DAVID BALDACCI, geboren 1960, war Strafverteidiger und Wirtschaftsanwalt, eher er 1996 mit Der Präsident (verfilmt als Absolute Power) seinen ersten Weltbestseller veröffentlichte. Seine Bücher wurden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt und erscheinen in mehr als achtzig Ländern. Damit zählt er zu den Top-Autoren des Thriller-Genres. Er lebt mit seiner Familie in Virginia, nahe Washington, D.C.
VERFOLGT
Thriller
Will Robies zweiter Fall
Übersetzung aus dem Amerikanischen
von Uwe Anton
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»The Hit«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2013 by Columbus Rose, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus
Umschlaggestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin
Umschlagmotive: © Arcangel/Nik Keevil
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-0602-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für die Besetzung und die Produktionsmannschaft von
Wish you well.
Danke für ein unglaubliches Erlebnis.
Der unmittelbar bevorstehende Todesfall verschaffte Doug Jacobs einen regelrechten Energieschub. Er zog das Headset gerade und stellte den Computerbildschirm heller. Jetzt war das Bild kristallklar, beinahe so, als wäre er vor Ort.
Er dankte Gott, dass er es nicht war.
»Vor Ort« war Tausende Meilen weit weg, aber beim Blick auf den Bildschirm hätte es niemand gemerkt. Jedenfalls hätte kein Geld der Welt Jacobs dazu gebracht, »vor Ort« zu sein. Davon abgesehen gab es viele Leute, die sich für diese Arbeit besser eigneten.
Jacobs warf einen flüchtigen Blick auf die vier Wände und das einzige Fenster seines Büros in Washington, D.C., wo derzeit die Sonne schien. Das Büro befand sich in einem ganz normalen, unscheinbaren Backsteingebäude in einem vielseitig genutzten Viertel, in dem es mehrere unter Denkmalschutz stehende Häuser in den verschiedensten Stadien des Verfalls oder der Renovierung gab. Doch einige Teile von Jacobs’ Gebäude waren alles andere als unscheinbar. Dazu gehörte ein massives Stahltor mit einem hohen Zaun, der das Grundstück lückenlos umschloss. Auf den Fluren patrouillierten bewaffnete Sicherheitsleute. Überwachungskameras kontrollierten die Umgebung. Von außen allerdings gab es keinerlei Hinweise, was sich drinnen abspielte.
Und es spielte sich eine Menge ab.
Jacobs griff nach der Tasse mit dem frischen Kaffee, in die er soeben drei Tütchen Zucker geschüttet hatte. Bildschirmbeobachtung erforderte eine gewaltige Konzentration und jede Menge Aufmerksamkeit. Zucker und Koffein halfen Jacobs, beides aufrechtzuerhalten. Das Kribbeln, mit dem in wenigen Minuten zu rechnen war, kam von ganz allein.
»Alpha Eins«, sagte er ins Headset, »bestätigen Sie Ihre Position.«
Du hörst dich an wie ein Fluglotse, ging es ihm durch den Kopf. Na ja, in gewisser Weise bist du einer. Nur dass unser Ziel bei jeder Reise der Tod ist.
Die Antwort kam beinahe sofort. »Alpha Eins Position siebenhundert Meter westlich vom Ziel. Sechste Etage auf der Ostseite des Mietshauses, viertes Fenster von links. Mit dem Zoom müssten Sie meine Gewehrmündung sehen können.«
Jacobs beugte sich ein Stück vor, griff nach der Maus und zoomte in Echtzeit das Bild der Satellitenübertragung aus der fernen Stadt heran, der Heimat vieler Feinde der Vereinigten Staaten. Am Rand der Fensterbank erschien ein kleines Stück eines langen Schalldämpfers, auf einen Gewehrlauf geschraubt. Das Gewehr war ein den Anforderungen dieses Einsatzes angepasstes Stück Waffentechnik, das auf große Entfernungen töten konnte – jedenfalls solange es von einer erfahrenen Hand bedient und einem ebenso erfahrenen Auge gelenkt wurde.
So wie jetzt.
»Bestätigt, Alpha Eins. Durchgeladen und zum Schuss bereit?«
»Bestätigt. Alle äußeren Faktoren ins Zielfernrohr eingegeben. Fadenkreuz auf terminalen Punkt gerichtet. Schalldämpfer bereit. Untergehende Sonne befindet sich hinter mir und blendet die anderen. Keine Reflexion der Optik. Es kann losgehen.«
»Verstanden, Alpha Eins.« Jacobs warf einen Blick auf die Uhr. »Ortszeit siebzehnhundert?«
»Auf die Sekunde. Info-Update?«
Jacobs holte die Informationen auf ein zusätzliches Fenster. »Alles läuft nach Terminplan. Ziel trifft in fünf Minuten ein. Er wird auf der Gehwegseite aussteigen. Dort soll er eine Minute lang Fragen beantworten, dann zehn Sekunden bis ins Gebäude.«
»Ist der Zehn-Sekunden-Weg bestätigt?«
»Ist bestätigt«, erwiderte Jacobs. »Aber das Interview könnte länger dauern.«
»Verstanden.«
Wieder konzentrierte sich Jacobs auf den Bildschirm, bis er ein paar Minuten später das Gesuchte entdeckte. »Okay, Wagenkolonne nähert sich.«
»Ich sehe sie. Sichtlinie gerade und schmal. Keine Hindernisse im Weg.«
»Die Menschenmenge?«
»Ich habe die Bewegungsmuster der Leute in der letzten Stunde beobachtet. Die Sicherheitskräfte halten sie zurück. Sie stehen zu beiden Seiten vom Weg, den er nehmen wird. Wie ein beleuchtetes Rollfeld.«
»Ja. Ich sehe es jetzt.«
Jacobs liebte es, bei solchen Unternehmungen in der ersten Reihe zu sitzen, ohne sich in der Gefahrenzone zu befinden. Sein Einkommen war bedeutend höher als das der Person am anderen Ende der Leitung, was eigentlich nicht nachzuvollziehen war, schließlich hielt der Schütze da draußen den Kopf hin, nicht Jacobs. Traf der Schuss nicht ins Ziel oder wurden die Fluchtwege schnell gesperrt, war der Schütze tot. Er hatte weder Dokumente noch Ausweise dabei. Man würde ihn verleugnen, würde alles abstreiten. Keine Identifikation würde das Gegenteil beweisen. Man würde ihn hängen lassen. Und in dem Land, in dem dieses Attentat gerade stattfand, bedeutete das den Tod durch den Strick. Oder das Schwert.
