GREGOR AUENHAMMER
NICHT AUF DIE GRÖSSE KOMMT ES AN
GREGOR AUENHAMMER
GROßARTIGES UND UNVERMUTETES
AUS ÖSTERREICH
Mit einer Vorbemerkung von André Heller
METROVERLAG
Bildnachweis:
Covermotiv: Mokkaservice von Josef Hoffmann/Augarten Porzellan, Atelier Rome (27), Presseabteilung des Kunsthaus Bregenz/Markus Treffer (41), Gerhard Trumler (53), DAPD/AP/Jay Nemeth (S. 89), Kunsthaus Zürich (167), Schütz Fine Art (203), Matthias Cremer (207).
Alle übrigen Bilder stammen aus den Archiven des Metroverlages und von Gregor Auenhammer. Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt und bedankt sich für die Zurverfügungstellung der Bilder. Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten Abbildungen nicht ausfindig gemacht werden, bittet wir Sie, dem Verlag bestehende Ansprüche zu melden.
© 2013 Metroverlag
Verlagsbüro W. GmbH
www.metroverlag.at
Alle Rechte vorbehalten
Druck: CPI Moravia
ISBN 978-3-99300-143-8
INHALT
Vorbemerkung von André Heller
Ein nachdenkliches Intro
La Baguette française
Marie Antoinette’s geheimnisvolle Champagnerschalen
Die Friedenstaube im goldenen Käfig
Ohne Kopf durch die Wand
Manifest des Friedens
Freiheit, Gleichheit & Brüderlichkeit
Nackte, soweit der Horizont reicht …
Ein vergessener Pionier
Volk begnadet für die Schönheit
Peggy Guggenheims Dekolleté
Der Stachel im Fleisch selbstzufriedener Saturiertheit
Der Onkel aus Amerika
Alma – a Show Biz zum Himmel
Fang das Licht!
Ein Schiff wird kommen. Oder: Die Geschichte eines Försters ohne Wald
Kein Tod auf dem Nil
Die Cyber-Hebamme vom Planeten Uterus
Operation Stratos
Obsession der Niedertracht
Ich fliege übers Eismeer …
Pikantes Diebesgut: Briefe von Kaiser Franz Joseph an seine heimliche Geliebte
Das Verlangen
Glaube, Liebe, Hoffnung
Gartenzwergsprengung. Oder: Wie im Humus der Wörter Bilder geboren werden und umgekehrt
Oh Palmenbaum, oh Palmenbaum
Sargmuseum, Sargfabrik, Sargnagel & der Zirkus der Welt
Zwei Zauberwürfel im All
»Innsbruck, wir haben kein Problem«
»Trompetender Putto« von der NASA Gnaden
Die Rose von Jericho
Es gilt die Unmutsverschuldung!
Die Federkrone des Moctezuma
Des Kaisers letzte Kleider – Viva Mexiko!
E la nave va
Winnetous Locke
Exotisch-exzentrisch-expressiver Solitär
Boboville
Gullivers Wien-Besuch
Fremdschämen!
Im Zen-Garten zu Mödling
Am Fujiyama blüht kein Edelweiß!
Im Land des Lächelns
Wenn der Enzian blüht
Das Croissant
Jausenzeit (Ein Dramolett)
Wien–Shanghai–Berkeley & retour ...
»Go East!« – aus Liebe zur Kunst
Hasta la vista, G’frasta …
Transformation zwischen Tuchlauben und Hollywoods Vanilla Sky
Die Mutter aller Schwestern
Inspiration, Intuition & Illusion
Kaleidoskop theatralischer Leidenschaft
Aus der Mitte des Achten
Geschichten aus dem Schilderwald. Die Keller-Gasse
Exhumierung zwecks Ehrerbietung
Im Schatten der Pyramiden von Gizeh
Die Präsenz der Absenz
Vertrieben und verblieben
Kein Wiener Wunder
Bataillon Brigardier Blauzahns Bademantel
Der kleine Unterschied
DÖF (Deutsch-österreichische Freindschaft)
»Djesus Uncrossed«
Verduner Totenkopfuhr
Diana auf dem Kentauren
Nachtwache mit Florence Nightingale
11 2 13 – Innehalten
»Und wenn der Komet kommt …«
WWW – Quo vadis?
Das Märchen der chinesischen Prinzessin, die in Schloss Schönbrunn heiraten wollte
Ein nachdenkliches Extro
Dank
VORBEMERKUNG
VON ANDRÉ HELLER
Wie einer, der sich im Jahrhundert geirrt hat, wirkt er, der schlaksige, elegante, höflichkeitssüchtige Herr Auenhammer. Man würde sich nicht wundern, wenn er gerade von einer Teegesellschaft bei Hugo von Hofmannsthal in Rodaun käme. Der Leopold von Andrian ist auch geladen gewesen und des Hausherren Libretto für die »Ariadne auf Naxos« des Richard Strauss wurde hingebungsvoll diskutiert.
Der Herr Auenhammer ist von Beruf ein Gold- und Katzengoldgräber, gelegentlich auch Purpurmiststierler. Sein Talent hat ihm für die Tiefen der österreichischen Verwerfungen des Außerseiterischen, des Verschrobenen, des Gegen-den-Strich-Gebürsteten Schürfrechte verliehen. Allen zu Unrecht Vergessenen oder Unterschätzten gehört sein Interesse, das sich in Sonderfällen bis zur Anbetung steigern kann. Menschen wie Auenhammer sind rar in einer Wirklichkeit, die tragischerweise tagtäglich und allnächtlich Hunderttausende dazu anregt, Häme, Neid, Niedertracht, Entmutigung und Aggression auf ihre grauen Fahnen zu heften.
Der Herr Auenhammer denkt und schreibt nicht nur liebevoll über ungewöhnliche Verstorbene, sondern auch über lebende, ihm oft nicht persönlich bekannte Personen. Ich hoffe inständig, dass er einen ebenso liebevollen Zugang zu seinem eigenen wahren Selbst hat. (Allzu viele sterben ja, ohne sich jemals mit sich selbst bekannt, geschweige denn vertraut gemacht zu haben.)
Ich empfehle jedenfalls, diese Sammlung von Pioniertaten, Meschuggasen und biografischen Schlaglichtern zu lesen. Man geht nämlich wohlgestimmter und klüger aus Auenhammer’- schen Büchern heraus, als man in sie hineinging.
