Storytelling
Das Praxisbuch
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© 2013 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-fachbuch.de
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Thomas Gerhardy
Umschlaggestaltung: Büro plan.it, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von getty images
Gesamtherstellung: Kösel, Krugzell
E-Book Konvertierung: Aptaracorp.com
ISBN: 978-3-446-40698-8
E-Book (ePub) ISBN: 978-3-446-44030-2
Einleitung: Storytelling – mehr als einfach nur Erzählen
TEIL I: Die Kraft des Erzählens – Haltung und Hintergründe
Die Wiederentdeckung des narrativen Denkens
Storytelling als wertschätzende Kommunikationsform
Storytelling: Realismus und Möglichkeitssinn
Storytelling in der Organisation verankern
Meeting-Point 1: Göttingen 1812
TEIL II: Die Kunst, eine gute Geschichte zu erzählen: Geschichten bauen und verbessern
Vom Erlebnis zur Geschichte
Kurz und prägnant: Die eigene Core-Story entwickeln
Gute Geschichten, klare Botschaften
Der Vorher-Nachher-Effekt: Jede Geschichte erzählt vom Wandel
Helden, Erzähler und andere Beteiligte
Tschechows Pistole und der Schwertwal: Funktionalität und Kausalität
Die Dramaturgie des Erzählens
Aufbruch ins Unbekannte: Das Erzählmodell der Heldenreise
Story-Shaping: Geschichten Schritt für Schritt verbessern
Performance: Erzählen für alle Sinne
Der Erzähler und seine Zuhörer
Meeting-Point 2: Bodenwerder 1781
TEIL III: Die Stunde des Erzählens: Einsatzmöglichkeiten für Storytelling im Unternehmen
Jeder ist ein Erzähler
1001 Ort für eine gute Geschichte
Storytelling-Tools für Teams und Projektgruppen
Story-Storming: Großgruppenarbeit mit Storytelling
Storytelling und Führung: Aus Geschichten lernen
Geschichten vom Kunden
Geschichten in PR und Marketing
Storytelling ist immer Knowledge-Sharing
Meeting-Point 3: Oxford 1865
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Die Autoren
Der Begriff »Storytelling« ist mittlerweile in Mode gekommen. Nicht nur, aber auch im Wirtschaftsleben, im Zusammenhang mit Personalarbeit, Mitarbeiterkommunikation, Wissensmanagement, Werbung und Vertrieb. Schon jetzt existieren unterschiedliche Hauptrichtungen und unter diesen wiederum differente methodische Ansätze: Für die einen geht es beim Storytelling primär darum, andere zu überzeugen, bestimmte Ideen und Botschaften nachhaltig in den Köpfen von Kunden und Mitarbeitern zu verankern, für andere wiederum ist das Zuhören bedeutsam, das bessere Verstehen von Mentalitäten und Erfahrungen bestimmter Gruppen, als Basis für Wandel und Entwicklung im Unternehmen. Manche Anwender von narrativen Methoden halten Mythen und Märchen für das probate Mittel einer intensivierten Ansprache, andere interessieren sich ausschließlich für authentische Geschichten. Einige Verfechter des Geschichtenerzählens betonen vorrangig die emotionalisierende Wirkung des Storytelling, andere dagegen verweisen primär auf den Wissensgehalt von Geschichten. So kommt es, dass zwar immer mehr Führungskräfte, Personalentwickler und Corporate Communications-Profis schon einmal etwas von »Storytelling« gehört haben, aber dabei wahrscheinlich nicht das Gleiche meinen, wenn sie über »Storytelling« sprechen. Der gemeinsame Durchschnitt besteht lediglich darin, dass dabei immer irgendwie die Verwendung von Geschichten eine Rolle spielt.
Der Vorgänger dieses Bandes, unser Buch »Storytelling – Das Harun-al-Raschid-Prinzip. Die Kraft des Erzählens fürs Unternehmen nutzen«, hat einen breiten Überblick darüber gegeben, wie man auf unterschiedliche Weise die Kraft des Erzählens in Organisationen wahrnehmen und nutzen kann, und einige Pioniere des Storytelling in Unternehmen vorgestellt. In diesem Buch möchten wir nun unseren Ansatz von Storytelling ausführlicher vorstellen und vor allem Ihnen das Wissen und die Werkzeuge vermitteln, die Sie brauchen, um erfolgreich mit Geschichten zu arbeiten.
Storytelling:
Nicht nur »Methode«, sondern auch eine Haltung
Unsere Erfahrungen mit unterschiedlichen Unternehmen und Organisationen – von Mittelständlern über Non-Profit-Organisationen bis hin zu DAX-Unternehmen unterschiedlichster Branchen – haben uns in der Einsicht bestärkt, dass die erfolgreiche Nutzung der Kraft des Erzählens mehrere wesentliche Voraussetzungen hat. Dazu gehört zuerst eine bestimmte Haltung gegenüber Kommunikation und Wissen. Ohne die Freude an offener Kommunikation, Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern und Kunden, Neugierde auf deren Wissen und Erfahrung und die Bereitschaft, auf neue Einsichten auch tatsächlich adäquat zu reagieren, kann das Potenzial, das sich durch professionell angewandtes Storytelling entfalten lässt, nicht annähernd vollständig aktiviert werden. Storytelling systematisch und ernsthaft anzuwenden setzt voraus, dass man die Grundannahme teilt, dass jeder, der in Beziehung zum eigenen Unternehmen, zur eigenen Organisation steht – ob als Mitarbeiter, Geschäftspartner, Kunde –, wichtiges Wissen hat, das kennen zu lernen sich lohnt, um ein besseres Verständnis für das eigene System und seine Umwelt zu gewinnen. Dies gilt sowohl für das Hören von Geschichten als auch für das »aktive« Storytelling, wenn man also selbst erzählt: Denn auch das eigene Erzählen ist in erster Linie ein Angebot an die anderen, selbst zu denken, eigene Erfahrungen zu reflektieren, eigene Ideen zu entwickeln und mit dem Erzähler in Dialog zu treten.
