JÖRG ZINK
Eine Biographie
Gütersloher Verlagshaus
EINLEITUNG.
Ein weites Herz
I. UNTER DEM HIMMEL. BILDER DER KINDHEIT – THEOLOGIE DER MYSTIK
Wegweiser.
Erinnerungen an einen Traum
Prägungen.
Die Freiheit der Wälder
Begegnungen.
Momente für ein Leben
Ein Haus aus Sprache.
Freunde aus Klang
Erfahrungsschätze.
Die Zukunft des Christentums heißt Mystik
Freie Bürger des Reiches Gottes.
Erfahrung kommt von Fahren
Aufrichten und Ausrichten.
Die eigene Sprache finden
Sich ansprechen lassen und antworten können.
Übersetzungen, Gebete, Nachdichtungen
II. AUFRECHT.
ERFAHRUNGEN DES KRIEGES –
POLITISCHE THEOLOGIE
Initiationen.
Wiedergeburt aus Feuer und Wasser
Im Zeichen des Kreuzes.
Zwischen Philosophie und Theologie
Andere Wege wagen.
Wenn ihr nicht politisch werdet
Die Friedensbewegung.
Dem Feind Freund werden
Die ökologische Frage.
Die Trauer spüren
Schöpfungsglaube.
Die Erde ist Gottes voll
Die schmale Gestalt aus Nazareth.
Auf die Suche gehen
Auf den Spuren der Bibel.
Im Nahen Osten unterwegs
Denke nicht klein, sondern groß!
Grundlinien eines Jesus-Porträts
Absteigen und weit werden.
Einer Bewegung folgen
Die Allianz der Zukunft.
Lernende werden
III. REDEN.
ÖFFENTLICH KIRCHE SEIN –
ES GIBT NUR EINE WELT
Kirche jenseits der Kirchenmauern.
Glaubwürdigkeit suchen
Öffentlich reden.
Worte für alle finden
Eine andere Kirche suchen.
Feiern auf dem Evangelischen Kirchentag
Gefühl fürs Leben lernen.
Die Kinder- und Jugendfarm Haldenwiese
Die Zeit des Schreibens.
Theologische Entwürfe
Es gibt nur eine Welt.
Wie sich unsere Vorstellungen verändern
IV. ABSCHIEDE.
REICH BESCHENKT ALT WERDEN
ANHANG
Wichtige Lebensstationen von Jörg Zink
Bücher in Auswahl
Textnachweis
Bildnachweis
Wildschwein, sagt er. Das sei sein Lieblingstier. Kein Schäfchen oder Esel, wie man bei einem bibelfesten Pfarrer vielleicht vermuten könnte. Wildschwein, sagt Jörg Zink. Damals, kurz vor seinem 80. Geburtstag, habe ich ihn danach gefragt. Wildschwein – das sei doch eigentlich kein ausgesprochen passendes Lieblingstier für einen Pfarrer. Und wie immer, wenn er ein Bild für sich in Anspruch nimmt, kann er es mit eigener Erfahrung füllen: Jörg Zink hat unglaublich viele Erfahrungen in seinem langen Leben gemacht, und er hat sie sich bewusst gemacht. Seine Erfahrung mit Wildschweinen erzählt er mir folgendermaßen: »Ich habe beim Zelten als junger Mensch gelegentlich aus Versehen auf einem Wildschweinpfad geschlafen, und ich habe erlebt, wie die Wildschweine mein Zelt beinah umgerissen haben. Und da habe ich eine große Sympathie für diese Tiere gefasst, die da durchs Unterholz preschen, immer die Nase am Boden.«
Jörg Zinks Arbeitszimmer in Möhringen bei Stuttgart liegt selbst unten, im Souterrain, erdverbunden. Mit Büchern ausgetäfelt. Mehrere Schreibtische, um die Arbeit möglichst effektiv und gründlich erledigen zu können: Einen für die täglich zu erledigende Arbeit, für Koordination und Organisation, einen für dasjenige Projekt, das als Nächstes fertiggestellt werden muss, und einen für die Entwicklung neuer Ideen. Sein persönliches Unterholz. Wie gemacht für einen, der Wildschweine mag.