André Heller, Wien, 25. Juni 2013
EIN NACHDENKLICHES INTRO
Der Zweifel ist eine Hommage an die Hoffnung. Was ist typisch österreichisch? Was untypisch? Was wird wirklich als typisch österreichisch empfunden? Was macht Österreich wirklich aus? Was stellt es dar, dieses zwischen Weltkulturerbe und Zukunftsperspektiven, zwischen Tradition und Moderne, zwischen imperialer Pracht, verklärendem Charme désolé und ständiger Restauration pendelnde Land? Aus der Perspektive der Österreicher selbst sowie – selbstverständlich – aus der Sicht ausländischer Beobachter. Was entspricht nur einem gut verkauften Klischee, was der Realität? Spiegelungen, Gedankenskizzen und Collagen benennen eine intensive Suche nach Identität, nach objektiver Wahrnehmung. Was ist Norm? Und was entspricht nur persönlichen Empfindungen und Befindlichkeiten? Die Verdichtung des scheinbar Unzusammenhängenden eröffnet im Endeffekt die Wahrhaftigkeit des Seins für jeden Einzelnen.
Im Zweifel liegt eine Hommage an die Hoffnung. Was ist wirklich typisch österreichisch? Was positiv, was negativ? Welche Dinge haben Wert? Welche Relevanz? Welche Bestand? Historisch, kulturell, gesellschaftlich, politisch, intellektuell, wissenschaftlich. Im Zweifel liegt eine Hommage an die Hoffnung. Ob man sich aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Gesamtsituation in innere Emigration oder ins Exil begibt, obliegt oft einer Mischung aus Wirtschaftlichkeit, Mentalität und der Tiefe der persönlichen Verwurzelung.
Vor gut einem Jahr habe ich mich auf eine Expedition begeben, das Typische an Österreich und den Österreichern und Österreicherinnen zu entdecken, und mich auf die Suche nach dem unerwarteten, außergewöhnlichen Österreich gemacht. Dabei bin ich auf Persönlichkeiten gestoßen, die alle Klischees überwanden und Großartiges hervorbrachten. Das Ergebnis ist eine lustvolle Auseinandersetzung mit dem typisch Untypischen in und aus Österreich.
Hätten Sie etwa gewusst, dass die Rezepte der beiden beliebtesten, identitätsstiftenden kulinarischen Genüsse der Franzosen – Baguette und Croissant – von einem Wiener Bäcker erfunden wurden? Oder dass Champagnerschalen den Brüsten Marie Antoinettes ihre Form verdanken? Auf der Suche nach der Seele des Landes reifte zunehmend der Gedanke, dass es eigentlich beinahe unmöglich ist, all das darzustellen und zu hinterfragen, ohne das austriakische Phänomen des zwischen Überschätzung und Minderwertigkeit schwankenden Selbstverständnisses zu erklären. Das gesunde Selbst- bewusstsein, das heute zu Recht vorhanden ist, resultiert aus der Melange einer ehemals imperialen Großmacht – mit Hervorragendem in Kunst und Kultur – und der heute relativierten Größe und Bedeutung.
Herausgekommen ist eine Sammlung alltäglicher, aber auch exzentrischer Exkursionen, die Österreich greifbar, nie aber begreifbar macht. Die Kapitel erzählen Geschichte, Geschichten und G’schichteln, Schnurren, Wahrheiten und Weisheiten, Mutmaßungen und Anmaßungen.
Zahlreiche Personen verlegen ihren Lebensmittelpunkt nach Österreich, leben, lieben und arbeiten hier. Verlieben sich in Land und Leute, in Kultur, Tradition, Geschichte und in eine Zukunft voller Perspektiven, voller Möglichkeiten. Viele Österreicher ziehen in die Welt, mit einem Rucksack an Wissen und Mut, einem Koffer voll Verve und Empathie. Schranken und Grenzen negierend, ergibt sich so ein symbiotisches Wechselspiel, das Herausragendes nicht nur zulässt, sondern sogar fördert. In der Überwindung, der Ausweitung des Horizonts steckt oft Befreiung. Ein Überschreiten, wider den Stillstand.
Ich lade Sie ein zu einer Tour d’Horizon, die bisweilen in eine bizarre, oft groteske Tour de Force ausarten wird. Ich lade Sie ein zu einer feuilletonistischen Reise in das Innere der Dinge sowie das Äußerliche, das wiederum das Seelenleben Österreichs preisgibt. Erwarten Sie Exzentrisches und Exzessives, Sinnliches und Übersinnliches, Erdverbundenes und Erotisches.
Erwarten Sie das Unerwartete, das Unerwartbare! Erwarten Sie Unvermutetes, Großartiges, Herausragendes. Folgen Sie mir bei meiner assoziativen Reise, die selbst vor dem Himmel nicht Halt macht. Grundsätzlich ernsthaft, teilweise zynisch, vielfach aber auch ironisch, humoristisch, respektlos und unkonventionell. In diesem Sinne ist es aber ratsam, sich besser ordentlich anzuschnallen: »Cabin Crew, are you ready for take-off?« Bringen Sie bitte Ihren Lehnstuhl in eine Ihnen angenehme Position und begleiten Sie mich auf eine Expedition an exotische Orte, zu exzentrischen Persönlichkeiten zwischen dem Äquator und den Polkappen, zwischen dem Erdmittelpunkt und der Milchstraße, auf der Suche nach der Seele des Landes – und erleben Sie gemeinsam mit mir, je weiter man sich von zu Hause Richtung Firmament begibt, die Vermessung des Horizonts als Suche nach der Seele des Lebens …
»Bon voyage!«, wünscht Ihnen Ihr
Gregor Auenhammer
PS: Ach ja, damit ich es nicht vergesse: Die Manner-Schnitten sind – trotz oder gerade wegen der vielfachen, selbstverständlich gut gemeinten Zurufe – auch diesmal nicht dabei, sorry!
LA BAGUETTE FRANÇAISE
Jedermann hat gewisse Bilder im Kopf, Klischees, mit denen er fremde Länder, deren Bevölkerung, Lebensstil, Tradition, Speisen und Sitten verbindet. Da gibt es »den Deutschen«, der Bier, Brezen, Bouletten und Eisbein völlert, da gibt es »den Italiener«, der seine Pasta genießt, seine Pizza in Rotwein ertränkt und danach steinharte Cantuccini im Espresso oder Caffè Latte aufweicht, da gibt es »den Amerikaner«, der entweder haufenweise Hamburger und Pommes in sich schaufelt oder aber sich mit Salatblättern kasteit, um dem Körperkult der »ewigen Jugend« zu frönen. Und mit Savoir-vivre verbindet man »den klassischen Franzosen«, der mit der Leichtigkeit des Seins beschwingt über einen Boulevard schlendert, ein Béret auf dem Kopf, eine Zigarette im Mundwinkel und eine Flasche Rotwein und ein Baguette unter dem Arm. Oder »die moderne Französin«, die – stets gehetzt, dennoch kokett und un peu frivol – des Abends, nach vollbrachtem Tagewerk, Tag für Tag leicht unwillig, aber eben der Tradition entsprechend, ein Abendessen für die Familie auf den Tisch zaubert.