In unserem Verständnis ist Storytelling ein Prozess, in dem Erzählen und Zuhören untrennbar zusammengehören und entsprechend werden beide Aspekte in diesem Buch ihre Rolle spielen.
Storytelling 1: Aktives Erzählen
In Gesprächen werden wir häufig mit Aussagen wie folgender konfrontiert: »Storytelling? Das mach ich schon immer. Ich baue gern Anekdoten in meine Präsentationen ein oder erzähle Beispiele, wenn meine Mitarbeiter etwas nicht sofort verstehen. Jetzt hat man halt bloß einen neuen Namen dafür erfunden.«
Nun, tatsächlich gab und gibt es immer Menschen, die gerne erzählen und im Alltag wie auch in der beruflichen Kommunikation häufig auf Geschichten und Erlebnisse zurückgreifen. Allerdings kann der Effekt eines solchen natürlichen Hangs zum Storytelling durchaus unterschiedlich ausfallen. Da gibt es einerseits Naturtalente, die durch das Einstreuen von Geschichten zum richtigen Zeitpunkt verfahrene Kommunikationssituationen öffnen und erzählend abstrakte Inhalte mit einem konkreten, nachvollziehbaren Rahmen verknüpfen können. Sie kennen sicher aber auch Zeitgenossen, die ihren Erzähldrang kaum zügeln können und ihre Geschichten anbringen, gleichgültig, ob sie gerade ins Gespräch passen oder nicht. Es gibt die assoziativen Erzähler, denen anhand eines Themas dauernd Anekdoten einfallen, die dann allerdings häufig genug von eben jenem Thema wegführen. Und so manche Geschichte erfüllt zwar den Zweck, das Auditorium zu unterhalten, steht aber der Vermittlung der eigentlichen Inhalte im Weg. Wenn man sich einige Zeit nach einem Vortrag zwar noch amüsiert an die ein oder andere Anekdote daraus erinnern kann, aber nicht mehr weiß, worum es in dem Vortrag genau ging, dann hat offenkundig mit der Verknüpfung von Deskription und Narration, von Vermitteln und Erzählen etwas nicht funktioniert – und in diesem Falle würden wir nicht von »Storytelling« sprechen wollen.
Denn genau darum geht es bei der Form von aktivem Storytelling, wie sie in unserem Rahmen definiert sein soll: Storytelling heißt, Geschichten gezielt, bewusst und gekonnt einzusetzen, um wichtige Inhalte besser verständlich zu machen, um das Lernen und Mitdenken der Zuhörer nachhaltig zu unterstützen, um Ideen zu streuen, geistige Beteiligung zu fördern und damit der Kommunikation eine neue Qualität hinzuzufügen. Dass dazu auch ein Element des Unterhaltenden kommt, dass man durch gut erzählte Geschichten Neugierde erregt, Spannung erzeugt, Vergnügen bereitet, Emotionen weckt, das alles kommt hinzu und dem eigentlichen Ziel zugute, ist aber nicht das Wesentliche. Geschichten erzählen als fesselnde Aufführung für ein Publikum ist eine hohe Kunst, die zu Recht auch in unserer Kultur derzeit wieder zu Ehren kommt. Eine Kunst, die in dieser Form wohl kaum für jedermann erlernbar sein wird. Aber darum geht es beim Storytelling auch nicht. Was man braucht, um Storytelling im beruflichen Umfeld erfolgreich einzusetzen, ist erlernbar und trainierbar – unabhängig davon, ob man nun als Entertainer ein Naturtalent ist oder nicht.
Der Unterschied zum Erzählen im Alltag
Storytelling im Beruf oder Ehrenamt unterscheidet sich aber nicht nur von der Profession des Geschichtenerzählers und Entertainers, sondern auch vom privaten Erzählen im Alltag. Sie kennen das ja sicher auch aus eigener Erfahrung: Vieles, was im Familien- oder Freundeskreis erzählt wird, erhält seine Bedeutung dadurch, dass es die erzählende Person für erzählenswert hält, dass es dem eigenen Mann, der eigenen Frau, dem eigenen Kind oder Freund wichtig ist. Man interessiert sich für viele Geschichten, die einem vertraute Personen erzählen, nicht in erster Linie um der Geschichte selbst willen, sondern weil man der Person des Erzählers emotional nahe steht. Die gleiche Geschichte, das gleiche Erlebnis aus dem Munde eines Fremden käme einem unter Umständen völlig belanglos vor. Wenn aber ein vertrauter Mensch sie erzählt, hören wir zu, weil wir dadurch diesen Menschen besser, intensiver kennen lernen. Wir wollen wissen, was die Menschen, mit denen wir täglich umgehen, mit denen wir unseren Alltag teilen, erleben, was ihnen widerfährt, was sie berührt, freut, ärgert. Durch das Erzählen teilen wir Erfahrungen aus Umwelten, die ansonsten für uns nicht zugänglich sind: Deshalb ist vieles, was im privaten Umfeld erzählt wird, eher beschreibend, wiederholend, rekapitulierend. Man kommt nach Hause oder zum Stammtisch und erzählt über Erlebnisse im Büro oder aus dem Urlaub, die eigentlich gar keine Geschichten im engeren Sinne sind, aber die anderen am eigenen Leben teilhaben lassen (und diese anderen interessieren, weil sie sich für einen selbst als Person interessieren). Diesen Teilbereich des Erzählens rechnen wir nicht zum Storytelling im engeren Sinne.
Selbstverständlich kann man aber auch im Alltäglich-Privaten Geschichten nutzen, um andere für eine Idee zu gewinnen, um eine Haltung oder Entscheidung zu verdeutlichen, um wichtige Lernerfahrungen weiterzugeben, auf mögliche Lösungen hinzuweisen oder Probleme deutlich werden zu lassen. Erzählen in dieser Form und Funktion überschneidet sich dann wieder mit dem, was wir Storytelling nennen. Und wenn man die entsprechenden Fertigkeiten entwickelt hat – die Wahl einer passenden Geschichte und des richtigen Zeitpunktes, sie zu erzählen, das richtige Austarieren der Geschichte, ihre Anpassung an das, was die Zuhörer schon wissen und noch nicht wissen können, einen angemessenen Vortrag und so weiter, – dann hilft das der Kommunikation mit Geschichten im Privaten ebenso sehr wie im Beruf.
