ich schaute schnell in meine Noten. Kind, man grinst nicht ins Publikum.
Lalinde. Der Gediegene. Händel. Ach so, ja natürlich, der und kein anderer.
Was mochte den Gediegenen veranlaßt haben, die unschuldige Haushälterin aufzuschrecken? Was er nun gediegen oder dreist? Oder beides? Ich hing meinen Gedanken nach, betrachtete Chorgesichter. Eifriges lautes Singen mit geschwollenen Halsadern. Erste Ermüdungsanzeichen, was die Haltung anbetraf. Die Rhythmische tappte noch immer im Takt auf den Marmorboden. Die für Taubstumme Singende dürfte sich inzwischen fast den Kiefer ausgerenkt haben.
Letzter Auftritt, eine langsame Arie. Ich stand auf, drehte mich zum Publikum, sah aus dem Augenwinkel Lalinde (die Hand war wieder am Mundwinkel gelandet) und begann zu singen. Nach etwa zweiundzwanzig Takten ging die hintere Kirchentür auf. Langsam, zögernd. Da hatte sich jemand in der Uhrzeit vertan. Der Jemand schob sich, um Lautlosigkeit bemüht, in die Kirche.
Ich mußte meine ganze Zwerchfelltechnik zu Hilfe nehmen, um nicht ins Wackeln zu geraten.
Es war der Gediegene.
Empfänge nach Konzerten sind immer angenehm. Man bekommt nette Worte zu hören, eventuell sogar Beifall, wenn man in einer Rede löblich erwähnt wird (»Und ganz besonders danken wir unseren hervorragenden Solisten ...«), und man bekommt, und das ist das Beste, ein Glas in die Hand. Mit dem steht man, fühlt die herrliche Entspannung im Körper, die sich trotzdem nicht in Schlappheit umwandelt, sondern in fröhliche Energie, um zu reden, zu lachen, Leute zu beobachten, Leute kennenzulernen, neue Verbindungen zu knüpfen (sehr wichtig!) und mit den Kollegen über deren mehr oder weniger neiderregende Karriere zu plaudern.
Diesmal war es anders. Meine soeben beschriebene »fröhliche Energie« wollte sich nicht einstellen. Eher eine leicht hysterische innere Spannung. Ich fühlte mich wie eine aufgedrehte Puppe. Vermutlich hatte ich von den zwei Gläsern Wein, die ich hastig hinuntergestürzt hatte, bereits rote Flecken im Gesicht.
Der Gediegene war einfach mitgekommen. Als gehörte er dazu. Ich wußte noch nicht einmal seinen Namen, aber er schien Spaß daran zu haben, hier in aller Öffentlichkeit als mein selbstverständlicher Begleiter aufzutreten. Immer wenn Chor- oder Orchestermitglieder auf mich zutraten, fürchtete ich, ihn vorstellen zu müssen. Das besorgte er aber selber, verbeugte sich knapp und höflich (gediegen eben) und nannte einen Namen. Ich sage, einen Namen, denn er nannte jedesmal einen anderen. Bei der Gastgeberin sagte er: »Guten Abend, Bröll, herzlichen Dank für die Einladung«, bei dem Pastor: »Schiedermann, guten Abend, Herr Pfarrer«, bei dem Dirigenten: »Bürgener, meinen herzlichen Glückwunsch zu dem gelungenen Konzert!« Artig, höflich, wohlerzogen. Und unverschämt. Eine weißblusige Dame aus dem Chor (es war die für Taubstumme Zuständige) nahm ihn beiseite und sagte gönnerhaft: »Ihre Frau hat wirklich toll gesungen, wenn man bedenkt, daß sie eingesprungen ist!«
»Das finde ich auch«, antwortete der Gediegene dreist, »besonders, weil sie gestern abend noch in Frankfurt gastiert hat!« Worauf die Taubstummenfreundin ehrfurchtsvoll staunend mit ihrem Pappteller, auf dem verschiedene Salate prangten, weiterging.
Ich stand da, mit meinem halbvollen Glas und meinen roten Flecken im Gesicht, und bot schätzungsweise einen liebreizenden Anblick. Der Gediegene schob mich in Richtung kaltes Buffet.
