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1. Auflage 2014
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-022116-1
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Baby blues, postnatale Depressionen, Wochenbettpsychose, traumatisch erlebte Geburt, depressive Reaktion nach dem Verlust eines Kindes – Begriffe, die mittlerweile den meisten Menschen aus Presse, Fernsehen und Internet geläufig sind. Dennoch ist es betroffenen Frauen und ihren Angehörigen nach der Geburt eines Kindes oft nur mit Schwierigkeiten möglich, eigene psychische Probleme richtig einzuordnen. Wenn Frauen nach dem »freudigen Ereignis« der Geburt eines Kindes und in den ersten Wochen und Monaten mit dem Neugeborenen alles andere als glücklich sind, stellt sich für sie die Frage, ob dies alles noch »normal« ist und wie sie damit umgehen sollen. Wie kann man »normale« Erschöpfungssymptome von der Depression abgrenzen? Wie weiß man, ob Sorgen und Ängste der jungen Mutter aus der Situation ableitbar sind oder ob sie vielleicht die Grenze einer behandlungsbedürftigen Angsterkrankung schon deutlich überschreiten? Woher weiß ein Partner oder Angehöriger, ob die Mutter aus triftigem Grund niemand anderen ihr Baby versorgen lassen will oder ob sich hier möglicherweise eine Psychose mit Misstrauen und Verfolgungsängsten anbahnt? Woraus kann man ableiten, ob die Erfahrungen mit der schwierigen Geburt des Kindes schon die Merkmale einer traumatisch erlebten Geburt erfüllen? Wann wird aus der Trauer um ein verstorbenes Baby eine reaktive Depression? Und wie geht man mit all diesen Problemen um?
Betroffene Frauen und ihre Familien haben einen großen Informationsbedarf zu Ursachen, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten von Depressionen und anderen psychischen Problemen, die im Zusammenhang mit einer Geburt auftreten können. Aus der eigenen klinischen Erfahrung ist mir die enorme Bandbreite von Problemen und Fragen bekannt. Und ebenso die Not von Betroffenen und Angehörigen, wenn ihr Informationsbedürfnis vom behandelnden Gynäkologen oder der Hebamme nicht zufriedengestellt werden kann; wenn sie den Eindruck haben, die dringend nötige Hilfe nicht zu finden. Noch schwieriger wird es bei anderen Problembereichen, wie etwa Psychosen oder traumatischen Geburtserfahrungen, die richtige Anlaufstelle zu finden. In manchen Fällen mag es auch damit zu tun haben, dass der Gang zum Psychiater vermieden wird, obwohl er der richtige und auf jeden Fall kompetente Ansprechpartner ist und ggf. auf weitere Behandlungsmöglichkeiten hinweisen kann – wie etwa eine Psychotherapie oder auch die stationäre Aufnahme in einer geeigneten Klinik. Betroffene befürchten nicht selten eine Stigmatisierung – man möchte nicht für verrückt gehalten werden. Und schließlich sind die betroffenen Frauen oft auch überzeugt, dass es ihre eigene Schwäche und Unfähigkeit ist und nicht eine behandlungsbedürftige Erkrankung. Wozu soll dann also ein Arzt hilfreich sein?
Dieses Buch soll Betroffenen und Angehörigen helfen zu erkennen, wann es möglicherweise um krankheitswertige Symptome geht, wo man sich Hilfe holen kann, wie eine Behandlung aussehen könnte und welche zusätzlichen Unterstützungsmöglichkeiten bestehen. Um dies weniger theoretisch und möglichst gut nachvollziehbar zu machen, habe ich verschiedene meiner Patientinnen gefragt, ob sie etwas aus ihren Erfahrungen berichten können. Was hätte ihnen geholfen, wenn sie es von einer betroffenen Frau gehört oder gelesen hätten? Was ist ihre Botschaft an andere Betroffene? Möglicherweise wird es leichter, sich um Hilfe zu bemühen, wenn man sieht, wie es anderen Frauen und ihren Familien ergangen ist. Dabei kann das Wissen von Bedeutung sein, wie leicht man mit der richtigen Hilfe aus der Falle der postnatalen Depression oder sonstigen psychischen Problematik nach der Entbindung herauskommen kann. Und ebenso hilfreich kann es sein, die Schilderungen der Frauen zu lesen, die lange versucht haben, alles mit sich alleine auszumachen und einen langen und schwierigen Weg bis zur Genesung gegangen sind. Diese persönlich von den Frauen verfassten Erfahrungsberichte finden Sie am Ende des Buches.