Storytelling 2: Geschichten hören, sammeln, verstehen
Erzählen ist ein fortgesetzter Austauschprozess. Wer eine Geschichte erzählt, löst damit in aller Regel das Erzählen der anderen aus (gleich ob unmittelbar oder zeitversetzt), und damit ist Storytelling der Gegenpol zur Einweg-Kommunikation. Wer erzählt, spricht damit gleichsam immer auch eine Einladung aus, sich zu beteiligen und mitzuerzählen, in den Austausch einzusteigen. Das Erzählen zeichnet sich nämlich immer wieder vor allem durch eines aus: seine Offenheit. Wer mit Geschichten kommuniziert, »öffnet« den kommunikativen und sozialen Raum ebenso wie den Raum des Denkens. Geschichten sind keine Befehle, sie enthalten keine Handlungsanweisungen, sie sind nicht performativ (sie »setzen« keine Realität nach Art eines Richterspruchs) und sie sind (von dezidiert »belehrenden«, didaktischen Geschichten, Fabeln und Gleichnissen abgesehen) auch nur in geringem Maße appellativ. Der Akt des Austauschs von Geschichten, die Situation gemeinsamen Erzählens, schafft, solange sie dauert, eine bestimmte Gleichwertigkeit zwischen den Beteiligten, setzt hierarchische und autoritative Differenzen zwischen den Beteiligten – »Entscheider« und Untergebene, Experten und Laien und so weiter – vorübergehend außer Kraft. Das macht den kommunikativen Vorteil von Storytelling bei allen Suchprozessen in Organisationen aus, bei denen es um Fehlervermeidung, Lösungen, Verbesserungen, Innovationen geht.
Erzählen und Zuhören gehören zusammen
Wenn Sie selbst Storytelling praktizieren, werden Sie sich automatisch intensiver für die Geschichten anderer interessieren und in der Folge mehr und mehr Geschichten hören. Und sei es zunächst auch nur aus dem Grunde, dass Sie feststellen, dass der eigene Fundus an Storys, an Erlebnissen und Erfahrungen, die sich in interessante und »lehrreiche« Geschichten überführen lassen, doch notwendig begrenzt ist. Außerdem wird, wer davon überzeugt ist, dass die eigenen Geschichten dazu geeignet sind, Wissen zu vermitteln, Ideen zu streuen, Einsichten weiterzugeben, das gleiche Potenzial auch den Geschichten seiner Mitmenschen unterstellen und folglich eine entsprechende Neugierde auf gute Storys ganz allgemein entwickeln. Und je mehr Geschichten er hört, je besser der Storyteller lernt, zuzuhören, desto schärfer wird sein Gespür für das Besondere, »Zündende« mancher Geschichten, für Zusammenhänge und Querverbindungen zwischen Geschichten, für Inhalte, Erkenntnisse, Wissen, das in ihnen schlummert. Von da ist der Weg dann nicht mehr allzu weit hin zum bewussten und systematischen Sammeln und Auswerten von Geschichten. Wer erfährt, dass Storytelling und Storylistening eins sind, Bestandteil ein und desselben Prozesses, wird schließlich das aktive Erzählen nicht mehr primär als Instrument der Beeinflussung und Überzeugung sehen und anwenden, sondern auch das eigene Erzählen – ebenso wie das Zuhören und Interpretieren von Geschichten – als Mittel der Verständigung und des Erkenntnisgewinns begreifen und praktizieren.
Die Entscheidung für Storytelling
Wer Storytelling in diesem Sinne ernsthaft verwenden will, der entscheidet sich damit gleichzeitig auch dafür, eine bestimmte Sichtweise auf Kommunikation einzunehmen (und vielleicht auch, seine bisherige zu überdenken): Es geht dabei darum, Kommunikation als Prozess zu verstehen, einen Prozess, der sich nicht darin erschöpft, dass der eine, der »Sender«, seine Botschaft äußert und der andere, als »Empfänger«, diese Botschaft aufnimmt und wunschgemäß darauf reagiert. Eine Haltung, die dann zu der vielfach beobachtbaren (und nicht zuletzt aufwändigen und teuren) Tendenz führt, beim Nicht-Eintreten der gewünschten Reaktion das Ganze zu wiederholen, allerdings mit erhöhtem medialem und semiotischem Aufwand.
Dass Kommunikation nach diesem senderzentrierten Schema den erhofften Effekt hat, ist eher ein Sonderfall – wie Sie sicher aus eigener Erfahrung wissen. Häufiger wird die Kommunikation nicht mit der Äußerung des Einen und einer als »Verstehen« des Anderen zu interpretierenden Reaktion abgeschlossen sein. Vielmehr kommt es in der Regel zu einer ganzen Kette von Äußerungen, ist die anfängliche Botschaft lediglich ein Auslöser für eine Fülle miteinander verknüpfter Kommunikationen: Im besten Falle entsteht so durch Reden und Weiterreden, Ergänzung, Frage und Antwort ein Dialog oder Diskurs als gemeinsames Nachdenken und Verständigung über Realität. Häufig allerdings entsteht durch Rede und Widerrede, Frage und Gegenfrage, Argument und Gegenargument unter großem kommunikativem Aufwand nur ein Patt, eine gegenseitige Blockade, eine Lähmung (die dann stumm nach der Instanz schreit, die das Ganze durch eine Entscheidung auflösen soll). In Meetings, Arbeitsgruppen und Gremien muss man diese letztere Variante der Kommunikation leider nur zu oft erleben und erleiden. Dass solche Erfahrungen das Vertrauen auf ein kommunikatives Miteinander, den Glauben daran, dass es sich lohnt, zuzuhören und viele zu Wort kommen zu lassen, nicht gerade stärken, liegt auf der Hand.