Und die ganze Zeit saß Jacobs hier in Sicherheit und bekam trotzdem mehr Geld.
Aber es gibt viele Leute, die sich darauf verstehen, hervorragend zu schießen und sich gleich darauf aus dem Staub zu machen, dachte er. Doch das geopolitische Gezerre bei diesen Einsätzen beseitigen, das kann nur einer wie ich. Auf die Vorbereitung kommt es an. Deshalb bin ich jeden Dollar wert.
Wieder sprach er in sein Headset. »Kontakt ist genau im Zeitplan. Der Wagen hält gleich.«
»Verstanden.«
»Geben Sie mir einen Puffer von sechzig Sekunden, bevor Sie schießen. Wir halten Funkstille.«
»Verstanden.«
Jacobs packte die Computermaus fester, als wäre sie der Gewehrabzug, den er jetzt nur noch betätigen musste. Bei Drohnenangriffen hatte er tatsächlich mit einer Maus »geschossen«, indem er geklickt und beobachtet hatte, wie das Ziel im gleichen Augenblick in einem Feuerball verschwand. Die Hersteller der Computerhardware hätten sich vermutlich niemals träumen lassen, dass ihre Geräte auf diese Weise benutzt wurden.
Jacobs’ Atem ging schneller. Er wusste, dass beim Schützen das Gegenteil der Fall war: Seine Atemfrequenz näherte sich dem Nullpunkt, was bei einem Schuss aus solcher Distanz zwingend erforderlich war. Spielraum für Abweichungen gab es nicht. Der Schuss musste treffen und das Ziel töten. So einfach war das.
Der Wagen hielt. Das Sicherheitsteam öffnete die Tür. Stämmige, schwitzende Männer mit Waffen und Ohrhörern hielten in sämtlichen Richtungen nach Gefahren Ausschau. Sie waren ganz gut. Aber ganz gut reichte nicht, wenn man es mit einem überragenden Gegenspieler zu tun hatte. Deshalb schickte Jacobs nur erstklassige Agenten aus.
Der Mann betrat den Bürgersteig und kniff im Licht der ersterbende Sonne die Augen zusammen. Er war ein Größenwahnsinniger namens Ferat Ahmadi, der eine gewalttätige, krisengeschüttelte Nation weiter auf dem Weg in den Abgrund führen wollte.
Das durfte man nicht zulassen. Also war es Zeit, dieses kleine Problem zu beseitigen. In diesem Land standen andere bereit, die Führung zu übernehmen. Sie waren nicht ganz so bösartig wie Ahmadi, sodass zivilisierte Nationen Einfluss auf sie nehmen konnten. In einer zunehmend komplizierten Welt, in der Freunde und Feinde in fast wöchentlichem Abstand ausgetauscht wurden, war das beinahe schon das Äußerste, was man erreichen konnte.
Aber das war nicht Jacobs’ Problem. Er saß nur hier, um einen Auftrag endgültig zu Ende zu bringen, mit Betonung auf »endgültig«.
»Sechzig Sekunden«, kam es aus dem Headset.
»Verstanden, Alpha Eins«, erwiderte Jacobs. Eine dumme Bemerkung wie »Viel Glück« sparte er sich. Glück hatte hier nichts zu suchen.
Er betätigte einen Countdown-Zähler auf dem Bildschirm.
Sein Blick huschte zwischen dem Ziel und dem Zähler hin und her.
Er beobachtete Ahmadi, der zu Reportern sprach, nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und verfolgte weiter, wie Ahmadi die zuvor vereinbarten Fragen beantwortete und zum Ende kam. Dann trat er einen Schritt von den Reportern weg. Das Sicherheitsteam drängte sie zurück.
Der zuvor gewählte Weg war frei. Ahmadi würde ihn nun ganz allein beschreiten. Es sollte seinen Führungsanspruch und Mut symbolisieren, und die ihn begleitenden Kameras würden genau das vermitteln.
Vor allem aber war es eine Sicherheitslücke, die zwar klein erschien, für einen ausgebildeten Scharfschützen auf erhöhter Position aber wie eine fünfzig Meter breite Lücke in einem Schiffsrumpf war, die obendrein mit gleißenden Suchscheinwerfern beleuchtet wurde.
Zehn Sekunden.
Jacobs zählte die letzten Augenblicke lautlos mit, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet.
Da geht ein toter Mann, dachte er.
Der Einsatz war so gut wie beendet. Anschließend ging es zum nächsten Ziel.
Natürlich nach einem Steakessen. Dazu Jacobs’ Lieblingscocktail, bei dem er vor seinen Kollegen mit seinem neuesten Triumph prahlen konnte.
Drei Sekunden.
Jacobs sah nur den Bildschirm. Er war so konzentriert, als würde er den tödlichen Schuss selbst abgeben.
Das Fenster zersplitterte.
Die Kugel schlug in Jacobs’ Rücken ein, nachdem sie die Lehne seines ergonomischen Bürostuhls zerschmettert hatte. Sie durchschlug seinen Körper, platzte aus seiner Brust und sprengte den Computer, während Ferat Ahmadi wohlbehalten das Gebäude betrat.
Doug Jacobs rutschte zu Boden.
Kein Steakdinner. Kein Lieblingscocktail. Nie wieder vor Kollegen prahlen.
Der tote Mann war angekommen.
Er joggte über den Parkweg, den Rucksack auf den Schultern. Es war kurz vor sieben Uhr abends. Die Luft war kühl, die Sonne fast untergegangen. Taxis hupten. Fußgänger waren nach einem langen Arbeitstag auf dem Nachhauseweg.
