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Stürmische Gefahr

 

SAJ - Special Agents of Justice 01

 

 

Alia Cruz

 

 

 

 

Copyright © 2014 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

 

ISBN-Buch: 9783864432958

ISBN-ebook-PDF: 9783864432965

ISBN-ebook-Epub: 9783864432972

 

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog

 

1. Kapitel

 

2. Kapitel

 

3. Kapitel

 

4. Kapitel

 

5. Kapitel

 

6. Kapitel

 

7. Kapitel

 

8. Kapitel

 

9. Kapitel

 

10. Kapitel

 

11. Kapitel

 

12. Kapitel

 

13. Kapitel

 

14. Kapitel

 

15. Kapitel

 

16. Kapitel

 

Epilog

 

Nachwort

 

Quellenverzeichnis

 

Die Autorin

Prolog

 

Es war unerträglich heiß. Sein T-Shirt hatte er bereits durchgeschwitzt. Es war nicht so, dass er die Hitze nicht gewohnt war, schließlich war er in Texas geboren und aufgewachsen, aber in Baton Rouge im Staat Louisiana war es kaum zu ertragen. Die Luftfeuchtigkeit war um Längen schlimmer als in Texas. Anfang August, und das Thermometer war auf 41°C Grad geklettert. Aber bald würde er wieder in Austin sein. Seiner täglichen Arbeit nachgehen in seinem klimatisierten Büro. Würde die Manuskripte korrigieren, die auf seinem Schreibtisch landeten, und am Wochenende Motorrad fahren, Tennis spielen und am Samstagabend mit seinen Freunden die Bars unsicher machen.

Und mit seinem Bruder. Hoffentlich.

Vielleicht hätte er doch die Polizei einschalten sollen. Eine Vermisstenanzeige aufgeben, wie es jeder andere vernünftige Mensch getan hätte. Mittlerweile war Barrett seit drei Wochen verschwunden. Seit dem Tod der Eltern hatte er sich um Barrett gekümmert. Nicht gut genug, denn wie sonst konnte es sein, dass er in den letzten Wochen festgestellt hatte, wie wenig er eigentlich über seinen Bruder wusste? Dieser war schon immer ein Computerfreak gewesen, hatte sich Viren ausgedacht, sich weiß der Teufel wo eingehackt. Nie hätte er gedacht, dass diese Spielereien Barrett mal in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würden. Deswegen war er nicht zur Polizei gegangen und hatte selbst angefangen, Detektiv zu spielen.

In was hatte Barrett sich reingeritten?

Der Hafen war noch hell erleuchtet, auch wenn es mittlerweile Mitternacht war. Aber das Licht an dieser entfernten Stelle ließ zu wünschen übrig. Der Mississippi sah aus wie eine braune Suppe. Bei dem Gedanken, was sich dort unten alles befinden könnte, schauderte es ihm. Er bückte sich und holte die SIG Sauer aus seinem Stiefel. Ein Geräusch rechts von ihm ließ ihn herumfahren. Er sah in die Richtung und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Außer einem leichten Schaben hatte er nichts gehört. Kein Motorgeräusch, weder von einem Auto noch von einem Boot. Sie hätten längst hier sein müssen. Jetzt wurde ihm doch ein wenig mulmig. Er war allein. Niemand wusste, dass er in Louisiana war. Wie einfach konnte ihn jetzt jemand aus dem Verkehr ziehen. Nur, weil er eine Waffe hatte, hieß das noch lange nicht, dass er mir nichts dir nichts seinen Bruder wieder herbeizaubern konnte.

Er nahm eine Bewegung neben sich wahr. Aber zu spät. Der Mann musste schon lange im Schatten gelauert haben. Als ihn ein Schlag auf den Kopf traf, schwante ihm, dass er gleich wissen würde, was sich in den Tiefen des Mississippis befand.