Zum Schluss noch der Hinweis, dass aus Gründen der Lesbarkeit in der Regel nur die männliche oder weibliche Form verwendet wird, zum Beispiel »der Psychiater«, »der Gynäkologe«, »der Hausarzt« und »die Psychotherapeutin«, »die Psychologin«. Selbstverständlich ist auch das jeweils andere Geschlecht gemeint.
Anke Rohde, im Februar 2014
An dieser Stelle möchte ich mich bei den vielen Frauen bedanken, die als selbst Betroffene mit großer Offenheit über ihre Probleme berichtet haben – immer mit der Zielsetzung, anderen Frauen in ähnlicher Situation zu helfen. Und unser Dank gilt ebenfalls den Partnern/der Partnerin, die aus eigener Perspektive die Erlebnisse schildern.
Ein ganz besonderer Dank gilt Frau Sylvia Nogens, die Leiterin einer lokalen Selbsthilfegruppe von Schatten & Licht e. V. ist. Sie hat sich der Mühe unterzogen, das Manuskript vollständig zu lesen. Vielen Dank dafür und für die hilfreichen Anmerkungen und Änderungsvorschläge. Und auch Frau Dr. med. Valenka Dorsch, Frau Dipl.-Psych. Angela Klein und Frau Elke Bading danke ich für die Durchsicht des Manuskriptes und vielfältige Anregungen.
»Ich hatte eine wundervolle Schwangerschaft, war stolz auf meinen Bauch, führte eine glückliche Ehe, und dieses Kind, mit dem wir fast schon nicht mehr gerechnet hatten, war ein sogenanntes Wunschkind. Auch die Entbindung war nicht schwer. Deshalb habe ich die Welt nicht mehr verstanden, als es mir bereits 36 Stunden nach der Entbindung psychisch sehr schlecht ging. . . . . «
So begann ein Brief, den ich zu Beginn meiner Tätigkeit an der Universitätsfrauenklinik in Bonn und der Einrichtung der Abteilung »Gynäkologische Psychosomatik« von einer betroffenen Frau bekam. Sie berichtete in ihrem Brief über die schwere Depression nach ihrer ersten Entbindung und den Versuch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, der nur mit viel Glück nicht zum Ziel geführt hatte. Wir werden diese betroffene Mutter bei den Fallbeispielen noch einmal wiedertreffen.
In der Zwischenzeit haben meine Mitarbeiterinnen und ich in der Gynäkologischen Psychosomatik der Universitätsfrauenklinik in Bonn über tausend Patientinnen mit Depressionen und anderen psychischen Störungen nach der Entbindung gesehen. Fast immer berichten sie über bestimmte Symptome und Erlebnisweisen; und auch die daraus entstehenden Probleme in der Familie sind sich sehr ähnlich. Immer wieder hören wir von Veränderungen in der Selbstwahrnehmung, von Verunsicherung, von Problemen im sozialen Umfeld bis hin zu dauerhaften Familienkrisen. Es werden fast immer die gleichen Fragen gestellt, wie etwa nach den Ursachen, nach Behandlungsmöglichkeiten oder auch nach der Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Depression bei einer weiteren Schwangerschaft noch einmal auftreten kann. Diese und ähnliche Fragen zu beantworten, Hintergründe zu erhellen und damit Ängste zu nehmen, ist das Ziel der folgenden Kapitel. Die Lektüre ersetzt nicht die Behandlung, wenn eine solche erforderlich ist. Vielmehr soll damit Unterstützung beim Erkennen von Art und Ausmaß bestehender Probleme geboten werden. Und es sollen Wege aufgezeigt werden, wie und wo man sich frühzeitig Hilfe holen kann.
