1 Einleitung

Lernen ist ein lebensnotwendiger Vorgang und zugleich eine wundervolle Möglichkeit für den Menschen. Notwendig ist es nicht nur, weil der Mensch mit einer vergleichsweise schwachen Instinktausstattung geboren wird, sondern weil sich seine (Um-)Welt aus unterschiedlichen Gründen immer wieder ändert und er sich mit ihr ändern oder sich befähigen muss, seine Welt zu ändern. Eine Möglichkeit ist es nicht nur, weil der Mensch aufgrund seiner Lernfähigkeit eben nicht in gleicher Weise auf Instinkte angewiesen ist wie die Tiere, sondern weil er mittels Lernen zum Menschen werden kann, weil er über die erst durch Lernen mögliche Erweiterung und Verfeinerung seines Wissens und Könnens und über die erst durch Prozesse des Leben-Lernens mögliche Integration der Erfahrungen und Hoffnungen sich als Mensch gestalten und (er-)finden kann.

Menschliches Lernen ist dementsprechend nicht mit jenem Lernen gleichzusetzen, das anderen Lebewesen, Tieren und neuerdings auch Pflanzen zugeschrieben bzw. an diesen untersucht wird. Menschliches Lernen ist mit Blick auf seine für den Menschen besonderen Notwendigkeiten und mit Blick auf die in ihm für den Menschen liegenden Möglichkeiten zu untersuchen.

Hier kommt die Pädagogik ins Spiel. Wie gut bzw. schlecht sie als Praxis die ihr zugeschriebene Aufgabe, die Menschwerdung des Menschen zu fördern, auch erfüllen mag, so hat sie als Wissenschaft jedenfalls die Aufgabe, die Prozesse des Lernens und der Lernunterstützung in dieser Hinsicht zu untersuchen und zu begreifen. Deshalb und in diesem Sinne ist Lernen ein Grundbegriff der Pädagogik. Es geht aus pädagogischer Sicht nicht darum, Lernen »an sich« zu erklären, sondern menschliches Lernen in seiner Besonderheit und im Zusammenhang mit der Praxis menschlicher Lernunterstützung zu verstehen.

Ziel dieses Buches ist es, den pädagogischen Lernbegriff neu zu bestimmen. Dabei können wir auf eine lange Tradition pädagogischen Denkens zurückgreifen, die in den letzten Jahrzehnten zu Unrecht vernachlässigt worden ist. Insofern lässt sich unser Vorhaben auch als Revitalisierung des pädagogischen Lernbegriffs oder als Rückführung des Lernbegriffs in sein angestammtes Terrain, die Pädagogik, bezeichnen.

Etymologisch ist der Begriff des Lernens (über das gotische »laisjan« als gemeinsamen Ursprung) mit dem Begriff des Lehrens verwandt (s. u.), was seine Affinität zur pädagogischen Praxis unterstreicht. Zugleich hebt die pädagogische Reflexion über Lernen von Beginn an dessen phänomenale Eigenständigkeit hervor. Lernen erscheint zwar als dialogisch, jedoch nicht durch Lehre konstituiert.

Von Platons antikem Menon-Dialog bis zu den reggiopädagogischen Projektdokumentationen unserer Zeit lässt sich eine ungeheure Fülle an pädagogischen Reflexionen über menschliches Lernen sowie an konkreten Beispielen für pädagogisch gestaltete bzw. mit pädagogischem Interesse beobachtete Lernsituationen finden. Einleitend seien drei solcher Beispiele wiedergegeben, zwei aus der Zeit der Aufklärung sowie ein Beispiel aus unserer Zeit.

Pädagogische Beispiele

In Christian Heinrich Wolkes (1741–1825) Entwurf eines Denklehrzimmers, das die Stelle eines Lehrers vertreten soll, heißt es über das jüngste der in dem Raum tätigen Familienmitglieder, das den bezeichnenden Namen »Lerning« erhält: »Ist durch öftere Messungen […] des Lernings Messlust nun ein Mal angefacht, so entspringt daraus das unbegränzte Verlangen, alle Arten von Linien, Flächen und Körpern messen zu können. Zur Befriedigung desselben ist daher allerlei veranstaltet. Wir sehen hier neben dem knienden Knaben eine große schwarze Tafel, und auf derselben einen Punkt, eine gerade und zwei krumme Linien, davon die eine wellengängig, die andere der Bogen eines Kreises ist […] Um solche Linien und Figuren zu ziehen, sind einige größenlehrige Werkzeuge angeschaft. Davon sehen wir hier vorn hergelegt einen Winkelmesser neben dem Kreiszieher, welcher über zwei hölzerne Triangeln, einen zweiten Kreiszieher und einem Richtscheit (Lineal) liegt« (Wolke 1805, S. 484 f.).

Etwa zur selben Zeit schreibt Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811) über die Anlage eines Gartens durch seine Schüler: »Ich sehe es voraus, dass bald allerhand Unordnungen in seinem Garten [Jedem Schüler wurde eine eigene kleine Gartenfläche zugeteilt; die Verf.] einreisen, bald das Unkraut überhand nehmen, bald die Gewaechse, wegen Mangel des Begiessens, verdorren werden. Das macht mir aber wenig Kummer. Sein Garten ist weder angelegt worden, um die Augen der Vorübergehenden auf sich zu ziehen, noch um große Einkünfte davon zu haben. Er wurde blos angelegt, um bey Anbauung desselben etwas zu lernen« (Salzmann 1784, S. 124 f.).

Lernen erscheint in diesen beiden Szenen als eigendynamischer Vorgang, als ein Prozess, der aus innerem Antrieb stattfindet, zugleich jedoch als etwas, das auf die Verfassung der (Um-)Welt angewiesen ist, das in einer als Lernumgebung gestalteten Welt eher möglich wird. Als Schwierigkeit des Lernens erscheint hier allein der Einstieg in die selbsttätige Auseinandersetzung mit der Welt bzw. einem bestimmten Gegenstand; hat der Mensch die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand erst einmal aufgenommen, lernt er von ganz alleine. Dieses nur motivational ausgerichtete Lernverständnis kann uns heute nicht genügen, wissen wir doch um die unzähligen Hürden, Wassergräben und Fallgruben samt der damit verbundenen Schmerzen, die das Lernen auch nach seinem Anfang noch bietet.

Schauen wir uns deshalb noch ein Beispiel aus heutiger Zeit an, einen Ausschnitt aus einer der faszinierenden Projektdokumentationen reggianischer Pädagoginnen (Comune di Reggio Emilia 1990). Materieller Auslöser des dokumentierten Geschehens ist ein am Fenster des Eingangsbereichs einer reggianischen Kindertagesstätte aufgehängtes Vogelmodell aus Pappe, dessen Schatten sich an der Außenwand der dort aufgestellten mobilen Verkleidungskammer abzeichnet.

