Vorbemerkungen

„Zum Charakter eines Kindes, besonders eines Schülers, gehört vor allen Dingen Gehorsam. Dieser ist zweifach, erstens: ein Gehorsam gegen den absoluten, dann zweitens aber auch gegen den für vernünftig und gut erkannten Willen eines Führers. Der Gehorsam kann abgeleitet werden aus dem Zwange, und dann ist er absolut, oder aus dem Zutrauen, und dann ist er von der anderen Art. Dieser freiwillige Gehorsam ist sehr wichtig; jener aber auch äußerst notwendig, indem er das Kind zur Erfüllung solcher Gesetze vorbereitet, die es künftighin, als Bürger, erfüllen muss, wenn sie ihm auch gleich nicht gefallen.

Der Gehorsam des angehenden Jünglings ist unterschieden von dem Gehorsam des Kindes. Er besteht in der Unterwerfung unter die Regeln der Pflicht. Aus Pflicht etwas tun heißt: der Vernunft gehorchen. Kindern etwas von der Pflicht zu sagen, ist vergebliche Arbeit.“

Immanuel Kant (1803/1977, S. 741 & 743f.)

Mit dem Thema der pädagogischen Autorität begibt man sich in ein weites Feld und zweifelhaftes Gebiet, eine Art Sumpf, in welchem beißwütige Dämonen lauern, die nur eines im Sinn zu haben scheinen: den Eindringling zu verwirren und zu täuschen. Wäre mir dies vor Jahren, als ich mich für die Thematik ernsthaft zu interessieren begann, klarer gewesen, ich wäre sofort umgedreht und hätte andere Gebiete durchwandert, Gebiete mit Bodenhaftung. Denn es gibt ja im Land der Pädagogik so schöne Gegenden, in denen man immer etwas entdeckt, auch wenn man gar nicht richtig sucht. Aber es musste dieser Sumpf sein. Natürlich sucht man sich immer die Probleme, die man verdient, wie der Pädagoge weiß.

Autorität ist eines dieser Reizthemen, die einen zu veranlassen scheinen, gleich Stellung – für oder gegen sie – zu beziehen. So gibt es zwei große Gruppen im Diskurs, und ich möchte nun aber zur dritten gehören und hoffe, dass dies hier zum Ausdruck kommen wird. Die erste Gruppe findet alles, was mit Autorität zu tun hat, nicht nur problematisch, sondern gefährlich. Für sie ist Autorität ein hervorragender „Anwärter auf die Rolle des Generalbösewichts“ (eine Begrifflichkeit von Hans Blumenberg [1997, S. 144 f.]). Mit der „Herleitung der Weltübel“ aus dieser „einen Wurzel“ ergibt sich eine „Lizenz zum Ungeheuerlichen“, es drängt nach „Heilstaten“ (ebd.). Es ist nicht ganz einfach, zu versuchen, sich mit Mitgliedern dieser Gruppe über die Ambivalenz der Autorität zu unterhalten, denn sie sind meist intelligent, haben gute Gründe und verweisen zu Recht auf die Schrecken und lange Geschichte des Missbrauchs von Macht und Autorität. In der zweiten Gruppe wird die Geschichte und immer bestehende Möglichkeit des Missbrauchs von Macht und Autorität nicht etwa bestritten, aber Autorität und auch das Bedürfnis nach Autorität – selbst bei Erwachsenen – wird als fixer Bestandteil des sozialen Lebens verstanden und akzeptiert. Autorität ist unvermeidbar und daher erscheint es diesen Leuten sinnlos bzw. reichlich utopistisch, als regulatives Ideal eine Welt ohne Autoritäten vorzuschlagen.

Wie immer ist die Lage komplizierter, als ich sie hier skizziere, denn weder die „Pro-Gruppe“ noch die „Contra-Gruppe“ können als homogene Verbände begriffen werden. Auch ist es ein Irrtum zu glauben, dass die politische Orientierung der beiden Gruppen eindeutig sei. Dennoch können die beiden Gruppen – die je nach Zeit und Ort, nach Herkunft und Geschichte, nach Lebensphase und Lebensziel ganz unterschiedlich groß sein können und manchmal gegenüber der je anderen Gruppe zu dominieren bzw. unterliegen scheinen – letztlich unterschieden werden. In den beiden Gruppen gibt es zwei Extrempositionen, die mit Michael Wimmer (2010) zum einen die „allzu Autoritätsgläubigen“, zum anderen die „radikalen Kritiker“ genannt werden können. Die Argumentationen dieser Mitglieder gilt es wohl doch besonders zu betrachten: „So gilt es, gegen die allzu Autoritätsgläubigen auf (…) [der] Grundlosigkeit [der Autorität] zu bestehen, gegen ihre radikalen Kritiker dagegen auf ihre symbolische Funktion und Unvermeidbarkeit“ (S. 325).

Nun meinen manche Autoren vielleicht, sie seien Mitglied der ersten Gruppe (Contra), aber „eigentlich“ gehören sie in die zweite Gruppe (Pro), nur wollen sie das nicht hören. Mitglieder der Contra-Gruppe, etwa aus dem psychologisch-pädagogischen oder psychoanalytischen Feld – Theoretiker des anti-autoritären oder auch des anti-pädagogischen Diskurses –, mussten mitunter solche Gegenkritik schon ertragen lernen. So hatte beispielsweise Michel Foucault mit Überwachen und Strafen (1975/1994) der Psychoanalyse einen „berühmt-berüchtigten“ Schlag versetzt, „als er ihr glorreiches Projekt der Selbstbefreiung als eine Form von Disziplin und Unterwerfung unter die Macht der Institutionen ‚mit anderen Mittel‘ bloßstellte“, wie Eva Illouz (2009, S. 12) kommentiert. Freilich „entdecken“ auch Mitglieder der Contra-Gruppe immer wieder neu, wie Mitgliedern der Pro-Gruppe gar nicht bewusst ist, dass sie zur Pro-Gruppe gehören, ja, vielmehr noch, dass eine ganze Kultur mithilft, die Zugehörigkeit zur Pro-Gruppe zu verschleiern. So schreibt Arno Gruen in dem mit dem Geschwister-Scholl-Preis gekrönten Werk Der Fremde in uns (20107): „Diese Sucht nach Stärke, nach einem Erlöser, durchdringt alle Lebensbereiche. Sie ist allerdings nicht immer offensichtlich, da wir ja oft sehr geübt darin sind, uns selbst die Pose des eigenständigen, zuversichtlichen und autonomen Menschen zu geben. Ein guter Poseur weiß deshalb auch, wie er seinen wahren Charakter am besten überspielt“ (S. 135). Aber die meisten „von uns“ sind wohl nicht so gute „Poseure“: „Gehorsam verursacht den Verlust einer eigenen Identität. Dies wird verschleiert, indem Menschen sich autonom glauben, weil sie, unbeeinflusst durch Einfühlung und den Schmerz anderer, Macht und Gewalttätigkeit ausüben. Indem Macht und Gewalt durch ideologische Abstraktion einem ‚höheren‘ Ziel wie dem Volk, der Wissenschaft, dem Fortschritt oder dem Wachstum gewidmet sind, werden sie immer mehr von ihren wirklichen Absichten, nämlich Herrschaft und Kontrolle über andere auszuüben, abgetrennt“ (S. 137).