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die postnatalen Depressionen, weil sie das häufigste Problem rund um die Geburt darstellen und oftmals einen erheblichen Leidensdruck erzeugen. Aber um postnatale Depressionen verstehen und richtig einordnen zu können, ist es sinnvoll, auch verwandte Störungsbilder zu kennen, die ebenfalls in der Zeit nach einer Entbindung zu starken Einschränkungen in der Lebensqualität führen können. Nicht selten kommt es übrigens auch zur Mischung verschiedener Problembereiche.
Psychische Störungen nach der Geburt eines Kindes können bereits ab dem ersten Tag nach der Entbindung beginnen; rückblickend erkennt man dann nicht selten, dass bereits in der Schwangerschaft erste Symptome da waren. In solchen Fällen ist der Zusammenhang mit der Geburt für Betroffene viel einfacher herzustellen, als wenn die Symptome erst Wochen und Monate nach der Entbindung beginnen.
Für die einzelnen Arten von Störungen gibt es unterschiedliche Zeitpunkte, zu denen sie typischerweise auftreten. So ist für die »Heultage« (»Baby blues«) typisch, dass sie zwischen dem 3. und 5. Tag nach der Entbindung ihren Höhepunkt haben, nämlich dann, wenn die Hormonumstellung die stärksten Auswirkungen hat ( S. 17). In den ersten 14 Tagen nach der Entbindung beginnen insgesamt etwa ¾ aller postnatalen Psychosen. Postnatale Depressionen beginnen dagegen eher schleichend in den ersten Wochen und Monaten. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die häufigsten psychischen Probleme nach der Entbindung, den Zeitpunkt ihres Auftretens, den üblichen Verlauf und typische erste Symptome.
Wir beginnen deshalb mit dem sogenannten »Baby blues«, weil der im Ge-gensatz zu den folgenden Störungsbildern nicht behandlungsbedürftig ist,
Tabelle 1: Beginn, Dauer und erste Symptome
Typ Beginn Dauer Erste Symptome
Begriffsklärung postnatal/postpartal
Postnatal und postpartal werden in der psychiatrischen Fachsprache praktisch gleichgesetzt: »post« bedeutet »nach« in der lateinischen Sprache, »natus« ist die »Geburt«. »Partus« kommt ebenfalls aus dem Lateinischen und bedeutet »Entbindung«. »Postpartal« bedeutet also »nach der Entbindung«, »postnatal« dagegen ganz korrekt »nach der Geburt«, nämlich aus der Sicht des Kindes. In der Praxis wird es aber auch für »nach der Entbindung« verwendet.
Im englischen Sprachraum und besonders in der dortigen Umgangssprache wird üblicherweise die Bezeichnung »postnatal« verwendet. Obwohl in der deutschen Fachsprache der Begriff »postpartal« korrekter ist, setzt sich auch bei uns in der Umgangssprache und in der Wissenschaftssprache immer mehr die Bezeichnung »postnatal« durch. Deshalb wird in diesem Buch durchgängig dieser Begriff verwendet.
Umgangssprachlich ist oft von der »Wochenbettdepression« die Rede. Der Begriff »Schwangerschaftsdepression« ist dagegen nicht korrekt: den würde man nur verwenden, wenn es tatsächlich um eine Depression in der Schwangerschaft geht.
sondern ganz normale Folge der sehr abrupten Hormonumstellung nach der Geburt. Etwa um den dritten bis fünften Tag nach der Entbindung fallen die Hormonspiegel, die sich in der Schwangerschaft gebildet hatten, sehr plötzlich wieder ab. Wie alle ausgeprägten hormonellen Veränderungen können auch diese Hormonschwankungen zu psychischer Labilität führen.
Wie »Heultage« im Deutschen ist der »Baby blues« ein umgangssprachlicher Begriff aus der englischen Sprache. Er leitet sich von dem englischen Wort »blues« ab (umgangssprachlich für Melancholie; findet sich auch in der Musiksprache). Die Tatsache, dass es auf Deutsch für die »Heultage« keine allgemein akzeptierte Fachbezeichnung gibt, zeigt schon, dass es sich hier nicht um eine Krankheit handelt. Von Müttern habe ich wiederholt gehört, dass sie den Begriff »Heultage« diskriminierend finden; seitdem verwende ich ihn nur noch selten. Allgemein setzt sich im deutschen Sprachgebrauch – sowohl in der Fachsprache als auch in der Laiensprache – der Begriff »Baby blues« immer mehr durch.