1

 

19. August 2005, New Orleans, Charity Hospital

 

Scarlett schloss die Tür ihres Spindes und verließ den Ankleideraum der Krankenschwestern. Sie betrat den Flur und die Sohlen ihrer weißen Gesundheitsschuhe quietschten auf dem Boden. Als sie noch in der Notaufnahme gearbeitet hatte, hätte man dieses Geräusch nie wahrgenommen. Die Hektik und Lautstärke in der Notaufnahme war unbeschreiblich gewesen. Als die Stelle in der Abteilung Inneren- und Intensivmedizin frei geworden war, hatte sie sich sofort versetzen lassen. Sie war zwar belastbar, aber die Doppelschichten waren irgendwann an ihre Substanz gegangen. Es gab einfach zu wenig Personal in der Notaufnahme und die Krankenhausleitung war nicht bereit gewesen, neue Krankenschwestern einzustellen. Todmüde nach Hause zu kommen, dann aber zu erschöpft zu sein, um einschlafen zu können, war keine Option für die Zukunft. Sie hatte sich dabei erwischt, dass sie nur noch gereizt war. Damit war niemandem gedient. Besonders nicht den Menschen, die Hilfe, Freundlichkeit und Trost erwarteten. Deswegen war sie schließlich Krankenschwester geworden.

Die Geräusche der Beatmungsmaschinen und das Piepen der anderen Geräte, die es in ihrer neuen Abteilung zu Hauff gab, um die Menschen am Leben zu halten, nahm sie kaum wahr. Sie war froh, die Nachtschicht in dieser Woche zu haben, so hatte sie den heißen Tag verschlafen können. Die Klimaanlage in ihrem Appartement war auf angenehme 21°C Grad eingestellt. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht, als sie jetzt ihre Schicht übernahm.

Mia gähnte. „Bin ich im Eimer.“

„War viel los heute?“

„Das Übliche, aber die Klimaanlage ist für eine Stunde ausgefallen. Alle sind in Panik geraten.“

„Kann ich mir vorstellen.“

Sie gingen die Patientenlisten durch und dann watschelte Mia zu ihrem Spind. Mia war eine wunderschöne Frau, aber sie hatte mindestens achtzig Kilo Übergewicht. Scarlett schaute in den Mülleimer unter dem Tresen. Acht Snickers hatte ihre Kollegin heute zu sich genommen, abgesehen davon, dass sie sicher auch ein warmes Mittagessen hatte. In ihrem Job hätte sie es besser wissen und sich gesünder ernähren müssen, aber solange ihre Blutwerte in Ordnung waren, würde Mia auf ihre Nervennahrung nicht verzichten. So hatte jeder seine eigenen Mechanismen, mit denen er sein Leben meisterte.

Sie machte Ordnung auf dem Tresen und wollte ihre erste Runde beginnen, als Dr. Lance Del Monte auf sie zukam. Del Monte stammte aus einer reichen Familie in New Orleans, hatte seinen Abschluss in Harvard gemacht. Er war einer der besten Ärzte der USA. Spezialisiert auf Gehirnchirurgie. Zu allem Überfluss sah er auch noch unglaublich gut aus. Anfang vierzig, groß, schlank, dunkelbraune Haare, die an den Schläfen langsam ergrauten. Was ihn noch seriöser und noch besser aussehen ließ. Seine braunen Augen hatten einen wachen Ausdruck, und ihnen schien nichts zu entgehen. Sämtliche Schwestern erstarrten in Ehrfurcht, wenn er die Flure entlangschritt. Niemand schien ihm jemals zu widersprechen oder seine Entscheidungen in Frage zu stellen. In zwei Monaten sollte seine Nachfolge als Klinikleiter bekannt gegeben werden. Zu allem Überfluss war er auch noch zu haben. Er war nie verheiratet gewesen. Man hatte ihm zahlreiche Affären nachgesagt, aber ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, wusste sie nicht. Er schien ganz in seinem Beruf aufzugehen. Vielleicht war er auch noch einer der wenigen Männer, die auf die richtige Frau warteten. Auf die Eine, die alles in den Schatten stellte, und mit der er eine Familie gründen konnte. Vielleicht war er auch einfach nur vorsichtig. Ein Mann mit seinem Familienhintergrund, in seiner Position mit so viel Geld auf dem Konto wurde schnell Opfer von Frauen, die es eben nur auf das Bankkonto abgesehen hatten.