Alan (4,1 Jahre), Maria Teresa (3,8 Jahre) und Veronica (3,8 Jahre) spielen vor der Verkleidungskammer. Maria Teresa entdeckt den Schatten des Vogels und schaut ihn sich näher an. Alan steht in ihrer Nähe und blickt zu ihr. Maria Teresa wendet sich ihm zu, erhebt die linke, dem Schatten nahe Hand und ruft: »Venite a vedere c’e un uccellino.« (Kommt, um das zu sehen, da ist ein Vögelchen.) Die anderen kommen näher. Sie dreht sich zum Fenster um, schaut nach oben, zeigt auf das vor dem Fenster hängende Vogelmodell aus Pappe und sagt dabei: »E quello la che manda l’ombra qua.« (Es ist der dort, der den Schatten hierher schickt.) Die Pädagogin kommt mit einem Stift in der Hand hinzu, geht in die Knie, um auf Höhe des Schattens zu sein, und sagt zu den nun allesamt auf den Schatten schauenden Kindern: »E proprio l’ombra di quell’ uccellino. Ora facciamo il contorno con un colore cosi lo vediamo meglio. Adesso andiamo in cortile a giocare; tra un po torniamo dentro a guardarlo.« (Das ist tatsächlich der Schatten dieses Vögelchens. Nun machen wir den Umriss mit einer Farbe, so sehen wir ihn besser. Jetzt gehen wir in den Hof, um zu spielen; etwas später kommen wir wieder hierher zurück, um nachzuschauen.) So geschieht es. Sie zieht die Umrisse des Schattens mit ihrem Stift nach. Etwas später kommen die Kinder und die Pädagogin wieder herein. Die Kinder rennen zum Schatten und kommentieren, was sie sehen: »L’ombra non c’e piu.« (Den Schatten gibt es nicht mehr.) – »Oh ma vedo il becco io; vacca que acquila!« (Oh, aber ich sehe den Schnabel; wie ein Adler!) – »E lui il sole che parte di la e poi si sbatte di qui.« (Das ist die Sonne, die geht von dort los und knallt dann von hier rein.) – »Ma e sempre quella l’ombra; secondo me si sposta.« (Aber es ist immer noch dieser Schatten; meiner Meinung nach verschiebt er sich.) – »Perche lui vola vola, e venuto qui dai travestimenti.« (Weil er fliegt fliegt, er ist hier aus der Verkleidungskammer gekommen.) Schließlich pressen Maria Teresa und Veronica ihre Köpfe an den Schatten und Veronica ruft: »Dai, fermiamolo fermiamolo!« (Los, halten wir ihn an, halten wir ihn an!) Daraufhin stellt die Pädagogin die Frage: »Come possiamo fare fermarlo?« (Was können wir tun, um ihn anzuhalten?) Alan antwortet: »Bisogna mettere dello scotch; ce ne mettiamo tanto e dopo non si sposta. Ci facciamo una gabbia.« (Man muss Klebestreifen draufkleben; wir kleben ganz viel drauf und dann verschiebt er sich nicht. Wir machen einen Käfig.). Er macht sich gleichan die Arbeit und überklebt den Schatten waagrecht und senkrecht mit einigen Klebestreifen, so dass es aussieht, als säße der Schattenvogel in einem Käfig. Im weiteren Verlauf verlässt der Schatten zwangsläufig den Käfig, wandert in Richtung Boden, was die Kinder antizipieren, indem sie ihn mit Krümel als Futter dorthin locken etc.

Diese reggianische Dokumentation erzählt die pädagogisch unterstützte Auseinandersetzung mit Wirklichkeit als Geschichte und bietet so eine Fülle reflexiver Anschlussmöglichkeiten. Wir beschränken uns auf eine Deutung jener Sequenz, in der Veronica ihren Kopf an den Schatten presst und die anderen dazu aufruft, ihn anzuhalten, da hier kindliches Verhalten als mimetisches Lernen erscheint, welches sowohl auf ein vorgängiges pädagogisches Muster bezogen ist als auch nachgängig zu einer pädagogischen Reaktion führt, also einerseits als selbsttätige und andererseits zugleich als dialogische Aktivität erkennbar ist.

Was tut Veronica in dieser Szene, woran schließen ihre körperliche Aufführung und ihre verbale Äußerung an? Als eine Vorlage, auf die sich ihr Verhalten bezieht, kann das vorgängige pädagogische Verhalten angesehen werden, das Nachzeichnen des Schattenumrisses, der sich ja auf der Wand der Verkleidungsecke als materialisiertes Muster niederschlägt. Wir können annehmen, dass diese pädagogische Handlung auf die kindliche Erkenntnis der Bewegung des Schattens und letztlich der Sonne zielt. Performiert wird jedoch im Umreißen des Schattens etwas anderes, nämlich das Bemühen um eine Fixierung des Schattens. An dieses auf der performativen Ebene des pädagogischen Handelns erkennbare Bemühen knüpft Veronica an, wenn sie dazu aufruft, den Schattenvogel anzuhalten. Allerdings greift sie die pädagogische Vorlage nicht in der von der Pädagogin intendierten Weise auf. In Veronicas Tun wird die Fixierung nicht als Veranschaulichung eines physikalischen Vorgangs weitergeführt, sondern als Teil eines Spiels. Das Anschmiegen an den Schatten belebt diesen, erschafft sozusagen einen – wenn auch im Schatten nur gespielten, als Figur eines Spiels aber durchaus lebendigen – Vogel. Mit dieser Beseelung des Gegenstands geht die Eröffnung eines Dialogs einher (Buber 2002). Der Schattenvogel wird zum Gegenüber, zum Du, mit dem nun interagiert werden kann. Die erst im Anschmiegen praktisch vollzogene Belebung greift die im Gespräch der Kinder bezüglich der Bewegung des Schattens gefallene Äußerung auf, dass er »fliegt«. In dieser Verschiebung des kindlichen Diskurses vom Begriff der Bewegung zum Begriff des Fliegens ist die Verlebendigung des Schattens bereits angelegt. Veronicas Anschmiegen führt diese Verlebendigung nun körperlich auf und steigert dadurch deren performative Kraft. Tatsächlich wird im weiteren Geschehen die kommunikative Wirksamkeit ihrer Performance deutlich. So treiben die Kinder die Verlebendigung noch weiter, etwa wenn sie dem Schattenvogel das Bedürfnis nach Nahrung zuschreiben.