Nur sehr selten ist ein ausgeprägter »Baby blues« zugleich der Beginn einer postnatalen Depression. Die Stimmungslabilität mit raschem Wechsel zwischen Glücklichsein und Weinen, erhöhter Empfindlichkeit, manchmal einhergehend mit Schlafstörungen oder sonstigen Verhaltensveränderungen, ist nicht behandlungsbedürftig. Ruhe, Abschirmung vor allzu viel Außenreizen und Verständnis und Fürsorge vonseiten der Angehörigen reichen in der Regel aus. Wenn die Symptome allerdings länger als 2 oder 3 Tage bestehen oder andere Auffälligkeiten hinzukommen, sollte an den Beginn einer Depression oder auch einer Psychose gedacht werden.
Die Symptomatik einer postnatalen Depression kann von einer leichten depressiven Verstimmung bis hin zur schweren Depression reichen. Alle Arten depressiver Symptome kommen vor; die häufigsten Symptome einer Depression nach der Entbindung sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Tabelle 2: Mögliche Symptome der postnatalen Depression
Mögliche Symptome der postnatalen Depression
Besonders häufig leiden depressive Mütter unter dem Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein, woraus Schuld- und Versagensgefühle entstehen. Diese Symptome gehen nicht selten einher mit der Überzeugung, dass die Gefühle dem Kind gegenüber unzureichend sind, dass sie nicht den erwarteten Muttergefühlen entsprechen. Eine Störung der Mutter-Kind-Bindung ist Teil der Depression, wird aber von den betroffenen Frauen nicht als Krankheitssymptom, sondern vielmehr als eigenes Versagen gewertet.
Treten im Rahmen der postnatalen Depression Zwangsgedanken oder Zwangsimpulse ( S. 101) auf mit dem Inhalt, dem Kind etwas anzutun, führt dies zu ausgeprägten Scham- und Schuldgefühlen.
Fast jede von schweren depressiven Symptomen betroffene Frau berichtet, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt auch zu lebensmüden und schließlich suizidalen Gedanken gekommen ist oder auch zur Überlegung, das Kind zur Adoption freizugeben. Und all das vielleicht sogar, obwohl es sich um ein Wunschkind handelt. Besonders in der Möglichkeit des erweiterten Suizids bei schweren Depressionen (Selbsttötung mit vorheriger Tötung des Kindes) liegt eine Gefahr für Mutter und Kind, auch wenn solche Fälle glücklicherweise extrem selten sind. Ebenfalls selten können bei Frauen, die in ihrer Vorgeschichte schon mit autoaggressiven (also selbstverletzenden) Handlungen zu tun hatten, entsprechende Verhaltensweisen im Rahmen der Depression wieder auftreten. Solche Selbstverletzungen dienen beispielsweise der Spannungsabfuhr oder dem Wunsch, »sich selbst wieder zu spüren«. Sie sind nicht gleichzusetzen mit lebensmüden bzw. suizidalen Gedanken, wo der Gedanke an den erwünschten Tod im Vordergrund steht.
Aus der Praxis lassen sich drei Typen postnataler Depressionen beschreiben ( Tab. 3). Am häufigsten ist der »Insuffizienztyp« mit etwa 2/3 der Fälle, bei dem Insuffizienzgefühle (= Versagensgefühle) im Vordergrund stehen. Deutlich seltener, aber für die Betroffenen wegen ausgeprägter Schuld- und Schamgefühle mit einem enormen Leidensdruck verbunden, ist der »Zwangstyp« (etwa 20 %). Am seltensten sind Depressionen, bei denen Panikattacken im Vordergrund stehen.