Auf der anderen Straßenseite standen Pferdedroschken aufgereiht vor dem Ritz-Carlton. Iren mit schäbigen Zylindern warteten auf Fahrgäste, während das Tageslicht schwand. Die Pferde scharrten über den Asphalt, die großen Köpfe halb in die Futtereimer gesenkt.
Das hier war Manhattan-Mitte in seiner ganzen Pracht, wo Gegenwart und Vergangenheit sich wie schüchterne Fremde auf einer Party trafen.
Will Robie blickte weder nach rechts noch nach links. Er war schon oft in New York gewesen, auch im Central Park. Außerdem war er nicht als Tourist hier. Er war nie als Tourist unterwegs.
Die Kapuze seines Hoodies war nach oben geschlagen und so fest verschnürt, dass sein Gesicht nicht zu sehen war. Im Central Park gab es reichlich Überwachungskameras, und er wollte auf keiner zu sehen sein.
Vor ihm erschien die Brücke. Robie blieb stehen, joggte auf der Stelle weiter, kühlte sich ab.
Die Tür war in einen Felsen eingebaut. Sie war verschlossen.
Robie benutzte eine Sperrpistole, und die Tür war auf.
Er schlüpfte hinein und zog die Tür sorgfältig hinter sich zu. Der Raum, in dem er sich befand, war eine Mischung aus Lager- und Betriebsraum, der von den städtischen Arbeitern benutzt wurde, die den Park sauber und erleuchtet hielten. Sie hatten für heute Feierabend gemacht. Vor acht Uhr am nächsten Morgen würden sie nicht wieder auftauchen.
Mehr als genug Zeit, um zu tun, was getan werden musste.
Robie streifte den Rucksack ab, öffnete ihn. Er enthielt alles, was er für seine Arbeit brauchte.
Vor Kurzem war Robie vierzig geworden. Bei eins dreiundachtzig Größe wog er neunzig Kilo, die sich auf weitaus mehr Muskeln als Fett verteilten. Es waren sehnige, schlanke Muskeln. Dicke Muskelpakete waren in seinem Job nicht zu gebrauchen. Sie machten einen nur langsamer, wo doch Schnelligkeit fast so entscheidend war wie Präzision.
Der Rucksack enthielt diverse Ausrüstungsgegenstände. In den nächsten zwei Minuten setzte Robie drei davon zu einem einzigen Teil mit speziellem Verwendungszweck zusammen.
Ein Scharfschützengewehr.
Der vierte Ausrüstungsgegenstand war genauso wichtig.
Das Zielfernrohr.
Robie befestigte es auf der Picatinny-Schiene oben auf dem Gewehr.
Im Kopf ging er jede Einzelheit des Plans x-mal durch, sowohl den erforderlichen Schuss wie auch den hoffentlich sicheren Fluchtweg danach. Längst hatte er alles seiner Erinnerung anvertraut, doch er wollte in jenen Zustand gelangen, in dem er nicht mehr denken, nur noch handeln musste. Das sparte kostbare Sekunden.
Nach ungefähr anderthalb Stunden war er fertig. Anschließend nahm er sein Abendessen zu sich. Eine Flasche G2 und einen Proteinriegel.
Er legte sich auf den Betonboden des Lagerraums, schob den zusammengefalteten Rucksack unter den Kopf und schlief. In zehn Stunden und elf Minuten wurde es Zeit, an die Arbeit zu gehen.
Während andere Leute seines Alters entweder nach Hause gingen, zu Frau und Kindern, oder mit Kollegen einen Drink nahmen, vielleicht sogar eine Verabredung hatten, hockte Robie allein in einer besseren Abstellkammer im Central Park und wartete darauf, dass jemand auftauchte, damit er ihn umbringen konnte.
Das war Will Robies Version von einem Date am Freitagabend.
Er hätte über den derzeitigen Zustand seines Lebens nachdenken können, ohne zu einem zufriedenstellenden Schluss zu gelangen, oder er ignorierte einfach alles. Er entschied sich für das Ignorieren, obwohl es vielleicht nicht mehr ganz so einfach war wie früher.
Trotzdem hatte Robie keine Probleme beim Einschlafen.
Wie er auch kein Problem mit dem Aufwachen haben würde.
Was er neun Stunden später dann auch tat.
***
Es war Morgen. Kurz nach sechs.
Jetzt kam der nächste wichtige Schritt: Robies Sichtlinie. Der vielleicht brisanteste Teil der Vorbereitungen.
Im Lagerraum gab es eine nackte Steinwand mit breiten Mörtelspalten. Sah man jedoch genauer hin, entdeckte man zwei an bestimmten Stellen angebrachte Löcher in den Spalten, die einen Blick nach draußen gewähren sollten. Allerdings waren diese Löcher mit einem nachgiebigen Material gefüllt, das wie Mörtel aussah. Diesen Job hatte vor einer Woche ein Team erledigt, das wie eine Reparaturmannschaft der Parkverwaltung ausgesehen hatte.
Mit einer Pinzette zog Robie die Substanz aus dem Loch und wiederholte den Vorgang.
Beide Löcher waren frei.
Er schob die Gewehrmündung durch das untere Loch und hielt inne, kurz bevor der Lauf das Ende erreichte. Diese Position würde den Schusswinkel zwar sehr einschränken, aber daran ließ sich nichts ändern. Es war, wie es war. Er hatte noch nie unter perfekten Bedingungen gearbeitet.
Das Zielfernrohr befand sich genau auf Höhe des oberen Lochs. Sein Rand schloss mit dem Mörtel ab. Jetzt konnte Robie sehen, worauf er schoss.
Er warf einen Blick durch die Optik und stellte sie so ein, dass sämtliche Faktoren berücksichtigt waren, die Einfluss auf den Schuss haben konnten, ob es sich um das Wetter oder die Umgebung handelte.