Dass dieser Prozess so weiterläuft, und dass er überhaupt stattfindet, ist nicht zuletzt durch den Modus der pädagogischen Intervention bedingt. Schon die erste Intervention eröffnet Handlungsmöglichkeiten, statt sie zu verschließen. Die Pädagogin kommentiert nicht durch die Unterscheidung »richtig« oder »falsch«, sondern interveniert mittels eigener handelnder Auseinandersetzung mit dem Phänomen und bietet den Kindern so einen Anknüpfungspunkt für mimetisches Lernen, eine Möglichkeit, sich selbst handelnd mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Dieses Muster behält die Pädagogin auch in ihrer zweiten Intervention bei. Wiederum agiert sie nicht in Form einer Erklärung. Stattdessen fragt sie nach Handlungsmöglichkeiten und spitzt so das in der Auseinandersetzung mit dem Schatten liegende Problem zu, ohne die Kinder zum Verlassen ihrer spielerischen Perspektive zu zwingen. Mit ihrer Frage anerkennt sie nicht nur das Anschmiegen an den Schatten als möglichen Zugang, sondern darin auch Veronica als Person und befördert so performativ auch die soziale Bindung der an dem Geschehen Beteiligten. Eine kommunikative Wirkung dieser Frage kann deshalb nicht nur in Alans Käfigbau, sondern auch in der anhaltenden Aufmerksamkeit der Kinder und ihrem sich im weiteren Verlauf intensivierenden Zusammenspiel gesehen werden.

Lernen erscheint in diesem Beispiel als mimetischer Prozess. Der Pädagogik kommt die Aufgabe zu, auf solche mimetischen Prozesse zu achten, sie wertzuschätzen und Handlungs- resp. Praxismuster anzubieten, an die mimetisches Lernen anschließen kann. Anders gesagt erscheint Lernen in dem Beispiel als Sprechen mit der Welt, deren Dinge und Ereignisse wiederum zu den Kindern und zu den Pädagoginnen sprechen und von ihnen angesprochen werden können, wobei jedes Sprechen der Pädagogin mit der Welt mehr oder weniger humane Optionen für mimetisches Lernen eröffnet.

Interdisziplinär. Aktuelle Diskurse über Lernen

Nun ist die Pädagogik nicht die einzige Wissenschaft, die sich für Lernen interessiert. Ja, sie nimmt – obwohl menschliches Lernen seit alters her als zentrales Phänomen pädagogischer Praxis begriffen worden ist – im heutigen interdisziplinären Diskurs und in der öffentlichen Rede über Lernen eher eine Randstellung ein. Dominant erscheinen hingegen Psychologie und Neurologie. Insbesondere letztere gilt in jüngster Zeit vielen als die Wissenschaft, von der allein wahre Aussagen über das Phänomen »Lernen« zu erwarten sind.

Die derzeit große Rolle der Neurowissenschaften im interdisziplinären Diskurs und mehr noch in der öffentlichen Debatte um Lernen verdankt sich zu einem großen Teil der enormen technischen Verbesserung der bildgebenden Verfahren. Dank Magnetresonanz-, Positronen-Emissions- und anderen Tomographen können Forscher heute ohne einen chirurgischen Eingriff komplexe Funktionen im lebenden Gehirn untersuchen. Unterschiedlichste Teile des Gehirns können sichtbar gemacht, aktive Partien von inaktiven und Vorher- von Nachher-Stadien der betreffenden Partien unterschieden werden. Der Mensch scheint sich heute – und diese Annahme verschafft der Neurowissenschaft ihre derzeit starke Stellung – beim Denken und Lernen zusehen zu können.

Die Vermutung, dass spezifische Hirnregionen für bestimmte psychische Funktionen zuständig sind, erstarkt bereits im 18. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelingt Broca die Identifikation eines Sprachzentrums im Gehirn, im Folgenden werden bis heute eine Fülle weiterer Zentren, Felder und Systeme für bestimmte Funktionen lokalisiert. Seit Ende des 20. Jahrhunderts versteht sich die Hirnforschung zunehmend als neurowissenschaftliche Lernforschung. Begrifflich ist dafür nicht zuletzt die Vorstellung neuronaler Plastizität von Bedeutung. Als Grundlage einfacher Formen neuronaler Plastizität gilt, dass die Modulation der Erregungseigenschaften einzelner Neuronen zu multiplen Netzwerkeigenschaften von Neuronen-Ensembles führt. So können sich die Ausstattung der Neuronen mit Kanalmolekülen und Enzymen, ihre synaptische Erregungsübertragung und ihre Gestalt langfristig ändern. »Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke« (Spitzer 2002, S. 146).

Die Frage ist, ob und inwiefern dieser Diskurs das Verständnis menschlichen Lernens erhöht. Für Neurowissenschaftler steht dies nicht nur außer Frage, sondern sie sind zum Teil bereits dazu übergegangen, Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis aufzustellen (vgl. Spitzer 2002). Diese erweisen sich allerdings bei näherer Betrachtung als theoretisch kaum verbundene Mixtur aus neurowissenschaftlichen Befunden und althergebrachten (vulgär-)pädagogischen Maximen, die oftmals deutlich hinter dem Reflexionsstand der Pädagogik zurückbleibt. In manchen Passagen dieser Literatur wird die Unbewiesenheit der Argumentation zumindest noch angedeutet, was den Autor freilich nicht daran hindert, die Aussagen räumlich so aufeinander folgen zu lassen, dass es so aussieht, als hingen sie zusammen, z. B.: »Aus Tierexperimenten sind ferner sogenannte stille Verbindungen bekannt, die frühkindlich entstehen und später nicht mehr gebraucht werden, jedoch wieder reaktivierbar sind. Es ist sehr schwer, die Konsequenzen dieser Befunde für den Menschen zu untersuchen oder gar experimentell nachzuweisen. Dass Kinder jedoch eine interessante Umgebung brauchen, dass ihre Neugier befriedigt werden sollte und dass sie vielfältigen Erfahrungen ausgesetzt sein sollten, liegt auf der Hand« (Spitzer 2002, S. 226). An anderen Stellen suggeriert die neurowissenschaftliche Terminologie vorbehaltlos, die Argumentation sei wissenschaftlich untermauert, z. B.: »Wenn es zutrifft, dass der erwachsene Mensch sein Wertegefüge in der Jugend an Beispielen lernt, die im orbitofrontalen Kortex abgespeichert sind, und wenn es zutrifft, dass es zur glückenden moralischen Entwicklung des Menschen tausender solcher Beispiele mit größtmöglicher Varianz bedarf, und wenn weiterhin junge Menschen vor allem von Vorbildern und Gleichaltrigen lernen, dann kann der Religionsunterricht der moralischen Entwicklung nicht nur nichts nutzen, er kann ihr auch schaden« (ebd., S. 430).

So kann kaum überraschen, dass der gelegentlich euphorischen Rezeption neurowissenschaftlicher Befunde in der Pädagogik herbe Kritik entgegenschlägt, z. B. man solle sich nicht mit den »bunten Bildern« der Hirnforschung begnügen, wenn es um die Gestaltung von Lernprozessen geht (vgl. Hüther 2006, S. 313). Methodologisch wird für eine kulturwissenschaftliche Ergänzung der Biowissenschaften plädiert und werden deren pädagogische Ansprüche zurückgewiesen, da ihre Erkenntnisse bislang weder in normativer noch in praktisch innovativer Hinsicht für die Pädagogik fruchtbar zu machen sind (vgl. Liebau/Zirfas 2006).