Was auch immer es zu essen gibt, auf den Tisch gehört in Frankreich immer ein Baguette. Zur Vorspeise, zum Hauptgang oder als Dessert, zu Käse und Rotwein. Man könnte sagen, es ist Teil des französischen, des mythenumwobenen, sagenhaften Lebensstils, der nationalen Identität. Es ist eines der klassischen Nationalsymbole der Franzosen.
Allerdings, und das wissen nur wenige, ist das Baguette die Erfindung eines Wiener Bäckers. Nach dem Wiener Kongress, exactement 1838, war – gemäß französischer Historiographie – ein österreichischer Offizier nach Paris übersiedelt, hatte in der Rue de Richelieu No. 92 die »Boulangerie Viennoise« gegründet, sich als Unternehmer der Kunst des Backens verschrieben und in phänomenaler Art und Weise reüssiert. Neben seiner Mission, dem Import, der Vermittlung von Viennoiserien, diverser kulinarischer Spezereien und Patisserien, und unter Verwendung eines neuen Backofens, dem so genannten Dampf- ofen, entwickelte August Zang (1807–1888) die ideale Rezeptur und Form des Weißbrotes namens »Baguette«.
Denn bekannterweise ist Weißbrot nicht gleich Weißbrot – und schon gar nicht in Frankreich. Neben dem Baguette existieren in einer ordentlichen, traditionellen französischen Boulangerie Gâche, Brioche und Pain au lait, alternativ auch Pain Poilâne oder Pain de Campagne. Als Baguette wird dabei nur eine der vielen Sorten bezeichnet, die ungefähr 250 bis 300 Gramm wiegen sollte und damit leichter sowohl als die Flûte als auch das Pain Parisien, aber schwerer als die Ficelle ist. Außer zwischen dem Gewicht und der Länge der Weißbrotstange wird auch zwischen den verschiedenen Backgraden unterschieden. Während ein Baguette ordinaire normalerweise eher wenig gebräunt ist, hat das Baguette tradition eine knusprige Kruste und ist meist auch teurer.
Aber wie kam es historisch betrachtet zur Entwicklung der französischen Baguettes? Im Mittelalter lebte das Gros der Bevölkerung auf dem Land. Es galt, große Familien zu ernähren und haltbares Hausbrot herzustellen, ob im eigenen Ofen oder im Four du village – im Ofen des Dorfes. Das Pain fait maison oder Pain de menage wog mindestens drei Kilo und reichte für ein paar Tage. Zu Beginn der Neuzeit kamen Frankreichs »Leichtbrote« auf den Markt und erfreuten sich rasch internationaler Beliebtheit. Sie waren kleiner und weicher als die rustikalen Laibe. Die besten kamen aus dem Pariser Umland, der Île-de-France. Das legendäre Pain de Gonesse etwa brachte selbst Londons Feinschmeckerkreise zum Schwärmen. Die französischen Enzyklopädisten des 17. und 18. Jahrhunderts hielten für die Nachwelt poetisch fest: »Das Brot hat ›viele Augen‹. Rund ist der mit Luftlöchern durchsetzte Laib immer noch, wenngleich sich die Kugel zur Halbkugel verflacht hat.«
Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts änderte sich die Form nachhaltig. Rein praktische Aspekte bedingten den Wandel. Auch damals schon setzte man utilitaristisch auf Effizienz. Die neue Langform wirkte sich günstig auf Backzeit und Backoberfläche aus. Das knusprige, längliche, an seinen Enden zugespitzte Weißbrot entstand im 18. Jahrhundert. Man nannte es Pain de luxe oder Flûte – Flöte.
Brot wurde zum Statussymbol für wohlhabende Großstädter, denn die Masse litt zu dieser Zeit unter den Auswirkungen skrupelloser Getreidespekulation. Allerorten fehlte es an Brot, 1775 brach der so genannte Mehlkrieg aus. Die Pariser stürmten die Bäckereien. Nach Missernten 1788/89 wurde die Hungersnot immer schlimmer, das Volk ging auf die Barrikaden. Die Hungersnot und das fehlende Brot kosteten König Louis XVI. und seiner Frau, der Österreicherin Marie Antoinette, letztlich den Kopf – und das im wortwörtlichen Sinne. Es war einer der Anlässe für die Französische Revolution, schließlich war der König an seiner Aufgabe, das eigene Volk zu ernähren, gescheitert.
Auch wenn es gewisse Streitigkeiten gibt – eine spezielle Art der Teigführung namens poolish verweist auf einen unbekannten Polen als Mitstreiter im Dienste der Brotschöpfung –, fest steht, dass die Ursprünge des heute als original geltenden Baguette auf das Jahr 1838 zurückgehen, als das Wiener Brot in Frankreich eingeführt wurde, ein langes Brot, hergestellt mit Bierhefe und gebacken in einem Dampfofen. Weil diese hellen Brote von der Steuer befreit waren und sich die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung in dieser Zeit änderten, verbreitete sich das Langbrot in Frankreich très, très vite – sehr, sehr schnell. Zudem wurde Milch als Zutat weggelassen, was die Kosten und damit den Verkaufspreis senkte. Das so veränderte Wiener Brot wurde zum Brot des Arbeiters, täglich frisch hergestellt, frisch gekauft und genossen.
Der Name Baguette bedeutet auf Deutsch in etwa »Stab«. »Auf die Größe kommt es an«, ist eine alte, in Frage gestellte Weisheit. Das phallische Brot mit der bekanntesten klassischen Form der Welt entstand mit den idealen Maßen: 70 Zentimeter lang, sechs Zentimeter breit, 300 Gramm schwer. Ende des 19. Jahrhunderts eroberte es den Pariser Markt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lehrte man seine Herstellung in allen französischen Städten. Dem demokratischen Impetus des österreichischen Erfinders, ganz im Sinne der Freiheit, der Brüderlichkeit und Gleichheit, folgend, wurde gesetzlich ein Höchstpreis fixiert. Eine Maßnahme, die bis heute gilt. Chapeau, Monsieur Zang.
