Hamburg – Südafrika
Bilder sind das Wichtigste. Gerade bei der BILD-Zeitung. Fotos zählen wie kaum etwas anderes. Da hast du eine nachrichtliche Geschichte, die das Potenzial zum Stürzen eines Lokalpolitikers birgt, kannst die Sache aber nicht bebildern. »Danke schön, Wiedersehen, besorg uns Bilder. Fotos, irgendwas, sonst kannste die Sache vergessen.« Das trifft sicher nicht in allen Fällen zu, aber in den meisten.
Die folgende Story begann mit dem eben beschriebenen Problem. Und sie hatte so verflucht viel zu bieten. Ich hatte Frühdienst, bei BILD Hamburg wie eigentlich meistens. Über den Ticker kam die Meldung, dass ein Hamburger in Südafrika erschossen worden sei. Das ist verrückt, und es treibt alle Polizeireporter in den Wahnsinn: Wird ein Neuköllner in einer Eckkneipe seines Kiezes von einem etwas besseren Boxer erschlagen, kann das an einem schlechten Tag schon mal zu einer 20-Zeilen-Meldung schrumpfen. Passiert eine vergleichbare Schlägerei aber auf Mallorca oder in Tunesien, hat das Ganze beinahe Schlagzeilen-Charakter. »Ruft das Auswärtige Amt an, besorgt die Namen, ich will Hintergründe«, so etwa der Ton der Verantwortlichen bei den Boulevardzeitungen. Und, so fair will ich an dieser Stelle sein, auch bei den seriösen kann das passieren. Die Chefs, die meist selbst nur für die Galerie als Polizeireporter gearbeitet haben, wissen dann mit einem Mal sehr genau, dass sicher ein Funkwagen der Polizei die Todesnachricht an die Familie überbringt. Das möge doch wohl herauszufinden sein.
Also, ein Hamburger wurde in Südafrika erschossen, bei Pretoria, und um ganz ehrlich zu sein, wusste ich damals nicht, dass das die Hauptstadt von Südafrika ist. Ich dachte, das sei Johannesburg. Die Story wuchs im Laufe des Tages mehr und mehr. Wir hatten einen Top-Korrespondenten in Kapstadt sitzen, Thomas, mit seiner Hilfe kamen die Hintergründe ans Licht. Er besorgte uns die Namen des Getöteten und seiner Kumpane. Denn der Tote war nicht allein unterwegs gewesen. Er hatte Begleiter, insgesamt vier, darunter einen älteren Mann. In einer Fleißarbeit – gemeint ist eine Telefonaktion, bei der alle zur Verfügung stehenden Kollegen und Praktikanten die Namen der Betroffenen in den Telefonbüchern nachschlagen und die Nummern durchtelefonieren – wurden die Adressen gefunden. Es gab einen Treffer, den bekamen wir von einem Polizisten bestätigt, der die Namen für uns im Polizeicomputer abfragte – wofür er seinen Job hätte verlieren können. Zwei der Männer waren in einer Pension gemeldet. Wo wohl, auf der Reeperbahn. Mein Kollege Marco und ich fuhren hin. Es war kalt an diesem Frühjahrsmorgen, es regnete, und die »sündige Meile« zeigte sich von ihrer besonders schönen Seite. Die Penner erwachten auf ihren Bänken und beschwerten sich bei wem auch immer über die Nässe. Kampfhunde kackten an den Leinen von sichtlich genervten Prostituierten nach deren Nachtschicht zwischen geparkten Autos. Schwarzafrikaner dealten Stoff an zitternde Junkies.
Der Typ hinter der Rezeption der Pension konnte sich an die beiden Männer erinnern. »Die haben hier gewohnt, ein paar Wochen lang. Wollten einen abknallen in Afrika. Mehr weiß ich nicht.«
Damit wuchs die Geschichte: Männer aus Hamburg, eine Schießerei in Südafrika und dazu die brandneuen Infos von Thomas, dass sie möglicherweise ein Attentat auf Nelson Mandela verüben wollten. Um das weiße Südafrika zu verteidigen. Damals, im Frühjar 1994, standen die ersten freien Wahlen nach der Zeit der Apartheid an.
Mein Chef wollte Fotos der Männer haben, aber das war schwer, und Thomas sagte zu Recht, dass er Korrespondent und kein Fotobeschaffer sei. Die Stimmung war schlecht. Die Story war der Hammer, aber es fehlten die Bilder. Ich rief die Auslandsauskunft an. Ließ mir die Nummern der großen südafrikanischen Zeitungen geben und telefonierte mich von Küste bis Busch. Glücklicherweise liegen Deutschland und Südafrika in der gleichen Zeitzone, mit einer Stunde Unterschied in der Sommerzeit. Ich hatte Glück, konnte es kaum glauben, als mir eine nette Kollegin einer Zeitung in Johannesburg anbot, mir Fotos der Männer zu funken. Die hatten die dortigen Polizeireporter besorgt. Es muss gegen 20 Uhr gewesen sein, als ich meinen Redaktionsleiter bei BILD Hamburg informierte, dass wir Bilder bekommen würden. Der Mann drehte durch. Zwei Köpfe kleiner als ich, packte er mich am Kragen und schüttelte mich. Hörte gar nicht mehr auf damit. Dann lief er aus dem Raum, brüllte ein »bis gleich« und verschwand. Nach zehn Minuten kam er wieder, hielt einen Träger Bier in der Hand, den er aus der Kantine geholt hatte. »Prost, Männer, das war gut.« Solche Gesten gibt es heute nicht mehr.