Tabelle 3: Typen postnataler Depressionen
Typ postnataler Depression Im Vordergrund stehende Symptomatik
Noch eine Begriffsklärung: Wochenbettdepression/Wochenbettpsychose
Die Begriffe »Wochenbettdepression« und »Wochenbettpsychose« werden im Alltag immer noch verwendet, um deutlich zu machen, dass eine Depression oder eine Psychose im zeitlichen Zusammenhang mit einer Entbindung aufgetreten ist. Völlig korrekt ist das jedoch nicht immer, da das »Wochenbett« aus gynäkologischer Sicht die ersten 6 bis 8 Wochen nach der Entbindung umfasst, in denen sich die schwangerschaftsbedingten Veränderungen des Körpers zurückbilden. Zwar beginnen in diesem Zeitraum die meisten Psychosen, Depressionen jedoch können auch erst deutlich nach dieser Zeit auftreten. Außerdem haben verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass Depressionen und Psychosen nach der Entbindung in allen wichtigen Punkten vergleichbar sind mit Depressionen und Psychosen, die in anderen Lebenssituationen auftreten. Es hätte also auch sein können, dass zu einem ganz anderen Zeitpunkt im Leben eine Depression oder eine Psychose beginnt. Die Schwangerschaft und die Entbindung mit allen begleitenden Lebensveränderungen sind in dem Fall »nur« als eine besondere Stresssituation zu werten – oder wie man in der psychiatrischen Fachsprache sagt, als »relevantes Lebensereignis« (»life event«), wie sie nicht selten im Vorfeld psychischer Störungen zu finden sind.
Genauer spricht man also statt von einer »Wochenbettdepression« oder einer »Wochenbettpsychose« von Depressionen oder Psychosen, die nach der Entbindung begonnen haben – oder in der psychiatrischen Fachsprache ganz korrekt von »postnatal beginnender Depression« bzw. »postnatal beginnender Psychose«. Doch auch hier führt der klinische Alltag zu Verkürzungen, und deshalb werden häufig die Begriffe »postnatale Depression« und »postnatale Psychose« verwendet.
Die EPDS (Edinburgh Postnatal Depression Scale) ist ein Selbstbeurteilungsfragebogen, der von der betroffenen Frau ausgefüllt wird und in einem ersten Schritt dabei helfen kann zu erkennen, ob möglicherweise eine behandlungsbedürftige depressive Problematik vorliegt. Die EPDS wird als sogenanntes Screening-Instrument mittlerweile weltweit eingesetzt, sowohl in wissenschaftlichen Studien als auch in der täglichen ärztlichen Praxis. Screening bedeutet in diesem Falle, einen ersten Anhaltspunkt dafür zu bekommen, ob die bestehenden Probleme ernsthafter Natur sein könnten. Die 10 Fragen der EPDS werden von der betroffenen Frau beantwortet und anschließend die Punktwerte, die bei jeder Frage zwischen 0 und 3 liegen können, zusammengezählt und so ein Gesamtwert ermittelt. Dieser kann zwischen 0 und 30 liegen. Wenn Sie einen Wert über 12 oder 14 erreichen, sollten Sie ernsthaft das Vorliegen einer Depression in Erwägung ziehen. Auf jeden Fall sollte eine genauere diagnostische Abklärung erfolgen. Liegt der Wert bei 20 oder höher, kann man schon ziemlich sicher sagen, dass Unterstützung Not tut, weil die Depressivität ein Ausmaß erreicht hat, das wahrscheinlich nicht mehr so ohne weiteres von selbst abklingen wird. Wichtig ist aber der Hinweis, dass alleine aus diesem Fragebogen keine Diagnose abgeleitet werden kann; das kann letzten Endes nur ein Arzt oder eine Psychotherapeutin tun. Falls nicht sofort ein Termin beim Facharzt (Psychiater) möglich ist, hilft auf jeden Fall auch der Hausarzt als erste Anlaufstelle. Viele Hausärzte kennen sich nämlich mit der Behandlung von Depressionen recht gut aus und verschreiben bei Notwendigkeit auch Antidepressiva. Gynäkologen sind bezüglich der Verschreibung von Medikamenten wahrscheinlich zurückhaltender, sind aber auf jeden Fall auch mögliche erste Ansprechpartner, um das weitere Vorgehen zu besprechen, wenn der Verdacht auf das Vorliegen depressiver oder anderer psychischer Symptome besteht. Und falls Sie sich scheuen, nach einem Selbsttest mit der EPDS direkt einen Arzt aufzusuchen, gibt es auch die Möglichkeit, sich bei der Selbsthilfegruppe »Schatten & Licht e. V. – Krise rund um die Geburt« (www.schatten-und-licht.de) Rat zu holen.