So sollen doch Pfarrer sein, so sollen doch Menschen sein, die dieser »schmalen Gestalt« des Mannes aus Nazareth folgen, Menschen, die sich von Gott geliebt und damit in diese Welt geschickt wissen, sagt Jörg Zink, und wieder bin ich fasziniert von der Treffsicherheit, Klarheit und dem Unkonventionellen dieses Mannes mit den weißen Haaren und den buschigen Augenbrauen: »Ich stelle mir einen Pfarrer so vor, dass er nicht irgendwo herumfliegt, sondern mit der Nase am Boden wie ein Wildschwein durch das Unterholz trabt, dort wo die Menschen sind. Und dass er sich im Unterholz nicht von einer großen Organisation leiten lässt, sondern wie ein solches Wildschwein seinen eigenen Weg suchen muss und ihn dann auch konsequent geht.« Einen Weg zum Leben. Einen Weg zu dem, den wir Gott nennen. Einen spirituellen Weg für Fußgänger, nicht für Überflieger, nicht für Meister. Einen Weg für dich und mich.
Nach und nach fällt mir es erst auf, hier im Souterrain, in Jörg Zinks Denkgehölz, wie selbstverständlich präsent er war in der Kirchengemeinde, in der ich aufgewachsen bin, in meiner Familie, in meinem eigenen Glaubensleben – mir, dem 50 Jahre Jüngeren. Kleine Zink-Bücher in allen Farben am Bücherstand, zigmal verschenkt an Weihnachten, manchmal halbspöttisch mit dem Etikett »kitschig« und »was Frommes« versehen. Meine Eltern, die das »Wort zum Sonntag« im Fernsehen nicht verpassen wollten, damals, als es um die Pershing II und den Nato-Doppelbeschluss und irgendwie auch um Leben und Tod ging. Ein Schwarz-Weiß-Film über das Abendmahl, den wir im Konfirmanden-Unterricht von einem surrenden Projektor aus an die Wand geworfen bekommen haben und in dem ein noch längst nicht weißhaariger Pfarrer mit schwäbischem Akzent uns 13-Jährige anhand von Michelangelos Abendmahlsdarstellung in die biblische Welt hineingenommen hat. Eine Schallplatte, die läuft, während wir die Beerdigung eines Freundes vorbereiten, und auf der der Liedermacher Siegfried Fietz den aaronitischen Segen vertont hat, den Jörg Zink neu interpretiert hat. »Die letzten sieben Tage der Erde«, ein tief aufrüttelnder Text über die Selbstabschaffung des Menschen aus meinem Religionsbuch, Autor wieder Jörg Zink, den ich mir schon als Kind immer wieder vorgetragen habe, sozusagen als persönlichen Klagepsalm. Später dann einige Gespräche auf Kirchentagen, Interviews, die ich für den Hörfunk aufgenommen habe. Was mögen andere mit ihm verbinden? Ich höre, dass viele Jörg Zink auf ihre Weise kennengelernt haben und ihre ganz persönlichen Geschichten mit ihm assoziieren. Und ich höre, dass er vielen Mut gemacht hat.
Über einen zu schreiben, der selbst mit klarer, treffsicherer und poetischer Sprache sehr viel Autobiographisches zu Papier gebracht hat, mag vielleicht überflüssig erscheinen. Aber gerade weil die Zahl der Bücher in seinem langen Leben beinah ins Unüberschaubare gewachsen ist, könnte doch, so unsere Hoffnung, ein weiteres Buch, dieses nämlich, Türöffner sein. Türöffner zum Weiterlesen in eine weite Gedankenwelt. Eine der weitesten, denen ich im Raum der Theologien der Gegenwart begegnet bin. Jörg Zink hat, auch nachdem er sich von seinen öffentlichen Auftritten zurückgezogen hat, sehr viel zu sagen, für Menschen, die auf der Suche sind nach einem glaubwürdigen Christentum, nach eigenen, begehbaren Wegen zeitgemäßer Spiritualität, nach einer zukunftsfähigen Kirche, nach einem Dialog der Religionen, nach Auswegen aus einer globalen Krise der Zerstörung der Welt, nach neuen Bildern von Religion, Christentum, Kirche, Gott, Jesus, Geist.
Jörg Zink in seinem Arbeitszimmer Mitte der 1970er Jahre.
Jörg Zink in seinem Arbeitszimmer 2012.