Solche „Entdeckungen“ machen es natürlich schwierig, über die pädagogische Bedeutung von Autorität nachzudenken. Denn wer sie für nötig hält, zeigt der Pro-Gruppe ja vor allem, dass er oder sie nicht ganz bei sich ist, bedauerlicherweise musste er oder sie das „Eigene“ als etwas „Fremdes“ abspalten. „Denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, dass es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist es unsere eigene Schuld“ (S. 14). Wenn solche Kinder später Eltern werden bzw. an der Erziehung von Kindern beteiligt sind – also als unaufgeklärte Autoritätsgläubige pädagogisch wirksam sind –, dann ist dies sicher nicht optimal. Und wenn Gehorsam den Verlust „einer eigenen Identität“ bewirkt, so erziehen schließlich im Grunde immer nur Menschen, die sich selber fremd sind, kleine Kinder, die wiederum nie zu sich kommen werden und später als entfremdete Selbste weiterhin Autorität – und Schlimmeres – einfordern. Denn wenn „Identität auf Identifikation mit Autorität beruht, bringt Freiheit Angst. Solche Menschen müssen dann das Opfer in sich selbst durch Gewalt gegen andere verdecken“ (S. 203). Wird ein solches Selbst bedroht, dann „kommt es erst zur Ruhe, wenn eine Autorität die soziale Ordnung wieder herzustellen scheint“ (ebd.). Autorität ist dann vor allem ein Phänomen von und für beschädigte Selbste …

Die zweite Gruppe, die Pro-Gruppe, unterscheidet sich von der ersten Gruppe immer wieder durch medienwirksame, populistische Verteidigungen von Autorität, wie wenn etwa der „Mut zur Erziehung“ (Bausch, Hahn & Lobkowicz 1978) propagiert oder das „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) verkündet wird. Diese meist konfusen und niederkomplexen Schriften und Diskurse durchbrechen zwar die intellektuelle Langeweile, die an manchen Orten eine lange Tradition hat, doch man fragt sich, ob sich die Auseinandersetzung lohnt mit diesen zahlreichen, teilweise dahingeschludert anmutenden Sätzen wie: „Fernsehen einfach so, gegen das erlaubte oder vereinbarte Programm, da ist kurzer Prozess angesagt, es bedarf keiner Begründung, hier muss der Vater der Regel beherzt Geltung verschaffen“ (S. 21). Oder: „Wir versündigen uns an unseren Kindern, wenn wir ihnen die Weisheit von Jahrtausenden vorenthalten“ (S. 44). Muss man sich mit solchen „Streitschriften“ wirklich auch noch wissenschaftlich auseinandersetzen (vgl. Brumlik 2007)?

Die Zugehörigkeit aber bzw. die „Wahl“ oder Entscheidung, zu einer der Gruppen zu gehören – wenn es eine solche Wahl überhaupt gibt –, scheint nicht wirklich auf rationalen, logischen bzw. argumentativen Gründen zu fußen. Wiewohl ich zur dritten Gruppe gehören möchte, die sich weder pro noch contra, aber sowohl pro als auch contra verhält, glaube ich, dass diese Gruppe noch kein einziges Mitglied wirklich dauerhaft aufgenommen hat, also im Grunde gar nicht existiert. Kurz: wer nicht zur ersten oder zweiten Gruppe gehört, kann dadurch nicht unmittelbar in der dritten Gruppe zugerechnet werden. Vielmehr haben die Zauderer und Unentschiedenen, die Skeptiker und Unentschlossenen, mit denen ich mich verbunden fühle, sich einfach – sei es nun vermeintlich oder sei es eben nicht vermeintlich – noch nicht verortet.1 Im diesen Sinne sei im Folgenden über pädagogische Autorität nachgedacht. Entsprechend sind die Blickwinkel heterogen, geben kein eindeutiges Bild und sollen auch kein solches leisten. Hervorgehoben seien vielmehr die vielfältigen Facetten dieses Phänomens, sie können weder vollständig noch auch in der je gewünschten Tiefe behandelt werden. Damit wird ein nur scheinbar bekanntes, sicher aber interessantes und bedeutsames Phänomen in der Entwicklung und Förderung von Kindern und Jugendlichen – gewissermassen – aus dem Sumpf gezogen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik des Missbrauchs von Autorität in der Erwachsenenwelt und der immer mögliche, manchmal auch wahrscheinliche Missbrauch im pädagogischen Feld sind dabei unumgänglich.

Nach einleitenden, überblicksartigen Bemerkungen im ersten Kapitel werden im zweiten zunächst die Krise der Autorität und die pädagogisch bedeutsame Krise dieser Krise erörtert sowie die Illusionen der überwunden geglaubten Autorität und das Phänomen der Ablehnungsbindung erläutert, welche pädagogisch aufschlussreich sind. Das dritte Kapitel ist der „Psychologie“ und „Ethik“ von Befehl und Gehorsam gewidmet. In einem ersten langen Exkurs folgen pädagogisch und entwicklungspsychologisch interessierende, autobiographisch geprägte Literaturbeispiele bekannter Autoren und Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Der Leser bzw. die Leserin dieser Werke, die hier nur verkürzt und zugespitzt wiedergegeben werden, erfährt dabei etwas über unterschiedliche Modi der Befreiung von nicht legitim erscheinenden pädagogischen Autoritäten. Das vierte Kapitel fokussiert den Umgang mit dem Thema Autorität in ausgewählten pädagogischen Debatten, dabei wird von der libertären Pädagogik Tolstojs ausgegangen, dann der Diskurs um die anti-autoritäre Pädagogik und die Anti-Pädagogik sowie neuere populär-pädagogische Phänomene kommentiert. Im fünften Kapitel werden Kenntnisse (und Probleme) zur Autorität aus der empirischen Forschung berichtet und um eine entwicklungstheoretische Perspektive ergänzt. Im anschließenden Exkurs gibt ein Erfahrungsbericht aus einem Lehreraustausch über deutsch-französische Schul- und Unterrichtsphilosophien Auskunft, in welchem erneut deutlich gemacht werden kann, dass im Zentrum dieser Differenzen – als ein kleines und ungenügendes Beispiel eines kulturellen Vergleichs – die Frage der Autorität steht. Das sechste Kapitel erörtert nun Merkmale von Autorität und Dimensionen pädagogischer Autorität in einem affirmativen Sinne, denn in der Tat scheint es keinen Sinn zu machen, Autorität im pädagogischen Bereich nur negativ zu beurteilen. Da Autorität und Führung intrinsisch miteinander verbunden sind, widmet sich das siebte Kapitel ausführlich zunächst der Frage der Führung, dann aber der pädagogischen Führung aus austauschtheoretischer Sicht. Mit Bemerkungen zur „unpersönlichen“ Kultur der Autorität und unvermeidbaren Autorität der Kultur wird die Abhandlung im achten und letzten Kapitel beendet.

