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Für meine Söhne.
Für meine Frau.
Für meine Eltern.
Für all die Bullen, die sich Tag und Nacht
da draußen dem Bösen in den Weg stellen.
Und für Dirk Banse, meinen Freund.
Einen der besten und ehrlichsten Reporter der Welt.



Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96260-5
© 20xx Piper Verlag GmbH, München
Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin
Covermotiv: Daniel Di Stefano
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

»Fahr raus, Junge!«

Manche Sätze merkt man sich sein Leben lang.

»Fahr raus, Junge«, das war der erste Satz meines ersten echten Chefs bei der BILD-Zeitung in Berlin. Es war das Jahr 1987, und ich war 18 Jahre alt. Einer meiner zahlreichen Lokalchefs in 27 Jahren Berufserfahrung sagte später einmal zu mir: »Es gibt Journalisten, die machen den Polizeijob zwei Jahre lang, weil es sich gut im Lebenslauf macht. Und es gibt Typen wie dich! Die leben das.« Er hatte recht mit dem, was mich betrifft. Mein Vater war Journalist. Er war als junger Reporter dabei, als Rudi Dutschke niedergeschossen wurde; er war Kriegsberichterstatter im Vietnamkrieg; er flog Düsenjäger in Amerika; er war mit Kampfschwimmern unterwegs; und er machte im Sonnenuntergang von der Brücke eines U-Boots Fotos, die Lothar-Günther Buchheim sicherlich Respekt abgenötigt hätten. Das, aber vor allem seine Geschichten als Polizeireporter haben mich geprägt. Ich wollte eigentlich immer Journalist werden, von kurzen Ambitionen, Polizist zu werden, abgesehen. Vom 16. Lebensjahr an machte ich in meinen Ferien Praktika bei Zeitungen: bei Segel-Magazinen, Video-Zeitschriften und dann bei der BILD-Zeitung in Berlin. Die Mauer stand noch, als ich mit knapp 18 Jahren der sich annähernden Katastrophe des verwehrten Abiturs ins Auge blicken musste. Bei einer durchgängigen Sechs in Mathematik halfen auch die sehr guten Leistungen in Englisch und Deutsch wenig. Ich rief also bei ebendiesem Chef an und fragte: »Nach den Sommerferien müsste ich ’ne Ehrenrunde drehen, dann laufe ich Amok. Steht Ihr Angebot, mich zu nehmen?« Und er sagte: »Komm rüber, Junge.«

Die anfangs erwähnten Worte, die sich so verankerten, sagte er wenig später. Es war eine Nullgeschichte: Ein Irrer warf im Suff nach der dritten durchstrittenen Nacht mit seiner alkoholkranken Lebensgefährtin irgendwo in Kreuzberg seine gesamte Einrichtung aus dem Fenster. Ich hatte den Lagedienst der Polizei – dessen Nummer rief man abends halbstündlich an, wenn die Pressestelle bereits geschlossen hatte – gebeten, mich bei der kleinstmöglichen Geschichte zu informieren. Als das Sofa runterflog, kontaktierte mich mein Informant. Es war dunkel an diesem Spätherbstabend in Berlin, Sekretärinnen, Boten, Redakteure und Layouter waren um 21 Uhr längst weg. Nur der Chef war noch da. Ich sprach ihn an: »Da dreht einer in Kreuzberg durch und kippt seine Möbel aus dem dritten Stock.« Der Redaktionsleiter stand an dem großen Fenster im siebten Stockwerk des Springer-Verlages, rechts von ihm der Osten mit den Grenztruppen, links Westberlin. Er schaute auf seine Stadt. Die Ärmel des weißen Hemds waren hochgekrempelt, und eine Zigarette klemmte zwischen seinen Zähnen. »Fahr raus, Junge.« Und in diesem Moment war ich der wichtigste Reporter der Welt – so verstand ich mich. 20 Minuten später krachte in der Urbanstraße eine Waschmaschine neben mir zu Boden, und die Trommel knallte gegen mein Knie. Andere hätten aufgehört, ich wollte den Job.

Polizeireporter überrumpeln nach tragischen Unfällen geschockte Hinterbliebene, um ihnen die Fotos ihrer in Fetzen gerissenen Verwandten abzuschwatzen. Polizeireporter sind skrupellos und lügen. Polizeireporter leben auf der Straße und hören Polizeifunk. Polizeireporter halten sich nicht an Absprachen mit der Polizei. Polizeireporter werden zynisch und warten auf große Tragödien mit möglichst vielen Toten, am besten mit Kindern, weil sich die Bilder besser verkaufen. All diese Vorurteile gegenüber dem Polizeireporterjob stimmen. Jedes für sich. Ich habe als junger Reporter Dinge getan, die ich meinen Leuten heute verbiete. Ich habe Kollegen anderer Medien wegen solcher Dinge Gewalt angedroht und in zwei Fällen angewandt. Aus Fehlern lernt man, und ich habe heute – seit mehr als 15 Jahren – den Anspruch, dass Polizeireporter dem Bild des anständigen Journalisten entsprechen müssen.