Das Problem liegt darin, dass die Neuro- bzw. Biowissenschaften Lernen durch Rückführung auf ein materielles Substrat zu erklären suchen. Der Sinn des Geschehens wird ausgeblendet. Lernen erscheint neuronalen Lerntheorien als materieller (physikalischer, chemischer etc.) Prozess, d. h. es ist mit ihnen nur als sinnloses Geschehen zu erklären. Sinn ist jedoch die Basis menschlichen Daseins und damit auch menschlichen Lernens. Was die Neurowissenschaft als Lernen bezeichnet, ist also gerade nicht das, was die Pädagogik als menschliches Lernen interessiert und zu verstehen sucht.

Nachdem die Psychologie über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Rede vom Lernen bestimmte, gründet sie sich heute, wenn es um Lernen geht, gerne auf der Neurowissenschaft (vgl. Edelmann 2000, S. 1 ff.). Dies ist kein Zufall, bietet sich die Neurowissenschaft doch als – sozusagen die »black box« offen legendes – Pendant der Lernpsychologie an.

Die Lernpsychologie ist bis heute stark behavioristisch geprägt. So besteht beispielsweise die erste Hälfte von Edelmanns oben genanntem Lehrbuch aus Darstellungen des Reiz-Reaktions-Lernens und des instrumentellen Lernens. Für andere einschlägige Lehrbücher (z. B. LeFrancois 2003; Mielke 2001) gilt Ähnliches. Lernen ist aus psychologischer Sicht als durch Kontiguität, also (mehrfache) Koppelung zweier Reize oder durch Verstärkung bewirkte Verhaltensänderung.

Neben dieser Auffassung finden sich im psychologischen Diskurs seit der »kognitiven Wende« der 1960er Jahre Auffassungen vom Lernen als Informationsverarbeitung, als Begriffsbildung und – mit der Hinwendung zur Neurowissenschaft wieder zunehmend – als Gedächtnisleistung. Der lernpsychologische Minimalkonsens wird heute erreicht, indem nicht mehr von unterschiedlichen Auffassungen, sondern von unterschiedlichen Lernformen gesprochen wird: »Es gibt Lernprozesse, bei denen die Außensteuerung durch Reize eine ausschlaggebende Rolle spielt und andere, bei denen die Innensteuerung durch subjektive kognitive Strukturierungsprozesse im Vordergrund steht« (Edelmann 2000, S. 276). Als erstere gelten Reiz-Reaktions-Lernen und instrumentelles Lernen, als letztere Begriffsbildung und Wissenserwerb sowie das Lernen von Handeln und Problemlösen. Reiz-Reaktions-Lernen wird als Aufbau von Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen, instrumentelles Lernen als Aufbau von Verbindungen zwischen Verhalten und Konsequenzen, Begriffsbildung und Wissenserwerb als Aufbau von Verbindungen zwischen Elementen kognitiver Strukturen, das Lernen von Handeln und Problemlösen als Aufbau von Verbindungen zwischen Wissen und Aktivität definiert (vgl. ebd., S. 279). Von anderen Lernpsychologen wird entschiedener kognitivistisch und konstruktivistisch argumentiert (vgl. Seel 2000). Hierbei erscheint Lernen eher als Konstruktion denn als Erwerb von Wissen, neuen Verhaltensweisen und Handlungsstrategien. Damit kommt zwar dem Lerner als Subjekt mehr Aufmerksamkeit zu, andererseits wird Lernen aus dieser Perspektive sehr eng mit den Vorgängen des Erkennens und Denkens zusammengeführt, was zu einer Vernachlässigung anderer Lernfelder führen kann.

Die Lernpsychologie hat bis heute eine Fülle von interessanten – allerdings auch widersprüchlichen (vgl. Edelmann 2000, S. 144) – Befunden hervorgebracht. Sie weist Lernängste nach, unterscheidet verschiedene Typen von Lernern, zeigt den Einfluss von Motivation auf die Lernleistung u. a. m. Eine einheitliche Lerntheorie ist daraus bislang nicht erwachsen, aber das muss ja angesichts der Vielfalt des menschlichen Lebens kein Nachteil sein. Problematisch aus pädagogischer Sicht ist, dass die Lernpsychologie das menschliche Lernen zu erklären, nicht jedoch zu verstehen sucht. Der Sinn des Lernens spielt auch für diese Wissenschaft keine entscheidende Rolle. Hier liegt eine große Aufgabe für die pädagogische Sicht auf menschliches Lernen.

Hinweise hierfür liefert die Philosophie. Auch wenn sie heute selbst kaum beansprucht, eine für Fragen des Lernens zuständige Wissenschaft zu sein, fragt sie doch seit alters her nach dem Warum, sucht den Sinn des menschlichen Lebens und damit auch des Lernens, fragt nach Notwendigkeit und Möglichkeit, nach Anfang und Ende sowie nach Auswirkungen des Lernens, d. h. danach, wie der Mensch sich als Gelernthabender wieder findet. Diese Hinweise werden im heutigen pädagogischen Diskurs nur selten berücksichtigt, spielen aber in der Geschichte der Pädagogik eine wichtige Rolle. Nicht nur, aber auch deshalb lassen wir unsere Geschichte des Lernbegriffs (s. Kap. 3) in der antiken Philosophie beginnen und widmen der Anthropologie des Lernens (s. Kap. 4) einen großen Raum.

Intradisziplinär. Grundbegriffe der Pädagogik

Auf den ersten Blick erscheint der in diesem Abschnitt unternommene Versuch, den pädagogischen Grundbegriff des Lernens von anderen Grundbegriffen wie Erziehung, Bildung, Unterricht, Entwicklung etc. trennscharf zu unterscheiden, als ein müßiges Unterfangen, da diese Grundbegriffe selbst weder in historischer noch systematischer Perspektive eindeutige Denotationen aufweisen. Darüber hinaus besteht ein dialektischverschränktes Verhältnis zu ihnen, insofern einerseits der Begriff des Lernens in Anlehnung an Herbart quasi als »einheimischster Begriff« der Pädagogik gelten kann, sind doch Erziehung, Unterricht oder Bildung etc. ohne Lernen nicht denkbar, andererseits jedoch Lernprozesse an bestimmte Entwicklungen oder auch Erziehungs- oder Bildungsprozesse gebunden bleiben. Trotzdem ist ein solches definitorisches Vorhaben sinnvoll, da der Sachverhalt des Lernens im Unterschied zu diesen anderen pädagogischen Begriffen eine schärfere Konturierung erhält; man erhält so eine graduelle definitorische Positionierung des Lernbegriffs.