Dennoch: Die meisten Menschen kennen beide Typen der Kommunikation und werden sich erinnern, dass der gelingende Austausch von Ideen, Gedanken, Geschichten, Erfahrungen ihnen fast immer zu neuen Einsichten verholfen hat. Sie werden sich auch erinnern, dass sich solche Situationen ähnelten, dass eine bestimmte Atmosphäre dabei herrschte, Zeit vorhanden war, Offenheit. Kommunikation, die Verständigung, Lernen und Wissenszuwachs ermöglicht, ist also erfahrungsgemäß an bestimmte Bedingungen geknüpft. Man kann ihren Erfolg nicht haben, ohne in ihn zu investieren. Man kann sie nicht verordnen oder erzwingen, und man kann sie nicht erleben, wenn man sie nicht mit- und vorlebt.
Storytelling gehört zu einer effizienten Kommunikationskultur
Storytelling – als Erzählen und Zuhören – ist ein wesentlicher Bestandteil einer Kommunikationskultur, in der ein Mehrwert an Einsicht, Wissen und Kooperation entsteht. Ein Teil – das bedeutet auch, dass das Erzählen eingebettet sein muss in einen größeren Zusammenhang. Geschichten (durchaus bewusst) in der Kommunikation zuzulassen, aktiv zu verwenden, ihren Austausch zu fördern, ernst zu nehmen, zu verstehen und auch zu nutzen ist eine gute Voraussetzung dafür, eine solche Kommunikationskultur zu entwickeln. Denn in »offiziellen« Situationen – außerhalb von Flurfunk und Kaffeeecke – erzählen Menschen auf Dauer nur dann Relevantes, wenn sie ein Mindestmaß an Vertrauen vorfinden, wenn sie glauben können, dass ihre Beiträge auch respektvoll und wertschätzend aufgenommen werden. Sie erzählen naturgemäß auch nur, wenn auch Raum dafür vorhanden ist, wenn nicht vordergründige Ergebnisorientierung die Szene beherrscht oder die geschliffene Rhetorik offenkundig über den Anliegen und Inhalten steht. Sie erzählen, wenn es einen wirklichen Austausch gibt und sie nicht den Eindruck haben müssen, lediglich abgefragt zu werden. Mitarbeiter erzählen also zum Beispiel dann, wenn sie erleben, dass die Führungskräfte selbst auch erzählen. Sie werden nur dann wieder erzählen, wenn sie erleben, dass ihre Geschichten ernst genommen wurden und nicht folgenlos geblieben sind. Wenn sie dies aber erleben, dann werden sie noch viel mehr zu erzählen haben.
Tools zum Einsatz in der Praxis
Dieses Buch bietet im dritten Teil eine ganze Reihe konkreter Ansätze und Instrumente, um mit Geschichten in Unternehmen und anderen Organisationen praktisch zu arbeiten – sei es, um selbst zu erzählen und mit Geschichten in eine gelingende Kommunikation einzusteigen, sei es, um andere zum Erzählen zu ermuntern und aus den so gewonnenen Storys zu lernen.
Wissen darüber, was eine gute Geschichte ausmacht
Um so Storytelling erfolgreich und nachhaltig zu praktizieren, ist allerdings ein gewisses Grundwissen über Geschichten nötig: Was macht eigentlich eine Geschichte aus? Was unterscheidet sie von anderen Kommunikationsformen? Wie kann ich das, was in Geschichten steckt (und manchmal auch versteckt ist), erkennen? Diesem Grundverständnis widmet sich der zweite Teil dieses Buches. In ihm lernen Sie Schritt für Schritt die Elemente kennen, aus denen Geschichten bestehen, und erfahren, worauf Sie achten müssen, wenn Sie selbst Geschichten erzählen. Aber gleichgültig, ob man nun selbst erzählt oder Geschichten hört und aus ihnen lernen möchte – man wird mehr erreichen und erkennen, wenn man weiß, wie Geschichten »funktionieren«.
Haltung und Hintergründe
Der erste Teil dieses Buches fokussiert auf die Haltung, die hinter der erfolgreichen Anwendung von Storytelling steht. Dass das Ausmaß von Wissenszuwachs und die Entwicklung von Kommunikation und Kooperation entscheidend von der Haltung abhängen, mit der Storytelling-Ansätze in der Organisation angewandt werden, das haben wir in unterschiedlichen Projekten mit Kunden und Gruppen erfahren. Eine punktuelle Anwendung bestimmter Instrumente als reine »Tools« ist zwar möglich, sie entfaltet aber nicht die eigentliche Kraft von Storytelling. Storytelling wird die besten Effekte genau dann erbringen, wenn man sich vor dem Einsatz darüber Rechenschaft ablegt, welche gewachsenen Strukturen und Kulturen in der Organisation existieren, welche Wirkungen und Veränderungen man sich wünscht und vor allem, wie man mit dem, was man durch das Zuhören und Erzählen auslöst, in der Folge ernsthaft und lernend umgehen möchte – wenn man also den Prozesscharakter der Methodik begreift und Storytelling nachhaltig einsetzt. Storytelling kann in sehr vielen unterschiedlichen Feldern von Unternehmen und Organisationen eingesetzt werden. Denn das Erzählen ist geradezu darauf angelegt, Zusammenhänge zu stiften und sichtbar zu machen.