Natürlich leisten Polizeireporter aber auch einen wichtigen Beitrag: Polizeireporter decken politische Verstrickungen und Skandale auf und werden deswegen gefürchtet. Polizeireporter berichten über Rassenunruhen in Los Angeles, werden für den Pulitzer-Preis nominiert und weltberühmte Schriftsteller. Polizeireporter beleuchten Hintergründe, fragen nach, schauen hinter die Kulissen und bringen die Wahrheit ans Licht. Nicht umsonst war Billy Wilder, einer der berühmtesten Drehbuchautoren und Regisseure der Welt, vorher Polizeireporter bei der B.Z. in Berlin. In der Tat sind Polizeireporter die besten Rechercheure überhaupt. Schlaue Polizeireporter sind die besten Waffen einer Zeitung. Weil sie anders denken. Anders agieren. Und weil sie keine Angst haben, wenn es richtige Polizeireporter sind. Dass einer ein wichtiger Anzeigenkunde ist und ein Riesen-Imperium leitet, ist ihnen egal, wenn er am Vorabend eine Prostituierte verprügelt hat.

Hat man als Chefredakteur eine gute Polizeitruppe, wird man die Wahrheit erfahren. War die Schlägerei in Wedding tatsächlich »nur« eine Klopperei in einer Kiezkneipe, oder haben da drei rechte Schläger einen Gastarbeiter zusammengelegt. War das vermeintliche Opfer einer rechtsradikalen Attacke wirklich ein Opfer, oder war derjenige betrunken und wollte nach einem Sturz mit zwei Promille auf sich aufmerksam machen. Hat das SEK in der Tat einen Mann totgeschlagen, oder war die Milz dieses HIV-positiven, an Leberzirrhose und Lungenkrebs erkrankten Mannes wegen all der körperlichen Veränderungen schon nach einfachstem physischen Kontakt gerissen.

Es gibt sehr gute Polizeireporterinnen, trotzdem bewegt man sich in diesem Beruf in erster Linie in einer Männerwelt. Wer bei der Polizei arbeitet und das Extreme sucht, geht zum SEK. Mir reichte es irgendwann als normaler Journalist auch nicht mehr. Also wurde ich zeitweise Kriegsreporter. Mehr geht nicht in diesem Beruf. Sechsmal Bosnien, zweimal Haiti, Ruanda, Südafrika vor den ersten allgemeinen Wahlen, Burundi, Mittlerer Osten, Afghanistan, Nordirland. Meine Mutter war immer besorgter als mein Vater und fragte mich nach den Nebenwirkungen. Die kamen bei den Kriegsgeschichten nie. Gleichwohl ich mir stets die Frage stellte, wann denn all das Erlebte mich einholen würde. Das tat es mit der Geburt unseres ersten Sohnes. All die Ängste waren da, Ängste, die sich aus dem Alltag des Polizeireporters entwickelt haben. Was vor allem daran liegt, dass die Erlebnisse im Krieg apokalyptisch waren. Surreal. In Ruanda starben kleine Kinder neben mir, ich habe sie fotografiert. Aber ich kannte nicht ihre Geschichte. Auch nicht die der alten Frau, die ein Sniper in Sarajevo neben mir erschoss, und nicht die des jungen Demonstranten in Johannesburg in Südafrika, dem ein Geschoss einen Meter neben mir den Kopf zerschmetterte. Wohl aber kannte ich die Geschichte der jungen Frau, die in Rudow im Berliner Stadtteil Neukölln von einem Auto überfahren wurde. Polizeireporter erfahren unendlich viel über die Opfer. Herausgerissen aus der Statistik, haben die Toten Oma und Opa, Vater und Mutter, Freund und Exfreund, Geburtstag und die Feier anlässlich der bestandenen Reiterprüfung. Das tut weh, umso mehr, je älter man wird.