Dank

Nicolette Thomet danke ich herzlich für einen guten Rat, der dazu führte, dass ich das Manuskript endlich zu Ende bringen konnte. Mein Dank gebührt insbesondere auch Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag für seine kompetente und unterstützende Haltung sowie sein Verständnis für Verzögerungen und Versäumnisse meinerseits. Stefanie Sapienza danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die zahlreichen Korrekturen.

1 Diese ambivalente Haltung ist ein intellektueller Luxus. In den konkreten Fragen des pädagogischen oder nicht-pädagogischen Lebens ist Ambivalenz freilich keine sehr hilfreiche Entscheidungsgrundlage, aber sie hilft, Gründe, Konsequenzen und Rechtfertigungen im Entscheidungsprozess so abzuwägen, wie sie es eher verdienen.

1


Zur Einleitung: „Gerne
zeitlebens unmündig …?“

Geprägt von einem französisch-republikanischen Verständnis von Schule und Bildung werden im Folgenden Facetten eines Phänomens und damit verbundener Diskurse vorgestellt werden, das und die im deutschsprachigen Raum seit gut drei Jahrzehnten vorwiegend, aber nicht ausschließlich jenem politischen Lager überlassen wird, in welchem, wenn Fragen der Autorität im Raum stehen, eher der Gesichtspunkt der Disziplinierung (der Kinder, der Schülerinnen und Schüler, der Bürgerinnen und Bürger) als das Moment der Bewahrung progressiver Kultur (insbesondere des Rechts und der Rechte, der Moral und der Konventionen) interessiert. Zumindest implizit wird hier die angreifbare Meinung transportiert, wonach dem Fortschritt im Politischen und Ethischen sowie der Bildung und Bildungssysteme heute ironischerweise eher durch Konservierung und Schutz der kulturellen Errungenschaften gedient zu sein scheint, die es der Einzelperson und den Kollektiven ermöglichen, am Ideal und an der Illusion der individuellen bzw. kollektiven Selbstbestimmung festzuhalten. Bei der Sicherstellung dieser Leistung kommt der (Anerkennung der) Autorität der Kultur eine Schlüsselrolle zu, wobei diese Autorität wahrscheinlich weniger als Gegensatz zur demokratischen Staats- und Lebensform denn vielmehr als in ihrem Dienste stehend verstanden werden sollte. Damit sind Fragen nach dem Stellenwert des Gehorsams (und des – hier nicht weiter fokussierten – Glaubens) impliziert, die meist nur strittige Antworten nach sich ziehen.

Wenn von „Autorität“ die Rede ist, häufen sich regelmäßig die Missverständnisse, u. a. da zwischen 1. dem Konzept der autoritären Persönlichkeit (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford 1950; Seipel & Rippl 1999), 2. den autoritären Verhaltensweisen (vgl. schon Lewin, Lippitt & White 1939) und 3. der Anerkennung von Autorität(en) (vgl. Arendt 1994; Sofsky & Paris 1994) nicht oder nur ungenügend unterschieden wird. Wenn im Folgenden von Autorität gesprochen wird, dann – wenn nicht anders angegeben – vorwiegend im letzteren Sinn. Dabei fungiert Autorität nicht als Merkmal der Persönlichkeit oder als Verhaltensdisposition eines Individuums, sondern bezeichnet vielmehr ein asymmetrisches, aber letztlich wechselseitiges Anerkennungsverhältnis. Es handelt sich also um ein Merkmal einer Beziehung zwischen Einzelpersonen oder zwischen Personen und kulturellen Entitäten.

1.1 Faulheit und Feigheit

„Faulheit und Feigheit“ sind nach Immanuel Kant die Ursachen, „warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (…), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“ (Kant 1783/1974, S. 9). Das sind herrlich kräftige Worte und man meint sie gleich mögen und für wahr halten zu müssen. Sie suggerieren, die meisten Menschen würden ohne die Laster der Faulheit und der Feigheit im Grunde immer und unbedingt für Mündigkeit votieren. Gesetzt den Fall, wir wüssten, was unter „Mündigkeit“ in einem nicht-legalistischen Sinn verstanden wird: Was könnte das Motiv sein, Mündigkeit als normaler Einzel- und Bedürfnismensch ohne supererogatorische Ambitionen für so wünschenswert zu halten? Etwa die Annahme, dass die Konsequenzen der Anerkennung fremder Leitung immer, meist oder zumindest manchmal negativ zu beurteilen wären? Und vielleicht umgekehrt die Konsequenzen von selbständigem Handeln und Urteilen (Selbstleitung) so positiv?

Sich nicht von fremder Leitung freizusprechen, dafür sprechen neben Faulheit und Feigheit, und, weniger lasterhaft: dem Bedürfnis nach Sicherheit, mitunter auch Gründe der Klugheit, der Bescheidenheit und womöglich sogar der Selbsterkenntnis. Da aber der Gehorsam einen ausgesprochen schlechten Ruf hat (vgl. z.B. Gruen 2002, 2010), obwohl es ohne ihn in der einen oder anderen Weise und in vielerlei Hinsicht – nicht nur der pädagogischen – ja gar nicht geht, war es überzeugend, Mündigkeit als Telos vernünftiger und natürlicher Bildung zu verstehen: der mündige Mensch unterwirft sich nur den Maximen der selbstgesetzgebenden Vernunft, also letztlich nur sich selber. Vom Pathos dieser emanzipatorischen Hybris, die m.E. immer noch wesentlich mehr Sympathiewerte verdient als ihr im zeitgenössischen Oberflächenrealismus zugestanden werden kann, ist heute freilich nicht mehr viel zu merken. Geblieben ist allein der schlechte Ruf des Gehorsams. Diesen verbessern zu wollen, ist eine vielleicht wichtige, aber delikate Angelegenheit, bei der man sich die Hände fast sicher schmutzig macht. Nun lautet die treffende Frage nicht schmutzige oder reine Hände, sondern – um es à la mode de Jean-Paul Sartre (1989) zu sagen – schmutzige oder keine Hände. Wirkungslose Kommentare mögen zwar das kleinere Übel sein als unkontrollierte Weltveränderung, und die Pflicht zur besseren Interpretation der Welt jener zur Verbesserung der Welt zunächst vorausgehen, aber stören tut es doch, nichts zu bewegen und verändern und von so vielem bewegt und verändert zu werden. Gibt es also neben dem dumpfen Gehorsam, der in die Barbarei geführt hat, nicht auch eine Kultur des Gehorchens, die nichts Barbarisches oder Kriecherisches an sich hat? Könnte es nicht zumindest in Spezial- und Einzelfällen eine großzügige und stolze Geste sein, sich „fremder Leitung“ zu unterwerfen? Wenigstens dem Scheine nach? Könnte es nicht gerade ein Ausdruck von Autonomie sein, bestimmte Autoritäten als die richtigen und legitimen anzuerkennen, wie Raatzsch (2007) kürzlich analysierte?