Selbsttest »Stimmung nach der Geburt« (EPDS)
In den letzten 7 Tagen
(oder in den Tagen seit der Geburt, wenn diese weniger als 7 Tage her ist):
1) konnte ich lachen und das Leben von der sonnigen Seite sehen
0 |
so wie ich es immer konnte |
|
1 |
nicht ganz so wie sonst immer |
|
2 |
deutlich weniger als früher |
|
3 |
überhaupt nicht |
2) konnte ich mich so richtig auf etwas freuen
0 |
so wie immer |
|
1 |
etwas weniger als sonst |
|
2 |
deutlich weniger als früher |
|
3 |
kaum |
3) fühlte ich mich unnötigerweise schuldig, wenn etwas schief lief
3 |
ja, meistens |
|
2 |
ja, manchmal |
|
1 |
nein, nicht so oft |
|
0 |
nein, niemals |
4) war ich aus nichtigen Gründen ängstlich und besorgt
0 |
nein, überhaupt nicht |
|
1 |
selten |
|
2 |
ja, manchmal |
|
3 |
ja, häufig |
5) erschrak ich leicht bzw. reagierte panisch aus unerfindlichen Gründen
3 |
ja, oft |
|
2 |
ja, manchmal |
|
1 |
nein, nicht oft |
|
3 |
nein, überhaupt nicht |
6) überforderten mich verschiedene Umstände
3 |
ja, die meiste Zeit war ich nicht in der Lage, damit fertig zu werden |
|
2 |
ja, manchmal konnte ich damit nicht fertig werden |
|
1 |
nein, die meiste Zeit konnte ich gut damit fertig werden |
|
0 |
nein, ich wurde so gut wie immer damit fertig |
7) war ich so unglücklich, dass ich nicht schlafen konnte
3 |
ja, die meiste Zeit |
|
2 |
ja, manchmal |
|
1 |
nein, nicht sehr oft |
|
0 |
nein, überhaupt nicht |
8) habe ich mich traurig und schlecht gefühlt
3 |
ja, die meiste Zeit |
|
2 |
ja, manchmal |
|
1 |
selten |
|
0 |
nein, überhaupt nicht |
9) war ich so unglücklich, dass ich geweint habe
3 |
ja, die ganze Zeit |
|
2 |
ja, manchmal |
|
1 |
nur gelegentlich |
|
0 |
nein, niemals |
10) überkam mich der Gedanke, mir selbst Schaden zuzufügen
3 |
ja, ziemlich oft |
|
2 |
manchmal |
|
1 |
kaum |
|
0 |
niemals |
Bewertung:
Nach Zusammenzählen der Zahlen kann der Wert zwischen 0 und 30 liegen.
Liegt der Wert bei 12 oder niedriger, könnte es sich um vorübergehende, leichte depressive Symptome handeln. Am besten noch etwas abwarten und den Test nach einer Woche wiederholen.
Liegt der Wert über 12 oder sogar deutlich über 12, möglichst einen Arzt oder eine Psychotherapeutin zu Rate ziehen, die eine genauere Depressionsdiagnostik durchführen können.
Liegt der Wert um 20 oder höher, ist dringend zu empfehlen, sich Unterstützung zu suchen. Eine Depression oder eine verwandte Erkrankung, die mit depressiven Symptomen einhergeht, ist ziemlich wahrscheinlich.
Quelle: Bergant et al., Deutschsprachige Fassung und Validierung der »Edinburgh postnatal depression scale«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 16. Januar 1998, 123(3), S. 35–40.
Psychosen beginnen meist sehr plötzlich in den ersten Tagen und Wochen nach einer Entbindung, manchmal sogar schon am Tag der Entbindung. Die betroffene Mutter fällt durch verändertes Verhalten, irreale Gedanken, Ängste und Befürchtungen auf. Besonders wenn sie sich verfolgt oder von anderen Menschen beeinträchtigt fühlen, sind die Mütter hochgradig ängstlich und meist sehr misstrauisch. Reale Erlebnisse und Wahrnehmungen werden als etwas anderes verkannt und in einer eigenen, für die Umgebung nicht nachvollziehbaren Weise interpretiert.