»Sie sollten was essen!«
Mir war beim besten Willen nicht danach.
An der Tür lehnte Lalinde. Er war mit der Sopranistin gekommen, doch diese saß inzwischen auf der Stuhllehne des Dirigenten, in der einen Hand ein Sektglas, in der anderen den Terminkalender.
Lalinde schaute zu uns herüber. Regungslos. Zog schmallippig an seiner Zigarette. In der linken Hand hielt er das goldene Zigarettenetui. Er kam mir vertraut vor.
Der Gediegene hieß mich auf ihn warten, er werde mich versorgen, einen kleinen Moment, bitte. Ob es etwas Lachs sein dürfe. Damit verschwand er in der Menschentraube, die sich am Buffet zusammendrängte.
Ich stand hilflos herum, trank mein Glas leer, suchte nach einem Weinflaschenherumträger.
Lalinde näherte sich zögernd.
»Zigarette?«
Ich griff zu. Meine zweite. Er gab mir Feuer, ich verbrannte mir fast die Nasenspitze. Nach dem ersten Zug wurde mir schwindelig. Ich atmete tief durch, setzte mein leeres Glas an die Lippen. Wie peinlich. Alles ausgesprochene Verlegenheitsgesten.
»Ich besorge Ihnen was zu trinken, oder läßt Ihr ausgeprägtes Emanzipationsbewußtsein das nicht zu?«
»Doch, ich hab gearbeitet, Sie haben sich amüsiert. Jetzt lasse ich mich gern bedienen.« Vielleicht etwas rotznäsig, mein Unterton.
Lalinde ging einem über der Menge schaukelnden Gläsertablett nach.
Von der anderen Seite kam mein offizieller Begleiter, der große Unbekannte mit den vielen verschiedenen Namen, mit einem vollgeladenen Teller auf mich zu.
»Da, Frau Sängerin. Alles für Sie!«
Er schob mir einen Stuhl zurecht, sehr artig, sehr gediegen. Kind, der Mann kommt aus gutem Hause.
Ich hatte keine Lust, mich zu wehren. Setzte mich hin und starrte auf den Teller. Allerlei Fleischiges, aufdringlich duftend, von verschiedenen Salaten liebevoll umlagert. Ungeschickt hielt ich die Zigarette von mir ab. Wohin jetzt mit dem Schwindel-Stengel? Die Asche an der Spitze wurde lang und länger. Ich mochte nicht mehr ziehen.
»Geben Sie her, ich rauche sie zu Ende.«
»Danke.« Kurze Erleichterung, dann das plötzliche Bewußtsein, welche deutliche Vertrautheitsgeste das war. Natürlich kam Lalinde in diesem Moment. Mit zwei vollen Sektgläsern. Setzte sich an meine freie Seite, sagte: »Auf Ihr Wohl. Sie haben phantastisch gesungen« und sah mich an mit einem Blick, den ich aus Frankfurt kannte. Dieses ganz leichte zynische Lächeln. Und trotzdem warm.
Ich meinte, die Herren miteinander bekannt machen zu müssen. »Das ist Herr Lalinde, ein Kritiker, und das ist Herr Bröll«, sagte ich und machte mir angelegentlich mit dem Fleischberg zu schaffen.
Die Herren sprangen, ihre Jacketts zuknöpfend, auf, reichten sich über meinen Teller hinweg die Hand. Der Gediegene hielt Lalindes Zigarette.
Ich suchte am Sektglas Halt. Lalinde trank mit.
»Sind Sie seit neuestem bei einer anderen Agentur?« fragte
er mich.
Der Gediegene sah sich nach einem Glas um.
Ich verstand Lalinde sofort.
»Nein, nein, das sieht nur so aus.«
»Gastvertrag?«
»Noch nicht einmal das. Die Agentur war mir vorher nie bekannt.« Plötzlich machte mir diese Unterhaltung wahnsinnigen Spaß.
»Woher kennt die Agentur Sie?«
Der Gediegene hatte ein Glas gefunden und entkorkte gerade eine Sektflasche.