Ursprünglich werden mit dem Begriff der Erziehung so unterschiedliche Tätigkeiten bezeichnet wie das Herausziehen eines Schwertes, das Abziehen der Haut, das Ausraufen der Haare, das Ziehen von Lasten oder auch das Aufziehen von Vieh. Die Pädagogik, die ihre Karriere als Wissenschaft im 18. Jahrhundert beginnt, hat allerdings Erziehung immer wieder von bloßem Herausziehen, von Aufzucht bzw. vom Ziehen überhaupt unterschieden, so dass eine Begriffsgeschichte hier im Grunde keine Auskunft über den Sachverhalt von Erziehung selbst gibt. Zudem: Im praktischen Handeln »gibt« es ja kein Erziehen im genau zu definierenden Sinne, sondern der Erzieher spricht, zeigt, straft, hilft etc. und nennt diese Handlungen dann »Erziehung«. Diese Perspektive macht deutlich, dass der Erziehungsbegriff selbst ein Konstrukt ist, das nicht nur genuine Handlungen des Erziehers erfasst, sondern auch die intendierte oder auch nicht erwünschte Wirkung, ein bestimmtes Menschenbild sowie normative Projektionen und Legitimationsstrategien. Im Erziehungsbegriff kann man somit mehrere Momente unterscheiden, die sich nicht aus den beobachtbaren Sachverhalten, sondern aus dem Standpunkt des Betrachters ergeben. Paradox formuliert: Ich brauche immer schon einen Begriff von Erziehung, um Erziehung überhaupt wahrnehmen zu können. Die Wirklichkeit der Erziehung ergibt sich aus der Zuschreibung von Begriffen auf bestimmte soziale und kulturelle Konstellationen. So kann man in der Geschichte der Erziehung mehrere solcher Zuschreibungen feststellen, vier davon sind prominent geworden: Erziehung als Einwirkung, als Entwicklung, als Kommunikation oder als Arrangement. Diese inhaltlichen Konzepte sind situiert zwischen der Erziehung als Absicht und der als Wirkung. Der wesentliche Unterschied zum Lernen liegt einerseits darin, dass Erziehung immer auf ein werthaltiges Konzept bezogen ist, während Lernen zunächst wertneutral erscheint. Andererseits betont der Erziehungsbegriff als Absichtsbegriff die Perspektive des Erziehenden, während der Lernbegriff stärker die subjektiven Auseinandersetzungen und deren Resultate fokussiert, die sich aus den bewussten und unbewussten, geplanten und ungeplanten Aktivitäten der (pädagogischen) Umwelt ergeben.

Der in Deutschland in vielen Debatten geläufige Begriff der Bildung fungiert häufig als ein umbrella term, der neben einem weihevollen Nimbus vielfältige Konnotationen hervorruft und in der Regel auf Zustimmung hoffen kann. So lässt sich »Glanz und Elend« dieses deutschen Deutungsmusters (Bollenbeck 1996) im allgemeinen Gebrauch – etwa in den Verbindungen von Bildungspolitik, Bildungssystem etc. –, der auf das gesamte Angebot organisierter und institutioneller Lehrangebote zielt, ebenso nachzeichnen wie im engeren (pädagogischen) Gebrauch als individuelle Aneignung der Welt durch ein sich selbst entfaltendes Subjekt. Allgemein rechnet man zur Bildung 1. spezifische Fähigkeiten, Verfahren, Fertigkeiten, Schlüsselqualifikationen (formale Bildung), 2. spezifische, oftmals kanonisierte (Wissens-)Kenntnisse (materiale Bildung), 3. die Dialektik von Können und Wissen, Ich und Welt, Aneignung und Kritik (kategoriale Bildung), 4. einen lebenslangen, unabschließbaren, biographischen Lernprozess (biographische Bildung) und schließlich 5. die Idee einer humanen, für alle lebenswerten Gesellschaft (utopische Bildung). Unter dem Begriff der Bildung soll hier zunächst in sehr weitgehender Bedeutung der Prozess und das Ergebnis einer Veränderung verstanden werden, die sowohl das Selbst- als auch das Sozial- und Weltverhältnis des Menschen betrifft. Bildung ist die performative und reflexive Verknüpfung von Kultur und Individualität, die es den Menschen möglich macht, an ihren Erziehungs- und Bildungsbedingungen, mithin an ihren Selbst- und Weltverhältnissen selbst mitzuwirken, d. h. in der Lage zu sein, sich selbst eine Form geben zu können. Bildung wird in der Moderne mit Rekurs auf Humboldt von der Pädagogik oftmals sehr stark auf individuelle Selbstbildung bezogen; Bildung erfasst aber auch die – die Soziologie wohl weniger überraschende – Einsicht, dass auch das »Leben bildet« (Pestalozzi). Gemeinhin differenziert man zwischen theoretischer, praktischer und ästhetischer Bildung. Während die theoretische Bildung auf die wissenschaftliche Betrachtung, definitorische Gliederung bzw. Klassifizierung und gesetzmäßige Erfassung der Dinge und ihrer Zusammenhänge abzielt, richtet sich die moralische Bildung auf die Zwecke und Mittel menschlichen Handelns, auf die moralische Betrachtung von Regeln, Institutionen und Werken. Ästhetische Bildung umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der Bildung durch kulturelle Aktivitäten und Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst und Kultur und die Reflexion künstlerischer und kultureller Prozesse und Resultate. Die wohl bedeutsamsten Unterschiede zum Lernbegriff sind auf drei Ebenen zu sehen: 1. Der Begriff der Bildung ist eng mit dem Konzept von Kultur und darüber hinaus mit einem qualitativen Begriff von Kultur als Hochkultur verknüpft und insofern enger als der Lernbegriff, der sich auf alle Bereiche menschlichen Lebens beziehen lässt. 2. Während der Begriff der Bildung oftmals einen utopischen bzw. emphatischen Horizont von Bildsamkeitsmöglichkeiten aufweist, konzentriert sich der Lernbegriff auf spezifische, oftmals auch kleinschrittigere Veränderungsprozesse. 3. Bildungsprozesse implizieren zumal in der Humboldtschen Lesart ein Subjektmodell, das sich durch ein Höchstmaß an kognitiver, moralischer, sprachlicher und ästhetischer Autonomie auszeichnet, während der Lernbegriff stärker eine Anthropologie favorisiert, die ganz allgemein die subjektive Erfahrung und das Am-Anderen-Lernen in den Mittelpunkt rückt.