MARIE ANTOINETTES
GEHEIMNISVOLLE
CHAMPAGNERSCHALEN
Champagner. Wohlig prickelnder Genuss. Synonym der Dekadenz und des Hedonismus. Festlichstes unter den festlichen Getränken. Feinster unter den feinsten Weinen. Prickelnd, wild, spritzig, unbändig, aufgewühlt, ungebremst, enthemmt, sprudelnd, brodelnd, sinnlich schäumend, überschäumend. Champagner, am besten, am sinnlichsten genossen aus wohlgeformten, breiten Schalen. Am feinsten verteilt sich das prickelnde Nass in offenen coupes – wie die traditionellen, klassischen Champagnerschalen im französischen Original genannt werden –, in sinnlichen Schalen in Form einer perfekten Halbkugel. Was für ein Aphrodisiakum ist es aber erst, Champagner aus zarten, fein geschliffenen, dünnen Glasschalen zu schlürfen, wenn man weiß, dass diese Schalen als Abdruck zarter, wohlgeformter Brüste einer wunderschönen, reifen, jungen Frau entstanden sind.
Wie es dazu kam? Verbrieft sind die zahlreichen Ausschweifungen der in Frankreich geherrscht habenden Bourbonen, die opulenten, kunstsinnigen, kostspieligen, sinnlich-erotischen, barocken Feste am königlichen Hof, im Schloss Versailles sowie in den Parkanlagen, den Labyrinthen und Lusthäusern der Residenzen Marly und Fontainebleau. Legendär beispielsweise des Sonnenkönigs programmatisch Plaisirs de l’ile enchantée benannte Fest am Zenit des Grand Siècle. Selbstherrlich das Selbstverständnis des Herrschers repräsentierend. Gemäß dem Leitsatz des Absolutismus »L’etat c’est moi. Der Staat bin ich«. Sowohl »le roi soleil« König Louis XIV. als auch sein ihm (aufgrund zahlreicher Todesfälle) auf den Thron nachfolgende Urenkel, Louis XV., waren bekannte und bekennende Erotomanen. Überliefert ist neben zahlreichen pikanten Ausschweifungen, frivolen Festen, unzähligen Liebschaften und Maîtressen – zu jenen zählten unter anderen sagenumwoben die Comtesse du Barry sowie die omnipräsente, einflussreiche Marquise de Pompadour – auch der berüchtigte »Hirschpark«, ein Privatbordell, das täglich mit neuen, unverbrauchten Gesichtern »bestückt« wurde, um den umtriebigen Platzhirschen nicht zu langweilen.
Ganz im Sinne der seinerzeit in Europa üblichen »Entente Royale«, in der Tradition austriakischer Heiratspolitik wurde unter der Ägide von Maria Theresia und Louis XV. die Allianz zwischen Österreich und Frankreich durch eine Hochzeit besiegelt. Anno 1770, im Alter von 14 Jahren, wurde das fünfzehnte Kind Maria Theresias mit dem ebenfalls minderjährigen Dauphin vermählt. Unter Zeitdruck, da alle direkten Thronfolger – sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder – der grassierenden Tuberkulose zum Opfer gefallen waren. Im Gegensatz zu seinen der Sinnlichkeit verschriebenen Vorfahren begab sich der designierte Thronfolger, der eher scheue und schamhafte Dauphin Louis Auguste (später Louis XVI.), lieber rehäugig auf die Pirsch nach Wildbret anstatt zweibeinigem Freiwild nachzujagen, geschweige denn im Ehebett seiner dynastisch kalkulierten Ehepflicht nachzukommen. So kam es, dass ausgerechnet die aus dem konservativen Haus der Habsburger kommende Marie Antoinette ruhmreich in die erotischen Fußstapfen der Bourbonen treten sollte.
Glaubt man dem nun schon seit Jahrhunderten hinter vorgehaltener Hand auf den Höfen Europas tradierten geheimnisvollen Mythos, stand nämlich ihr prachtvolles Paar weiblicher Brüste einst Modell und Pate für die ideale Form der Schale, um Champagner zu genießen. Im Pariser Porzellanmuseum »Sèvres – Cité de la céramique« befinden sich heute noch die originalen Jattes tétons, die »Brustschalen« aus dem Privatbesitz der letzten Königin von Frankreich, Marie Antoinette. Verwendet wurden diese nach dem Abdruck ihrer Brüste geformten Schalen zum Genuss von Champagner.
Man hatte festgestellt, dass die Delikatesse des Champagners den Hautgout, den Höhepunkt des Genusses erreicht, wenn er nicht aus engen Flöten oder schmalen Gläsern getrunken wird, sondern aus breiteren Schalen. Wie delikat aber ist der Genuss erst, wenn man sich bewusst macht, dass die Schalen, aus denen man das prickelnde Getränk genießt, den perfekten Rundungen einer schönen, jungen Frau entspringen. Welch Steigerung des Verlangens, welch Höhepunkt, fast ein petite mort, ein »kleiner Tod« – wie der Orgasmus in jener Epoche des dekadent-ausschweifenden Hedonismus exquisit verbrämt, verschämt genannt wurde.
Aus welcher Laune oder vielleicht aus welch libidinösem Spiel heraus die Idee geboren wurde, ein Glas als Abdruck weiblicher Brüste zu formen, kann heute nur Mutmaßungen anheimfallen. Erotisierend aber ist allein der Gedanke daran. Vorstellbar ist es durchaus, denkt man an die lüsterne Frivolität, den enthemmten Hedonismus, die schamlose Grenzenlosigkeit am französischen Hofe der sich als Zentrum des Universums gerierenden Herrscher. Au contraire zu seinen Lustschlössern, pikanten Labyrinthen, mit entblößten Elfen und Faunen verzierten Gemächern und becircenden Spiegelkabinetten wirken Arthur Schnitzlers Traumnovellen-Fantasien wie Nonnenklöster, Giacomo Casanovas Liebesspiel nahezu mechanisch, Hugh Hefners Playboy-Mansion inklusive milchig trüber Liebesgrotte beinahe bieder und jeder im globalen Dorf-Porn-Chic verortete Swinger-Club als Hort kontemplativer Beschaulichkeit. Allein Stanley Kubricks fantastische Visualisierung orgiastischen Treibens vermag in die Nähe dessen zu kommen, was man da an pikanten, delikaten Frivolitäten ersonnen – und gemäß den historischen Überlieferungen realisiert hat.