»Sie hat mich nie gehört. Reiner Zufall.«
Lalinde sah knapp an mir vorbei, vielleicht auf die leblose
Tomate auf meiner Gabel.
»Es gibt eine Agentur, die sehr an Ihnen interessiert ist.«
Ich starrte auf sein Krawattenmuster. »So? Wieso denn
das?«
»Die Agentur ist schon länger an Ihnen interessiert. Nur war sie bis vor kurzem mit einer anderen Sängerin in Exklusivvertrag.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Jetzt nicht mehr.«
Er strich mit seinem Zeigefinger über den Rand seines Glases. Seine Hand war gepflegt, aber rauh.
»Das war doch die mir bekannte ...«
»Genau die. Sie hält auch viel von Ihnen.«
Ich sah ihn unsicher an. Deutete ich das alles richtig, oder bildete ich mir nur ein, daß dies ein handfester Antrag war?
Und die Erklärung, daß er sich von der gepflegten Dame, Größe 38, getrennt hatte?
»Ja ... und ist die Kollegin jetzt bei einer anderen Agentur?«
Er lächelte zum erstenmal sehr warm und ohne jede Andeutung von Zynismus.
»Sie hatte schon lange damit geliebäugelt.«
Inzwischen verfolgte der Gediegene interessiert unser Gespräch. Er hatte Lalindes Zigarette ausgedrückt und war dann etwas näher zu mir herangerückt.
Zeit, das gefährliche Geplänkel zu beenden. Obwohl ich eine kaum zu bremsende Lust verspürte, mir auf diese Weise einen Heiratsantrag machen zu lassen.
»Ich denke, daß der Agent Sie anrufen wird«, sagte Lalinde und holte sein goldenes Zigarettenetui hervor.
»Er ist, und ich bitte Sie, das ernst zu nehmen, an einem Exklusivvertrag mit Ihnen interessiert!«
Das sagte er mit Nachdruck und ernsten Augen, während er – welch unnötige Handbewegung – auf das Mundstück der Zigarette tippte.
Ich fühlte, wie die roten Flecken in meinem Gesicht sich vergrößerten.
Lalinde stand auf mich. Ich hatte es irgendwie geahnt. Schon vor einigen Tagen, in Frankfurt.
Nun war es aber Zeit, sich um den Gediegenen zu kümmern. Lalinde verstand, unsere Unterhaltung war zu Ende. Er stand auf, verabschiedete sich höflich von meinem rechten Nebenmann und von mir, konnte sich aber eine Schlußbemerkung nicht verkneifen.
»Er ruft Sie in den nächsten Tagen an«, sagte er, »wahrscheinlich schon morgen.« Nahm sein Zigarettenetui und ging.
Ich sah ihm nach. Lalinde. Verdammt, ich mochte ihn.
»So, und das war also der Kritiker?« kam die andere Stimme von hinten.
Ich drehte mich um, hoffte, meine hysterischen Flecken würden nichts über meine Gefühle verraten.
»Ja, ich kenne ihn schon von anderen Konzerten her«, antwortete ich angelegentlich.
»Fan von Ihnen?«
»Ach was!« Warum log ich eigentlich?
Ich fühlte mich schrecklich unsicher, wäre so gern verschwunden, nach Hause in meine Wohnung gefahren, nachdenken. Jemandem nach-denken.
Aber jetzt griff ich den Stier bei den Hörnern. Mit einer nicht zu überhörenden Portion von Aggressivität: »So, großer Unbekannter. Nun zu Ihnen. Was soll dieses Spiel?«
»Ach, lieben Sie keine Spiele?«
Verfluchte zweideutige Antwort! Wußte er? Ahnte er? Kind, der Mann ist doch nicht blöd!
»Nicht mit dem großen Unbekannten! Diese Art Spiele mochte ich schon im Mathematikunterricht nicht. Alle nennen ihren Namen, und der große Unbekannte nennt sich X. Den darf man dann mühsam ausrechnen!«
Er lachte. »Musik und Religion eins, Kopfrechnen schwach?«
»Genau. Sonst wäre ich jetzt nicht hier, sondern vielleicht im wissenschaftlichen Institut für unterernährte Stadthühner.«
»Viel anders klang dies hier aber auch nicht. Höchstens wie gut ernährte Stadtgänse.«
Ich kicherte. Nicht-Musiker drücken manchmal grausam treffend aus, was Musiker höflich verschweigen.