Unter dem Titel Sozialisation werden im Folgenden nach der mittlerweile gängigen Definition die Entstehung und Bildung der Persönlichkeit in den Prozessen der wechselseitigen Einwirkungen von Individuum und Umwelt verstanden (vgl. Veith 1996; Tillmann 1999; Zimmermann 2000). Dabei steht im Mittelpunkt des Sozialisationsbegriffs die (Aus-)Bildung zu einem sozial handlungsfähigen Subjekt. Geht man so weit wie Dieter Geulen und bezeichnet als Sozialisation im Sinne einer durch- und übergreifenden Kategorie »die Gesamtheit der Lernprozesse im weitesten Sinne« (Geulen 1994, S. 102), so besteht u. E. die Gefahr, die Bedeutung des Lernbegriffs in der Sozialisation aufzuheben. Daher: 1. Bezieht sich der Begriff der Sozialisation auf die Gesamtheit der Veränderung der Persönlichkeit, so hat der Lernbegriff auch den weniger spektakulären Wissenserwerb und die Veränderung von wenig auffälligen Verhaltens- und Wertorientierungen im Blick. 2. Der Lernbegriff fokussiert mehr die Subjektseite, die durch Erfahrung bewirkte individuelle Veränderung, die als Neuerwerb, Eliminierung, Anpassungsleistung, Anderswerden und Wechsel erscheint, während der Sozialisationsbegriff auch und gerade die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der historischen, sozialen und kulturellen Umwelt betont. 3. Der Lernbegriff hebt stärker auf die einzelnen und individuellen (kognitiven, emotionalen, sozialen etc.) Erfahrungs- und Verarbeitungsprozeduren durch Assimilation, Strukturierung und Praxis ab, während der Sozialisationsbegriff sich eher für die Strukturen und Muster interessiert, in und mit denen sich die Persönlichkeitsentwicklung in der reziproken Beziehung zwischen Selbst und Welt vollzieht.

Entwicklung als pädagogische Kategorie liegt quer zu den bislang diskutierten Begriffen. Wenn von Entwicklung die Rede ist, dann im Sinne einer spezifischen, zielgerichteten Veränderungslogik, die weder kontingent noch bloße Wiederholung ist. Der Entwicklungsbegriff bezieht sich dabei auf diejenigen Veränderungen, die in biographischen Lebenszeitprozessen einerseits und im menschlichen Organismus andererseits stattfinden. In diesem Sinne wird Entwicklung in Verbindung gebracht mit Wachstum, Reifung, Ausdifferenzierung, Verfeinerung, Entfaltung, Aufblühen und Erwachsenwerden – insgesamt auf die sich aus dem Wechselspiel von endogenen und exogenen Faktoren herauskristallisierende zeitliche Strukturgesetzlichkeit. Aus pädagogischer Sicht ist nun interessant, wie der Anfang von Entwicklungen beschrieben und wie das Entwicklungsziel bestimmt werden kann; darüber hinaus sind die Kräfte, die die Entwicklungen möglich machen und die mit ihnen verbundenen Einflussmöglichkeiten von pädagogischem Interesse. Der Gedanke der Entwicklung als Fortschritt macht es pädagogisch möglich, die Dinge in einer spezifischen Weise wahrzunehmen, dabei eine spezifische Richtung einzuschlagen, eine spezifische Betonung der Zukunft vorzunehmen und letztlich ein spezifisches Ziel in der Zukunft zu realisieren zu suchen. Entwicklung als Fortschrittsgeschichte bietet der Pädagogik einen Erwartungshorizont, der die vielen »kleinen« Erfahrungen und Lernprozesse bündelt und konzentriert. Im Unterschied zum Lernbegriff erscheint der Entwicklungsbegriff einerseits zu umfassend, andererseits nicht umfassend genug. Während er als biographischer Lebenszeitprozess, als Reifung des menschlichen Organismus oder auch als pädagogische Fortschritts- und Vervollkommnungsidee die konkreten Lernprozesse und -resultate immer schon übersteigt, unterbietet er diese, wenn er als lediglich formale Veränderung von Wissens- und Könnensstrukturen gefasst wird. Lernen ist allerdings insofern Entwicklung, als es auf die »Auswicklungen« der mit Erfahrungen verbundenen Dispositionen und Disponibilitäten des Lernenden abhebt.

Etymologisch steht der Begriff des Lernens in enger Beziehung zu dem des Lehrens, dem »wissen machen«. Als germanische Bildung zum Partizip von Lehren im Präsens und Präteritum bedeutet das gotische lais »ich weiß« bzw. »ich habe erwandert«, »ich habe erfahren«. Die etymologische Grundbedeutung von Lernen ist mithin »wissend werden«, oder, mit anderen Worten: der Erwerb von Wissen. Dabei muss man das Lehren nicht als im engeren Sinne schulisch-institutionell geregelte Interaktion zwischen Lehrern und Schülern mit je vorgegebenen Rollenerwartungen begreifen, sondern kann es durchaus in einem weiten Sinn als jegliche Form von Praxis verstehen, die über die Vermittlung von historisch-kulturellen Inhalten auf (eine Verbesserung von) Wissensvermittlung, Erziehung, Sozialisation, Bildung oder eben auch auf die Verbesserung des Lernens und der Lernfähigkeit zielt. Unterricht meint demgemäß einen bestimmten Zusammenhang von Lehren und Lernen. Vier Differenzen zwischen dem Unterrichts- und dem Lernbegriff sollen festgehalten werden: Während Unterricht idealtypisch pädagogisch-intentional, planmäßig strukturiert und wissenschaftsorientiert verläuft, geschieht Lernen eher funktional, weniger planbar und an biographische Erfahrungsmuster gebunden. Während Unterricht auf eine Steigerung der Sach-, Sozial-, Methoden- und personellen Kompetenzen im Hinblick auf Reflexivität, Mündigkeit, Emanzipation etc. abhebt, verdanken sich Lernprozesse auch als Dazulernen – und in noch stärkerem Maße als Umlernen – dem Neuerwerb, der Eliminierung und dem Anderswerden von Lerninhalten und Lernstrukturen. Im Unterschied zur Orientierung des Unterrichts an der curricularen Sachlogik beziehen sich Lernprozesse nicht nur auf die Gegenstände der Erfahrung, sondern auch auf die biographischen und kollektiven Bedingungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Lernens. Und bezieht man viertens den Begriff des Lernens auf die Lernkultur, so geht diese über die konkrete Situation des Lehrens und Unterrichts hinaus und erweitert sie auf die systematische Beziehung von realen, symbolischen und imaginären Lernzusammenhängen.

Vor den geschilderten interdisziplinären und intradisziplinären Bezügen möchten wir für unsere Überlegungen folgenden Arbeitsbegriff des Lernens festhalten:

Lernen bezeichnet die Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen sowie von Verhältnissen zu anderen, die nicht aufgrund von angeborenen Dispositionen, sondern aufgrund von zumindest basal reflektierten Erfahrungen erfolgen und die als dementsprechend begründbare Veränderungen von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten, von Deutungs- und Interpretationsmustern und von Geschmacks- und Wertstrukturen vom Lernenden in seiner leiblichen Gesamtheit erlebbar sind; kurz gesagt: Lernen ist die erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Gewinnung von spezifischem Wissen und Können.