Ein in Champagnerlaune entstandenes Abbild der Natur – um den blanken Busen auch in Gesellschaft zu genießen, wohl wissend der Herkunft – ist in diesem Umfeld durchaus vorstellbar. Welch diabolisches Vergnügen musste es für den König und die eingeweihte Entourage gewesen sein, in Anwesenheit des Kardinals, des Papstes oder anderer säkularer, profaner, weltlicher und geistlicher Würdenträger, an den Schalen zu nippen. Vor versammelter Gesellschaft schwärmte Louis XV. von Marie Antoinettes Busen, selbst Diplomaten machte er auf die üppigen Rundungen der Thronfolgerin aufmerksam. Die coupes waren ein sublimes Geheimnis. Eines, das man naturgemäß auch ganz beiläufig verbreitete. Sonst wäre ein Geheimnis langweilig. Damals wie heute. Wiewohl auch die Fama über angeblich lesbische Neigungen der kollektiv Angebeteten Teil der orgiastisch-dynastischen Liebes-, Ränke- und Intrigenspiele war.
Vielleicht aber entstanden die Champagnerschalen als subtile Provokation. Denn erstens war es einer Dauphine Marie Antoinette nicht würdig, vom reichlich beschenkten Louis Auguste ständig zurückgewiesen zu werden, hatte er doch mit der österreichischen Prinzessin eine wunderschöne, grazile, junge Frau geehelicht. Zweitens war es wohl auch nicht nötig, wenngleich auch Usance, ständig öffentlich gedemütigt zu werden, indem sie gerade in jungen Jahren des Öfteren am Hof beim Ankleiden willkürlich unbekleidet, nackt den gierigen Blicken aller preisgegeben war oder auch vor dem versammelten Hof gebären musste. Als Reaktion auf die Prüderie und das bigotte Gehabe der Höflinge gab sie sich zunehmend Vergnügungen hin, feierte ausschweifende Feste mit einer intimen Entourage. Ausschweifend und in die Ferne schweifend verfiel sie den Versuchungen. Indem sie bis in die Morgenstunden andauernde Maskenbälle veranstaltete, versuchte sie, ihr inneres Unglück – die Ehe war alles andere als eine »Entente Cordiale« – in zur Schau gestelltem Reichtum, Mode, Glücksspiel, Delikatessen und Unmengen von Champagner zu ertränken. Es wäre nicht das erste Mal, dass beim Kartenspiel Kleidung oder der Körper selbst anstelle eines monetären Einsatzes zum Tragen käme. Zudem ist bekannterweise die Intrige das Spiel der Könige. Die delikate Frivolität, die Idee der »maßstabsgetreuen« coupes kann angesichts der Korsetts und bis zu den Brustwarzen reichenden Dekolletés also leicht zustande gekommen sein. Und dass die als Maria Antonia Josepha Johanna nach Paris verheiratete Marie Antoinette mit zahllosen Affären beiderlei Geschlechts kein Kind von Traurigkeit darstellte – und hiermit ihren männlichen Vorgängern am Thron nicht nur in puncto Verschwendungssucht und Vorliebe für Extravaganzen und preziöse Mode durchaus ebenbürtig scheint –, stellt realiter genauso wenig ein Geheimnis dar wie die Rundungen ihres wohlgeformten Körpers.
Sieht man von den zahlreichen – entgegen der eigentlich gebotenen Contenance und der Etikette – erratischen Notizen und historiografischen Hinweisen ab, existiert für die geheimnisvollen, von Mythen umrankten Champagnerschalen bis heute leider kein dezidierter, kein greifbarer Beweis, etwa in Form eines der Nachwelt erhaltenen Gipsabdruckes. Als Indiz für die Richtigkeit der Fama von der idealen Form der Champagnerschalen als Abbild der juvenil-royalen Brüste aber gelten zwei heute noch erhaltene, exakt dieselbe Form und Dimension aufweisende Milchschüsseln. Die beiden im Pariser Museum für Keramik erhaltenen Jattes tétons sind im Zentrum der Halbkugel sogar erhaben, dekuvrieren leicht erigierte Nippel. Auf Wunsch der Königin selbst stellte die Porzellanmanufaktur Sèvres einen Satz busenförmiger Schalen her, die – höchstwahrscheinlich – nach ihren Brüsten gestaltet wurden. Im Gegensatz zu den später in Serie hergestellten coupes hatten die Schalen keinen Fuß, sondern ein Podest – ebenfalls aus Keramik – in der Form eines Dreieckes, verziert mit Schafsköpfen.
Die Symbolik der Schafsköpfe soll, Gerüchten zufolge, eine weitere Anspielung sein. So war die aus dem biederen Österreich kommende Marie Antoinette eine der ersten, die dafür eintrat, selber, anstelle einer Amme, zu stillen. Sie selbst tat dies auch – zudem öffentlich. Was den Ruhm und die Berühmtheit ihrer vielgerühmten Brüste noch erhöhte. Offiziell war man selbstverständlich schockiert ob der Vulgarität der ordinären Monarchin, der Klatsch bei Hof aber besagte das Gegenteil. Versailles lag ihr zu Füßen.
Faktum ist, dass die coupes, die speziell für den Genuss von Champagner – der in jenen Tagen seinen Siegeszug hielt – designt wurden, eindeutig die Form einer Halbkugel haben, einer Kuppel gleich. Wie pries doch einst Roberto Benigni als »piccolo diavolo« in anarchischer Art und Weise, Luzifer personifizierend, die angebetete Weiblichkeit? Als »cuppoli grande – come la Cathedrale di Milano«: Kuppeln, so groß wie jene der Kathedrale von Mailand. Eigentlich hätte es die Kuppel des Petersdoms sein müssen, aber das wäre doch zu viel – selbst im Land des ewig lüsternen Cavaliere an der korrupten Regierungsspitze.
Als Designer, offenbar jener Glückliche, der den Abdruck von Marie Antoinettes Brüsten nehmen durfte, ist Jean-Jacques Lagrenée überliefert. Die heute im Pariser Musée de la céramique erhaltenen Jattes tètons sind mit 1788 datiert. Kurz danach brach die Französische Revolution aus, welcher auch Marie Antoinette zum Opfer fiel und ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – den Kopf kostete. Ihre beiden wohlgeformten Brüste hingegen bleiben originär in Erinnerung.