Die Ummantelung des Schalldämpfers war an die Mündung und die verwendete Munition angepasst. Sie würde das Mündungsfeuer und die Schallsignatur verringern und reichte bis zum Schaft, um die Länge des Schalldämpfers zu minimieren.
Robie warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten.
Er schob den Ohrhörer ins Ohr und steckte den dazugehörigen Akku an den Gürtel. Damit stand seine Sprechverbindung.
Wieder spähte er durchs Zielfernrohr. Das Fadenkreuz schwebte nun über einer bestimmten Stelle des Parks.
Da er den Lauf nicht bewegen konnte, würde er sein Ziel nur eine Millisekunde lang sehen können. In genau diesem Moment musste er abdrücken.
Eine Millisekunde zu spät, und das Ziel überlebte.
Eine Millisekunde zu früh, und das Ziel überlebte.
Robie akzeptierte diese Fehlerspanne. Keine Frage, er hatte schon leichtere Aufträge gehabt. Aber auch schwerere.
Er holte tief Luft, entspannte die Muskeln.
Normalerweise hätte er mit jemandem zusammengearbeitet, der als Aufklärer fungierte. Aber in letzter Zeit waren seine Erfahrungen mit Partnern verheerend gewesen, und er hatte darauf bestanden, diesen Auftrag allein zu erledigen. Sollte das Ziel nicht auftauchen oder seinen Weg ändern, würde Robie von seiner Kommunikationseinheit das Zeichen zum Abbruch erhalten.
Er blickte sich noch einmal in dem kleinen Raum um, der nur noch wenige Minuten sein Zuhause war, dann würde er ihn nie wiedersehen. Baute er Mist, war es möglicherweise der letzte Ort auf Erden, den er zu sehen bekam.
Wieder ein Zeit-Check.
Zwei Minuten.
Noch griff Robie nicht nach dem Gewehr. Wenn er die Waffe zu früh aufnahm, konnten seine Muskeln steif und seine Reflexe ein klein wenig beeinträchtigt werden. Aber schnelles Reagieren und flüssige Bewegungen waren entscheidend für den Erfolg.
Fünfundvierzig Sekunden vor Eintreffen des Ziels kniete Robie sich hin, drückte das Auge ans Zielfernrohr und den Finger an den Abzugsbügel. Der Ohrhörer hatte bisher geschwiegen. Das bedeutete, sein Ziel war auf dem Weg hierher. Die Mission lief.
Er würde nicht noch einmal auf die Uhr schauen. Seine innere Uhr lief jetzt so präzise wie ein Schweizer Zeitmesser.
Er konzentrierte sich auf das Zielfernrohr.
Zielfernrohre waren toll, aber auch empfindlich. Binnen eines Herzschlags konnte man das Ziel aus dem Auge verlieren, und dann vergingen kostbare Sekunden, bis man es wieder eingefangen hatte, was garantiert zum Fehlschlag führte. Robie hatte seine eigene Methode, damit umzugehen. Dreißig Sekunden vor der Zielerfassung atmete er immer länger aus und reduzierte auf diese Weise Schritt für Schritt seine Atmung und die Pulsfrequenz.
So wollte er auch diesmal den Nullpunkt erreichen, diesen süßen Augenblick des Abdrückens, der fast immer dafür sorgte, dass der Todesschuss gelang. Kein Fingerzittern, kein Ruck der Hand, keine rasche Augenbewegung.
Robie konnte seine Zielperson nicht hören. Sehen konnte er sie auch nicht.
Aber in zehn Sekunden würde er sie hören und sehen.
Dann blieb ihm kaum mehr als ein Wimperschlag, um das Ziel zu erfassen und abzudrücken.
Auf seinem inneren Zählwerk verstrich die letzte Sekunde.
Sein Finger fiel auf den Abzug.
Und wenn das erst geschah, gab es kein Zurück mehr.
Nicht in Will Robies Welt.
Der Mann, der durch den Park joggte, machte sich keine Sorgen um seine Sicherheit. Dafür bezahlte er schließlich andere. Einem Klügeren wäre vielleicht klar gewesen, dass niemandem das eigene Leben so sehr am Herzen lag wie einem selbst. Aber der Jogger gehörte nicht unbedingt zu den Klügsten. Er hatte sich mächtige politische Feinde gemacht. Dafür würde er gleich den Preis bezahlen.
Er joggte weiter, und seine schlanke Gestalt bewegte sich mit jeder Vorwärtsbewegung von Hüfte und Bein auf und ab. Umgeben wurde er von vier Männern – zwei ein Stück voraus, zwei ein Stück hinter ihm. Sie waren fit und sportlich, und alle vier mussten ihr gewohntes Tempo ein wenig zurücknehmen, um sich ihm anzupassen.
Die fünf Männer waren von vergleichbarer Größe und Statur, und sie alle trugen die gleichen schwarzen Jogginganzüge. Das war Absicht, denn auf diese Weise hatte man statt einem fünf nahezu identische Ziele. Arme und Beine schwangen in gleichem Rhythmus, die Füße federten synchron vom Boden, Köpfe und Oberkörper bewegten sich gleichmäßig und doch leicht unterschiedlich. Alles zusammen ergab einen Albtraum für jeden Scharfschützen.
Außerdem trug der Mann in der Mitte eine leichte Schutzweste, die normale Gewehrmunition aufhielt. Mit Sicherheit tödlich wäre nur ein Kopftreffer, doch hier, an diesem Ort, war ein Kopfschuss über eine Distanz, die über die Reichweite des bloßen Auges hinausging, sehr problematisch. Zu viele Hindernisse.
Außerdem hatte das Sicherheitspersonal Beobachter im Park verteilt. Jeder, der irgendwie verdächtig wirkte, wurde ausgemacht und so lange abgelenkt oder sonst wie beschäftigt, bis die Jogger vorbei waren. Das war bis jetzt aber nur zweimal vorgekommen.
Trotzdem waren die vier Männer Profis. Sie rechneten damit, dass in der Nähe jemand lauerte, trotz ihrer Bemühungen. Ständig waren ihre Blicke in Bewegung und ihre Reflexe in Alarmbereitschaft, um blitzschnell reagieren zu können.