Scarlett hatte sich von all dem nie beeindrucken lassen. Mit reichen, mächtigen Männern hatte sie genug Erfahrung sammeln können, und die waren auch nicht besser, als jeder andere aus armen Verhältnissen – eher schlimmer. Aber vielleicht lag es an dieser unbeeindruckten Haltung, dass Lance Del Monte zu ihr ein fast freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte. Sie war die Einzige, die ihn beim Vornamen nennen durfte. Seine Einladung zum Essen hatte sie jedoch letzte Woche ausgeschlagen. Trotzdem gab es keine Veränderung in ihrer täglichen Zusammenarbeit. Das rechnete sie ihm hoch an.

Lächelnd lehnte er sich an den Tresen. „Hallo, Scarlett.“

„Hallo, Lance.“

„Die Hitze macht alle ganz verrückt. Ich denke mal, du hast den Tag verschlafen?“

„Ja. Irgendwas Neues, das ich wissen müsste?“ Verdammt, er war so nett zu ihr. Instinktiv versuchte sie, nur über die Arbeit mit ihm zu sprechen. Etwas anderes konnte und wollte sie nicht zulassen. Das Flirten hatte sie aus ihrem Leben gestrichen, denn aus einem Flirt konnte schnell mehr werden. Dieses „mehr“ würde zu nichts führen. Die Vergangenheit war noch zu frisch, sie tat noch zu weh. Sie hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass Vertrauen und Verliebtheit zu schnell missbraucht werden konnten. Eines hatte sie sich geschworen, und das war, die Fehler aus der Vergangenheit nicht mehr zu wiederholen, selbst wenn es bedeutete, ihr Leben allein zu verbringen.

Er griff über den Tresen und angelte nach einem Patientenblatt. „Unser John Doe ist noch nicht aufgewacht.“

John Doe war ein unbekannter Mann, den man aus dem Mississippi gefischt hatte. Er war bewusstlos ins Regional Medical Center Krankenhaus in Baton Rouge eingeliefert worden. Schnell hatte man ihn nach New Orleans zu Del Monte geflogen. Er war mit einer Epiduralblutung eingeliefert worden, die durch ein Schädel-Hirn-Trauma ausgelöst worden war. Die Polizei vermutete, dass er einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten haben musste. Arbeiter des Hochseehafens hatten ihn herausgefischt, gerade noch rechtzeitig. Del Monte hatte seinen Schädel hinter und vor dem Ohr öffnen müssen, um die Blutung und Schwellung in den Griff zu bekommen. Die Operation war gut verlaufen, aber durch die Sauerstoffunterversorgung lag er immer noch im Koma. Im Moment konnte niemand voraussagen, wann er aufwachen würde. Und selbst wenn er aufwachte, war nicht absehbar, ob es keine Folgeschäden geben würde. Die Polizei rief jeden Tag an, um sich nach ihm zu erkundigen. Soweit Scarlett wusste, gab es im gesamten Staat Louisiana keine Vermisstenanzeige, deren Beschreibung auf ihn gepasst hätte.