PS: Indirekt kann man auch eine der berühmten erotisierenden Performances der Burlesque-Tänzerin Dita von Teese als Hommage an Marie Antoinette interpretieren. Schließlich räkelt sich die einer romantisierenden Vintage-Nostalgie huldigende Diva mit ihrem Porzellan-Teint à la Rokoko langsam und höchst sinnlich in einem überdimensionalen Champagnerkelch, um sich letztendlich diskret indiskret bis aufs letzte Feigenblatt zu entblättern.
DIE FRIEDENSTAUBE
IM GOLDENEN KÄFIG
Er gehört zu den mystischen Orten Wiens, die man – flaniert man einfach ziel- und planlos durch die Stadt, um Gedanken zu ordnen, um den Kopf auszulüften von Mühsal und Unbill des Alltags – des Öfteren gerne aufsucht. Es ist aber weniger die filigrane Silhouette des erblühenden Mädchens mit den perfekt geformten Brüsten, deren Hof zart knospend sich verjüngt, die einen magisch anzieht, sondern vielmehr die geheimnisvolle Aura, die das in der Innenstadt verortete Wesen umgibt.
Eine aus Bronze gefertigte lebensgroße Statue befindet sich in einem antiken Atrien nachempfundenen Innenhof in einem der ältesten Viertel Wiens. Ein Lichtkegel umschließt sie, warm und freundlich. Korreliert wundersam mit der zwischen altrosa und terrakottafarben changierenden Fassade. Spiegelt sich in dem kleinen Wasserbecken, das sie umringt. Maître Leherb hat die Skulptur im Jahr 1979 für das revitalisierte Biedermeier-Ensemble gestaltet – direkt an der Querung des Franziskanerplatzes zur Weihburggasse. Ihre Zartheit und Anmut erfüllt den Raum perfekt.
Betritt man die kleine Passage von der Kärntnerstraße kommend, Richtung Ring wandelnd, kurz vor dem sagenumwobenen Kaiserbründl, vor der imaginär eine alte Zeit heraufbeschwörenden Vermischten Warenhandlung und vor der Galerie des Doyens austriakischer Fotografie Erich Lessing, erkennt man in einem sanften Lichtkegel die fragile Gestalt. Geht man den schmalen Gang des Biedermeier-Gebäudes entlang, passiert man eine Reihe pittoresker Auffälligkeiten. Ein Paar anmutig ineinander verschlungener Beine säumt einen Türrahmen. Eine überdimensionale weiße Muschel mit einem im Zentrum gelagerten Auge begrüßt den Besucher, und ein Jugendstil-Gatter aus Gusseisen umrankt wie Efeu das Entree. Im Zentrum des Lichthofs ruht die holde Weiblichkeit. Erratisch, subtil erotisch. Ihr Kopf ist bekränzt. Nicht mit einer Dornenkrone, eher mit einem stilisierten Weiden- oder Myrtenkranz. Dennoch hat er etwas Martialisches an sich. Eine Hand der schmalen Figur aber entwächst nicht der Schulter, sondern entspringt der Bauchdecke, die Gitterstäbe eines Käfigs darstellen. Auf der aus dem Käfig ragenden Hand sitzt eine Taube, im Augenblick des Abflugs festgehalten. Zart, unbeholfen, zögerlich flatternd.
In einer Fluchtlinie befinden sich der gesenkte Kopf des Mädchens, ihre Hand sowie der Kopf der in Freiheit entlassenen Taube. Unterdrückt hingegen ist die unter dem Fuß verborgene Linke des Mädchens. Die Hand ist geöffnet, unterjocht, schmerzumwunden. Rufend. Lautlos schreiend. Analog zu Prometheus. Symbol für eine weibliche Version Jesu. Synonym für die Überwindung jeglicher Unterdrückung durch Schönheit, durch Anmut und Grazie. »Mit Schönheit wird die Welt errettet«, hat der göttliche Marc Almond singend einmal voller Pathos die Götter unseres Universums beschworen.
Trotz des Daseins als Torso, trotz der geknechteten, abgetrennten Linken wohnt der Figurine etwas Befreiendes, etwas Ätherisches, Anmutiges inne. Etwas Beruhigendes, Kontemplatives. Etwas Sinnliches, Schönes, Erotisierendes. Auch etwas Tröstliches, weil im Endeffekt der surrealen Utopie in letzter Konsequenz doch Freiheit und Frieden die Oberhand behalten.
Der 1933 in Wien geborene Helmut Leherbauer beschäftigte sich zeit seines Lebens mit dem Dasein des Menschen. Zentrales Motiv, das er in unzähligen Variationen seiner Gemälde und Fayencen darstellte, war die eigene Person – alternierend mit der Figur seiner Frau, der Malerin Lotte Profohs. Leherb hatte bei Albert Paris Gütersloh studiert und gemeinsam mit dem Lehrmeister – als Spiritus Rector – und Studienkollegen wie Anton Lehmden, Rudolf Hausner, Wolfgang Hutter, Ernst Fuchs und Arik Brauer die Kunstrichtung der Wiener Schule des Phantastischen Realismus gegründet. Ein wesentliches Motiv für die von Johann Muschik gefundene Bezeichnung des Phantastischen Realismus lag im Übrigen zunächst darin, den von der stalinistischen Kulturdoktrin geschätzten Begriff des Realismus in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig den in diesem politischen Bereich unwillkommenen Ausdruck Surrealismus zu vermeiden. Die Malweise ist nicht abstrahierend oder abstrakt und orientiert sich an der technischen Perfektion der Alten Meister, die Motive sind fantastisch-unwirkliche Kreationen, manchmal mit schockierenden, apokalyptischen Inhalten, oft mit einer Orientierung am Manierismus.