TEIL I:
Die Kraft des Erzählens –
Haltung und Hintergründe
Die Wiederentdeckung des narrativen Denkens
Zahlen sind nicht alles
Was ist der Wert eines Unternehmens? Was leistet eine Organisation? In aller Regel wird man auf eine solche Frage zunächst eine quantitative Antwort bekommen, eine Beschreibung, die eine ganze Reihe von Fakten enthalten wird: Umsatzzahlen oder DAX-Punkte, Mitarbeiteroder Mitgliederzahlen, Aufzählungen von Produkten und Projekten, Erwähnungen von messbaren Erfolgen. Zielvereinbarungen für Führungskräfte werden in Summen des Geschäftswertbeitrags gemessen, Wachstumspotenziale von Unternehmen in prozentualen Marktanteilen, Erfolge von Hilfsorganisationen in Spendensummen und Mengen verteilter Hilfsgüter.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist auch genau richtig so. Quantitative Messbarkeit ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Unternehmensführung. Die Frage ist jedoch, ob die Konzentration auf das rein Faktische, auf Zahlen, Daten und Argumentationsketten, wirklich ausreichend ist, um eine Organisation beurteilen zu können oder um ein Unternehmen nachhaltig erfolgreich zu führen. Deutlich wird dies beispielsweise an der Diskussion über das Gleichgewicht von »Hard Factors« und »Soft Factors«: Versuche wie die der »Balanced Scorecard«, Soft Facts in harte Zahlen umzurechnen, sind wenig überzeugend. Wenn die Motivation von Mitarbeitern vor allem durch die Anzahl der Fehltage gemessen wird, muss man sich fragen, was da wirklich gemessen wird. Bezeichnenderweise gingen in den letzten Jahren die Fehlzeiten bei steigender Arbeitslosigkeit stetig zurück. Sind die Mitarbeiter motivierter geworden? Identifizieren sie sich mehr mit dem Unternehmen? Oder haben sie einfach nur Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie zu oft krank sind? Wenn wir dagegen die Mitarbeiter bei unseren Storytelling-Analysen ihre Arbeitsbiografie erzählen lassen, wird in diesen Geschichten sehr schnell deutlich, was die strukturellen Hintergründe für Motivation oder Demotivation sind. Oder andersherum: Die Voraussetzung für Motiviertheit ist, dass Mitarbeiter Zusammenhänge kennen und sich im »großen Ganzen« mit ihrer Arbeit verorten können. Und das bedeutet letztlich nichts anderes als: Welchen Platz hat ihre Arbeit in der Story des Unternehmens? Und wie klar ist diese Story den Mitarbeitern eigentlich? (Mehr dazu finden Sie in unserem Buch »Das Unternehmen im Kopf. Storytelling und die Kraft zur Veränderung«.) Das Beispiel zeigt, dass es offenkundig auch für Unternehmen schwierig ist, alles mit einem argumentativ-quantifizierenden Denken zu beschreiben und zu vermitteln. Auch das »Image« einer Organisation erschöpft sich offenkundig nicht in der Aufreihung bestimmter Daten und Fakten. Marken werden nicht einfach dadurch beworben, dass man Preise und Produktfeatures auflistet. Die Werte eines Unternehmens, seine Ziele, sein Spirit und seine Leitideen lassen sich nicht befriedigend durch eine bloße Aufzählung von entsprechenden Substantiven und Aussagesätzen kommunizieren. Interessanterweise kommen in solchen Kontexten seit jeher Geschichten zum Einsatz: Gründer brauchen natürlich eine Geschäftsidee, aber sie brauchen auch eine Story, um Investoren, Stakeholdern und Mitarbeitern zu vermitteln, wohin der Weg führen soll. Organisationen definieren sich auch über ihre Geschichte, wenn sie andere für ihre Arbeit und ihre Ziele begeistern wollen. Offenbar gibt es also auch in Unternehmen zwei Arten, über die Realität zu kommunizieren: eine rein faktisch-argumentie-rende und eine narrative.
Zwei Arten, zu denken
Schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat der in New York und Harvard lehrende Psychologe Jerome Bruner diese beiden Herangehensweisen an die Wirklichkeit untersucht und die beiden zugrunde liegenden Denkweisen als »logisch-wissenschaftliches« beziehungsweise »argumentatives« Denken einerseits und »narratives« Denken andererseits beschrieben (Bruner 1986). Beide Arten zu denken liefern einen jeweils unterschiedlichen Zugang zur Welt, und beide sind notwendig, um die Welt, in der wir leben, verstehen und in ihr handeln zu können. Bruner macht dabei ganz deutlich, dass diese beiden Denkweisen nicht gegeneinander austauschbar sind: Eine Geschichte ist nicht nur eine andere, vielleicht nettere Art, etwas auszudrücken, was ich auch rein argumentativ ausdrücken könnte. Umgekehrt ist eine Geschichte nie vollständig übersetzbar in eine logische Schlussfolgerung oder eine Kette von Argumenten: Eine Geschichte ist immer mehr als die Menge an Fakten, die in ihr stecken. Und Bruner macht auch klar, dass wir beide Arten zu denken brauchen, wollen wir uns in der Welt erfolgreich orientieren und bewegen. Denn mit dem argumentativen Denken erfassen wir die Fakten und die allgemeinen Regeln und Gesetze der Welt, mit dem narrativen Denken schaffen wir Zusammenhänge, Sinn, Orientierung und Visionen für die Zukunft. Mit dem logisch-wissenschaftlichen Denken hat die Menschheit die Gesetze der Schwerkraft entdeckt, mit Geschichten wie der von Ikarus und Daedalus hielt sie den Traum vom Fliegen wach – bis es gelang, ihn zu verwirklichen. Das argumentative Denken brauchen wir, um die vielen kleinen und großen Herausforderungen des Alltags – den Umgang mit Geld, die Aufgaben, die unsere Berufstätigkeit uns stellt, oder die Planung eines Urlaubs – zu bewältigen. Das narrative Denken setzen wir dann ein, wenn wir uns die Frage beantworten wollen, welchen Sinn das hat, was wir tagtäglich tun: Wenn ich erst einmal dies oder das erreicht habe, dann … – und schon sind wir mitten in einer Geschichte.
Historisches Ungleichgewicht
In unserer westlichen Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten in vielen Bereichen das Gleichgewicht zwischen den beiden Denkarten zuungunsten des narrativen Denkens verschoben. Unter anderem auch die Abläufe in der Wirtschaft und in Unternehmen wurden und werden als ein reiner Hort des argumentativen Denkens, von Zahlen, Daten, Fakten und Schlussfolgerungen gesehen. Das Einzige, das dabei immer wieder zu stören scheint, ist der Kunde oder der Mitarbeiter: die Menschen mit ihren Träumen, Vorstellungen, Visionen und Lebenszusammenhängen, ohne die es kein Unternehmen gäbe. Deshalb ist das zunehmende Interesse, das man seit einigen Jahren an Storytelling in Unternehmen beobachten kann, weit mehr als nur eine neue Managementmode: Es ist die Wiederentdeckung der fehlenden anderen Seite des Denkens, die Wiederentdeckung des narrativen Denkens – weil man zunehmend merkt, dass man mit der rein argumentativen Art des Denkens an Grenzen gestoßen ist.