Ein Kriegsreporter erfährt die Momente des Elends unerklärlich intensiv, aber niemals so detailgetreu wie ein Polizeireporter. Eines meiner Fotos, das es auf die Titelseite eines Nachrichtenmagazins schaffte, hängt in meinem Arbeitszimmer und könnte die bittere Klammer dieser beiden Berufszweige in meinem Leben sein. 1993 fotografierte ich einen kleinen Jungen im Waisenhaus von Sarajevo, während die Granaten rechts und links neben dem Gebäude einschlugen. Sami war sein Name, und ich hoffe, dass er noch lebt. Knapp zwei Jahre war er damals alt, und die Heimleitung sagte, dass ich ihn doch mitnehmen solle. Aber ich war zu jung, ständig unterwegs, nie zu Hause. Samis große dunkle Kulleraugen schauen mich an, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und verfolgen mich manchmal in den Schlaf. Heute noch. Und oft drängt es mich, zurückzukehren nach Sarajevo und herauszufinden, was aus ihm wurde. Meine Frau nimmt mich dann zur Seite und sagt: »Tu es nicht, tu es um deiner Seele willen nicht.« Und sie hat recht. Sollte der Kleine den Krieg nicht überlebt haben, ist er eines dieser identifizierten Opfer, die einen heimsuchen. Bis der eigene Vorhang fällt. Ich hätte trotz allem gern den Mut, Samis Schicksal nachzuspüren, habe ihn aber nicht. Noch nicht. Vielleicht irgendwann.

Hamburg – Südafrika

Bilder sind das Wichtigste. Gerade bei der BILD-Zeitung. Fotos zählen wie kaum etwas anderes. Da hast du eine nachrichtliche Geschichte, die das Potenzial zum Stürzen eines Lokalpolitikers birgt, kannst die Sache aber nicht bebildern. »Danke schön, Wiedersehen, besorg uns Bilder. Fotos, irgendwas, sonst kannste die Sache vergessen.« Das trifft sicher nicht in allen Fällen zu, aber in den meisten.

Die folgende Story begann mit dem eben beschriebenen Problem. Und sie hatte so verflucht viel zu bieten. Ich hatte Frühdienst, bei BILD Hamburg wie eigentlich meistens. Über den Ticker kam die Meldung, dass ein Hamburger in Südafrika erschossen worden sei. Das ist verrückt, und es treibt alle Polizeireporter in den Wahnsinn: Wird ein Neuköllner in einer Eckkneipe seines Kiezes von einem etwas besseren Boxer erschlagen, kann das an einem schlechten Tag schon mal zu einer 20-Zeilen-Meldung schrumpfen. Passiert eine vergleichbare Schlägerei aber auf Mallorca oder in Tunesien, hat das Ganze beinahe Schlagzeilen-Charakter. »Ruft das Auswärtige Amt an, besorgt die Namen, ich will Hintergründe«, so etwa der Ton der Verantwortlichen bei den Boulevardzeitungen. Und, so fair will ich an dieser Stelle sein, auch bei den seriösen kann das passieren. Die Chefs, die meist selbst nur für die Galerie als Polizeireporter gearbeitet haben, wissen dann mit einem Mal sehr genau, dass sicher ein Funkwagen der Polizei die Todesnachricht an die Familie überbringt. Das möge doch wohl herauszufinden sein.

Also, ein Hamburger wurde in Südafrika erschossen, bei Pretoria, und um ganz ehrlich zu sein, wusste ich damals nicht, dass das die Hauptstadt von Südafrika ist. Ich dachte, das sei Johannesburg. Die Story wuchs im Laufe des Tages mehr und mehr. Wir hatten einen Top-Korrespondenten in Kapstadt sitzen, Thomas, mit seiner Hilfe kamen die Hintergründe ans Licht. Er besorgte uns die Namen des Getöteten und seiner Kumpane. Denn der Tote war nicht allein unterwegs gewesen. Er hatte Begleiter, insgesamt vier, darunter einen älteren Mann. In einer Fleißarbeit – gemeint ist eine Telefonaktion, bei der alle zur Verfügung stehenden Kollegen und Praktikanten die Namen der Betroffenen in den Telefonbüchern nachschlagen und die Nummern durchtelefonieren – wurden die Adressen gefunden. Es gab einen Treffer, den bekamen wir von einem Polizisten bestätigt, der die Namen für uns im Polizeicomputer abfragte – wofür er seinen Job hätte verlieren können. Zwei der Männer waren in einer Pension gemeldet. Wo wohl, auf der Reeperbahn. Mein Kollege Marco und ich fuhren hin. Es war kalt an diesem Frühjahrsmorgen, es regnete, und die »sündige Meile« zeigte sich von ihrer besonders schönen Seite. Die Penner erwachten auf ihren Bänken und beschwerten sich bei wem auch immer über die Nässe. Kampfhunde kackten an den Leinen von sichtlich genervten Prostituierten nach deren Nachtschicht zwischen geparkten Autos. Schwarzafrikaner dealten Stoff an zitternde Junkies.