Während die Bedeutung des politischen und moralischen Urteilsvermögens unterschätzt werden mag, ist eine gewisse Sympathie mit Harry Frankfurts Sichtweise m. E. nun schwer abzuwenden, wenn er schreibt: „Wir müssen moralische Fragestellungen ernst nehmen, das bedarf kaum einer Erwähnung. Dennoch denke ich, dass die Relevanz, die der Moral für unsere Lebensführung zukommt, tendenziell überbewertet wird. Die Moral ist weniger einschlägig für die Bildung unserer Präferenzen und die Orientierung unseres Verhaltens, sie gibt uns weniger Auskunft über die Fragen, was wir schätzen und wie wir leben sollen, als man gemeinhin annimmt. Außerdem kommt ihr nicht so viel Autorität zu, wie man meint. Selbst wenn sie Wichtiges mitzuteilen hat, hat sie nicht notwendigerweise das letzte Wort“ (Frankfurt 2005, S. 10). Während es eine (vielleicht kaum zu fassende) moralische Kultur gibt, so ist Kultur doch stets sehr viel mehr als Moral. Die Autorität der Moral steht auch nicht über der Autorität der Kultur, da die erstere nur als Teilaspekt der letzteren repräsentierbar ist. Wenn Moral nicht notwendigerweise das letzte Wort hat, so hat Kultur vielleicht doch das vorletzte. Wer oder was aber das letzte Wort hat, darüber wissen wir nichts – und wohl sollte man nicht so klug werden, dass man schließlich so dumm wird, es wissen zu meinen. Daran ändert auch die Analyse der „Grundlosigkeit“ bzw. des „mystischen Grundes“ der Autorität nicht viel (vgl. Derrida 1991; Wimmer 2009).

Kurz: vorletzte Worte sollte man gelten lassen. Wobei „gelten lassen“ hier vielleicht so viel heißen mag wie „zumindest dem äußeren Anschein nach akzeptieren“. Mehr soll man, wenigstens aus einer gesellschaftlichen und republikanischen Perspektive betrachtet, von den Menschen nicht verlangen: es ist unrealistisch, unanständig und zeitweilig sogar gefährlich. Ohne Scheinunterwerfungsleistungen und -gesten geht es vor allem im Alltag überhaupt nicht; das heißt, es geht schon, aber das soziale Leben ist dann noch unangenehmer, als es eh schon häufig ist. Sitte, Konvention und Anstand mögen bieder und bürgerlich anmuten, aber sie stehen wenigstens dem Mythos der Authentizität fern. Da über die destruktiven Seiten der offenen Kommunikation meist nicht gerade tiefschürfend nachgedacht wird, hält sich das Ideal einer offenen und nicht-strategischen Gesellschaft in der einen oder anderen Variante (politisch, moralisch, pädagogisch) unverdient am Leben. Doch Illusion, Täuschung und Betrug sind die Ingredienzien nicht nur der modernen, sondern überhaupt von Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit ihrer Vielfalt an „ärgerlichen Tatsachen“ (Dahrendorf) kann deshalb auch nicht geschätzt oder gar geliebt, sondern höchstens ertragen werden. Aber die unzähligen, eitlen und unwahrhaftigen Erscheinungsweisen der Menschen machen das Leben insgesamt angenehmer, oft schöner und immer wieder freundlicher. Wenn Kant in seiner Anthropologie schreibt, „Kleidung, deren Farbe zum Gesicht vorteilhaft absticht, ist Illusion; Schminke aber Betrug. Durch die erstere wird man verleitet, durch die letztere geäfft“ (Kant 1977, S. 441), so ist er doch weder gegen die Illusion vorteilhafter Kleidung noch gegen den Betrug der Schminke. Gerade Kant sicher nicht (vgl. Manthey 2005)!

1.2 Autorität und Tradierung der Kultur

Die Hauptaufgabe von Erziehung und Unterricht ist die Tradierung von Kultur (im weitesten Sinne). Diese elementare Bestimmung wird mit manchen pädagogischen und/oder didaktischen Moden allzu schnell ignoriert. Lieber möchte man die Kinder für eine Zukunft fit machen, von der man gleichzeitig behauptet, man kenne sie nicht. Dass dies eine eigenartige Pädagogik sein muss, fällt schon gar nicht mehr auf. Auch und gerade der Kompetenzdiskurs hilft dabei, die Löcher des Sinns und Zwecks von Schule zu kaschieren, die wohl auch fehlendem Nachdenken geschuldet sind. Man muss vielleicht nicht unbedingt wissen, wohin die Reise faktisch geht, aber pädagogisch und politisch wenigstens, wohin sie gehen sollte. Wer sich mit der Geschichte der Zukunft (Noack 1996) beschäftigt, also mit der Frage, was Zukunft für andere Kulturen und vor allem für die Menschen in anderen Epochen bedeutet hat, mag erahnen, wie fahrlässig die Rede des „Bruches“ mit der Vergangenheit und von der sogenannten „offenen Zukunft“, die man sich einzugestehen habe, für die Pädagogik der Moderne auch sein kann. Der Sinn der Schule und der vielen sozialen Praxen, die wir in ihr, aber auch außerhalb von ihr erlernen, ist ja gerade, ein möglichst verbindliches – und auch sozial verbindendes – Band zwischen Vergangenheit und Zukunft für die Schüler/innen und die Gesellschaft im Ganzen darzustellen. Doch es kann immer nur Überliefertes, Bekanntes und Bewährtes gelehrt werden, nur „altes“ Neues, jedenfalls nicht das Unbekannte und zukünftig Neue. Alles andere widerspiegelt einen „ethnocentrisme de l’actuel“, wie Finkielkraut (1999) einmal formulierte, da der ausschließliche Gegenwartsbezug als eine Form des Ethnozentrismus gesehen werden kann – gegenüber den Toten und den noch Ungeborenen (vgl. Margalit 2000).