»Also, Rumpelstilzchen«, sagte ich. »Ich heiße Rapunzel, und Sie?«
Ich bekam den ganzen Abend nicht raus, wie er hieß. Er nannte mich mit Begeisterung Rapunzel, war in lustiger Stimmung, plauderte, trank Sekt. Zwischendurch legte er den Arm um mich.
Völlig klar. Für den Chor und das Orchester war dieser mein Dazugehöriger. Und Rapunzel mögen die Ahnungslosen noch für ein nettes Kosewort gehalten haben.
Die Stimmung im Saal stieg, einige Musiker packten ihre Instrumente wieder aus und spielten zum Tanz auf. Das konnten keine Profis sein. Profis packen nie freiwillig ihre Instrumente aus. Man jubelte, lachte, veranstaltete eine Polonaise, wir wurden mit in den Kreis gezogen.
Die anderen Solisten waren längst weg. Wahrscheinlich mit dem Hinweis darauf, morgen ganz früh schon zum nächsten Konzert reisen zu müssen.
»Die Altistin und ihr Mann sind noch da, die anderen sind schon weg!« hörte ich eine weißblusige Dame sagen. Da hatten wir den Salat. Es war wie eine blöde Verwechslungskomödie, die so dann und wann samstags abends in irgendeiner unverständlichen Mundart im Fernsehen kommt.
Die Polonaise löste sich auf, weil jetzt Dreivierteltakt angesagt war. Walzer.
Der Unbekannte tanzte eher mittelgut. Trotzdem, er war ungeheuer groß und breit, wenn auch nicht so dreivierteltaktfreudig, wie meine hohen Ansprüche dies verlangt hätten. Aber ich konnte mich gut an ihm festhalten. Das war auch nötig, nach vier Gläsern Wein, einer halben Zigarette, einem unmißverständlichen Antrag von Lalinde und nichts Erwähnenswertem im Magen. (Während meiner Exklusivverhandlungen hatte der Gediegene dem Fleischberg auf meinem Teller den Garaus gemacht.) Ich fühlte eine sehr große, weiche, warme und andeutungsweise feuchte Hand in der meinen und das Gegenstück dazu etwas zu wenig locker auf meinem Rücken.
Er strahlte auf mich herunter.
Ich mußte fürchterlich aussehen, spürte ich doch genau, daß keinerlei vornehme Blässe mein Gesicht zierte.
»Sie tanzen gut!« scherzte er fröhlich.
»Sie auch«, log ich zu ihm hinauf.
»Sie haben auch sehr schön gesungen«, setzte er seine Komplimentennummer fort. »Ich hätte nicht gedacht, daß aus so einer jungen Frau solche lauten Töne kommen können!«
»Tja, studiert ist studiert! Sie fragen mich wenigstens nicht, was ich sonst so beruflich mache. So in der Art: ›Und was machen Sie tagsüber?‹ «
»Werden Sie so etwas Dummes gefragt?«
»Ja, häufig.«
»Das ist ja so, als würden Patienten mich fragen, was ich nach unserem Plauderstündchen täte. Ob ich dann zur Arbeit ginge.«
Ich lachte. Er lachte. Zur Feier des gemeinsamen Lachens versuchte er einen Extra-Schwenker mit gewagter Halbkreisdrehung. Er mißlang.
»Und Sie haben eine richtige psychiatrische Praxis, so mit Couch und ›Herr Doktor, meine Mutter hat mich zu früh vom Topf geholt‹?« nahm ich unser Gespräch wieder auf. Hauptsächlich, um den peinlichen Schwenker zu ignorieren.
Er lachte wieder. Diesmal ohne Schwenker. Unser Tanzen war inzwischen mehr so ein Gewichtverlagern von einem Bein zum anderen, leider auch eher arhythmisch zur Musik.