Der Typ hinter der Rezeption der Pension konnte sich an die beiden Männer erinnern. »Die haben hier gewohnt, ein paar Wochen lang. Wollten einen abknallen in Afrika. Mehr weiß ich nicht.«

Damit wuchs die Geschichte: Männer aus Hamburg, eine Schießerei in Südafrika und dazu die brandneuen Infos von Thomas, dass sie möglicherweise ein Attentat auf Nelson Mandela verüben wollten. Um das weiße Südafrika zu verteidigen. Damals, im Frühjar 1994, standen die ersten freien Wahlen nach der Zeit der Apartheid an.

Mein Chef wollte Fotos der Männer haben, aber das war schwer, und Thomas sagte zu Recht, dass er Korrespondent und kein Fotobeschaffer sei. Die Stimmung war schlecht. Die Story war der Hammer, aber es fehlten die Bilder. Ich rief die Auslandsauskunft an. Ließ mir die Nummern der großen südafrikanischen Zeitungen geben und telefonierte mich von Küste bis Busch. Glücklicherweise liegen Deutschland und Südafrika in der gleichen Zeitzone, mit einer Stunde Unterschied in der Sommerzeit. Ich hatte Glück, konnte es kaum glauben, als mir eine nette Kollegin einer Zeitung in Johannesburg anbot, mir Fotos der Männer zu funken. Die hatten die dortigen Polizeireporter besorgt. Es muss gegen 20 Uhr gewesen sein, als ich meinen Redaktionsleiter bei BILD Hamburg informierte, dass wir Bilder bekommen würden. Der Mann drehte durch. Zwei Köpfe kleiner als ich, packte er mich am Kragen und schüttelte mich. Hörte gar nicht mehr auf damit. Dann lief er aus dem Raum, brüllte ein »bis gleich« und verschwand. Nach zehn Minuten kam er wieder, hielt einen Träger Bier in der Hand, den er aus der Kantine geholt hatte. »Prost, Männer, das war gut.« Solche Gesten gibt es heute nicht mehr.

Wie gesagt, die Story wuchs. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass die jungen Männer in die Fänge von Rechtsradikalen geraten waren, die ihnen den Kopf verseucht hatten mit ihrem Hass auf Schwarze. »Briefe vom Kap« nannten sich die Tiraden, die in der rechten Szene der Hansestadt herumgereicht wurden.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, ging zu meinem Chef und sagte mit der Chuzpe meiner damals gerade mal 25 Jahre: »Unser Korrespondent will in den kommenden Tagen eine große Hintergrundgeschichte machen. Da sollte ich ihm helfen.« Mein Chef sagte Ja, und ich hatte gewissermaßen mein Ticket nach Südafrika in der Hand. Meine Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld, als ich sie mit einer Tasche und meinen Kameras verließ. Dass ich sie im schlimmsten Fall nicht wiedersehen würde, auf den Gedanken bin ich damals nicht gekommen.

Ich musste zur Botschaft, um mir ein Visum zu besorgen. Dann fuhr mich ein türkischer Kollege aus der Polizeiredaktion zum Flughafen. »You want turkey or pork?«, hörte ich nach dem zweiten Wein die Stewardess noch fragen, dann schlief ich ein. Mit der Angst – was tue ich hier. Ich träumte wirre Dinge. Was wusste ich schon über Südafrika. Ich kannte es aus den Nachrichten. Sah Wellblechhütten vor mir und erschossene Menschen.

Thomas, unser Korrespondent, damals um die 40, wartete am nächsten Morgen am Flughafen Johannesburg auf mich. Dichtes Haar, Brille, breites Grinsen, Zigarette zwischen den Zähnen. Ich mochte ihn sofort, und ich glaube, dass er mich in meiner journalistischen Entwicklung sehr geprägt hat. »Ab nach Pretoria. Da fängt die Geschichte an.« Ich war fassungslos, der Mann wollte mit dem Auto fahren. In Südafrika. Mein Gott.