„Gar keine Veränderung?“ Sie sah öfter nach ihm, als nach anderen Patienten. Warum, konnte sie sich selbst nicht erklären. Irgendetwas faszinierte sie an ihm. Er sah trotz seines Zustandes gut aus, aber das allein konnte nicht die Erklärung sein. Gestern Nacht hatte sie zwei Stunden bei ihm gesessen. Nach Feierabend. Sie hatte ihn betrachtet, mit ihm geredet und ihm etwas vorgelesen. Vielleicht war es einfach das Geheimnisvolle, das ihn umgab, das sie so faszinierte? Nicht zu wissen, wer er war? Aber auch dies war keine Erklärung, wie sie sich eingestehen musste. Etwas ging von ihm aus, das sie so in seinen Bann zog. Das war vollkommen verrückt. Sie fühlte sich sicher in seiner Gegenwart und nicht allein, wie sonst wenn sie in ihrer Wohnung war. Dabei war doch der Unbekannte der Hilflose in dieser Konstellation und nicht sie selbst. Verrückt, ja das war einfach verrückt. Sie hatte ihm sogar ein paar Mal über die weichen blonden Haare gestrichen. Eine intime Berührung, die eigentlich seiner Familie vorbehalten sein sollte, aber es war niemand für ihn da. Also hatte sie es sich erlaubt. Sie hatte schon lange keinen Mann mehr berührt, und obwohl er ihre Berührung nicht erwidern konnte, hatte es sich so angefühlt. Sie wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, denn das war nun wirklich unerklärlich. Wahrscheinlich tat sie es aus Mitleid, weil er niemanden hatte, der ihm jetzt beistand. Das musste der Grund sein. Was nicht erklärte, warum sie sich immer wieder vorstellte, wie sich seine Lippen auf ihrer Haut anfühlen würden. Er hatte einen wunderschön geformten Mund, oh Gott, sie würde ihn wahrscheinlich demnächst küssen. Sie musste sich am Riemen reißen. Der Mann lag im Koma und war ihr Patient! Sie zwang sich, sich wieder auf Lance zu konzentrieren.

„Seine Vitalfunktionen sind hervorragend. Er müsste längst aufgewacht sein.“

„War die Polizei heute wieder hier?“

„Ja, langsam gehen die mir auf die Nerven. Ich habe mehrfach erklärt, dass ich ihnen Bescheid gebe, wenn sich etwas tut. Ist das so schwer zu verstehen?“

„Vielleicht solltest du ihnen eine Zeichnung machen.“ Lance grinste. „Ich bin zu Hause, wenn was sein sollte. Ich muss mal in meinem eigenen Bett schlafen.“

Trotz seiner gesellschaftlichen Stellung ging er voll in seinem Beruf auf und lebte im Grunde im Krankenhaus. Sie lächelte ihn an. „Schlaf gut.“

Er nickte ihr zum Abschied zu und sie sah ihm nach. Sie musste ihre Einstellung noch einmal überdenken. Nicht jeder Mann in Führungs- und Machtpositionen war gleichzeitig ein schlechter Mensch. Als er aus dem Gang verschwunden war, nahm sie ihre Runde durch die Zimmer auf. Routine setzte ein. Die alte Dame auf Zimmer 151 verlangte nach einem Schlafmittel, und wie immer gab Scarlett ihr ein pflanzliches Beruhigungsmittel. Solange die Patientin glaubte, es sei eine chemische Keule, schlief sie sofort ein.

Einen Streit musste sie noch schlichten. Wie fast jeden Abend, beschwerte sich der Jazzclubbesitzer Danny Artiste über den Fernseher im Nebenzimmer. Geduldig hörte sie sich an, dass er schließlich einen Herzinfarkt gehabt hätte und die nächtliche Ruhe dringend benötige. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen. Herzinfarkt war ziemlich übertrieben. Er war mit einem Kreislaufzusammenbruch eingeliefert worden. Da er sehr gut zahlte, gewährte man ihm ein paar Tage im Krankenhaus. Wie sie von den anderen Schwestern erfahren hatte, zog Danny diese Nummer schon seit einigen Jahren ab. Er führte einen Jazzclub gemeinsam mit seiner Schwester, die wohl die Hosen in dieser Konstellation anhatte. Es war sein Weg, ein paar Tage Urlaub zu bekommen. So nervtötend der schwergewichtige Afroamerikaner auch sein konnte, Scarlett mochte ihn. Vor zwei Nächten hatte er ihr zwanzig Dollar beim Pokern abgeknöpft. Dabei hatte er sie zum Lachen gebracht mit Geschichten aus dem Club. Obwohl das ein Ablenkungsmanöver war, aber sie hatte ihm den Spaß gelassen und so getan, als bemerke sie nicht, dass er die Karten in seinem Bademantel verschwinden ließ.