Obwohl zu den drei Zentralgestirnen der Bewegung gehörend, wandte sich Maître Leherb zunehmend vom Stil des Phantastischen Realismus seiner Kollegen Brauer und Fuchs ab und dem Surrealismus zu. Inspiriert von Dalí und Picasso schuf er Skulpturen und Gemälde, Bronzestatuen von surrealistischer Anmutung und geheimnisvoller Aura. In dieser Phase schuf er stets Kreatürliches im Dialog mit der Natur, Bronzeskulpturen und auch ein monumentales Fayence-Mosaik für den Neubau der Wiener Wirtschaftsuniversität. Bei der Arbeit mit keramischem Staub zog sich Leherb schwere, irreparable Gesundheitsschäden zu, an deren Folgen er 1997 verstarb. Seine Fantasiegestalten, seine Reliefs und Mosaiken, seine Zaubergestalten, seine Blumengöttin Flora, sein Gärtnergott Vertumnus und seine Vogelwesen sind von allen Zwängen befreit. Auch besagte Zauberelfe wird für immer die Friedenstaube aus ihrem Käfig der Freiheit überantworten …
OHNE KOPF DURCH DIE WAND
Er kommt direkt aus der Wand. Stark, muskelgestählt, männlich, das Geschlecht mit leichter Schwellung. Ein Torso, der sich seinen Weg bahnt, auszubrechen versucht. Es ist ein starker, schöner, nackter männlicher Körper, der die Wand durchbricht, auszubrechen versucht. Nach draußen strebt. Freiheitsliebend …
Es ist eine eindrucksvolle Skulptur, die der Kärntner Bildhauer Helmut Rome anno 2012 gestaltet hat. Kein Cupido – dafür ist der Torso zu wenig fragil, zu wenig zart, zu wenig sanft. Auch kein Herkules, kein Barbar alias Conan, kein Hannibal, dafür sind die Muskelpartien doch etwas zu wenig ausgeprägt. Er repräsentiert ein Ideal, das Seltenheitswert hat. Repräsentiert er Adonis? Theseus oder Odysseus? In jedem Fall eine Symbiose aus Körper und Geist. Imposant ist die menschengroße Skulptur, schön im klassischen Sinn – analog zu Vorbildern aus der Antike, der Renaissance, des Barock. Mit wohlgeformten Muskelpartien und einem perfekt proportionierten Corpus.
Dennoch wohnt dem Gesamtensemble etwas höchst Zerbrechliches inne. Etwas, das über Klassifizierungen und Einordnungen ästhetischer und erotischer, gender-fixierter Dimensionen hinausgeht. Nicht weniger als die Conditio humana per se thematisiert der Torso, der aus dem Rahmen ausbricht, auszubrechen versucht: Der kopflose Torso des Mannes stößt den ihn umgebenden, ihn einschließenden, ihn einengenden Rahmen auf. Er versucht einem nicht näher definierten Schicksal zu entrinnen. Versucht zu entfliehen aus der Realität.
Die lebensgroße Skulptur ist aus Metall – einer Mischung aus Stahl und Bronze, einer speziell, artifiziell designten Legierung – gefertigt. Aber wie schon in seinem bisherigen Œuvre gelingt es dem Kärntner Bildhauer mittels unterschiedlicher Bearbeitung und stilistischer Brechung Widerhaken einzubauen, die einem rein hedonistisch-voyeuristischen Blick etwas entgegensetzen. Poliert, geschweißt, geflammt, gebürstet, gerostet, gehauen, changierend in Farbe und Beschaffenheit der Oberflächen. Demut und große Hochachtung wohnt seinen Werken inne – eine Demut, die aus der Philosophie des Künstlers resultiert, seinem Respekt vor dem Leben.
Eingebettet ist der erhabene männliche Torso in einen Rahmen. Zweigeteilt, zweifarbig. Hochglanzpoliert silbern glänzend und matt-düster, braunschwarz. Symbolisierend Gut und Böse, Yin und Yang, Himmel und Hölle. Leben und Tod. Das martialische Element des Aufbrechens verflacht in der Archaik der Symbolik, des Mythischen. Es ist das Suchen, das Fragen, das Hinterfragen, das in diesem Ensemble interpretierbar ist, das nicht offensichtlich, aber doch greifbar ist. Die dramatische Note wird konterkariert durch das sinnliche, vorrangig aber durch das ätherische Element.
In Wahrheit ist die Skulptur Teil eines Triptychons, das aus zwei männlichen und einem weiblichen Torso besteht. Auch die weibliche Figur schält sich aus einer Wand. Noch enger ist ihr Korsett, aber es gelingt ihr, den perfekten Körper aus der Umklammerung zu befreien. Noch hat sie ihre Freiheit nicht erhalten, aber die Hoffnung besteht, dass es so weit kommen könnte. Zumindest erscheint ihr Körper aufrecht, selbstbewusst. Ein Symbol der Emanzipation. Wie die meisten der Geschöpfe von Rome, der vor praller Weiblichkeit strotzenden Figurinen, denen allesamt eines gemein ist: Wertschätzung und Respekt. Gepaart mit einer nachdenklichen Note – stets das Moment der Vergänglichkeit memorierend – der Vergänglichkeit von Schönheit sowie des Lebens an sich. Sinnlich übersinnlich. Komplettiert wird das Triptychon durch eine zweite männliche Skulptur. Trotzdem sehr detailliert ausgeführt, wirkt dieser Torso noch fragmentarischer – wahrscheinlich aufgrund der äußerst fragilen, leicht gekreuzten, an Holz erinnernden Latten, aus denen der Körper, demütig nach vorne geneigt, herauskippt. Das Szenario erinnert, nein, gemahnt an das Kreuz, das die Menschheit laut christlich tradierter Symbolik zu tragen verdammt ist. Kein Lamento, aber definitiv ein Memento mori.
Aufrechten Ganges, selbstbewusst, sich in den Spiegel schauend, sind die figuralen Skulpturen des Helmut Rome. Ganz im Gegensatz zu deren Schöpfer, der suchend, sein Universum, seinen Mikrokosmos hinterfragend, sich so gar nicht in das Schema des sich stets selbst outrierenden Kunstgewerbes fügen will. Der nachdenklich ist, kein Mann der großen Worte. Lieber sein Werk für sich sprechen lässt, statt sich zu erklären. Schließlich liege Kunst und Schönheit, so eines der raren Statements des Grenzgängers, individuell im Auge des Betrachters. Wahrscheinlich ist es aber gerade das, was Werk und Künstler authentisch und sympathisch macht.
Die tiefe Demut wird in diesem Werkzyklus, dem jüngsten des 1967 in Wernberg bei Velden am Wörthersee geborenen Künstlers, greifbar. Noch intensiver als bisher beschäftigt Romes Werk sich – aus dem Unbewussten und Unterbewussten schöpfend – mit der Zerbrechlichkeit des Glücks, der Fragilität und Archaik des Seins. Wesentlich ist all diesen Figuren das Streben nach Freiheit, nach Individualität, nach Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu den weiblichen Figurinen, die prinzipielle Wertschätzung und Anbetung beinhalten, wirken die männlichen Torsi eher archaisch, beinahe martialisch. Ohne aber negativ kämpferisch zu werden. Vielmehr repräsentieren sie den Kampf gegen die Unbill des Daseins.