Ich stieg in den Leihwagen, fing wieder mit dem Rauchen an und war von der ersten Sekunde an in dieses Land verliebt. Abenteuerland, für Reporter in jedem Fall. Ein Land voller Extreme. Nazis an Land, weiße Haie im Wasser, Frauen so schön, dass es einem den Atem verschlägt, wunderbare Weine und eine Landschaft, die ihresgleichen sucht. Wir suchten die Söldner, also mussten wir in Richtung Pretoria. Dort hatten die Anhänger des AWB, der Afrikanischen Widerstandsbewegung, eine mit Waffengewalt geschützte Radiostation aufgebaut. »Es gibt ein altes Fort, da halten sich auch Veteranen des Angola-Kriegs versteckt, die für die weiße Sache arbeiten. Da fangen wir an«, erklärte Thomas. Er hatte Mut, das beeindruckte mich. An der Straße zum Fort stand ein Posten, bewaffnet, grimmig. »Wo wollt ihr hin?« Zum Kommandanten wollten wir. »Der ist nicht da, haut ab.« In dem Moment kam ein alter VW Golf die Straße herunter, der Posten nahm Haltung an und zeigte auf uns. »Zu wem wollen Sie?«, fragte der Fahrer, nachdem er ausgestiegen war. Hager, blondes Haar, große Brille, kurze Hosen, khakifarbenes Hemd, eine Pistole am Gürtel. »Zu Willem Ratte.« Ratte, das war der Name in der afrikanischen Söldnerszene. »Er steht vor Ihnen.« Ratte war freundlich, ein kleines Kind saß auf dem Beifahrersitz, er wirkte wie ein normaler Familienvater. »Und was wollen Sie von mir?« »Über die Hamburger sprechen.« Er nickte, stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zurück Richtung Fort. Um es zu verkürzen: Er kannte die drei Hamburger, alle im Alter unter 30. Er hatte sie ausgebildet. Gute Jungs seien sie gewesen. Wir sollten zu Radio Pretoria, da hätten sie Sandsäcke gepackt und Stacheldraht gegen die »Kaffern« gezogen. Schönen Gruß von Willem sollten wir bestellen, dann kämen wir rein. So war es, überall.

Die Geschichte wuchs weiter, wir recherchierten alle Hintergründe in knapp einer Woche, bekamen von der südafrikanischen Polizei die Festnahmefotos – unglaublich – und die Anschriften der Verbündeten der Hamburger. Wir sprachen mit dem Polizisten, der einen von ihnen erschossen hatte. Der ließ sich sogar fotografieren. Abends schickte ich meine Texte nach Hamburg, und die Redaktion war begeistert. Die Story war rund: die geplanten Anschläge auf den wahrscheinlichen nächsten Präsidenten Nelson Mandela, die Verbindungen zur rechten Szene, Bilder, ein Interview mit Willem Ratte. Mehr ging nicht.

Dazu kamen Eindrücke aus dem Land im Umbruch: Auf Versammlungen der Rechtsextremisten im Freien beim Grillen wurden mit riesigen Messern die Fahnen der künftigen Republik zerschnitten und verbrannt. Ihr Anführer Eugene Terreblanche kündigte einen blutigen Widerstand an. Selbst alte Omas trugen Waffen wie Cowboys am Gürtel. Die Schwarzen erhoben sich endlich und stellten sich demonstrativ neben solche Menschenansammlungen. Abenteuerland. Reporterland. Ich wollte nicht weg.

Zwei Tage später sollte ich nach Hause fliegen. »Morgen«, sagte Thomas im Hotel, »wollen in Johannesburg die Zulus demonstrieren und zeigen, dass sie nicht wählen werden. Das sehen wir uns an.« Das war kein Vorschlag, sondern beschlossene Sache. Am nächsten Morgen inmitten des Bankenviertels: schwer bewaffnete Armee- und Polizeieinheiten an jeder Ecke. Ausnahmezustand. Die Stimmung war angespannt. Mehr als 10000 Zulus waren auf dem Weg zu einer Kundgebung in der Innenstadt. Die Männer tanzten auf den Straßen, hatten Leopardenfelle umgehängt und Speere in den Händen. Kalaschnikows waren zu hören. Keine Waffe ist anhand ihres Klangs so eindeutig zu erkennen wie die AK47. Mehrere Menschen seien bereits getötet worden, sprach es sich herum. Neben dem Eingang einer Bank lag ein erschossener Mann, den Fremde mit Zeitungen abgedeckt hatten. Ich hatte schon viele Tote gesehen, aber niemals war der Zugang so einfach gewesen. Es schockte mich. Der afrikanische Wind wehte die Zeitungen weg, und der Mann mit einer Schusswunde im Hinterkopf hatte plötzlich ein Gesicht. Ich machte ein Foto, mit Soldaten im Hintergrund, als ein einheimischer weißer Fotograf in meine Richtung kam. Er trug eine kugelsichere Weste und hatte eine Pistole im Gürtel. »Da liegt ’ne Leiche«, rief ich ihm zu. »Just another one«, antwortete er und ging weiter.