Drei Kreise wird dieses Buch ziehen, um im Spiegel einer aufregenden Lebensgeschichte nicht weniger aufregende Gedanken über Gott und die Welt zusammenzustellen. Erstens: Die Erfahrungen der Kindheit und Jugend Jörg Zinks führen direkt zu den Büchern des Alters, die sich unter dem Stichwort »Mystik« um ein großes Thema herum versammeln: Wie kann Gott als ein lebendiger, erfahrbarer, naher, heutiger Gott beschrieben werden? Denn die alten Bilder von Gott sind zu klein geworden. Zweitens: Die Erfahrungen und Begegnungen des Krieges lassen Jörg Zink auf eine sehr neue, direkte Art nach Jesus fragen, nach dem Urbild für ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Jörg Zinks Mystik ist eine politische, und sein Leben ein sehr politisches. Drittens: Die vielfältigen Arbeitsfelder als Pfarrer, die Konsequenzen aus beiderlei Denken, dem mystischen und dem politischen, haben Jörg Zink immer in die Öffentlichkeit geführt, als Medienpfarrer genauso wie als Bibelausleger auf dem Kirchentag. Ein dritter Kreis widmet sich daher seinem öffentlichen Wirken und einem sehr praktischen theologischen Denken und führt zu der Frage, wie denn heutiges Reflektieren über Religion mit dem modernen Weltbild wieder zusammengedacht werden kann. Anders gesagt: Der erste Teil umkreist neue Bilder von Gott, der zweite Teil das Zentrum der Verkündigung Jesu, der dritte den Geist, den das dritte christliche Jahrtausend braucht.
Jörg Zink hat auf seine Weise und mit den unterschiedlichen Medien, die er sich zu eigen gemacht hat, unzählige Menschen geprägt und er hat damit auch ein Stück protestantischer Kirchen- und Theologiegeschichte geschrieben. Nicht als Lehrstuhlinhaber. Nicht als Bischof in Amt und Würden. Sondern als einer, der sich in aller Freiheit über Gott und die Welt Gedanken macht, in der Freiheit, die viele in den Amtskirchen vermissen. Als einer, der selbst ein Suchender geblieben ist. Der weiß, dass es auch gar nicht anders sein kann.
Natürlich war er dadurch seiner Kirche oft unbequem. Er hat sich eben bei den vielen unterschiedlichen Tätigkeiten und durch seine vielen theologischen Gedanken weniger von ihr, sondern vielmehr von ihrem Gründer leiten lassen, von Jesus. Und von seinen eigenen Erfahrungen und seiner eigenen Vernunft. Davon ausgehend hat er seinen Weg gesucht. Er hat dabei ausgesprochen, was viele und zunehmend mehr Menschen denken, was aber in »der Kirche« in »der Theologie« nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand zu hören ist: Warum soll man denn mit der Bergpredigt nicht die Welt gestalten können? Mit welcher Chuzpe setzt man sich denn in den Kirchen über die Weisungen hinweg, die Jesus den Menschen mitgegeben hat? Warum soll man denn, wenn Gott ein Gott aller Menschen ist, annehmen, er sei nur den Christenmenschen nahe – und den anderen Religionen die Wahrheit absprechen? Warum soll man denn, wenn Gott ein lebendiger Gott ist, annehmen, er habe nur damals zu biblischen Zeiten zu den Menschen gesprochen – und sei nun verstummt? Was ist denn mit der eigenen religiösen Erfahrung? Und warum sollten die verfassten Kirchen, die spät, sehr spät entdeckt haben, dass die Aufgaben des 21. Jahrhunderts Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung lauten, warum sollten sie meinen, sie seien mit dem Programm weltweit glaubwürdig? Stand das christliche Abendland, standen Kirchen unterschiedlicher Konfessionen nicht jahrhundertelang für das Gegenteil: für Krieg, Ausbeutung und Zerstörung der Welt?
Zum Wildschwein kommt noch ein zweites Lieblingstier Jörg Zinks – die Wildgans. Und beide zusammengenommen sind wunderbare Bilder für zwei sich inspirierende Seiten eines außergewöhnlichen Mannes. Das Wildschwein, so könnte man sagen, steht für eine erdverbundene Arbeit im mehrfachen Sinn: für ein radikales Eintreten für unsere Erde; für eine Ethik, die nichts vorgibt außer dies: vom hohen Ross herabzusteigen, um unten, am Boden, zum Mit-Menschen zu werden; für die Kraft von unten, aus dem Unterholz, die notwendig ist, um die Welt zu verändern. Und die Wildgans zeigt den weiten Freiheitsraum seines Denkens; den Raum der religiösen Erfahrungen; die Grenzüberschreitung in jede Richtung, die er gewagt hat und durch die er für manche – eben auch für manche Theologen – zum Ärgernis geworden ist.