Stimmungsveränderungen bei Psychosen sind häufig genau das »Gegenteil« einer Depression; vorherrschend ist eine gehobene Stimmung (»über-euphorisch«, je nach Ausmaß als hypomanisch oder manisch bezeichnet). Verbunden damit sind nicht selten andere typische Symptome, wie etwa Gedankenrasen (»Ideenflucht«), Antriebssteigerung, vermindertes Schlafbedürfnis und Größenideen bzw. Größenwahn. Inhalt solcher Größenideen kann dann beispielsweise die Überzeugung sein, das neugeborene Kind sei das Jesuskind oder es bestehe Kontakt zu Gott. Auch »besondere Fähigkeiten« schreibt sich eine betroffene Frau oftmals zu. Auch kann eine gereizt-aggressive Stimmung vorherrschen und sich gegen Personen in der Umgebung (z. B. den Ehemann) richten.
Eine Frau, bei der der Verdacht auf eine postnatale Psychose besteht, muss immer, und zwar kurzfristig, einem Psychiater vorgestellt werden. Nur der kann feststellen, ob eine stationäre psychiatrische Behandlung erfolgen muss, etwa wegen der Gefährdung des Kindes oder der Mutter selbst. Da es problematisch sein kann, einen raschen Termin bei einem niedergelassenen Psychiater zu bekommen, ist die zuständige psychiatrische Klinik beim Verdacht auf das Vorliegen einer Psychose die richtige Anlaufstelle. Dort gibt es rund um die Uhr einen Notfalldienst, und man kann sich ohne vorherige Terminabsprache dort vorstellen.
Unter dem Eindruck psychotischer Symptome kann eine Gefährdung des Kindes entstehen. So z. B. durch die wahnhafte Überzeugung der betroffenen Mutter, dass das Kind vertauscht ist, dass es das Kind böser Eltern ist. Oder sie ist der Überzeugung, dass man ihr das Kind wegnehmen will und dass sie es beschützen muss. Gefährlich sind auch akustische Halluzinationen (Stimmenhören, z. B. befehlsgebender Stimmen: »Wirf das Kind aus dem Fenster, es ist das Kind schlechter Eltern!«). Typischerweise ist die Mutter unter dem Einfluss der psychotischen Symptome nicht mehr in der Lage, ihre Handlungen richtig einzuschätzen. Es kommt auch vor, dass sie das Kind unangemessen behandelt, es beispielsweise wie eine Puppe anfasst.
Die Behandlung einer postnatalen Psychose richtet sich nach der im Vordergrund stehenden Symptomatik und muss in der Regel unter stationären Bedingungen mit antipsychotisch wirkenden Medikamenten (Antipsychotika, auch als Neuroleptika bezeichnet) erfolgen. Dann kann es bereits innerhalb weniger Tage zum Abklingen der psychotischen Symptome kommen. In den meisten Fällen wird innerhalb weniger Wochen eine Besserung der Symptome bis hin zur vollständigen Beschwerdefreiheit erreicht. Wenn vorher keine psychische Erkrankung bekannt war, ist nur selten mit einer längerdauernden Psychose zu rechnen.
Allerdings kämpfen betroffene Frauen oft noch lange mit Folgeerscheinungen der Psychose, wie etwa Verunsicherung und Ängsten sowie der Befürchtung, der Versorgung des Kindes nicht gerecht werden zu können. Gerade in diesen Fällen ist nach Abklingen der akuten Symptomatik die gemeinsame Behandlung von Mutter und Kind anzustreben, da dies bei der Überwindung von Selbstzweifeln und Unsicherheiten sehr hilfreich sein kann. Optimal ist eine gemeinsame Behandlung in einer sogenannten Mutter-Kind-Einheit in einer Klinik oder Tagesklinik, bei der die Beziehungsaufnahme und die schrittweise Verantwortungsübernahme für das Kind im Mittelpunkt der Therapie stehen. Allerdings ist die Zahl solcher Behandlungseinrichtungen für Mütter mit Kindern in Deutschland leider immer noch sehr begrenzt. Ein Überblick über Kliniken mit Mutter-Kind-Behandlungsplätzen findet sich bei www.schatten-und-licht.de. Allerdings sind auch andere Kliniken unter Umständen bereit, den Säugling mit aufzunehmen. Also auf jeden Fall nachfragen. Auch wenn mit einer akuten Erkrankung zunächst die Aufnahme der Mutter ohne das Kind erfolgen musste, kann bei Besserung der Symptome auch die Verlegung in eine Mutter-Kind-Einheit in Erwägung gezogen werden.