Zur Systematik des Bandes

Die dem Band zugrunde liegende Systematik erfolgt auf der Folie der Allgemeinen Pädagogik. Unter dieser Disziplin werden gemeinhin Untersuchungen der Geschichte, Methodologie, Wissenschaftstheorie, Theorie und Reflexion (der Voraussetzungen) von Erziehung und Bildung sowie die Reflexion der Institutionen als zentrale Merkmale verstanden (vgl. Wigger u. a. 2002). Hier soll daher mit einer Definition gearbeitet werden, die unter Allgemeiner Pädagogik die Bemühungen bezeichnet, 1. bedeutsame pädagogische Nachbar- und Bezugsdisziplinen in ihren theoretischen und methodischen Zugängen zu reflektieren, 2. historische Perspektiven der Pädagogik zu rekonstruieren, 3. anthropologische Bedeutungsdimensionen zu bestimmen sowie 4. institutionelle bzw. organisationale und pragmatische Fragen zu klären. Schließlich hat die Allgemeine Pädagogik die Aufgabe, 5. pädagogische Theorie auszudifferenzieren und deren Grundlagen und Implikationen zu umreißen. Diese Bemühungen sollen insgesamt dazu dienen, Lernen als pädagogischen Grundbegriff nachvollziehbar werden zu lassen.

2 Zugänge

Behaviorismus

Der Lernbegriff wurde im 20. Jahrhundert vor allem vom Behaviorismus geprägt, einer Theorie, die menschliches Verhalten als naturwissenschaftlich untersuchbar und erklärbar ansieht, es in Reiz-Reaktions- bzw. (Re-)Aktions-Konsequenz-Ketten zu zerlegen sucht und auf die Heranziehung innerpsychischer Vorgänge zur Erklärung von Verhalten verzichtet.

Die lang anhaltende Hegemonie des Behaviorismus ist gut an Hilgards (in späteren Auflagen: Hilgard/Bower) Übersichtswerk Theories of Learning (1948) zu erkennen, mit dem mehr als eine Generation amerikanischer Psychologen groß wurde. Aus ihm stammt die oft zitierte Definition des Lernens als »der Vorgang, durch den eine Aktivität im Gefolge von Reaktionen des Organismus auf eine Umweltsituation entsteht oder verändert wird« (Hilgard/Bower 1970, S. 16). Es wurde bis in die 1980er Jahre immer wieder neu aufgelegt und wirkte – zumal seit der deutschen Übersetzung von 1970 – auch auf den deutschsprachigen Diskurs. Das Werk stellt vor allem behavioristische Ansätze vor, so etwa die Lerntheorien von Thorndike, Pawlow, Guthrie, Skinner, Hull und Tolman. Andere Ansätze wie die Gestalttheorie, Lewins Feldtheorie und Freuds Psychoanalyse werden ebenfalls behavioristisch gelesen, d. h. der behavioristische Standpunkt wird als die disziplinäre Konvention der Psychologie (der implizit die Definitionshoheit über den Lernbegriff zugeschrieben wird) angesehen, auf die hin andere Ansätze (als übereinstimmend oder abweichend) zu überprüfen sind. Zudem kündigt sich in ihm bereits früh die Erwartung der behavioristischen Lerntheorie an die Neurophysiologie an, exakte physiologische und anatomische Korrelate des Lernens zu zeigen.

Bis heute wird die Lernpsychologie durch diese Verbindung behavioristischer Ansätze mit Rückgriffen auf neurophysiologische Befunde bestimmt. Als Beispiel hierfür mag das unter Psychologie-Studenten verbreitete Lehrbuch Lernpsychologie (Edelmann 2000) dienen, das mit der Darstellung hirnbiologischer Grundlagen von Lernen und Gedächtnis beginnt, dann ausführlich das Reiz-Reaktions-Lernen und das instrumentelle Lernen behandelt, bevor schließlich – hier ist die kognitive Wende (s. u.) schon vollzogen – auch auf Begriffsbildung, Handeln und Motivation eingegangen wird.

Auch wenn der Behaviorismus seinen Namen einem Aufsatz des amerikanischen Psychologen John Watson verdankt (Watson 1913), ist er ohne die Vorarbeiten der deutschen Assoziationspsychologie (v. a. Ebbinghaus) und vor allem der russischen Reflexologie (v. a. Pawlow) nicht denkbar.

Die Assoziationspsychologie interessierte sich für etwas, das man heute vielleicht am besten als »mechanisches Lernen« bezeichnen kann. Ebbinghaus untersuchte das Erlernen, wir könnten auch sagen: Auswendiglernen, sinnloser Silben (z. B. Tak, Pir, Gan) und stellte dabei seine berühmte »Vergessenskurve« auf. Kern seiner Lerntheorie war die Annahme einer unmittelbaren assoziativen Verknüpfung psychischer Elemente im Bewusstsein.

Die Reflexologie und die darauf aufbauende Theorie der klassischen Konditionierung, in der Fachliteratur auch als Signallernen, reaktives Lernen oder Reiz-Reaktions- bzw. Stimulus-Response-, kurz: S-R-Lernen, bezeichnet, geht hingegen von der Annahme der bewusstseinsunabhängigen Verknüpfung eines Reizes mit einem anderen bzw. eines Reizes mit einer Reaktion aus. Belege hierfür bieten Pawlows Versuche mit einem Hund, in dem ein unbedingter Reflex (hier: Maulbewegungen und Speichelproduktion als Reflex auf Säurezuführung) mit einem in zeitlicher Nachbarschaft auftretenden Reiz (hier: Glockenton) assoziiert wird, so das dieser zunächst neutrale zu einem bedingten Reiz wird, der Signalfunktion für den (nun bedingten) Reflex hat. Lernen in diesem Sinne ist Reizassoziation und vollzieht sich bewusstseinsunabhängig. Diese Auffassung machte sich auch John Watson, der Namensgeber des Behaviorismus, zu Eigen und suchte ihre Gültigkeit für menschliches Lernen in dem berüchtigten Experiment mit dem neunmonatigen Albert zu belegen, hinter dessen Rücken immer dann auf eine Eisenstange geschlagen wurde, wenn er mit seiner weißen Ratte spielte, bis er schließlich bereits beim Anblick der Ratte zu schreien begann, auch ohne dass das Geräusch erzeugt werden musste.

Hier deuten sich die ethische Problematik und der in dieser Hinsicht blinde Fleck an, die mit der Hegemonie des behavioristischen Modells den psychologischen Blick auf das Lernen prägen. Hierzu passt, dass ein anderes, immer wieder aufgelegtes Lehrbuch der Psychologie, welches diese – ganz im Sinne des Behaviorismus – als Wissenschaft vom Verhalten definiert, die Behauptung aufstellt, das »endgültige Ziel der Psychologie« sei »die Kontrolle des Verhaltens« (Zimbardo 1983, S. 35). Allerdings war es weniger die klassische Konditionierung und damit das Konzept des Reiz-Reaktions-Lernens als die Theorie der operanten Konditionierung bzw. des instrumentellen Lernens, die dem Behaviorismus zur hegemonialen Stellung im Diskurs um menschliches Lernen verhalf.