„Sagen Sie dem jungen Hüpfer nebenan, er soll den Fernseher ausmachen!“

„Mach ich sofort, und Sie legen sich hin und schlafen jetzt.“

Der junge Hüpfer war eine fast sechzigjährige Frau, die tatsächlich einen Herzinfarkt und Schlaganfall gehabt hatte. Sie weigerte sich, die Kopfhörer für den Fernseher zu benutzen. Angeblich bekäme sie davon Tinnitus.

Leise öffnete Scarlett die Tür zu ihrem Zimmer. Die Frau schlief. Wie jeden Abend schaltete Scarlett den Fernseher aus und hatte damit ihre Runde beendet.

Sie ging zum Ende des Flurs, wo sich ein kleiner Aufenthaltsraum für die Schwestern befand. Lily Blue hatte heute ebenfalls Nachtdienst. Von allen Schwestern mochte sie Lily am liebsten. Lily war nie neugierig. Manchmal saßen sie einfach zusammen und schwiegen. Ein angenehmes Schweigen. Von Mia hatte Scarlett erfahren, dass Lily aus einem der ärmsten Viertel stammte und fünf Schwestern und einen Bruder hatte. Die Mutter war schwer an Diabetes erkrankt und der Vater vor zwei Jahren an einem Hirntumor gestorben. Sie hatten nicht das Geld gehabt, ihn von Del Monte operieren zu lassen. Lily hatte sich nach dem Tod ihres Vaters im Krankenhaus beworben und machte ihre Arbeit hervorragend. Lance hatte gesagt, dass sie sicher eine gute Ärztin geworden wäre, aber wenn man aus dem Osten von New Orleans kam, wo das Sumpfgebiet weiter erschlossen wurde, hatte man keine große Zukunft. Lily war eine Schönheit. Mokkafarbene Haut mit hohen Wangenknochen, sinnliche, volle Lippen und braune Augen mit unendlich langen schwarzen Wimpern. Ihr Haar war dunkelbraun mit Locken, die sie kaum bändigen konnte. Lily lächelte nie. Sie war freundlich zu den Patienten, aber es war immer nur ein kurzes Mundwinkel-in-die-Höhe-Ziehen. Ihre Augen hatten immer einen traurigen Ausdruck. Heute Abend sah sie aus, als hätte sie geweint.

„Hi, Lily.“

„Scarlett.“

„Alles in Ordnung?“ Natürlich würde sie keine Antwort darauf bekommen. Scarlett nahm sich einen Apfel aus der Schale auf dem Tisch und biss herzhaft hinein.

Fast hätte sie sich an ihrem Bissen verschluckt, als Lily plötzlich anfing zu sprechen. „Manchmal möchte ich einfach abhauen. Mein Bruder hat schon wieder Mist gebaut. Meine Mutter hat Diabetes und trinkt zu viel, und meine älteste Schwester hat beschlossen, den Staat zu verlassen und nach Kalifornien zu ziehen.“

So viele Informationen auf ein Mal. Wow. Lily hatte noch nie freiwillig etwas von sich preisgegeben. Scarlett war so verdutzt, dass sie zunächst nichts sagen konnte. Sie brauchte einige Sekunden. „Der Reihe nach. Was für einen Mist hat dein Bruder verzapft?“

„Wie immer, ist beim Ladendiebstahl erwischt worden. Da er vierzehn ist, müssen wir jetzt wieder mal dafür aufkommen. Die Schule schwänzt er auch ständig. Meine Mutter hatte heute wieder einen Zuckerabfall, weil sie nur billigen Fusel zum Mittag hatte. Meine älteste Schwester will es als Model in Kalifornien versuchen.“

Nicht der schlechteste Plan, und sollte das Schönheitsgen in der Familie stark sein, standen die Chancen nicht schlecht. „Was ist mit deinen anderen Schwestern, helfen die dir?“