Die Kurve voraus kam den Joggern in gewisser Weise recht, denn sie unterbrach die freie Sichtlinie potenzieller Scharfschützen; auch die nächsten Schützen, falls es welche gab, würden auf den folgenden zehn Metern keine Sicht bekommen. Die Männer entspannten sich ein wenig, obwohl man sie ausgebildet hatte, keinen Sekundenbruchteil in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.
Der gedämpfte Knall war laut genug, um einen Schwarm Tauben aufzuschrecken. Ihre Flügel klatschten, und gurrend beschwerten sie sich über die Störung am frühen Morgen.
Der Mann in der Mitte der Gruppe kippte nach vorn. Wo eben noch sein Gesicht gewesen war, war jetzt ein klaffendes Loch.
Der lange Flug einer Kugel vom Kaliber 7.62 baut erstaunliche kinetische Energie auf. Tatsächlich wird mehr Energie aufgebaut, je länger das Geschoss unterwegs ist. Trifft es dann einen festen Gegenstand wie einen menschlichen Kopf, ist das Ergebnis verheerend.
Die vier Männer starrten ungläubig auf ihren Schützling am Boden. Der schwarze Jogginganzug war mit Blut, Hirnmasse und Gewebe gesprenkelt.
Alle rissen die Waffen hervor und suchten hektisch nach einem Ziel, auf das sie schießen konnten. Der Sicherheitschef hatte sein Handy am Ohr und rief Verstärkung. Jetzt waren sie keine Bodyguards mehr. Jetzt waren sie eine Racheschwadron.
Nur war da niemand, an dem man sich rächen konnte.
Es war ein Scharfschützenattentat gewesen.
Alle vier Männer fragten sich, wie das ausgerechnet in der Kurve möglich gewesen war. Sonst waren nur andere Jogger oder Spaziergänger zu sehen. Von denen hätte keiner ein Gewehr verbergen können.
Alle waren stehen geblieben und starrten entsetzt auf den Mann am Boden.
Hätten sie gewusst, wer er war, hätte ihr Entsetzen sich in Erleichterung verwandelt.
***
Will Robie gönnte sich keine Sekunde, um sich über seinen außerordentlich guten Schuss zu freuen. Die Einschränkungen der Beweglichkeit des Gewehrlaufs, des präzisen Zielens und des Schusses selbst waren gewaltig gewesen – eine Partie Mole Attack, sozusagen: Man wusste nie, wo oder wann das Ziel aus dem Loch geschossen kam. Um es zu erwischen, brauchte man überragende Reflexe und ein ausgezeichnetes Auge.
Robie holte eine Flasche Industriehärter aus dem Rucksack und mischte ihn mit einem Pulver aus einem anderen Behältnis. Die Mischung strich er auf das vordere Ende und die Seiten der Stopfen und schob sie in die Löcher, wobei er darauf achtete, dass sie nicht hervorstanden. Anschließend rieb er die Mischung auf die hinteren Enden der Stopfen. Sie würde innerhalb von zwei Minuten aushärten und sich mit dem Mörtel verbinden, und niemand würde sie je wieder herausziehen können. Robies tödliche Sichtlinie würde verschwunden sein wie die Assistentin des Zauberers in einem Kasten.
Er schnallte sich den Rucksack auf den Rücken und nahm die Waffe beim Gehen auseinander. In der Mitte des Raumes war ein Gullydeckel, durch den man zu einem der zahlreichen Tunnels gelangte, die den Untergrund des Central Parks durchzogen. Einige stammten von alten U-Bahn-Bauten, durch andere strömten Wasser und Abwässer, und wieder andere waren schlichtweg in Vergessenheit geraten, genau wie ihr ursprünglicher Zweck. Robie würde das Tunnelsystem benutzen, um so schnell wie möglich vom Ort des Geschehens zu verschwinden.
Nachdem er sich in die Öffnung hinuntergelassen hatte, schob er den Gullydeckel zurück in seine alte Position. Mithilfe einer Taschenlampe stieg er eine Eisenleiter hinunter. Neun Meter tiefer stießen seine Füße auf festen Boden. Die Route hatte er im Kopf, Pläne gab es nicht. Nie wurde etwas niedergeschrieben, egal über welchen Einsatz. Schriftliches konnte entdeckt werden, falls es Robie erwischte statt seines Ziels. Doch selbst für ihn mit seinem hervorragenden Kurzzeitgedächtnis war es mühsam gewesen, sich das Labyrinth einzuprägen.
Er bewegte sich methodisch, weder schnell noch langsam. Den Gewehrlauf hatte er mit einer schnell härtenden Lösung verschlossen und in einen der Tunnel geworfen. Das schnell fließende Wasser würde ihn in den East River spülen, wo er in der Tiefe versank. Selbst wenn man ihn irgendwie finden sollte, war der verstopfte Lauf für ballistische Tests ruiniert.
Der Gewehrschaft landete in einem anderen Tunnel unter einem Stapel Ziegel, die aussahen, als lägen sie seit hundert Jahren dort, was vermutlich auch der Fall war. Selbst wenn man den Schaft entdecken sollte, konnte man ihn unmöglich mit der Kugel in Verbindung bringen, die soeben Robies Zielperson getötet hatte. Nicht ohne den Schlagbolzen, der bereits in seiner Tasche steckte.
Hier unten roch es nicht gerade angenehm. Unter Manhattan verliefen mehr als sechstausend Meilen Tunnels, was für eine Insel, auf der keine einzige Mine betrieben wurde, wirklich erstaunlich war. Die Rohrleitungen, die durch die Tunnels führten, transportierten jeden Tag Abermillionen Liter Wasser, um die Bewohner der größten Stadt der USA zu versorgen. Andere Tunnels beförderten die Abwässer zu riesigen Kläranlagen, wo sie in die verschiedensten Stoffe umgewandelt wurden. Aus Abfällen konnte man nützliche Dinge machen.