Kurz darauf brach das Chaos aus. Heckenschützen feuerten von den Dächern auf die am Boden sitzenden Demonstranten. Die antworteten mit ihren Gewehren. Die Polizei, der man zu Zeiten der Apartheid immer einen Bund mit den Zulus nachgesagt hatte, um gegen den ANC vorzugehen, musste ob der anwesenden Presse Neutralität zeigen und schoss daher sowohl auf die Leute auf den Dächern als auch auf die Schützen am Boden. Jeder gegen jeden. Thomas und ich kauerten im Dreck hinter einer Mauer, und die Kugeln krachten über uns in den Putz. Eine Frau lief betend über die Straße und kam durch. Ich nahm meine Nikon F3 mit einem 24-Millimeter-Weitwinkel-Objektiv und machte Fotos von den auf der gegenüberliegenden Straßenseite schießenden Schwarzen und den auf sie zurennenden, zurückschießenden Soldaten, die mir ihren Rücken zeigten. Das dümmste Foto meines Lebens. Und das beste Foto meines Lebens, meines Reporterlebens. Es klingt verrückt, aber diese 45 Minuten des Gefechts, und 45 Minuten können sehr lang sein, waren von den Geburten meiner Söhne abgesehen die intensivsten meines Lebens. »Wenn dein Leben in Gefahr ist, weißt du, dass du lebst«, sagt Richard Gere in einem Film über den Bosnienkrieg, und er hat recht. Ein Soldat riss mich schließlich hinter einen Panzerwagen, deckte mich mit seiner Weste und erschoss einen Schwarzen nach dem anderen. Ich wollte da weg. Thomas und ich sprangen über eine Mauer, mit uns ein junger Mann, der sich vermummt hatte und einen Stein in der Hand hielt. Wir landeten im Dreck, und als wir uns aufrappelten, blieb der junge Freiheitskämpfer liegen, von einer Kugel getroffen, mit einem Loch im Kopf. Keine zwei Meter neben uns.

Dann kamen große Einheiten der Armee, die Lage beruhigte sich, die Leichen und die Verletzten wurden geborgen. Es müssen mehr als 50 Tote und an die 400 Verletzte gewesen sein. So die Schätzung der Polizei. Ich war Polizeireporter und hatte erfahren, wie schnell es einen auch ans Ende der Welt führen kann. Andere hätten aufgehört. Ich nicht.

Höhenangst

Der Kopf war schwer an diesem Morgen. Wir hatten mit ein paar Polizisten gezecht und waren in irgendeiner Jazz-Kneipe auf der Reeperbahn versackt. Ich hatte Frühdienst, wir hatten es so ausgelost, und somit hatte ich mich gegen 7 Uhr aus dem Bett gequält, war aus einem unerfindlichen Grund an der Elbe entlang gejoggt und anschließend ins Büro gefahren. Keiner war da außer der Frühsekretärin der BILD Hamburg. Eigentlich eine gute Abfangjägerin, aber an diesem Morgen versagte sie. Dachte ich. Abfangjäger nannte man die Kolleginnen, die bei eingehenden Anrufen schon am Tonfall und vor allem der Fragestellung des Lesers erkannten, ob es sich um einen Spinner handelte oder nicht.

Als Spinner galten die zahlreichen Menschen, die Tag für Tag bei der in der Zeitung für Fragen aller Art abgedruckten Nummer anriefen und nach einer Wette mit den Zechkumpanen wissen wollten, ob nun die Monroe oder Liz Taylor die größeren Brüste hatte. Die ihren Frust über die griechische Großfamilie im Haus und damit ihren ganzen Ausländerhass loswerden wollten. Oder die Landung von Ufos unweit eines Großbordells durchgeben wollten. Natürlich hatten sie Fotos davon, und die wollten sie verkaufen. Solche verbalen Anlaufstellen und Leser, die sie nutzen, gibt es auch bei den seriösen Zeitungen, bei den »Roten« aber, wie die Boulevardzeitungen wegen des aus der Zeitung herauslaufenden Blutes genannt werden, sprengen sie zuweilen die Grenze des Erträglichen. Es sei denn, man hat eine Affinität zu Irren und macht sich einen Spaß daraus, mit ihnen zu reden. Ein verstorbener Kollege hatte einmal in einer solchen Situation einer Leserin das Rezept zur Zubereitung japanischen Fisches mit Erdnüssen und Chilipaste in den Block diktiert. Später fragten wir ihn, woher er so gut kochen könne. Und der Reporter lachte: »Ich habe keine Ahnung vom Kochen. Das Rezept habe ich mir gerade ausgedacht.« Tatsächlich bedankte sich die Dame zwei Wochen später in einem Leserbrief für die nette Behandlung.