Grenzüberschreitend waren auch Jörg Zinks Arbeitsfelder. Seine Kanzeln waren die Kirchentage, war das Fernsehen, waren Filme, die er gemacht hat, war das »Wort zum Sonntag«, das ihn für Jahrzehnte zu Deutschlands bekanntestem Seelsorger gemacht hat, waren die Bücher, in denen er immer wieder, aber immer wieder neu Themen umkreist, mit denen sich spirituell Suchende, selbstdenkende Christen auseinandersetzen: Wie können wir beten, wenn wir es eigentlich nicht (mehr) können? Wie können wir feiern, wenn wir die Gottesdienste nicht mehr als frohes Fest erleben? Wie können wir die Bibel lesen, wenn uns die Texte abgestumpft erscheinen? Wie Erfahrungen mit Gott machen? Wie Ökumene leben? Lieben? Trauern? Wie andere Religionen als Partner verstehen?
Jörg Zinks Arbeitseffektivität haben viele bewundert. Sein Arbeitstag begann stets um 4 Uhr früh, vor dem Frühstück, bevor die vier Kinder und seine Frau Heidi aufwachten, bevor Telefon und Post ihn ablenken konnten. Sein Tagesablauf war strikt geplant, um die Zeit möglichst optimal zu nutzen: Weiterarbeiten bis zum Mittagessen, dann ein Mittagsschlaf, bei dem ihn keiner stören durfte, dann weitere Arbeit bis in den frühen Abend hinein, wechselnd zwischen den Schreibtischen, unterbrochen durch Besuche von Mitarbeitern oder auch Ratsuchenden oder durch andere Arbeiten in Haus, Werkstatt und Garten. Man könnte sagen: Jörg Zinks Produktion funktionierte wie eine kleine, flexible, möglichst effektive Fabrik. Über 250 Einzeltitel zuzüglich Audio, Video und E-Books sind entstanden, viele sind in mehrere Sprachen übersetzt worden. Die Bibel hat Jörg Zink neu übertragen, um jenseits der kirchlich eingebürgerten Sprache die Botschaft Jesu wieder lebendig werden zu lassen – Mitte der 60er Jahre wurde ein solches Unterfangen als Sakrileg an Luthers prägender Sprache harsch angefeindet. Gebete für Kinder und Familien hat er geschaffen, damit Beten nicht ein Nachplappern leerer Formeln ist. Er war einer der wichtigen Sprecher der Friedensbewegung, als man ziemlich real und sehr bedrohlich in militärischen Planspielen Europa zum Schauplatz eines Atomkriegs machte. Er war einer der allerersten, die den Ruf »Schöpfung bewahren« als unbedingte, existentielle und religiöse Forderung formulierten, soll der Planet Erde überlebensfähig bleiben. Und in den vergangenen 30 Jahren hat er schließlich immer wieder für beide geschrieben, für die Zukunft des Christentums, das anders werden muss, ganz anders, soll es glaubwürdig überleben, und für den Einzelnen, der sich selbst und seiner Erfahrung trauen lernen soll, auf dass die Welt nicht untergehe. Für eine Kirche ohne Gerede von einer einzufordernden angeblich christlichen Moral, ohne Profilneurose und Abgrenzungsdiskussionen zwischen den Konfessionen und Religionen, ohne ängstliches Auslegungsmonopol des angeblichen Willens Gottes, von dem man ach so viel zu wissen meint. Und für den Einzelnen, der selbstbewusst, aufrecht unter dem Himmel, seine spirituelle Kraft suchen und finden muss, der wissen muss: Auf ihn kommt es an, nicht auf irgendwelche Oberen. Und der, auf diese Weise befähigt und mit der Geistkraft des Lebendigen verbunden, loszieht, die Welt zu ändern, auf dass sie nicht untergehe.