Wir haben es hier implizit mit der Frage der Autorität zu tun, mit Formen der horizontalen Autorität, um genauer zu sein, d. h. etwa der Autorität der Vergangenheit, der Tradition, der Religion, des Rituals, des Bildungskanons und vor allem der Sprache, kurz: der Kultur, die wir zunächst – als „Neuankömmlinge“ in der Welt der Menschen, als „Immigranten“, wie Arendt einmal formulierte – erlernen müssen: ungefragt und alternativlos! Diese horizontale Autorität ist aber auch in die Zukunft verlängert: die Autorität der Zukunft, des Projekts, des Fortschritts, des Versprechens und des Vertrages (vgl. Kojève 2004; Meirieu 2005; Revault d’Allones 2005; Steiner 2005). Scheinbar emanzipiert von den vertikalen Autoritäten, von Gott, Kirche, Militär und Staat, oder wenigstens von ihren personalen Erscheinungen, gibt es anonyme horizontale Autoritäten (vgl. Hunyadi 2005) – das Geld, der Markt, die Erfolgs- und Schönheitsideale, die Medien etc. –, denen sich breite Teile der Gesellschaft vermeintlich umstandslos unterwerfen, während die Schule, weil sie sich der Herkunft-Zukunfts-Dimension nicht mehr sicher zu sein scheint – hilflos und manchmal peinlich, manchmal aber auch dynamisch und zuversichtlich –, sich immer anzupassen versucht an die sich verändernde Welt. Die Halbwertszeit des Wissens würde sich rasant verringern, heißt es dann, das Wissen sich explosionsartig vermehren und wir in einer Gesellschaft leben, die man am besten als Wissensgesellschaft bezeichnen würde. Davon merkt man aber meist nicht gerade sehr viel.

Nun ist es pädagogisch (aber nicht nur pädagogisch) bedeutsam, dass die symbolische Welt ihrerseits zumindest ontogenetisch zunächst personal repräsentiert wird. Die Anerkennung einer Person als Autorität impliziert im Bereich des Verhaltens Gehorsam und im Bereich des Wissens Glauben. Obwohl diese Leistungen (Gehorsam und Glauben) elementar für die pädagogische Situation und fundamental für das Kindsein sind (vgl. Damon 1984), wird Autorität auch von Erziehungswissenschaftlern wie vielen anderen vor allem als Gegensatz zu Freiheit, Demokratie und Autonomie begriffen. Dies ist nicht unbedingt einsichtig, weil 1. ein Wegfall von Autorität individuelle und kollektive Freiheitsspielräume weder notwendigerweise vergrößert noch sichert (vgl. Arendt 1994). 2. Ebenso muss die radikale Ablehnung von Autorität kein Ausdruck der Befreiung von derselben darstellen, sondern kann gerade ein Ausdruck einer speziellen (negativen) Bindung an dieselbe sein („Ablehnungsbindung“, vgl. Sennett 1985). 3. Die Sicht, wonach jeder Gehorsam pathologisch ist (vgl. Gruen 2002), scheint humanistisch und romantisch motiviert, ist aber vielleicht selber als Zeichen der Hyperpathologisierung zu verstehen. Schließlich 4. stellen die Konzepte Autorität und Autonomie keine logischen oder empirisch evidenten Gegensätze dar (vgl. Raatzsch 2007).

Der Wegfall oder die Schwächung von „vertikalen“ – d. h. personalen, sozialen oder transzendenten – Autoritäten in den Bereichen Politik, Religion, Recht, Schule und Familie u. a. hat manchen Autoren zufolge mit der Unfähigkeit der älteren Generation zu tun, der jüngeren begrüßenswerte Zukunft noch glaubhaft versprechen zu können (vgl. Revault d’Allonnes 2005, 2006), d.h. also auch mit der „Offenheit“ der Zukunft. Die Schwächung der temporalen Dimension von Autorität ist demzufolge nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit zu diagnostizieren – z.B. als Traditionsverlust –, sondern auch als „Zukunftsverlust“, was die Legitimität von Autorität(en) noch deutlicher in Frage stellt. Ihre Schwächung hilft der Etablierung von „horizontalen“, d. h. mehr oder weniger anonymen „Autoritäten“ (vgl. Steiner 2005).

Eine sich republikanischen Idealen verpflichtet sehende Schule trägt das Selbstverständnis der Autorität der Tradition, des Wissens und der Sprache (Kultur) mit wenig Irritation in sich bzw. in ihren wichtigsten Repräsentanten, den Lehrpersonen. Die Ordnung und Objektivität, die sie verkörpert, birgt auch Potentiale für die Bedürfnisse des Kindes bzw. der Schülerinnen und Schüler nach Sicherheit und nach Weltlichkeit. Kinder sind überhaupt nicht esoterisch motiviert, sondern vielmehr exoterisch. Eine Schule andererseits, deren Lehrpersonen vor allem die persönliche Beziehung und die schulische Gemeinschaft und Gemeinschaftlichkeit in den Mittelpunkt stellt, birgt andere Potentiale und Probleme. Zu ihren Stärken gehört sicher der Fokus auf diskursive Verfahren und argumentative Auseinandersetzung, wo sie möglich sind. Was aber tatsächlich als Wirkungsfolgen von unterschiedlich gearteten Schulen hinsichtlich solcher Dimensionen valide behauptet werden kann, wird wenig sein. So müssten die jungen Französinnen und Franzosen aus Sicht einer uninformierten deutschsprachigen Pädagogik die Schule ziemlich eingeschüchtert, angepasst und wenig selbstbewusst verlassen. Aus einer entsprechend uniformierten französischen Perspektive müssten die jungen Deutschen ihre Schule vergleichsweise als undisziplinierte Egoisten und Chaoten verlassen, wären denn solche Wirkungen der insgesamt relativ dramatisch anmutenden schulpädagogischen Unterschiede überhaupt nachweisbar. Doch beides scheint insgesamt nicht der Fall zu sein (vgl. Exkurs II).