Wie gesagt, die Story wuchs. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass die jungen Männer in die Fänge von Rechtsradikalen geraten waren, die ihnen den Kopf verseucht hatten mit ihrem Hass auf Schwarze. »Briefe vom Kap« nannten sich die Tiraden, die in der rechten Szene der Hansestadt herumgereicht wurden.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, ging zu meinem Chef und sagte mit der Chuzpe meiner damals gerade mal 25 Jahre: »Unser Korrespondent will in den kommenden Tagen eine große Hintergrundgeschichte machen. Da sollte ich ihm helfen.« Mein Chef sagte Ja, und ich hatte gewissermaßen mein Ticket nach Südafrika in der Hand. Meine Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld, als ich sie mit einer Tasche und meinen Kameras verließ. Dass ich sie im schlimmsten Fall nicht wiedersehen würde, auf den Gedanken bin ich damals nicht gekommen.
Ich musste zur Botschaft, um mir ein Visum zu besorgen. Dann fuhr mich ein türkischer Kollege aus der Polizeiredaktion zum Flughafen. »You want turkey or pork?«, hörte ich nach dem zweiten Wein die Stewardess noch fragen, dann schlief ich ein. Mit der Angst – was tue ich hier. Ich träumte wirre Dinge. Was wusste ich schon über Südafrika. Ich kannte es aus den Nachrichten. Sah Wellblechhütten vor mir und erschossene Menschen.
Thomas, unser Korrespondent, damals um die 40, wartete am nächsten Morgen am Flughafen Johannesburg auf mich. Dichtes Haar, Brille, breites Grinsen, Zigarette zwischen den Zähnen. Ich mochte ihn sofort, und ich glaube, dass er mich in meiner journalistischen Entwicklung sehr geprägt hat. »Ab nach Pretoria. Da fängt die Geschichte an.« Ich war fassungslos, der Mann wollte mit dem Auto fahren. In Südafrika. Mein Gott.
Ich stieg in den Leihwagen, fing wieder mit dem Rauchen an und war von der ersten Sekunde an in dieses Land verliebt. Abenteuerland, für Reporter in jedem Fall. Ein Land voller Extreme. Nazis an Land, weiße Haie im Wasser, Frauen so schön, dass es einem den Atem verschlägt, wunderbare Weine und eine Landschaft, die ihresgleichen sucht. Wir suchten die Söldner, also mussten wir in Richtung Pretoria. Dort hatten die Anhänger des AWB, der Afrikanischen Widerstandsbewegung, eine mit Waffengewalt geschützte Radiostation aufgebaut. »Es gibt ein altes Fort, da halten sich auch Veteranen des Angola-Kriegs versteckt, die für die weiße Sache arbeiten. Da fangen wir an«, erklärte Thomas. Er hatte Mut, das beeindruckte mich. An der Straße zum Fort stand ein Posten, bewaffnet, grimmig. »Wo wollt ihr hin?« Zum Kommandanten wollten wir. »Der ist nicht da, haut ab.« In dem Moment kam ein alter VW Golf die Straße herunter, der Posten nahm Haltung an und zeigte auf uns. »Zu wem wollen Sie?«, fragte der Fahrer, nachdem er ausgestiegen war. Hager, blondes Haar, große Brille, kurze Hosen, khakifarbenes Hemd, eine Pistole am Gürtel. »Zu Willem Ratte.« Ratte, das war der Name in der afrikanischen Söldnerszene. »Er steht vor Ihnen.« Ratte war freundlich, ein kleines Kind saß auf dem Beifahrersitz, er wirkte wie ein normaler Familienvater. »Und was wollen Sie von mir?« »Über die Hamburger sprechen.« Er nickte, stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zurück Richtung Fort. Um es zu verkürzen: Er kannte die drei Hamburger, alle im Alter unter 30. Er hatte sie ausgebildet. Gute Jungs seien sie gewesen. Wir sollten zu Radio Pretoria, da hätten sie Sandsäcke gepackt und Stacheldraht gegen die »Kaffern« gezogen. Schönen Gruß von Willem sollten wir bestellen, dann kämen wir rein. So war es, überall.