Jörg Zink ist ein Anfänger gewesen – und geblieben. Das ist wohl eines seiner Geheimnisse. Er war ein Pionier in den Arbeitsfeldern, die er beackern durfte. Er hat miterfunden, wie Film und Religion zusammengehen könnten. Er hat mit Langspielplatten und Fotos experimentiert, den religiösen Buchmarkt über Jahrzehnte geprägt. Er ist Gründungsmitglied der Grünen. Er ist immer schon weiter, in Gedanken weiter, als es das behäbige theologische Nachdenken an den Universitäten erlaubt. Er ist dadurch ein Kirchenkritiker, der darin aber nicht bei Vorwürfen endet, sondern weiterschreitet, im Bewusstsein, selbst Kirche zu sein. Auf niemanden warten zu müssen. Auf keinen Bischof. Keinen Theologen. Und schon gar keinen Papst. Die Kirche besteht aus Laien, einfach aus Menschen, das sagt er immer wieder. Und deswegen werde er zu jeder Art von Leitung einer Kirche immer ein distanziertes Verhältnis haben. Weil jede Führung Rücksicht nimmt auf das Bedürfnis der Menschen, eine Autorität vor sich zu sehen und einer Autorität zu gehorchen. Dann aber gehorche man einer Kirchenleitung – und nicht dem, was wir von Jesus Christus hören. »Dann steht der Bischof an der Stelle des Christus, und das ist gefährlich. Denn bis jetzt hat niemand kühnere Gedanken über die Gotteserkenntnis gesagt als Jesus. Und er geht uns mehr an.«
Jörg Zink, der Mystiker, der politische Theologe, der Jesus-Anhänger, Jörg Zink, der Seelsorger, Pfarrer, Dichter, Ratgeber, Prediger, Maler, Fotograf, Schreiner, Bastler, Gärtner und Vater – was wäre er auf diesem seinem Weg gewesen ohne die leise Liebesgeschichte, die sich im Hintergrund seiner Arbeit immer auch erahnen lässt. Jörg Zink hat vielen mittelalterlichen Mystikern, mit denen er im geistigen Austausch ist, eine Erfahrung voraus, eben diese Liebesgeschichte mit seiner Frau Heidi. Er ist geerdet im Hier und Jetzt, im Familienleben, mit Kindern und Enkeln gesegnet, mit einem geliebten Menschen gemeinsam auf dem Weg durch die Jahre. Heidi und Jörg Zink sind über Jahrzehnte gemeinsam unterwegs gewesen, sie hat ihn begleitet, von Podium zu Podium, in die Wüste, zum Meer, in seine Denk- und Erfahrungsräume. Wohl kaum ein Text ist entstanden ohne ihr Gegenüber und ihr Denken im Dialog. Beide sind sie gemeinsam alt geworden – und beide leuchten, strahlen eine Kraft aus, die auch eine gemeinsame ist. Jörg Zink ist eben ein Mensch in Beziehung in jeder Hinsicht, und seine Theologie ist eine Theologie der Beziehung zu Himmel und Erde.
Wie sollen nun die Beziehungen, Gedanken und Erfahrungen dieses Mannes, die er selbst in so vielen Büchern verdichtet hat, noch einmal komprimiert werden können auf 200 Seiten? Ich will versuchen, einige wichtige Bilder nachzuzeichnen, Lebensbilder aus der Kindheit, aus der Welt des Krieges und aus einem Leben als öffentlich agierender Theologe. Und zugleich Verbindungslinien ziehen zu Jörg Zinks zentralen Gedankengängen. Es sind Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus neun Jahrzehnten.
Manche Wege gehen nicht zu Ende, jedenfalls nicht auf dieser Erde. So schreibt Jörg Zink über seine Eltern. Seine Mutter stirbt, als er zwei Jahre alt, sein Vater, als er drei Jahre alt ist. Manche Wege gehen nicht zu Ende, jedenfalls nicht auf dieser Erde, sie sind Wege, die alles feste Land zurücklassen.1
Das Gästebuch auf dem Habertshof.
Und dennoch, so staunt er selbst im Rückblick, ist Jörg Zink den Wegweisern gefolgt, die seine Eltern gesetzt haben – mit traumwandlerischer Sicherheit, im Bewusstsein einer Verbindung, die eben weiter reicht als die Grenzen dieser Welt. Jörg Zink kommt am 22. November 1922 auf die Welt. Getauft wird er eigentlich auf den Namen Georg, genannt Jörg. Er wird in eine Utopie hineingeboren. In einen Traum von einer besseren Welt, den seine Eltern Maria Zink, geborene Geiger (1893–1925), und Max Zink (1892–1926) zu leben versuchten und an dem sie scheiterten.
Der Habertshof: Sechs Jahre lang die Heimat der Familie Zink.