Trotz einer gewissen Grundskepsis, einem gesunden Misstrauen, basiert das Schaffen des Kärntner Bildhauers und Restaurators auf Hinterfragen, Suchen. Dieses allerdings ist niemals abgehoben, sondern stark geerdet, verbunden mit den Wurzeln, der Familie als Kernzone, aus der sich alle Metamorphosen erschließen. Auch handwerklich ist es interessant, die Mutationen zu verfolgen. Die Demut und Hochachtung vor der Kulturgeschichte suchen ihresgleichen, vergleicht man die Worte Romes mit anderen Zeitgenossen, wenn er – der sich untypisch, wider den bereits eingeschlagenen und vorgezeichneten Lebensentwurf, entgegen der Sicherheit einer traditionellen Vita, für die Kreativität entschieden hat – von seiner restauratorischen Arbeit an Fresken, an Stuck, an sakralen ebenso wie an profanen Kunstobjekten schwärmt. Die Dualität von moderner Kunst und Restauration des Bestehenden manifestiert sich mittlerweile in der Anfang Juni 2013 neu eröffneten Galerie, dem »Atelier Rome«, einer mitten im Zentrum von Velden am Wörthersee verorteten, ständigen öffentlichen Repräsentanz, halb Schauraum, halb Werkstatt. Ein weiterer, ein wichtiger Schritt in Richtung breiterer Öffentlichkeit. Ein erneuernder, mutiger Abschnitt im kreativen Schaffen eines Spätberufenen mit hohem Zukunftspotenzial.
Naturgemäß sind die nackten Torsi – rein oberflächlich und kurz betrachtet – von hedonistischer Sinnlichkeit, beseelt sind sie von einer tiefen Demut und einer geheimnisvollen Aura. Bisweilen feierlich spirituell. Suchend nach einem friedvollen Miteinander, nach Liebe, Toleranz und Freiheit des Individuums.
MANIFEST DES FRIEDENS
»Vita brevis, ars longa«. Mit diesem vom römischen Philosophen Seneca übersetzten Aphorismus des griechischen Arztes Hippokrates transportiert Lois Lammerhuber unmissverständlich sein Anliegen: Wider die Missgunst der Natur, wider Vergänglichkeit und Unbill des oft in kurzer Frist verwirkten Lebens, wider Krieg und Gewalt, wider Neid und Ignoranz, für Respekt und Toleranz, für Freiheit und Frieden will er – in Form eines kreativen Prozesses – eintreten. Gemäß diesem quasi als Präambel an den Beginn seines, die Unesco ehrenden Projektes – realisiert als opulenter Bildband in limitierter, unverkäuflicher Einzigartigkeit – gestellten Postulat »Das Leben ist kurz, die Kunst hält lange« dokumentierte der 1952 in St. Peter in der Au geborene Künstler die größte Kunstsammlung der Vereinten Nationen im Pariser Hauptquartier der Unesco. Fotograf Lammerhuber präsentierte im Auftrag der Republik Österreich die Kunstsammlung der Unesco als mahnendes Monument, als Unikat einer virtuellen und realen Exposition.
Die Sammlung der Unesco wurde von niemandem aktiv geplant oder kuratiert. Es handelt sich um Geschenke von Künstlerinnen und Künstlern, von Repräsentanten der Mitgliedsstaaten, von Besuchern und Persönlichkeiten, die auf diese Weise den Zielen der Unesco Tribut zollen und diese mittels eines sichtbaren Zeichens unterstützen. Die Sammlung ist weltumspannend und folgt – völlig frei von inhaltlichen Zwängen – allen erdenklichen Stilrichtungen und Formensprachen. Ihr breites Spektrum spiegelt die Philosophie der Unesco: »Building a Culture of Peace«. Zu den in der Pariser Zentrale verorteten Kunstwerken zählen essenzielle Arbeiten von Picasso, Giacometti, Mondrian, Velásquez, Erró, Rauschenberg, Miró, Soto, Vasarely, Qiu, Sato, Tápies, Braque, Metzkes, Le Corbusier, Goya und vielen anderen, auch vielen anonymen Künstlern aus aller Herren und aller Kontinente Länder. Mit Demut und Begeisterung, mit Verve und Empathie präsentierte das – trotz jahrzehntelanger beachtlicher Erfolge im Genre der Fotografie und der Buchkunst – authentisch und bodenständig gebliebene Mitglied des Art Directors Club New York die Kunstwerke der Großen der Kunstgeschichte und schuf durch seinen speziellen Blick, seine oft exzentrischen Perspektiven, mittels seiner Inszenierung ein neues, ein großes Ganzes.
Abseits lyrisch inszenierter Postkartenidyllen näherte sich Lammerhuber der Dokumentation. Spürbar ist in seinen Kompositionen, seinen Tableaus der Respekt vor der Kreativität und der Individualität der Künstler. Kongenial visualisierte Maître Lammerhuber die Symbiose von Architektur und Kunst, den Dialog zwischen modernen Formen, archaischen Materialien, kargen Wänden, zwischen Skulpturen, Gemälden, Installationen, Provokationen und bewusst intendierten Irritationen. Mittels seiner exzentrischen, außergewöhnlichen Perspektiven entstand eine originäre Bildsprache, ein originäres Kunstwerk per se. »L’art pour l’art« im besten, im ursprünglich positiven Sinne.
Das fotografische Wechselspiel von Fragmentierung, von Stilisierung einerseits und großflächiger Wirkung im Raum, in den Fluchten verwinkelter respektive abgerundeter Wände, ineinanderfließender Open Spaces andererseits gewährte den Kunstwerken Möglichkeit zur Entfaltung und zur Kommunikation. Der subtile Blick des Autodidakten Lammerhuber korrelierte hier eindrucksvoll mit dem Schaffen der herkömmlichen, tradierten Kunstgeschichte. Teils episch, teils verdichtet.
Der demokratischen Accrochage der aus unterschiedlichsten Kontinenten und Perioden stammenden Sammlung folgend, transponierte Lammerhuber die einzelnen Werke zu einem großen Ganzen. Ohne Wertung nach Marktpreis oder Schätzwert folgt auch Lammerhubers Opus rein der Inspiration kreativer Potenziale und gewährt jedem seine Wertschätzung. Präsentiert in großformatigen, stimmungsvollen Tableaus von zeitloser Ästhetik.