Die Tradition des narrativen Denkens
Wenn wir von einer Wiederentdeckung des Erzählens sprechen, dann deshalb, weil das narrative Denken keine neue Erfindung ist – sondern eine der ältesten. Die früheste Hochkultur der Menschheit, die der Akkader und Sumerer im heutigen Irak, hat uns zwei Arten von Texten überliefert, in Keilschrift auf Tontäfelchen geschrieben: einerseits Lagerlisten, Handelsbriefe, Kaufverträge und Ähnliches, andererseits Geschichten. Beide Arten zu denken waren also von Anfang an vorhanden, beide wurden für wert befunden, auf Tontäfelchen mühevoll aufgezeichnet und konserviert zu werden.
Die ältesten Geschichten der Menschheit, die Mythen, hatten sogar eine ganz besondere Bedeutung für die Kultur: Sie deckten zu großen Teilen all das ab, was wir heute Wissenschaft, Religion, Ethik oder Recht nennen. Das Gilgamesch-Epos der Sumerer, der älteste mythische Text, den wir kennen, beschreibt etwa die Reise des Königs Gilgamesch durch die gesamte damals bekannte Welt, vom Libanon zum persischen Zagros-Gebirge und sogar in die Unterwelt, ins Reich der Toten und der Götter: Der Leser oder Zuhörer des Epos bekommt also dabei eine Geografiestunde, er lernt die Welt kennen. In der Geschichte treten auch immer wieder die Götter auf und bekunden ihren Willen: Der Leser erfährt, was sie wollen und wie man sich ihnen gegenüber verhält – religiöse Belehrung. Zu Beginn des Epos nutzt Gilgamesch seine Stärke und seine Macht rücksichtslos aus, indem er das »Recht der ersten Nacht« mit jeder jungen Frau im Reich fordert. Die Götter heißen dieses Verhalten nicht gut und erschaffen aus Lehm Enkidu, einen Mann, der ebenso stark ist wie Gilgamesch und dessen Treiben Einhalt gebieten kann: Dem Leser wird ein ethisches Verhaltensmodell vermittelt, ihm wird klar, was gut und was böse ist. Und natürlich, so ganz nebenbei, ist diese Geschichte auch sehr unterhaltsam.
Im Lauf der Jahrhunderte differenzierten sich dann, vor allem in der griechisch-römischen Kultur, Wissenschaft und Religion als eigenständige Bereiche aus dem Mythos heraus. Eine Differenzierung, die bis in unsere Zeit so weit vorangeschritten ist, dass das Erzählen manchmal wie die leere Hülle angesehen wird, die aus grauer Vorzeit übrig geblieben ist – und der als einzige verbliebene Aufgabe die Unterhaltung zugeschrieben wird. Überall dort, wo »ernste Männer bei der Arbeit« waren, so schien es lange, hatte das Erzählen nichts zu suchen; wenn überhaupt, wurde es in Unternehmen und Instituten als störendes Palaver in den Kaffeeküchen wahrgenommen.
Doch das Erzählen ist immer lebendig geblieben; Hollywood ist ja nichts anderes als eine gigantische Maschine zum Erzeugen von Geschichten. Und diese Geschichten, auch wenn wir sie nur als Unterhaltung konsumieren, haben einen Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen – und haben damit ein wenig von der Funktion des Mythos bewahrt.
Geschichten sind überall
Es gibt keine menschliche Kultur ohne Geschichten, ohne sehr viele Geschichten. Der französische Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, der mit Luis Buñuel, Jean-Luc Godard oder Milos Forman gearbeitet hat, erzählt von einer Begegnung mit einer Gruppe von Ethnologen am Flughafen von Kalkutta. Diese hatten gerade ein mehrjähriges Forschungsprojekt in einem Dorf im indischen Bundesstaat Radjas-than abgeschlossen. Es bestand darin, dass sie in diesem Dorf mit etwa 300 bis 400 Einwohnern ausnahmslos alle Geschichten sammelten, die die Menschen dort kannten. Als sie das Resümee zogen, stellten sie überrascht fest, dass die Menschen dort, von denen die meisten Analphabeten waren, ihnen über 17.000 Geschichten erzählt hatten. Die Hälfte davon waren Geschichten über alltägliche Begebenheiten, die ihnen oder ihren Vorfahren widerfahren waren: ein Brand, ein Schlangenbiss, ein Unfall. Die andere Hälfte bestand aus historischen Erzählungen (zum Beispiel darüber, was die Engländer vor der Unabhängigkeit Indiens alles getrieben haben), Geschichten aus der Mythologie, aus religiösen Kontexten und Märchen. »Wie Regenwürmer, die – so heißt es – die Erde düngen, die sie blind durchgraben, gehen die Geschichten von Mund zu Mund und erzählen, was anders nicht erzählt werden kann. Sie stillen ein uraltes Bedürfnis, das bislang durch nichts zerstört werden konnte«, fasst Carrière zusammen (Carrière 1999, Seite 128). Wenn wir in Storytelling-Projekten in Unternehmen Geschichten sammeln, sind die Mitarbeiter und Führungskräfte meist ähnlich überrascht wie die Ethnologen über die Vielzahl von Geschichten über den Arbeitsalltag, die erzählt werden. Und auch diese Geschichten drücken aus, was sonst nicht kommuniziert werden kann, was in den vom argumentativen Denken geprägten Kommunikationsroutinen des Unternehmens keinen Platz hat: Was die Menschen an Sinn und Unsinn in ihrer Arbeit erfahren und was das für Auswirkungen auf ihr Denken und Handeln im Unternehmen hat. Insofern ist das narrative Denken auch in Unternehmen immer präsent – die Frage ist, ob man seinen Stellenwert ernst nimmt und die Potenziale, die in ihm liegen, nutzt.