1.3 Autoritätsdiskussion – Autoritätsforschung

In jüngerer Zeit hat das Thema der (pädagogischen) Autorität sowohl in Deutschland als auch beispielsweise in Frankreich Eingang in die Medien und in den akademischen Diskurs gefunden. Die Anlässe sind vergleichbar, wenn auch nicht gleichermaßen dramatisch: massive Disziplinprobleme in den Schulen der Pariser Vorstädte, vehemente Proteste und Ausschreitungen der Jugendlichen, aber auch und beispielhaft die pädagogische Bankrotterklärung der Lehrer/innen der Rütli-Schule in Berlin und andere bedeutsame und andere einzelne Problemsituationen. Die Dramaturgie der Diskussionen ist unterschiedlich. Wenn ein ehemaliger Internatsleiter eine sogenannte „Streitschrift“ verfasst, in welcher er für die sogenannte „Disziplin“ wirbt (vgl. Bueb 2006), so kann er in Deutschland, sofern sein Buch Erfolg hat, mit prompten und teilweise vehementen Reaktionen bzw. „Antworten der Wissenschaft“ (vgl. Brumlik 2007) rechnen. Mit denen wird dann aufgezeigt und „bewiesen“, dass die Thesen des Verfassers, der „bewusst oder unbewusst in einer männerbündischen, letztlich frauenfeindlichen Tradition steht“ (S. 9), „unzweifelhaft reaktionär“ (ebd.) u. a. m. sind. Über das Thema selber – die Bedeutung der Disziplin, die Differenz zwischen Disziplinierung und Disziplin, ihr Verhältnis zur Autorität und pädagogischen Führung u. a. – erfährt man indessen wenig2, allerdings eben einiges über den „Missbrauch der Disziplin“. Während also der Erfolg der über weite Strecken bedenklichen „Streitschrift“ die gesellschaftliche Bedeutung der Themen Disziplin und pädagogische Autorität zum Ausdruck bringt, erstaunt die Priorisierung der schnellen „Antworten“ der Wissenschaftler/innen: offensichtlich interessiert der politisch korrekte Metadiskurs3 mitunter mehr als das Thema selbst. Akademisch wünschenswert ist es aber auch, dass zu der im Zentrum stehenden Sache Positionen eingenommen und à fonds diskutiert werden.

Wiewohl man kaum leugnen kann, dass das Thema in spezifischen Kontexten – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – den Charakter eines Tabus aufweist, so gibt es doch schon seit langem vielfältige Bemühungen um die theoretische und empirische Erforschung der pädagogischen Autorität. Sie ist schon während und dann in Folge des zweiten Weltkrieges vor allem als sogenannte Erziehungsstilforschung etwa durch Kurt Lewin und seine Mitarbeiter vorangetrieben worden. Gleichzeitig interessierte die Frage nach der „autoritären Persönlichkeit“, die auch heute noch vereinzelt empirisch befragt wird. Neben diesen bekannten und relevanten Forschungszentrierungen ergeben sich heute mindestens acht Felder, in welche sich die Forschungsliteratur zur pädagogischen Autorität untergliedern lässt:

  1. Veröffentlichungen zur pädagogischen Führung unter handlungspraktischer Perspektive.
  2. Literatur zur Unterrichtsforschung und zum sogenannten Classroom management.
  3. Allgemeine theoretische und empirische Untersuchungen, die das Thema der pädagogischen Autorität als konstitutives Element erzieherischer Tätigkeit behandeln.
  4. Pädagogisch relevante soziologische Analysen zur Autorität.
  5. Die pädagogisch relevante psychologische und psychoanalytische Autoritätsforschung.
  6. Erziehungsgeschichtliche Analysen zur Autorität bzw. zum erzieherischen Verhältnis.
  7. Begriffsgeschichtliche Analysen und Rekonstruktionen.
  8. Philosophische und erziehungsphilosophische Studien zu Fragen der Autorität.

An der Thematik der pädagogischen Autorität zeigt sich, wie wenig man sich – sowohl im internationalen Diskurs als auch innerhalb einzelner Sprach- und Kulturräume – erziehungswissenschaftlich, in mancher Hinsicht zumindest, darüber einig zu sein scheint, welche Konzepte zu den Grundbegriffen pädagogischer Theorie, insbesondere der Erziehungstheorie, gehören. Jedenfalls scheint nicht nur umstritten, inwiefern, sondern auch ob der Begriff der „Autorität“ dazu gehört. Von der völligen Ablehnung sowohl des Begriffes bzw. Konzeptes als auch der pädagogischen Praktiken, die mit „Autorität“ in Verbindung gebracht werden oder als ihr Ausdruck gelten (können), bis hin zur Klage einer Krise oder zumindest einer Schwächung der Autorität im Allgemeinen und der pädagogischen Autorität im Besonderen sind namhafte Beispiele zu nahezu allen Positionen bekannt.

Unter den in demokratischen Lebensformen allgemein anerkannten Bedingungen der Moral wechselseitiger Achtung und der Symmetriegebote der Kommunikation ist es schwierig oder auch unerwünscht geworden, das Konzept der Autorität selbst in jenen sozialen Interaktionsfeldern zu rechtfertigen, die von asymmetrischen Beziehungen und Rollenkomplementarität geprägt werden (wie jene von Schule und Erziehung). Sprichwörtlich scheint die große Skepsis gegenüber dem Konzept der Autorität im deutschsprachigen Raum, wo diesbezüglich auch und gerade im pädagogischen, teilweise auch erziehungswissenschaftlichen Diskurs reflexartige Ablehnungshaltungen zu vermerken sind. Historisch nachvollziehbar, wenn auch nicht unbedingt verständlich oder gut begründet, wird im deutschen Diskurs Autorität vielleicht noch schneller als anderswo als Gegensatz zu Freiheit, Demokratie und vor allem Autonomie begriffen (vgl. Arendt 1994; Raatzsch 2007).

Während die Rede von der „Krise der Autorität“ über einige Jahrzehnte als Topos des pädagogischen Diskurses gelten durfte, besteht die „Krise der Krise“, um es mit Meirieu (2005) zu sagen, heute eher in der Vergleichgültigung gegenüber traditionalen bzw. vertikalen Autoritäten: gegen Autoritäten, die nichts zu versprechen haben, muss auch niemand ankämpfen, muss sich niemand „befreien“. Wie aus einer fernen, entrückten und definitiv vergangenen Welt muten daher heute Schriften wie Liebel und Wellendorfs „Schülerselbstbefreiung. Voraussetzungen und Chancen der Schülerrebellion“ (1969) an. Während der Kampf gegen Autorität dieselbe zwischenzeitlich oder auch dauerhaft in die Krise gestürzt haben mag, besteht die Krise der Krise (der Autorität) darin, dass ein solcher Kampf heute nicht nur pathetisch-lächerlich, sondern geradezu als irrelevant erscheint. Autorität wird von der „Tyrannei der Gegenwart“ also nicht einfach delegitimiert, sondern vielmehr außer Kraft gesetzt.

Trotz dieser Diagnosen – die in ihrer Dramaturgie und Validität kritisch hinterfragt werden müssen – bleibt insbesondere pädagogische Autorität in der einen oder anderen Form immer Thema, wohl weil Erziehung (halt doch) eine anthropologische Konstante darstellt, institutionalisierte Bildung eine Notwendigkeit moderner Gesellschaften bleibt, und wahrscheinlich, weil jeder Pädagoge und jede Pädagogin in der Praxis, zumindest in der institutionalisierten Praxis, die Erfahrung macht, dass „es“ ganz „ohne Autorität“ eben doch „nicht geht“. So stellen sich die Fragen 1. wie pädagogische Autorität wahrgenommen wird, 2. wie sie gerechtfertigt wird und 3. welches die konkreten Praxen der Herstellung und Aufrechterhaltung sowie des Verlustes von pädagogischer Autorität sind.