Sein Geburtshaus ist der »Habertshof«, ein Bauernhaus ohne Strom und ohne Wasseranschluss im hessischen Bergland bei Schlüchtern, zwischen Spessart und Rhön. Seine beiden Eltern hatten dort 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, Land und Haus gekauft und eine Lebensgemeinschaft auf christlicher Basis gegründet, wie manche andere in diesen Jahren auch. Ein Bruderhof, ein freiheitliches Haus, in dem die jungen Leute ein besseres Leben ausprobieren wollten, weitgehend ohne eigenen Besitz, frei von Rollenklischees und voller Zukunft im Herzen. Sie suchten nach dem ungeheuren Zusammenbruch alles dessen, was bis dahin als selbstverständlich gegolten hatte, nach einem Anfang, der etwas ganz Neues bringen sollte. Frieden zwischen den Völkern suchten sie und ein Ende des militaristischen Denkens in unserem Land. Einen behutsameren Umgang mit der Erde, einen freundlicheren und lebendigeren. Eine veränderte, lebendigere Kirche, die sich in kleinen Gemeinschaften bilden sollte und ihre verhängnisvolle Bindung an den Staat aufgeben würde.2 Dazu veranstalteten sie Seminare in ihrer »Heimvolkshochschule« und wollten mit einem kleinen Verlag, dem Neuwerk-Verlag, an die Öffentlichkeit gehen, um sich mit Gleichgesinnten, vor allem des linken politischen Spektrums, zu vernetzen. Jörg Zink hütet ein Gästebuch seiner Eltern, dort stehen die Namen von Schriftstellern und Verlegern wie Otto Salomon oder Eugen Diederichs, der Name des Jugendstilmalers Heinrich Vogeler ist dort genauso zu finden wie der von Martin Buber, Karl Barth, Günther Dehn, Karl Heim und Paul Tillich. Das Leitwort auf dem Habertshof ist ein Satz aus der Apostelgeschichte gewesen: »Sie hatten alle Dinge gemeinsam ...« Im Herzen trugen sie eine große Zukunft, und dass manche Wege hier auf Erden nicht zu Ende gegangen werden können – das nahmen sie in Kauf. Denn die Neuwerk-Bewegung verlor schon in den späten 1920er Jahren im politischen Streit und der Weltwirtschaftskrise ihre Ausrichtung und Bedeutung. Jörg Zink hat keine Erinnerung mehr an seine Mutter, und an seinen Vater nur eine einzige, blasse, träumerische. Wie er, der Vater Max, den drei Söhnen eine Blume zeigt, irgendwo im Wald, eine blaue wohl. Und doch ist es, als sei Jörg Zink auf den vielen Wanderwegen, die er sich selbst als Kind und Jugendlicher in den Wäldern und an den Seen der Schwäbischen Alb gesucht hat, auf den Wegen durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, den Erfahrungen des Abstürzens und der Bewahrung, des Zerbrechens und der Ganzheit, in den Wegen durch Dichtung, Philosophie und Theologie, auf seine eigene Weise Wanderer in den Träumen seiner Eltern geblieben, unterwegs auf der Suche nach einem Paradigmenwechsel, nach neuem Denken, neuem Leben, neuem Glauben, auf die sich schon seine Eltern gemacht haben. Nach einem Denken, das nicht zerstört, sondern heilt. Das nach Gemeinschaft und Frieden drängt. Das Kindern und Jugendlichen Kraft und Weisheit zum Leben weitergeben will und damit durchaus pädagogisch geprägt ist. Und das Religion so versteht, dass sie nirgendwo anders zu finden ist als im Hier und Jetzt, im eigenen Leben, in dem Wagnis, die Welt als großen, guten Zusammenhang der Liebe zu verstehen.
Und das alles versehen mit einem großen Dennoch. Mit einem Trotzdem. Denn Jörg Zink wird in eine Welt scheiternder Träume hineingeboren, und es gehört allerhand Trotz dazu, sie trotz allem als eine lebensfreundliche zu begreifen. Jedenfalls war mir das Trauma, das der Tod meiner Mutter in meiner Kindheit mir zugefügt hat, lebenslang der Quellort für alles, was wirklich aus mir selbst kam an Gedanken und an Kräften. Auch meine ich, sie habe sozusagen in meiner Seele ihr Lebenswerk niedergelegt, das ihr und den Freunden auf jenem Hof am Herzen gelegen hat, und zwar so, dass es mich mitbestimmt hat schon in Zeiten, in denen ich über das Werk meiner Eltern noch so gut wie nichts wusste. Ich war sicher fünfunddreißig oder vierzig Jahre alt, als ich zum ersten Mal Menschen begegnete, die mit meinen Eltern gelebt und gearbeitet hatten, und war damals doch schon selbst auf ähnlichen Wegen.3 Mit 40 Jahren war er schon längst unter denjenigen, die Widerstand leisteten gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, die sich Sorgen machten über die ungeheure Umweltzerstörung, die sich anzubahnen begann, und die nach neuen Bildern für den Glauben suchten.