Robie marschierte ungefähr eine Stunde lang. Am Ende dieser Stunde schaute er in die Höhe und entdeckte sie. Die Leiter, die mit den Buchstaben NOITATSDNE gekennzeichnet war.
»Endstation«, rückwärts buchstabiert.
Der lahme Witz entlockte Robie nicht einmal ein Lächeln. Menschen zu töten war so ernst wie nur was. Zu besonderer Fröhlichkeit gab es keinen Grund.
An einem Haken an der Tunnelmauer hingen ein blauer Overall und ein Schutzhelm. Robie streifte den Overall über und setzte den Helm auf. Den Rucksack auf dem Rücken, stieg er die Leiter hinauf und schob sich aus der Öffnung.
Robie war inzwischen ein gutes Stück marschiert, von Midtown nach Uptown. Er hätte aber lieber die U-Bahn genommen.
Er betrat eine Baustelle, an der Straßensperren um ein Loch im Asphalt aufgestellt waren. Hier arbeiteten Männer in blauen Overalls, wie auch Robie einen trug. Um sie her toste der Verkehr. Autos hupten. Passanten drängten sich auf den Bürgersteigen.
Das Leben ging weiter.
Nur nicht für den Mann im Park.
Robie beachtete die Bauarbeiter nicht. Sie ignorierten ihn ebenfalls. Er ging zu einem weißen Lieferwagen, der neben der Baustelle parkte, und stieg auf der Beifahrerseite ein. Kaum hatte er die Tür zugezogen, legte der Fahrer den Gang ein und fuhr los. Er kannte die Stadt gut und nahm Ausweichstrecken, um das Verkehrgewühl zwischen Manhattan und dem LaGuardia Airport zu umgehen.
Robie kletterte auf die Rückbank, um sich umzuziehen. Als der Wagen am Terminal hielt, stieg er aus, in einen Anzug gekleidet und mit einem Aktenkoffer, und betrat das Flughafengebäude.
Im Unterschied zu seinem genauso berühmten Vetter JFK war LaGuardia der König der Kurzstreckenflüge. Er bewältigte mehr davon als alle anderen Flughäfen in den Vereinigten Staaten, abgesehen vielleicht von Chicago und Atlanta. Robies Flug war kurz. Vierzig Minuten in der Luft, um nach Washington zu kommen – kaum Zeit genug, um das Handgepäck zu verstauen, es sich bequem zu machen und dem Knurren des Magens zu lauschen, weil man auf einem so kurzen Flug keine Mahlzeit serviert bekam.
Achtunddreißig Minuten später setzten die Reifen der Maschine auf einer der Landebahnen des Reagan National Airport auf.
Der Wagen wartete bereits auf Robie.
Er stieg ein, griff nach der Washington Post auf der Rückbank und überflog die Schlagzeilen. Natürlich stand da noch nichts, auch wenn die Nachricht mit Sicherheit schon online gestellt worden war. Robie hatte ohnehin kein Interesse, von dem Zwischenfall im Park zu lesen. Er wusste bereits alles, was er darüber wissen musste.
Aber morgen würde jede Zeitung im Land mit fetter Schlagzeile über den Mann im Central Park berichten, der joggen gegangen war, um fit zu bleiben, und so tot geendet hatte, wie man nur tot sein konnte.
Einige würden den Toten betrauern. Vor allem seine Mitarbeiter, die nun hoffentlich für alle Zeiten keine Gelegenheit mehr hatten, anderen Menschen Schmerz und Leid zuzufügen.
Der Rest der Welt würde dem Ableben des Mannes applaudieren.
Robie hatte zuvor schon Männer wie den Jogger beseitigt. Die Öffentlichkeit war jedes Mal froh, dass ein weiteres Ungeheuer sein Ende gefunden hatte. Aber die Welt drehte sich weiter, so kaputt wie immer, und ein anderes Ungeheuer, ein vielleicht noch schlimmeres, nahm den Platz des getöteten Vorgängers ein.
An Robies Schuss an diesem klaren, frischen Morgen im normalerweise so friedlichen Central Park würde man sich noch eine Zeit lang erinnern. Man würde Untersuchungen führen und diplomatische Breitseiten abfeuern. Menschen würden bei Vergeltungsschlägen sterben. Und dann würde das Leben einfach weitergehen.
Und Will Robie würde im Dienst für sein Land in ein Flugzeug oder einen Zug oder einen Bus steigen oder zu Fuß gehen, so wie heute, und würde wieder einen Abzug betätigen oder ein Messer werfen oder jemanden mit bloßen Händen erwürgen. Und der nächste Tag würde kommen, und es würde so sein, als hätte jemand einen gigantischen Resetknopf gedrückt, denn die Welt würde aussehen wie immer.
Doch Robie würde so weitermachen, immer weitermachen – aus einem einzigen Grund: Tat er es nicht, hatte die Welt keine Chance, besser zu werden. Wenn Leute mit Mut nur dastanden, die Hände in den Taschen, siegten die Ungeheuer. Und das würde er nicht zulassen.
Der Wagen erreichte die westliche Grenze von Fairfax County, Virginia, und rollte durch ein bewachtes Tor. Als er schließlich hielt, stieg Robie aus und betrat das Gebäude. Er zeigte keinen Ausweis und blieb auch nicht stehen, um eine Zugangserlaubnis zu erhalten.
Ein kurzer Gang führte ihn zu einem Zimmer, in dem er eine Zeit lang sitzen und ein paar E-Mails verschicken würde. Dann würde er in sein Apartment in Washington fahren. Normalerweise streifte er nach einem Einsatz bis zum Morgengrauen ziellos durch die Straßen, denn so kam er am besten mit den Nachwirkungen seines Berufs klar.
Heute aber wollte er einfach nur nach Hause und nichts Anstrengenderes tun, als aus dem Fenster zu blicken.
Aber es sollte nicht sein.
Denn der Mann erschien.
Der Mann kam oft vorbei, um Robie eine neue Mission in Gestalt eines USB-Sticks zu überbringen.
Aber dieses Mal brachte er nichts außer einem Stirnrunzeln.