2 Eine Ausnahme der von Brumlik (2007) herausgegebenen Beiträge stellt u.E. jener von Frank-Olaf Radtke dar.

3 Der sich übrigens im Ton leicht vergreifen kann, wie der Beitrag von Wolfgang Bergmann im benannten Sammelband (Brumlik 2007) zeigt.

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„Fruher waren die Verhältnisse
autoritär …“

„Das Problem der Gehorsamsbereitschaft
gegenüber Autorität ist uralt,

so alt wie die Geschichte von Abraham und Isaak.”

Stanley Milgram (1982, S. 7)

Das Wort „Autorität“ stammt aus dem lateinischen auctoritas, das eine Ableitung von auctor (die Kraft zu mehren, wachsen zu lassen und zu fördern) und augere darstellt (vgl. Helmer & Kemper 2004, S. 127). Auctoritas wird übersetzt mit Begrifflichkeiten wie Urheberschaft, Ansehen, Glaubwürdigkeit, Ermächtigung oder Vorbildlichkeit u.a. Mit diesen Wörtern kommt zum Ausdruck, dass Autorität – zumindest ursprünglich – mehr mit Ratschlag und Empfehlung zu tun hatte als mit Befehl, Machtgebrauch oder gar Gewalt. Im Unterschied zu anderen römischen bzw. antiken Konzepten gibt es zu auctoritas keine griechische Entsprechung. Während das antike Athen sozusagen als Erfinderin der demokratischen Herrschaftsform bekannt ist, die seit Aristoteles Politik (1981, 1279a-b, 1313b) genannt wird4, steht das antike Rom für uns für den ersten Stadtstaat, in welchem das Recht die zentrale Rolle spielt (vgl. Brunkhorst 2008, S. 88). Das Recht dient im antiken Rom zwar der Stabilisierung der Macht der Wenigen über die Vielen, aber eben auch der Sicherung des Rechts der Vielen gegen die wenigen Bessergestellten (ebd.). „Römisches Recht“, so Wesel, „war das Recht der vornehmen Leute. Klassisch heißt zwar vorbildlich – und so wird das römische Recht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts genannt –, aber klassisches Recht war auch Klassenrecht, das Recht der Besitzenden untereinander, also Zivilrecht. Mit den anderen machte man kurzen Prozess“ (Wesel 1997, S. 156). Insbesondere die Macht und die Rechte des Hausherrn sind sprichwörtlich gewesen: „Innerhalb des Hauses, des dominiums – das gewöhnlich ein Landgut – das gewöhnlich mit zahlreichen Bediensteten, Sklaven, Frauen, Konkubinen usw. war – galt eigenes Recht, die Rechtssprechung des Hausherrn, des pater familias, der, wenn er nur mächtig genug war, nach Belieben über Leben und Tode der Seinen verfügen könnte. Das Hausgericht verfügte die Todesstrafe unter Ausschluss der Öffentlichkeit, während die ‚grausame Vollstreckung als präventive Maßnahme in aller Öffentlichkeit vollzogen wurde‘“ (Bürge 1999, S. 47, zit. nach Brunkhorst 2008, S. 89). Der „Fortschritt“ bzw. die Bedeutung des römischen Rechtes kann darin gesehen werden, dass es öffentliches Recht gewesen ist: „Was Recht war, musste allen bekannt und durfte nicht das Geheimwissen einer herrschenden Klasse sein, und es musste öffentlich, meist unter freiem Himmel auf dem Forum Romanum gesprochen werden“ (ebd.). Die Gesetze (leges) wurden vom populus (populus romanus, dem „römischen Volk“) und nicht vom senatus festgelegt, die Kompetenz des populus ist die potestats, die Macht im Medium des Rechts zu bestimmen, während die Kompetenz des Senats in seiner Autorität liegt, in der Möglichkeit, aufgrund von Ansehen (und Tugendhaftigkeit) Empfehlungen abzugeben, die ernst genommen werden sollten (vgl. ebd.). Das lateinische auctoritas – als Urheberschaft, Ansehen, Vorbild, Vollmacht – wurde im spätantiken Rom als Bezeichnung der rechtlichen Position des Senats gebraucht. Diese Versammlung aus ehemaligen Beamten hatte als Rat der „patres“ (Väter) nur beratende Funktion und wirkte – im Unterschied zum Magistrat – ausschließlich über sein Ansehen (auctoritas). Dieses ursprünglich aus dem familiären Bereich stammende und dann auf den politischen Bereich übertragene Modell des ratgebenden, lebenserfahrenen „Vaters“ avancierte in der christlichen und humanistischen Tradition zum idealtypischen Vorbild für die Eltern-Kind-Beziehung und die Lehrer-Schüler-Beziehung. Doch der „Vater“ ist freilich nicht die einzige Figur oder Metapher für Autorität.

Die Anerkennung einer Autorität kann im intellektuellen bzw. kognitiven Bereich als Glauben begriffen werden, im voluntativen Bereich führt die Anerkennung einer Autorität in der Regel zu Gehorsam (vgl. von Tessen-Wesierski 1907). Den Alten ist zu glauben und zu gehorchen. Ein allgemeines Kennzeichen „dafür, dass wir es (…) mit Autorität zu tun haben“, ist nach Krüger dieses: „dass eine Person irgendwie ‚maßgebend‘ ist – dass sie anderen ‚etwas zu sagen hat‘, während sich die anderen etwas von ihr ‚sagen lassen‘, oder doch sagen lassen sollten, oder sagen lassen müssen“ (Krüger 1953, S. 26–27). Mit dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass zwischen Macht und Autorität zu unterscheiden ist, wiewohl dieser Unterschied meist analytisch interessiert, empirisch aber mit der Anerkennung einer Autorität in der einen oder anderen Form auch eine Ermächtigung derselben einhergeht, bei welcher die emotionalen Aspekte der Achtung und Anerkennung, womöglich des Respekts und der Ehrfurcht eine zentrale Rolle spielen.