Wer waren diese Eltern, die Jörg Zink zwar aus der direkten Erinnerung, doch nicht aus seinem Leben und nicht aus seinen eigenen Träumen schwanden, als sie 1925 und 1926 an Schwindsucht, an Hunger, an Auszehrung starben, für einen Traum, für einen Glauben an eine machbare bessere, christlichere, gotterfülltere Welt? Maria war wohl so etwas wie der Mittelpunkt dieser kleinen Gemeinschaft gewesen. Sie war ausgebildete Kinderpflegerin. Es war vor allem ihr leidenschaftlicher Glaube gewesen, der die Gemeinschaft zusammengehalten hat, so erzählte man es später. Max war ein Wandervogel, gelernter Gärtner, hatte mit dem Gedanken gespielt, Mönch zu werden, sogar Kartäuser. Die Liebe ließ ihn die Pläne ändern. Statt ins Kloster zu gehen, gründete er mit Maria eine andere Form des gemeinschaftlichen christlichen Lebens – und bekam drei Kinder, drei Jungen. Gerhard, drei Jahre älter als Jörg, der später in Russland schwer verwundet wurde, mit dem Jörg nach dem Krieg ein gemeinsames Dachzimmer in Tübingen bewohnte und der schließlich als Ornithologe in Radolfzell am Bodensee arbeitete. Friedrich, ein Jahr älter als Jörg, der im Krieg lange hoffen durfte, als Vorstand einer Kleiderkammer nicht eingezogen zu werden, und der kurz vor Kriegsende doch an die Front musste und dort fiel. Und schließlich Georg – von Kindheit an genannt Jörg.
Ein Foto zeigt die junge Familie, nur wenige Monate vor dem Tod der Mutter. Wie lebendig sie aussehen, die beiden Eltern Zink, voller Kraft, eigensinnig, mit starkem Blick und leuchtenden Augen. Doch, wie ihr Sohn später schreiben wird, manche Wege lassen sich eben nicht auf dieser Erde zu Ende gehen, und das hatte in diesem Fall sehr profane Gründe. Max war Gärtner, kein Bauer. Er machte Fehler bei der Bewirtschaftung des kleinen Geländes. Dazu kam, dass die jungen Leute, die sich anders kleideten, anders redeten, anders lebten, misstrauisch beäugt wurden. Sie wurden auf den Märkten boykottiert. Was sie nicht davon abhielt, weiter zu träumen, und auch für andere mitzuträumen. Der Habertshof wurde Station für traumatisierte Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg. Und während der Hunger in den Zimmern wohnte, verteilte man doch, was man hatte, zugleich an verlassene Kriegskinder, für die man sogar ein eigenes Haus einrichtete.
Einige Monate vor dem Tod der Mutter. Vater Max, Mutter Maria und die drei Söhne Gerhard, Friedrich und Jörg.
Nach fünf Jahren war der Traum vorbei. Und bevor er später, viel später selbst einen Pferde- und Spielhof für Kinder und Jugendliche gründen wird, selbst für Frieden und eine andere Art des Umgangs mit der Welt streiten wird, wird für das kleine Kind Jörg erst einmal die Heimatlosigkeit zum neuen Zuhause.
Was ich außer der romantischen Verträumtheit meines Vaters, der ein Wandervogel war und der als gelernter Gärtner so hart zu arbeiten wusste, mitgenommen habe auf meinen langen Weg, war der wagemutige Glaube meiner Mutter, die ihr Leben dafür hingab, dass etwas Konkretes geschehen konnte nach den Weisungen des Mannes aus Nazareth. Und was mich von beiden her begleitet hat, war das Wagnis eines Wissens, dass es Wanderwege gibt, die nicht zu Ende gehen, jedenfalls nicht auf dieser Erde. Wege, die alles feste Land zurücklassen und über das Meer gehen, auf ein großes Ziel zu, als führten sie über sicheren Grund.4
Nach dem Tod der Mutter 1925 lebte Jörg zunächst wochen- und monatsweise bei Großeltern, Tanten und sogar eine Zeitlang in einem Kinderheim, mehrere Monate in der Schweiz, ein halbes Jahr bei seinen Großeltern mütterlicherseits in Wangen im Allgäu. Bis sein Vater Max im Frühjahr 1926 in Stuttgart eine neue Frau gefunden hatte. Martha Mahle stammte aus einer Großindustriellen-Familie und hatte selbst schon einen Sohn, Hans-Theodor, der später nach Amerika auswandern sollte. Max holte seine drei Kinder zurück nach Stuttgart, in der Hoffnung, nun ein neues Leben beginnen zu können. Doch hatte auch er die Tuberkulose in sich und starb plötzlich und unerwartet sechs Wochen nach der Hochzeit. 1927 zog Jörg Zinks zweite Mutter Martha Zink-Mahle mit den Kindern – drei fremden und einem eigenen – nach Ulm.