Eine solche erfuhr der Mann, den mir die Frühsekretärin an diesem Morgen durchstellte, nicht. BND-Agent sei er gewesen, vielmehr ein geheimer Informant, undercover. Dann habe man ihn fallen gelassen. Abserviert. Ohne Geld, ohne Ehre. Er wolle darüber reden, ihm sei alles egal. Und auch seine Mutter wisse, dass er anrufe. Reinen Tisch wolle er machen. Ein Irrer eben. Ich wimmelte ihn ab, ließ mir seine Nummer geben und versprach einen Rückruf. Es mag hart klingen, aber bei den Zeitungen gehen manchmal bis zu 100 solcher Anrufe am Tag ein. Ich glaubte dem Mann nicht, hatte keinen Bock und war zu müde, um in die angeblichen Verschwörungsaktivitäten deutscher Geheimdienste einzutauchen. Dazu wirkte der Mann auch nicht seriös genug. Und seine Zunge war schwer – und das um 10 Uhr morgens. Wahrscheinlich saß er neben Aliens im Bordell und besoff sich.

Acht Stunden später. Das gleiche Telefon klingelte, und am anderen Ende war ein guter Freund und Informant der Hamburger Feuerwehr. »Person droht« war das Stichwort; das hieß, dass ein Mann oder eine Frau irgendwo auf einem Dach stand und damit drohte, sich in die Tiefe zu stürzen. »Auf geht’s«, Marco war schon in der Tür. Der Hüne gilt als Legende unter den Polizeireportern. Kaum einer auf der Straße war so vernetzt wie er. Kam man zum Beispiel zu einer Geiselnahme, grinsten die Kollegen und fragten – wohl in stiller Hoffnung, dass er verschlafen habe –, wo denn Marco sei. Der stieg dann nach dem Zugriff aus dem Führungsfahrzeug des SEK am Tatort und hatte allen mal wieder gezeigt, was eine Harke ist.

Wir fuhren los, in Marcos BMW, Richtung Hafen. Ein paar Telefonate mit dem Mobiltelefon hatten inzwischen ergeben, dass ein Mann auf dem Dach eines etwa 15 Meter hohen Mehrfamilienhauses stand, mit einer Handgranate drohte und sich regelmäßig mit Benzin übergoss. Er wollte sich das Leben nehmen und dabei einen großen Auftritt hinlegen. Das kannten wir, es war nicht der erste Fall dieser Art. Marco parkte irgendwo am Straßenrand, nahm seine Kameras, und wir schlugen uns beide die Kragen unserer Winterjacken hoch. Kalt war es, Winter eben, der Schnee flog ob des Winds fast waagerecht. Der Pressesprecher der Feuerwehr war vor Ort und führte uns bis zur Flatterleine. »Weiter könnt ihr nicht ran, wenn der springt, knallt er euch auf den Kopf. Dann haben wir drei Tote.«

Ein Beamter des Spezialeinsatzkommandos SEK kam aus dem Hauseingang. »Wo sind die BILD-Jungs?«, fragte er in die Runde der anwesenden Fotografen, und wir zeigten auf uns. »Moin. Heißt einer von euch Behrendt?« »Ich.« Mehr brachte ich vor Erstaunen nicht heraus. Der Beamte schaute mich direkt an. »Der Typ hat angeblich heute Morgen mit dir gesprochen. Er sei Agent oder so. Ihr habt nicht zugehört, nun macht er Ernst.« Das saß. »Und nun?«, fragte ich. Der Beamte grinste. »Er will mit dir reden. Dann quatscht den mal runter. Auf uns hört er nicht.«

Die Szenerie war von der Sekunde an gespenstisch für mich. Es war dunkel und stürmisch, das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge erhellte zuckend den Ort, und die Kollegen waren neidisch, weil wir aufs Dach hinaufgehen durften. Ich hätte in diesem Moment gern mit ihnen getauscht. Je weiter Marco und ich durch den Altbau mit den hölzernen Geländern und den Dielen nach oben kamen, desto leerer wurde es. Die Mieter standen alle auf der Straße, in jedem Stockwerk kauerten bewaffnete Polizisten, Sanitäter standen bereit, hatten Tragen in der Hand und Plastikbehälter mit Transfusionsmaterialien. Im 5. oder 6. Stockwerk waren es nur noch Elite-Polizisten des SEK, die unter einer Dachluke standen. »Da oben isser. Viel Glück, Jungs. Und ruft uns, wenn es ernst wird.« Es sei erwähnt, dass so etwas heute nicht mehr möglich wäre; heute würden sich die Polizisten als die gewünschten Reporter ausgeben und den Selbstmordkandidaten schlicht umhauen, wenn sich die Situation dazu ergibt.