Die Wörter „Macht“ und „Autorität“ und die Phänomene, die sie bezeichnen, werden heutzutage eher negativ wahrgenommen, sie haben einen insgesamt schlechten Ruf, beinahe wie „Gewalt“. Man hat sich in der Alltagsrede daran gewöhnt, „Autorität“ und „Macht“ negativ zu konnotieren und als Gegensatz zu „Freiheit“, „Autonomie“ und „Demokratie“ zu verstehen. „Autorität erscheint heute“, so Reichwein, „häufig als ein Begriff, mit dem sich das, was er bezeichnet, stets nur selbst rechtfertigt und zugleich das, was in ihrem Namen geschieht, einer genaueren Erkenntnis entzieht“ (Reichwein 2001, S. 148). Es stelle sich der Erziehungswissenschaft daher die prinzipielle Frage, ob der Autoritätsbegriff nicht einfach besser der Umgangssprache überlassen und „differenziertere und präzisere Konzepte verwendet oder entwickelt werden sollten“ (ebd.). Dieser nachvollziehbaren Sicht kann eine Aussage des amerikanischen Psychologen William Damon entgegengesetzt werden: „Autorität ist (…) unserer Auffassung nach fundamental im Lebens eines Kindes. Sie ist von zentraler Bedeutung für die weiteren sozialen Erfahrungen seines sich entwickelnden sozialen Wissens. Aber dennoch ist ihre Funktion begrenzt. Nicht alles in der sozialen Welt wird durch Autorität geregelt, und die Moralvorstellungen des Kindes werden nicht von Autorität dominiert“ (Damon 1984, S. 203). Der negative Ruf oder zumindest die Ambivalenz des Phänomens der Autorität, mag es noch so grundlegend sein, motiviert dazu, es zu verleugnen. Die Illusion, frei zu sein, bedeute, „dem Bann der Autorität entkommen zu sein“ (Sennett 1985, S. 233), und entspricht einer „Kultur der Negation“, in der die Wahrnehmung der „Stärkeunterschiede“ zwischen den Menschen, die zu Furcht und Respekt, sicher aber zur Anerkennung personaler Autoritäten führen kann, politisch und moralisch problematisch geworden ist. Allerdings büßen sogenannte persönliche Autoritäten in der Regel schnell an Macht ein, wenn man sie näher kennenlernt, sie verblassen merklich, sobald man ihnen nahe ist und man verliert die Furcht vor ihnen, sofern man sie hatte (vgl. S. 191). Die Abnahme der Furcht gegenüber persönlichen Autoritäten kann durch Bürokratie und Institutionalisierung kompensiert werden: „Von Christus führt der Weg unweigerlich zur Kirche“, um es mit Sennett treffend zu sagen (S. 189). Man könnte auch formulieren, dass das Fehlen von „vertikalen“ Autoritäten (Gott, König, Regierung, Vater, Mutter …) durch eher „horizontale“ Autoritäten (Vereinbarungen, allgemeine Regelungen, gesellschaftliche Normen und Systemzwänge) kompensiert wird.

Werden Freiheit und Autorität bzw. Autonomie und Autorität – aus welchen Gründen auch immer – als Gegensatz wahrgenommen, so kann man, da es uns wichtig ist, frei oder autonom zu sein, „Autoritäten“ verständlicherweise nur ablehnen. Es wird sogar zur Pflicht, zumindest als erwachsene Person, keinen Autoritäten zu folgen. Die Folgsamkeit, die von Kindern in der Regel erwartet, erhofft und auch begrüßt wird, erscheint für erwachsene Menschen nicht angemessen, sondern vielmehr ein Zeichen einer mangelnden persönlichen, moralischen und politischen Reife zu sein (vgl. Raatzsch 2007): freie Bürgerinnen und Bürger folgen keinen Autoritäten. Es ist, als ob es keinen freien, selbstbestimmten Entschluss geben kann, einer Autorität zu folgen. Wobei dieses „Folgen“ den Charakter des Gehorchens und/oder auch des Glaubens aufweisen kann: im Bereich des Verhaltens bedeutet Folgen letztlich Gehorchen, im Bereich des Wissens dagegen Glauben. Autoritätsgehorsam und Autoritätsgläubigkeit sind zwei verschiedene, aber dennoch manchmal eng miteinander verbundene Dimensionen der Folgsamkeit.

Die Geschichte der Aufklärung wird gerne als eine Geschichte der Emanzipation gegenüber Autoritäten dargestellt. Mit der angenehmen und scheinbar beruhigenden Sicht der vermeintlichen Linearität sukzessiv zunehmender Emanzipation irritiert dann aber die Frage, wie reibungslos bzw. zu welchem Preis die Transformation jener Funktionen, für die persönliche Autoritäten vorwiegend stehen bzw. gestanden sind – namentlich die Befriedigung des Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnisses –, vonstattengehen konnte. „Der moderne Autoritätsverlust“, schreibt Hannah Arendt 1957, „die Tatsache nämlich, dass wir in der modernen Welt kaum noch Gelegenheit haben zu erfahren, was Autorität eigentlich ist, hat natürlicherweise zu einer gewissen Begriffsverwirrung geführt“ (1994, S. 159; Hervorhebung R.R.). Wer wissen wolle, was Autorität „eigentlich“ sei, müsse sich auch damit beschäftigen, „was Autorität nicht ist und niemals war“ (ebd.). Autorität ist nach Arendt vor allem dieses nicht: erstens sie ist keine Gewalt, sondern im Grunde ein Gegensatz zur Gewalt, „wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt“ (ebd.), und zweitens habe sie nichts mit Argumentieren oder Überzeugen zu tun, welche „Gleichheit“ voraussetzen würden: „Argumentieren setzt Autorität immer außer Kraft“ (ebd.).

In Zeiten, in denen alle wissen, dass man alles gemeinsam bereden sollte, vor allem problematische Entscheidungen, in denen die Moral der Partizipation und Mitentscheidung sich durchsetzen konnte, so dass sich die Alleinentscheidenden heute rechtfertigen müssen, scheinen personale Autoritäten und Autoritätsgläubigkeit überwunden zu sein. Waren die sozialen Verhältnisse früher autoritär, so scheinen sie es heute nicht mehr oder kaum mehr zu sein.

2.1 Die Krise der Autorität und die Krise der Autoritätskrise

Was ist mit dem Generationenkonflikt los?

Lernen besteht nur zu einem geringen Teil darin, dass Menschen sogenannte „eigene“ Erfahrungen machen, vielmehr geht es in der Entwicklung des Einzelmenschen und der Generationen wesentlich darum, Fremderfahrungen, insbesondere natürlich die Erfahrungen der älteren Generationen zu übernehmen. Da unsere Originalität und Lernkapazität begrenzt ist und wir für das, was wir alles lernen müssten, im Grunde einfach viel zu wenig lang leben, scheint dies anders auch kaum denkbar zu sein. Es ist sogar eine besondere Gabe und Fähigkeit, zumindest von der partiellen Übernahme von Erfahrungen, die andere bereits gemacht haben und als Wissen in der einen oder anderen Form eine Zeitlang speichern, zu lernen.

Die evolutionstheoretische These, wonach sich die Fähigkeit, von der älteren Generation zu lernen, nur unter den Voraussetzungen hat entwickeln können, dass die ältere Generation bereit und in der Lage war, Wissen weiterzugeben, und dass die nachwachsende Generation ebenso bereit und in der Lage war, Traditionsgut zu übernehmen, erscheint unmittelbar plausibel. Liedtke (1989) und andere haben in diesem Sinne argumentiert. Zu den Voraussetzungen gehört auch ein gewisser Vertrauensvorschuss. Weil wichtige Existenz und Coexistenzwesensmäßig