Jörg wohnte nun in einem winzigen Reihenhaus mit einem schmalen Nutzgarten, nur das kleine Wohnzimmer konnte geheizt werden. Martha Zink-Mahle hatte sich gegen die Pläne der Verwandtschaft, die drei Geschwister aufzuteilen, durchgesetzt und die Last auf sich genommen, als alleinerziehende Frau sowohl das Geld ins Haus zu bringen als auch alle vier Kinder großzuziehen. Eine Unterstützung durch ihre Familie hatte sie selbstbewusst abgelehnt. Sie wollte ein selbstbestimmtes Leben führen, das sie nicht dem Diktat einer reichen Familie unterordnen wollte. Martha Zink-Mahle arbeitete als Lehrerin und bildete sich nebenbei noch in Psychagogik weiter. Den Haushalt besorgte lebenslang eine Freundin, Hanna Brand, die alle »Tante Hanna« nannten. Es fehlte an allen Ecken und Enden, die Jungen hungerten oft. Die Brotscheiben wurden in der Sonne getrocknet, damit sie besser sättigten. In der Freizeit mussten die Kinder barfuß laufen, um die Sohlen der Schuhe zu schonen. Später, als sie größer wurden, arbeiteten sie während der Ferien in Ulmer Handwerksbetrieben oder Fabriken, um sich etwas Taschengeld zu verdienen.
Martha Zink-Mahle war mit vielen interessanten Leuten befreundet und mit eigensinnig denkenden Christen vernetzt, hatte ihre eigene Meinung und Mut und hat auch sehr deutliche Worte gegen Hitler und die Nationalsozialisten gefunden, weshalb sie mehrmals zum »Ortsgruppenleiter« der Nationalsozialisten vorgeladen wurde. Sie hat uns unentwegt, auch als wir sie noch nicht so richtig verstanden, erklärt, warum eine Ideologie in der Politik ein Unglück ist5, erinnert sich Jörg Zink. Er lässt, wenn er später von ihr spricht, zwar nichts auf sie kommen, aber ihren Erziehungsstil bezeichnet er im weiten Rückblick diplomatisch als »nicht dem entsprechend, was wir heute eine sinnvolle Pädagogik nennen«. Eine Autorität ist sie ihm nicht geworden, geschweige denn, dass er bei ihr eine Heimat gefunden hätte. Erst als junger Erwachsener, während des Krieges, war sie ihm in ihren Briefen ein wichtiges Gegenüber.
Ich erinnere mich, dass ich mich in jenen frühen Jahren hart entschloss, niemandem fügsam zu sein. Niemand sollte mit mir tun können, was er wollte, niemand mit mir fertig werden.6 Jörg Zink fügt hinzu, dass er wohl als unhandliches, trotziges, eigensinniges Kind gegolten habe. Doch eines hat seine neue Mutter diesem unhandlichen Kind gelassen: seine Freiheit. Und so beginnt Jörg, sich in dieser Freiheit eine neue Heimat zu suchen und eine neue Mutter, Mutter Erde. Ich habe meine Mutter nie in einem Grab gesucht, freilich auch nicht im »Himmel«, wohl aber überall, wo »Erde« war.7 Von Ulm aus ist es nicht weit auf die Schwäbische Alb, zu den Hochwäldern, Felsen, Seen, Bächen, Höhlen und Wacholderheiden des Berglandes. Schon als er sieben Jahre alt ist, geht Jörg oft in ein trockenes Albtal, das Schammertal, an dessen Ende an einem Heidehang ein Brunnen war, und er verbringt Stunden allein mit dem Getier, das dort lebt.8 Mit zehn Jahren beginnt er, für Tage, in den Ferien für Wochen, allein in den Wäldern zu hausen, oft begleitet ihn sein Stiefbruder. Die beiden anderen Brüder sind mittlerweile außer Haus, einer ist im Internat, der andere macht eine Lehre. Jörg schläft auf trockenem Laub in Höhlen, brät sich Kartoffeln in der heißen Asche, spricht mit Tieren und Pflanzen und träumt. Nichts, so sagt er später immer wieder, hat ihn so sehr geprägt wie diese wilde Landschaft voller Geheimnisse. Die Welt, die er sich mit dem Indianerschild auf Abenteuer aus erobert, ist eine Welt ohne Menschen, eine Welt, die ihm lebendiger scheint als die der Städte. Diese Welt hat ihn unabhängig gemacht. Sie ist seine, und er ist im Gespräch mit ihr – und ist es wohl zeitlebens auch geblieben. Er schreibt: 9verwunscheneneinsame Tage und Nächteeines der schweren Fischerboote, die man mit der Stange 10