»Blue Man will Sie sehen«, sagte er.
Nichts, was dieser Mann tat oder sagte, hätte Robie interessieren oder überraschen können.
Das schon.
In letzter Zeit hatte Robie den Mann mit dem Codenamen Blue Man oft gesehen. Zuvor war er ihm nie begegnet, genau zwölf Jahre lang.
»Blue Man?«
»Ja. Der Wagen wartet.«
Jessica Reel saß allein an einem Tisch im Wartebereich des Flughafens. Sie trug einen grauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und leichte, flache schwarze Schuhe.
Ihr einziges Zugeständnis an Exzentrik war der Hut, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ein strohfarbener Panamahut mit schwarzem Seidenband, der geradezu perfekt war für unterwegs, weil man ihn zusammenfalten konnte. Jessica Reel war im Laufe der Jahre viel gereist, hatte aber auf keiner dieser Reisen jemals einen Hut getragen. Jetzt schien es ein guter Augenblick zu sein, damit anzufangen.
Ihr Blick glitt über die Tausende von Passagieren, die ihr Gepäck hinter sich her zogen oder Laptoptaschen über der Schulter trugen, während sie Kaffeebecher von Starbucks in der freien Hand hielten. Die Reisenden überflogen erwartungsvoll die elektronischen Anzeigetafeln nach Flugsteigen, Flugstreichungen, Landungen und Abflügen. Minuten oder Stunden später – manchmal auch Tage, wenn das Wetter besonders unkooperativ war – würden sie in geflügelte Silberröhren steigen und mitsamt Gepäck Hunderte oder Tausende von Meilen zu ihrem gewünschten Ziel katapultiert werden.
Reel war jahrelang immer nur mit leichtem Gepäck gereist. Kein Laptop. Ausreichend Kleidung für ein paar Tage. Sie nahm nie Arbeit mit. Die wartete immer an ihrem Ziel auf sie. Zusammen mit der nötigen Ausrüstung, die sie brauchte, um den Job zu erledigen, den man ihr zugeteilt hatte.
Wenn sie dann wieder abreiste, hinterließ sie eine Leiche. Mindestens.
Reel strich über ihr Handy. Auf dem Display war ihre Bordkarte zu sehen. Der Name auf dem E-Ticket lautete allerdings nicht Jessica Reel. Das wäre in diesen turbulenten Zeiten ein wenig ungelegen für sie gewesen, denn ihr letzter Einsatz war nicht nach Plan verlaufen – zumindest nicht nach dem Plan ihres ehemaligen Arbeitgebers. Was Reel selbst betraf, hatte sie den Job genau so erledigt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ein Mann namens Douglas Jacobs war tot zurückgeblieben. Aber ihre eigene Einschätzung interessierte nicht. Für ihre Ex-Arbeitgeber hatte Reel versagt.
Deshalb würde man sie in der Heimat zu einer persona non grata erklären – und zu einer Gesuchten. Die Leute, für die Reel gearbeitet hatte, verfügten über genügend Agenten, die man auf sie ansetzen konnte. Man würde sie jagen und versuchen, ihr Leben auf die gleiche effiziente Art und Weise zu beenden, wie sie selbst Jacobs’ Leben beendet hatte.
Nur hatte Jessica Reel einiges dagegen einzuwenden. Deshalb der neue Name, die neuen Dokumente und der Panamahut. Ihr langes Haar war nun blond statt naturbraun. Gefärbte Kontaktlinsen verwandelten ihre grünen Augen in graue. Und geschickte plastische Chirurgie hatte für eine veränderte Nase und einen überarbeiteten Unterkiefer gesorgt. In allen entscheidenden Aspekten war sie eine neue Frau.
Vielleicht sogar eine Frau, der eine Erleuchtung zuteilgeworden war.
Ihr Flug wurde aufgerufen, und Reel erhob sich. In ihren flachen Schuhen maß sie eins fünfundsiebzig – groß für eine Frau –, aber sie fügte sich gut in die Menge ein. Sie setzte den Hut auf, besorgte sich einen Kaffee und begab sich zum nächsten Flugsteig.
Der Flug ging pünktlich.
Vierzig unruhige Minuten später landete die Maschine mit einem harten Ruck kurz vor den ersten Sturmausläufern. Die Turbulenzen hatten Reel nicht gestört. Sie setzte immer auf Wahrscheinlichkeiten: Statistisch gesehen konnte man zwanzigtausend Jahre lang jeden Tag fliegen, ohne abzustürzen. Ihre Überlebenschancen am Boden waren nicht annähernd so gut.
Sie verließ das Flugzeug, ging zum Taxistand und wartete geduldig in der langen Schlange, bis sie an der Reihe war.
Doug Jacobs war der Erste gewesen, aber noch lange nicht der Letzte. Reel hatte eine Liste jener Leute im Kopf, die ihm hoffentlich ins Jenseits folgen würden – vorausgesetzt, für Menschen wie Jacobs gab es so einen Ort.
Aber die Liste musste noch warten. Jessica musste zuerst an einen bestimmten Ort.
Sie stieg in das nächste freie Taxi, fuhr in die Stadt und ließ sich in der Nähe des Central Parks absetzen. Der Park war immer voller Menschen und Hunde, Veranstaltungen und Arbeiter. Ein kontrolliertes Chaos, falls es so etwas überhaupt gab.
Reel bezahlte den Taxifahrer und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das nächste Eingangstor. Nach kurzem Warten ging sie hindurch und weiter bis unweit der Stelle, an der es passiert war.
Die Polizei hatte große Bereiche der Gegend abgesperrt, damit sie ihre kleine forensische Jagd führen konnte, um Beweise zu sammeln und den Killer zu schnappen.
Daraus wird nichts, Leute, dachte Reel. Im Gegensatz zu New Yorks Polizei wusste sie es ganz genau.
Sie mischte sich unter die Menge, die direkt hinter der Absperrung stand, und schaute zu, wie die Polizei methodisch jeden Quadratzentimeter Boden um die Stelle herum absuchte, an der die Leiche gelegen hatte.