Die Geschichte wuchs weiter, wir recherchierten alle Hintergründe in knapp einer Woche, bekamen von der südafrikanischen Polizei die Festnahmefotos – unglaublich – und die Anschriften der Verbündeten der Hamburger. Wir sprachen mit dem Polizisten, der einen von ihnen erschossen hatte. Der ließ sich sogar fotografieren. Abends schickte ich meine Texte nach Hamburg, und die Redaktion war begeistert. Die Story war rund: die geplanten Anschläge auf den wahrscheinlichen nächsten Präsidenten Nelson Mandela, die Verbindungen zur rechten Szene, Bilder, ein Interview mit Willem Ratte. Mehr ging nicht.
Dazu kamen Eindrücke aus dem Land im Umbruch: Auf Versammlungen der Rechtsextremisten im Freien beim Grillen wurden mit riesigen Messern die Fahnen der künftigen Republik zerschnitten und verbrannt. Ihr Anführer Eugene Terreblanche kündigte einen blutigen Widerstand an. Selbst alte Omas trugen Waffen wie Cowboys am Gürtel. Die Schwarzen erhoben sich endlich und stellten sich demonstrativ neben solche Menschenansammlungen. Abenteuerland. Reporterland. Ich wollte nicht weg.
Zwei Tage später sollte ich nach Hause fliegen. »Morgen«, sagte Thomas im Hotel, »wollen in Johannesburg die Zulus demonstrieren und zeigen, dass sie nicht wählen werden. Das sehen wir uns an.« Das war kein Vorschlag, sondern beschlossene Sache. Am nächsten Morgen inmitten des Bankenviertels: schwer bewaffnete Armee- und Polizeieinheiten an jeder Ecke. Ausnahmezustand. Die Stimmung war angespannt. Mehr als 10000 Zulus waren auf dem Weg zu einer Kundgebung in der Innenstadt. Die Männer tanzten auf den Straßen, hatten Leopardenfelle umgehängt und Speere in den Händen. Kalaschnikows waren zu hören. Keine Waffe ist anhand ihres Klangs so eindeutig zu erkennen wie die AK47. Mehrere Menschen seien bereits getötet worden, sprach es sich herum. Neben dem Eingang einer Bank lag ein erschossener Mann, den Fremde mit Zeitungen abgedeckt hatten. Ich hatte schon viele Tote gesehen, aber niemals war der Zugang so einfach gewesen. Es schockte mich. Der afrikanische Wind wehte die Zeitungen weg, und der Mann mit einer Schusswunde im Hinterkopf hatte plötzlich ein Gesicht. Ich machte ein Foto, mit Soldaten im Hintergrund, als ein einheimischer weißer Fotograf in meine Richtung kam. Er trug eine kugelsichere Weste und hatte eine Pistole im Gürtel. »Da liegt ’ne Leiche«, rief ich ihm zu. »Just another one«, antwortete er und ging weiter.
Kurz darauf brach das Chaos aus. Heckenschützen feuerten von den Dächern auf die am Boden sitzenden Demonstranten. Die antworteten mit ihren Gewehren. Die Polizei, der man zu Zeiten der Apartheid immer einen Bund mit den Zulus nachgesagt hatte, um gegen den ANC vorzugehen, musste ob der anwesenden Presse Neutralität zeigen und schoss daher sowohl auf die Leute auf den Dächern als auch auf die Schützen am Boden. Jeder gegen jeden. Thomas und ich kauerten im Dreck hinter einer Mauer, und die Kugeln krachten über uns in den Putz. Eine Frau lief betend über die Straße und kam durch. Ich nahm meine Nikon F3 mit einem 24-Millimeter-Weitwinkel-Objektiv und machte Fotos von den auf der gegenüberliegenden Straßenseite schießenden Schwarzen und den auf sie zurennenden, zurückschießenden Soldaten, die mir ihren Rücken zeigten. Das dümmste Foto meines Lebens. Und das beste Foto meines Lebens, meines Reporterlebens. Es klingt verrückt, aber diese 45 Minuten des Gefechts, und 45 Minuten können sehr lang sein, waren von den Geburten meiner Söhne abgesehen die intensivsten meines Lebens. »Wenn dein Leben in Gefahr ist, weißt du, dass du lebst«, sagt Richard Gere in einem Film über den Bosnienkrieg, und er hat recht. Ein Soldat riss mich schließlich hinter einen Panzerwagen, deckte mich mit seiner Weste und erschoss einen Schwarzen nach dem anderen. Ich wollte da weg. Thomas und ich sprangen über eine Mauer, mit uns ein junger Mann, der sich vermummt hatte und einen Stein in der Hand hielt. Wir landeten im Dreck, und als wir uns aufrappelten, blieb der junge Freiheitskämpfer liegen, von einer Kugel getroffen, mit einem Loch im Kopf. Keine zwei Meter neben uns.
Dann kamen große Einheiten der Armee, die Lage beruhigte sich, die Leichen und die Verletzten wurden geborgen. Es müssen mehr als 50 Tote und an die 400 Verletzte gewesen sein. So die Schätzung der Polizei. Ich war Polizeireporter und hatte erfahren, wie schnell es einen auch ans Ende der Welt führen kann. Andere hätten aufgehört. Ich nicht.