Ich ging vor, Marco war hinter mir. »Hallo, ich bin Michael Behrendt. Wir haben telefoniert«, rief ich durch den stürmischen Wind, als wir oben auf dem Dach angekommen waren. Der Mann war betrunken, er wankte und stand bedrohlich dicht an der Dachkante, unter ihm gähnende Leere mit einer Aufschlagdistanz von 15 Metern. »Warum haben Sie mir nicht zugehört?« Er drohte mit der Granate. »Komm von der Kante weg, es stürmt, das weht dich runter.« Er reagierte nicht. Schaute mal böse, mal traurig. »Ich war bei dem Verein, Scheiß-Geheimdienst. Die haben mich verarscht. Komm zu mir, ich will reden.« Ich habe Höhenangst, und wie. Seit ich Kind war. »Aber nicht da vorn«, sagte ich also, »weiter hier.« Er stimmte zu. »Aber der Fotograf verschwindet, der sieht wie ein Bulle aus.« Ich war Marco nicht böse, dass er ging, und fühlte mich doch von ihm allein gelassen. Ich stand mit diesem Mann und seiner Granate in einem Wintersturm mit Höhenangst auf einem Dach und wusste, dass der Typ sauer auf mich war. Mehr als eine Stunde lang unterhielten wir uns. Über den BND, den ich damals nur aus den Nachrichten kannte. Über seine Mutter und über seine Familie und über die Arbeit, die er für den Geheimdienst gemacht haben wollte. Und immer wieder nahm er den Benzin-Kanister, übergoss sich mit Sprit und hielt drohend ein Feuerzeug in die Höhe.

Ich weiß nicht, was ich ihm versprochen habe. Ich hatte Angst, schlicht Angst. Der Sturm war immens, und ich hatte die Befürchtung, dass es uns irgendwann von dem schneeglatten Dach in die Tiefe wehen würde. »Komm, Alter, ich setz mich für dich ein, aber lass uns auf dem Dachboden reden. Da sind keine Bullen, aber wir erfrieren hier«, brachte ich hervor. Er nickte. Vielleicht war ihm nur kalt, vielleicht wollte er auch aufgeben oder brauchte einen warmen Kaffee oder Schnaps. Jedenfalls folgte er mir. Ich konnte das Benzin riechen, als er wieder abdrehte: »Du bist doch ein Bulle, du Schwein, erzähl mir nichts.« Ich beruhigte ihn, ging die Stufen der Klapptreppe hinunter. »Nein, ich bin Reporter, du hast mich angerufen. Komm jetzt, ich friere.«

Erstmals konnte ich den Mann richtig erkennen, weil Licht aus dem Dachboden und dem darunter liegenden Flur nach oben schien. Er war mindestens 1,80 Meter groß und kräftig. Er trug einen weißen Maleroverall, hatte dichtes Haar und einen Schnurrbart. Er kam mir nach, langsam, die Granate in der Hand. Den Kanister ließ er stehen. Ich war bereits auf den Planken des Dachbodens angekommen, als er wieder drohte, die Granate zu zünden und fallen zu lassen. Dann wäre ich tot, in wenigen Sekunden. »21, 22, 23, bumm«, zählen die Soldaten im Film, wenn sie den Splint gezogen haben. Ich wollte nicht mit so einer Geschichte in die Annalen der BILD-Zeitung eingehen. Der Mann brüllte wieder. »Du bist vom Verfassungsschutz, du Schwein, ich glaube dir kein Wort.« Ich sprach nach oben, und Schnee fiel auf mich herab. »Ich bin Reporter, verflucht.« »Dann zeig mir deinen Ausweis.« Ich griff in meine Innentasche, holte meinen Presseausweis hervor und hielt ihn nach oben. In dem Moment, als der Mann ihn nehmen wollte, griffen die SEK-Beamten zu. Sie zerrten den Kerl durch die kleine Öffnung, kickten die Granate zur Seite, und der Typ drehte durch. Schlug um sich wie ein Epileptiker. Sechs Beamte waren nötig, ihn zu überwältigen. Ich rannte die Treppe runter. Zu Marco. In Sicherheit. Später stellte sich heraus: Die Granate war nicht echt, seine Geschichte schon.