Um die erlebte Psychose zu verarbeiten und das alte Lebensgefühl wieder zu bekommen, kann auch eine anschließende psychotherapeutische Behandlung sinnvoll sein. Die betroffene Mutter muss verkraften und bewältigen, was da mit ihr passiert ist. Sie sollte die Gelegenheit haben, diese unerwartete psychische Erkrankung zu verarbeiten. Und es ist ihr zu wünschen, dass nicht allzu große Ängste vor einer neuen Erkrankung zurückbleiben. Deshalb gehört zu einer Nachbehandlung auch die Information über Risikofaktoren, mögliche auslösende Situationen und auch das Erlernen von Strategien, mit schwierigen Situationen umzugehen. Die geeignete Psychotherapieform bei Psychosen ist die Verhaltenstherapie, wo man beispielsweise Stressmanagement und Entspannung erlernen kann.
Bei weiteren Entbindungen kann es zwar zum erneuten Auftreten einer Psychose kommen; das muss aber nicht geschehen. Jedoch drückt sich in der postnatalen Psychose eine etwas erhöhte »Anfälligkeit« für psychische Störungen insgesamt aus (von den Psychiatern »Vulnerabilität« genannt); weitere Erkrankungen können also für das spätere Leben nicht ganz ausgeschlossen werden. Kam es zur Psychose nach einer Entbindung, sollte die nächste Schwangerschaft möglichst gut geplant werden und nach fachkompetenter Beratung dann auch die Frage einer medikamentösen Vorbeugung entschieden werden ( S. 95). Vor allem, wenn längerfristig Medikamente eingenommen werden müssen, sollte eine solche Beratung erfolgen.
Im Falle einer Psychose geht es nicht ohne psychiatrische Behandlung!
Zu einer Psychose gehört ein verändertes Realitätserleben und auch die Schwierigkeit, selbst zu erkennen, was möglicherweise nicht stimmt. Deshalb können Mütter, die postnatal psychotische Symptome entwickeln, selbst meist nicht angemessen einschätzen, was für sie richtig ist. In solchen Fällen müssen die Angehörigen manchmal Entscheidungen für die betroffene Frau treffen, z. B. sich in einer psychiatrischen Klinik vorzustellen. Wenn dies nicht gelingt, weil die betroffene Mutter nicht einverstanden ist, auf jeden Fall ärztliche Hilfe vor Ort holen – beispielsweise den Hausarzt um einen Hausbesuch bitten oder auch den ärztlichen Notdienst informieren. Auch wenn das vielleicht in der Situation »böses Blut« gibt – später wird die betroffene Frau dankbar sein, dass sie frühestmöglich in die Klinik und in fachkompetente Behandlung gekommen ist.
Wenn Frauen das Geburtsgeschehen als traumatisch erleben, kann sich im Extremfall im Anschluss an eine Entbindung die im übernächsten Abschnitt beschriebene Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Beispielsweise dann, wenn während der Entbindung Dinge passieren, die von der betroffenen Frau als besonders schlimm erlebt werden. Ob daraus posttraumatische Symptome werden, hängt unter anderem von der jeweiligen Vorgeschichte und Persönlichkeit ab sowie vom erlebten Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in der Situation. Auch eine massive Verletzung der Schamgefühle kann dazu beitragen. Die als traumatisch erlebten Erfahrungen können sich beispielsweise auf die Behandlung durch Geburtshelfer und Hebammen beziehen, auf einen von der Patientin erlebten Informationsmangel, besonders schmerzhafte Behandlungsabläufe, Komplikationen oder auch die Länge und Schwere der Wehen.
Weil Frauen in den Industrieländern heute einer Entbindung meist gut informiert und mit klaren Erwartungen