Die Zielperson war ein Monster gewesen, ohne das die Menschheit besser dran war, das wusste Reel, nur interessierte es sie nicht im Geringsten. Sie hatte viele solcher Ungeheuer getötet. Waren sie eliminiert, nahmen andere ihre Stelle ein. So funktionierte die Welt nun mal. Man konnte nur versuchen, wenigstens einen kleinen Schritt voraus zu bleiben.
Jessica Reel konzentrierte sich auf andere Dinge. Dinge, die die Polizei nicht erkennen konnte. Sie verband die am Boden markierten Umrisse der Leiche mit Schussbahnen aus sämtlichen Richtungen. Das hatte auch die Polizei bestimmt schon getan, schließlich gehörte es zu den Grundlagen der Forensik, aber die deduktiven Fähigkeiten der Ermittler, sogar ihr Vorstellungsvermögen reichten nicht aus, deshalb würden sie nie auf die richtige Antwort kommen. Reel hingegen wusste, dass alles möglich war.
Nachdem sie sämtliche anderen Möglichkeiten erschöpft und ihre eigenen Algorithmen berechnet hatte, um die Position des Schützen zu ermitteln, richtete sie den Blick auf eine Steinmauer. Scheinbar undurchdringlich. Durch ein solches Hindernis konnte man nicht schießen. Und von dem Weg aus, der zu der Mauer führte, hatte man keine Sichtlinie zum Ziel. Darüber hinaus war der Zugang zur Mauer mit Sicherheit verschlossen. Also würde die Polizei diesen Bereich als mögliche Position eines Schützen sofort verworfen haben.
Reel löste sich aus der Menge und machte sich auf einen langen Spaziergang, der sie zuerst nach Westen, dann nach Norden und schließlich nach Osten führte.
Sie zog ein Fernglas aus der Tasche und konzentrierte sich auf die Mauer.
Man würde zwei Löcher brauchen. Eines für die Mündung – wobei man die größere Breite des Schalldämpfers mit einberechnen musste – und eines für das Zielfernrohr.
Reel wusste genau, wo und wie groß diese Löcher sein mussten.
Sie drehte an der Feineinstellung des Fernglases. Die Mauer wurde schärfer. Reel konzentrierte sich auf zwei Bereiche, von denen der eine etwas höher lag als der andere. Aber in beiden Bereichen befanden sich Mörtelfugen.
Die Polizei würde das niemals entdecken, weil sie nie danach suchen würde.
Reel schon.
Überwachungskameras, die auf die Mauer gerichtet waren, entdeckte sie nicht. Warum sollte es hier auch Kameras geben? Es war schließlich nur eine Mauer.
Was sie perfekt machte.
Es gab zwei Stellen, an denen der Mörtel leicht verfärbt war, als hätte man ihn erst kürzlich verfugt. Was auch der Fall war, wie Reel auf Anhieb erkannte. Man hatte die Löcher sofort nach dem Schuss wieder gefüllt, und der Industriehärter hatte seinen Job getan. Natürlich würde die Farbe ein paar Stunden lang ein bisschen anders aussehen, vielleicht sogar ein paar Tage lang, aber dann waren alle Unterschiede verschwunden, nichts mehr fiel auf.
Der Schuss war von dort gekommen.
Auch die Flucht hatte dort ihren Anfang genommen.
Reel blickte zu Boden.
Unter dem Park befand sich ein Tunnellabyrinth – Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung, verlassene U-Bahn-Schächte. Das wusste Reel, denn vor Jahren hatte es bei einem ihrer Tötungsaufträge eine tragende Rolle gespielt. Unter Amerikas größter Stadt gab es zahllose Verstecke. An der Oberfläche drängten sich Abermillionen Menschen im Big Apple, während man im Untergrund so allein sein konnte wie auf der Oberfläche des Mondes.
Reel setzte sich wieder in Bewegung, nachdem sie das Fernglas verstaut hatte.
Der Parkausgang, den der Schütze genommen hatte, befand sich vermutlich in einem weit entfernten Teil der Stadt. Von dort auf die Straße. Dann eine schnelle Fahrt zum Flughafen oder zum Bahnhof, und das war’s.
Der Killer geht frei aus, das Opfer geht ins Leichenschauhaus.
Die Zeitungen würden eine Zeit lang darüber berichten. Vielleicht gab es irgendwo eine persönliche oder politische Vergeltung, aber dann würde die Story sterben. Andere Geschichten würden ihren Platz einnehmen. Ein Tod bedeutete sehr wenig. Die Welt war zu groß. Und viel zu viele Menschen starben auf gewaltsame Weise, als dass man sich lange auf sie konzentrieren könnte.
Reel ging weiter zum Hotel, in dem sie ein Zimmer reserviert hatte. Zuerst wollte sie den Fitnessraum aufsuchen, um die verkrampften Muskeln zu lockern, dann würde sie sich in die Sauna setzen, eine Kleinigkeit essen und alles durchdenken.
Der Ausflug in den Central Park hatte sich gelohnt.
Will Robie war einer der Besten.
Vielleicht sogar der Beste.
Reel hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Robie an diesem Morgen im Central Park am Abzug gewesen war. Er hatte seine Spuren verwischt. War zurück an die Oberfläche gekommen. War ins nächste Flugzeug nach Washington gestiegen. Hatte sich im Büro sehen lassen.
Alles Routine, soweit es in Robies Welt Routine gab.
So wie in meiner Welt. Aber jetzt nicht mehr. Nicht nach Doug Jacobs. Der einzige Bericht, den sie von mir noch haben wollen, ist mein Autopsiebericht.
Reel war ziemlich sicher, dass man Robie mit einer neuen Mission beauftragen würde.
Er wird den Auftrag erhalten, mich aufzuspüren und zu eliminieren.
Um einen Killer zu erwischen, schickte man einen anderen Killer aus.
Robie gegen Reel. Das klang nicht schlecht.
Wie der Kampf des Jahrhunderts.
Reel war überzeugt, dass er genau das sein würde.