Narratives und argumentatives Denken
Was unterscheidet das narrative vom argumentativen Denken, was sind die Stärken und was die Schwächen der jeweiligen Art zu denken? Nach den Forschungen von Jerome Bruner und unseren eigenen Beobachtungen lassen sie sich folgendermaßen zusammenfassen:
| Narratives Denken … | Argumentatives Denken … |
| … geht aus von (tatsächlichen oder möglichen) Ereignissen und tendiert daher zur Konkretisierung | … geht aus von Daten und Theorien und tendiert daher zur Abstraktion |
| … enthält immer eine ganze Welt und stellt Zusammenhänge zwischen Fakten, Emotionen, Rahmenbedingungen, Einstellungen, Handlungsweisen etc. her | … konzentriert sich auf Einzelheiten und Teilaspekte und stellt Zusammenhänge zwischen Fakten und anderen Fakten her |
| … eröffnet Möglichkeiten | … schafft Tatsachen |

Denken in Geschichten schafft Konkretisierung
Die Grundlage jeder Geschichte ist ein Ereignis, ein Erlebnis, irgendetwas, was geschehen ist oder geschehen könnte (wenn auch vielleicht in einer Welt, in der andere Gesetze gelten als in unserer, wie etwa in fantastischen Erzählungen oder in der Sciencefiction). Eine Geschichte ist daher immer konkret: Sie erzählt von konkreten Personen, die sich in einem ganz bestimmten Umfeld bewegen und ganz bestimmte Dinge tun. Argumentatives Denken dagegen nimmt Fakten und theoretische Überlegungen zum Ausgangspunkt und tendiert daher zur eher abstrakten Beschreibung von Sachverhalten.
Ein Beispiel: Ein Unternehmen plant, ein neues Handy einzuführen. Das argumentative Denken sammelt Zahlen und Daten über den Markt, die Zielgruppen, über Distributionskanäle, führt Überlegungen zur Preispolitik durch etc. Und natürlich ist auch die gesamte technische Produktentwicklung ein Hort des argumentativen Denkens. Und trotz all dieser Mühen geschieht es nicht selten, dass ein Produkt ein Flop ist, die Kunden nicht so reagieren, wie es die Zahlen prognostiziert haben. Natürlich, absolute Sicherheit über den Erfolg eines Produkts wird es nie geben. Dennoch ist es sehr häufig von großem Nutzen, im gesamten Prozess immer wieder das narrative Denken »dazuzuschalten«. Das beginnt bei der Produktentwicklung. Erzählen Sie auf der Basis der Produktidee eine Geschichte, wie der Kunde mit dem Handy umgeht; das Produkt (das es noch gar nicht gibt, aber in Geschichten ist so etwas ja möglich) wird dabei in die ganz konkrete Lebenswelt eines Kunden versetzt. Gibt es Produktfeatures, zu denen Ihnen keine Geschichten einfallen? Fallen Ihnen beim Erzählen Bedürfnisse dieses Kunden auf, die quer zu den Produktfeatures liegen?
Oder: Lassen Sie konkrete Menschen von ihren Erfahrungen mit Handys, mit dem Telefonieren und Kommunizieren allgemein erzählen. Sie werden in diesen Geschichten wertvolle Hinweise für die Positionierung (und vielleicht sogar für die Entwicklung) des Produkts bekommen.
Innovative Unternehmen arbeiten schon mit dem narrativen Denken: Sie entwickeln Consumer Cases, also Geschichten über ganz bestimmte Anwendungsfälle in konkreten Zielgruppen des Produkts. Im Zusammenspiel von argumentativem und narrativem Denken wird so der Erfolg eines Produkts auf eine wesentlich breitere Basis gegründet.
Denken in Geschichten stellt umfassende Zusammenhänge her
Argumentatives Denken hat es in erster Linie mit Fakten zu tun. Auch eine Geschichte erzählt natürlich von ganz bestimmten Fakten, aber sie setzt sie mit ihrem Umfeld in Beziehung. In einer Geschichte über ein Softwareprojekt kommen zwar auch die Fakten (Programmierung, Tests etc.) vor, aber dazu auch das, was sich die Beteiligten gedacht, was sie gefühlt haben (»da habe ich mich geärgert, dass …«), die Rahmenbedingungen des Unternehmens, in dem das Ganze stattfindet, und vieles mehr: Wer eine Geschichte erzählt, stellt automatisch immer eine ganze »Welt« mit ihren unterschiedlichen Aspekten dar. Die Fakten werden damit in die Zusammenhänge gestellt, in denen sie bei der tatsächlichen Arbeit auch stehen. Häufig liefern Geschichten »unter der Oberfläche« auch Erklärungsmuster, warum bestimmte Prozesse so und nicht anders abgelaufen sind. Das rein argumentative Denken betrachtet die Fakten dagegen isoliert oder lediglich in vordefinierten Zusammenhängen.
Ein Beispiel: In einem Werk für Haushaltsgeräte sollen die Organisation und die Ablaufprozesse der Produktion verändert werden. Das argumentative Denken ist natürlich voll beschäftigt mit dem Sammeln von Daten, dem Analysieren von Prozessen, dem Entwickeln von Abläufen. Schließlich ist es so weit: Die neuen Prozesse werden umgesetzt. Doch nach einiger Zeit stellt man fest, dass die Produktivität weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Nach langer Ursachenforschung findet man heraus, dass es zwischen zwei Arbeitsschritten bisher immer einen kurzen Akt der Kommunikation beim Weitergeben des Werkstücks gegeben hatte: Man rief sich irgendwelche Codes zu. Diese Kommunikation war so kurz und scheinbar unbedeutend, dass keiner der Arbeiter bei Befragungen sie der Erwähnung wert gefunden hätte. Im neuen Prozess waren die beiden bisher beieinander liegenden Arbeitsschritte getrennt worden; die Kommunikation konnte nicht mehr stattfinden. Das bedeutete aber, dass sich Mitarbeiter die Kennzahlen aus einem Computer besorgen mussten; und das dauerte sehr viel länger als das frühere Zurufen. Genau hier lag die Effizienzlücke. Hätte man während der Prozessplanung nicht einseitig auf das argumentative Denken vertraut, sondern auch das narrative mit einbezogen und die Mitarbeiter von ihren bisherigen Arbeitsprozessen und Abläufen erzählen lassen, dann wäre sicher auch die Wichtigkeit der Kommunikation im Zusammenhang des Gesamtprozesses zur Sprache gekommen.