Angelegt war diese zweite große behavioristische Lerntheorie, die mit den Arbeiten Skinners in den 1950er Jahren ihren Durchbruch erzielte, in gewissem Sinne schon bei Thorndike. Seine Formel »Lernen am Erfolg«, auch Lernen durch Versuch und Irrtum (trial and error) genannt, hat weniger einen Reiz als vielmehr die Konsequenz eines Verhaltens im Blick, man könnte auch sagen: Die Konsequenz ist der Reiz.

Diese Theorie wurde von Skinner weitergeführt. Gelernt wird seiner Auffassung nach, was erfolgreich und nützlich ist, d. h. Verhaltensweisen, die einen angenehmen Zustand herbeiführen oder bewahren.

Skinners Theorie versucht sich jeglicher Begriffe zu enthalten, die Erlebnisse beschreiben. Aussagen wie z. B., dass ein Individuum bestimmte Konsequenzen seines Verhaltens erwartet oder befürchtet, hält Skinner für nicht zulässig. Dementsprechend wendet er sich gegen die Einführung beobachtungserklärender theoretischer Annahmen wie etwa des Konzepts der Motivation. Wissenschaftstheoretisch gesehen sucht Skinners Behaviorimus im Grunde lediglich Bedingungen für eine Veränderung der Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens zu erfassen.

Auf dieser Grundlage entwickelte Skinner sein Konzept des operanten Konditionierens. Er unterscheidet zwischen Antwortverhalten (als solches bezeichnet er das vom klassischen Konditionieren fokussierte Geschehen, also eine Reaktion auf einen Reiz) und Wirkverhalten. Letzteres ist ein zunächst spontanes Verhalten. Skinner geht also durchaus vom aktiven Menschen aus und überschreitet damit die Prämisse der S-R-Lerntheorie. Die Aktivität eines Menschen muss ihm zufolge nicht erst durch äußere Reize angeregt werden, sondern ist in der Regel Wirkverhalten, d. h. auf die Umwelt wirkendes und durch diese Wirkung bestimmtes Verhalten.

Als operante Konditionierung bezeichnet er die Konditionierung eben dieses Wirkverhaltens. Durch operantes Konditionieren erzeugtes Lernen wird heute meist als instrumentelles Lernen bezeichnet. Bei instrumentellem Lernen steht also Verhalten mit nachfolgenden Ereignissen (Wirkungen) in Verbindung. Wie im Reiz-Reaktions-Lernen aus einer unbedingten eine bedingte Reaktion wird, so wird im instrumentellen Lernen aus einem wirkungsoffenen ein wirkungsgebundenes Verhalten. Jede minimale Verhaltensänderung in Richtung des (in den Tierversuchen wie auch in der später darauf aufbauenden Verhaltenstherapie als extern, d. h. von einer anderen Person kontrollierbar gedachten) Endverhaltens wird gleich verstärkt. Ein zentraler Begriff der Theorie instrumentellen Lernens lautet Kontingenz. Gemeint ist damit – passend zur wissenschaftstheoretischen Position Skinners (s. o.) – ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Umweltereignisse von einer bestimmten Verhaltensweise abhängen.

Aus dieser behavioristischen Perspektive sind im Wesentlichen vier Formen instrumentellen Lernens möglich, nämlich die positive und die negative Verstärkung – die beide zum Aufbau eines bestimmten Verhaltens führen – sowie die Bestrafung und die Löschung – die beide zum Abbau eines bestimmten Verhaltens führen. Während die Bestrafung seit der Antike Bestandteil des Diskurses um Lernen ist und der Begriff der positiven Verstärkung (mit dem ein Lob, die Gabe einer Süßigkeit o. ä. bezeichnet wird) in den letzten Jahrzehnten ebenfalls in die Alltagssprache Eingang gefunden hat, blieben die Begriffe der negativen Verstärkung (mit dem der Entzug eines unangenehmen Ereignisses bezeichnet wird) und der Löschung (bei der dem Verhalten weder eine angenehme noch eine unangenehme Wirkung folgt) der Alltagssprache fremd.

Aufgegriffen wurden sie vom therapeutischen Diskurs, in den der behavioristische Zugang in Form der Verhaltenstherapie(n) früh Eingang fand und in dem er sich hierzulande spätestens mit der gesetzlichen Zulassung der Verhaltenstherapie als von den Krankenkassen anzuerkennende Therapieform etabliert hat. Als Verhaltenstherapie werden all jene therapeutischen Verfahren bezeichnet, die auf eine Veränderung des gegenwärtigen Verhaltens abzielen. Die Aufdeckung unbewusster seelischer Konflikte wird – im Gegensatz zur Psychoanalyse – ausdrücklich nicht zum Ziel erklärt. Die Modifikation des Verhaltens soll stattdessen durch Konditionierung im Sinne der behavioristischen Lerntheorie erreicht werden. So wird z. B. bei Phobien die schrittweise Annäherung an das gefürchtete Objekt oder die gefürchtete Situation mit der gleichzeitigen Ausführung angsthemmender Tätigkeiten wie etwa Entspannungsübungen verbunden.

Die – zeitweise enorme – Popularität des behavioristischen Zugangs, die sich im psychologischen Diskurs und in der gesetzlichen Zulassung der Verhaltenstherapie bis heute niederschlägt, bedarf der Erklärung. Der behavioristische Zugang zum Phänomen Lernen bietet tatsächlich eine Reihe von Vorteilen, die wohl als Gründe für den Erfolg dieses Zugangs im 20. Jahrhundert angesehen werden können:

Zum einen ist die behavioristische Lerntheorie vergleichsweise leicht zu konsumieren, da sie es ermöglicht, jahrhundertelang tradierte und populäre Vorstellungen vom Lernen (durch Lob und Tadel, allgemeiner: durch Belohnung und Bestrafung) auch in einer aufgeklärten, wissenschaftlich geprägten Gesellschaft beizubehalten.

Zum anderen erleichtert der behavioristische Zugang die Erforschung des Lernens, indem – einhergehend mit der Ausblendung der psychischen Komplexität im Paradigma der black box – tierisches und menschliches Lernen im Wesentlichen gleichgesetzt wird. Tiere, d. h. bei Thorndike die Katze, bei Pawlow der Hund, bei Tolman die Ratte, bei Skinner die Taube und ebenfalls die Ratte, die – möglicherweise auch aufgrund ihres Misskredits als Krankheitsüberträger – in der so gearteten Lernforschung das meist »verwendete« Tier ist, werden damit zu idealen Versuchsobjekten, aus deren Verhalten Thesen bezüglich der Charakteristika von Lernprozessen gefolgert werden.

Ergänzend kam zeitweise gar die Hoffnung auf eine militärische Einsetzbarkeit operant konditionierter Tiere und damit eine jahrelange Förderung der behavioristischen Lernforschung durch das US-amerikanische Militär hinzu (Projekt ORCON; vgl. Zimbardo 1983, S. 188).