Wir erleben bei unserer Arbeit immer wieder, dass durch das Denken in Geschichten Größen wie Emotionen, Denkgewohnheiten und Denkmuster der Mitarbeiter oder Rahmenbedingungen, die scheinbar nichts mit dem Projekt zu tun haben, sichtbar werden und in die Planung mit einbezogen werden können. Erst im Zusammenwirken von argumentativem und narrativem Denken bekommt man einen adäquaten Zugang zu den Zusammenhängen, die Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg eines Projekts haben.
Denken in Geschichten eröffnet Möglichkeiten
Besonders wichtig wird das narrative Denken aber immer dann, wenn es um das Ausloten neuer Möglichkeiten, um Visionen, um die Beschäftigung mit dem (noch) nicht Realen geht. »Was wäre, wenn …« ist die Frage, die jeder Erfindung, jeder Innovation vorangeht. Und auf diese Frage folgt eine Geschichte: »Dann wäre dies so oder so, … und wir könnten dies oder jenes tun …« Wenn man diese Geschichte, diese Vision entwickelt hat, dann muss natürlich auch das argumentative Denken zu seinem Recht kommen: Es muss prüfen, wie man das Ziel erreichen kann, welche Schritte dafür notwendig sind. Man sollte sich dabei jedoch nicht allzu früh auf das Argument einlassen, das sei doch sowieso alles nicht realisierbar: Wer wirklich etwas Neues schaffen will, muss erst einmal dem narrativen Denken die Oberhand lassen; das argumentative Denken soll sich ruhig erst einmal damit abmühen, zu untersuchen, wie die Geschichte Realität werden könnte. Wenn man das argumentative Denken zu früh zum Chef macht, dann kann eine gute Idee sehr schnell gekillt werden: Denn immer sprechen irgendwelche Fakten gegen das Neue.
Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn hat festgestellt, dass viele bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen von relativ jungen Wissenschaftlern gemacht wurden: Einstein, Heisenberg, Gödei, sie alle waren noch unter 30, als sie ihre entscheidenden Aufsätze publizierten (Kuhn 2002). Und warum? Nicht etwa, weil junge Menschen grundsätzlich leistungsfähiger wären. Nein, Kuhn vermutet, dass sie deshalb Neues denken konnten, weil sie noch nicht alle Fakten der bisherigen Theorien so stark internalisiert hatten, dass diese ihrer Kreativität im Wege standen. Tatsächlich sprach am Anfang aus der Sicht älterer Professoren sehr viel gegen Heisenbergs Quantenmechanik – sie kannten Daten, die der junge Forscher einfach nicht in Rechnung gezogen hatte. Doch Heisenberg glaubte an seine Idee, und nach und nach gelang es ihm, die Probleme in seiner Theorie zu lösen. Hätte er von Anfang an alle Daten und Fakten gekannt und mit einbezogen, hätte er die »Erfindung« der Quantenmechanik vielleicht sofort entmutigt aufgegeben.
»Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige«, schreibt der Zen-Meister Shunryu Suzuki (Suzuki 2001, Seite 22). Damit meint er genau das oben Beschriebene: Der Experte weiß immer schon, was geht, was nicht geht, und vor allem, wie es geht. Der Anfänger dagegen geht unbefangen an die Dinge heran und probiert erst einmal aus, was geht. Der Anfänger denkt sich erst einmal eine Geschichte aus und versucht dann, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu nimmt er dann die Experten zur Hilfe. Das Denken in Geschichten kann uns helfen, immer wieder etwas von diesem Anfänger-Geist zurückzugewinnen, indem wir einfach erzählen, wie es – auch wenn es unserem Experten-Geist unwahrscheinlich erscheint – anders sein könnte. Denn letztlich sind Geschichten die Quelle, aus der sich Kreativität und Innovation speisen.
Narratives und argumentatives Denken:
Nicht entweder – oder, sondern sowohl – als auch
Nur wenn beide Arten des Denkens zum Tragen kommen, ist erfolgreiches Handeln – im Unternehmen ebenso wie in vielen anderen Lebensbereichen – möglich. Einseitig argumentatives Denken ist in Gefahr, wichtige Realitätsbereiche auszugrenzen und zudem in seinen Fakten zu erstarren, nicht Neues mehr zu schaffen, Zusammenhänge und Wirkfaktoren auszublenden, die man einfach nicht »auf der Rechnung« hatte. Einseitig narratives Denken würde ebenso wichtige Realitätsbereiche ausgrenzen und wäre in Gefahr, sich im luftigen Raum der Geschichten und der Möglichkeiten ohne Anbindung an die Realität zu verzetteln.

STORYTELLING-TIPP:
NARRATIVES DENKEN TRAINIEREN
Im argumentativen Denken sind wir alle schon ziemlich trainiert. Wir schlagen Ihnen vor: Üben Sie sich zum Ausgleich in nächster Zeit im narrativen Denken. Erzählen Sie das Projekt, in dem Sie gerade stecken, als eine Geschichte. Was fällt Ihnen dabei auf? Wie wird sie weitergehen? Oder wenn Sie an Ihr Unternehmen denken: Wenn Sie seine Entwicklung als Reisegeschichte erzählen, in welchem Abenteuer steckt es da gerade? Oder hören Sie den Geschichten zu, die Ihre Kollegen und Mitarbeiter erzählen – und erzählen Sie selbst Geschichten, um Ihre Ideen zu vermitteln, Wissen auszutauschen, Botschaften zu übermitteln. Kurz: Denken Sie narrativ. Viele Anregungen dazu finden Sie im weiteren Verlauf dieses Buches.

Storytelling als wertschätzende Kommunikationsform