„Drei von ihnen. Ruby ist Kellnerin, Lola ist arbeitslos, aber sie bemüht sich, etwas zu finden. Zara arbeitet in einem kleinen Laden und verkauft Talismane und diesen Voodookram für Touristen. Wir vier halten alles über Wasser. Faith ist erst acht, sie geht natürlich noch zur Schule.“ Es war schwer, sich vorzustellen, was für ein Leben Lily führte, wenn man wie Scarlett aus einer zwar nicht reichen, aber privilegierten Familie stammte. Schlecht war es ihr nie gegangen. Außerdem war sie ein Einzelkind. Mit zwanzig war sie in andere Kreise geraten. Vermeintlich bessere Kreise, die sich im Nachhinein als schlechter entpuppt hatten. Aber darüber sprach sie nicht gern. „Kann ich irgendwie helfen?“

Lily schüttelte die Locken. „Nein, deshalb habe ich es dir nicht erzählt. Ich glaube, ich musste es einfach mal aussprechen.“

„Jederzeit und wenn ich mehr tun kann, dann sag es mir. Versprochen?“

Lily sah nachdenklich aus. Erwartete sie jetzt, dass Scarlett ihr auch etwas aus ihrem Leben erzählte? Manchmal wünschte sie sich so sehr einer Freundin alles erzählen zu können, aber sie konnte einfach nicht. Sie kannte Lily auch nicht gut genug, auch wenn sie das Gefühl hatte, ihr vertrauen zu können. Dennoch schaffte sie es nicht, über ihren Schatten zu springen. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie die Bekanntschaft mit Lily auf belanglose Gespräche auf der Arbeit beschränkte. Allerdings hatte sie noch gar nicht ausprobiert, ob es ihr nicht doch besser gehen würde, einfach mal loszulassen und über alles zu reden. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und Lily hatte ihre eigenen Sorgen. Sie sollte nicht noch in ihr verkorkstes Leben mit einbezogen werden, das war einfach nicht fair.

„Du aber auch“, sagte sie. „Ich muss jetzt die Medikamente für die Morgenschicht vorbereiten.“

Scarlett warf den angebissenen Apfel in den Mülleimer. Er schmeckte ihr auf einmal nicht mehr. Eine innere Unruhe hatte Besitz von ihr ergriffen. Zeit, nach John Doe zu sehen.

 

 

Dallas, Texas

 

Cameron Evans ließ seinen Finger über den antiken Sekretär gleiten. Staub. Wie er Staub hasste. Hatte diese verdammte Putzfrau wieder geschlampt. Sein Haus hatte auf den ersten Blick sauber gewirkt, aber bei genauerer Prüfung nicht mehr. Er ging zu seinem großen Schreibtisch in der Mitte des Zimmers und drückte einen Knopf unter dem Tisch. Sofort erschien sein Haushälter im Raum.

„Was kann ich für Sie tun, Sir?“

Cameron winkte ihn heran und dirigierte ihn zu dem antiken Möbelstück. „Ziehen Sie die weißen Handschuhe an.“

Sein Mitarbeiter tat wie ihm geheißen und holte weiße Stoffhandschuhe aus der Innentasche seines Butlerjacketts. Cameron packte das Handgelenk des Mannes und führte seine Finger über das Holz.

„Sehen Sie sich diese Sauerei an.“

„Es tut mir sehr leid, Sir. Rosa ist für diese Aufgabe zuständig, ich werde sie instruieren, dass so etwas nicht wieder vorkommt.“

„Es wird nicht wieder vorkommen. Entlassen. Umgehend.“

„Aber Sir, sie hat Familie.“

Seit wann wagte er es, ihm zu widersprechen? Hitze breitete sich in Cameron aus. Er atmete tief durch. „Es interessiert mich nicht. Kümmern Sie sich darum, Don, oder Sie können ebenfalls ihre Papiere abholen. Nur weil ich diesen Wohnsitz in letzter Zeit hauptsächlich für geschäftliche Besprechungen nutze, heißt das nicht, dass er verkommen kann.“

„Natürlich nicht, Sir.“ Don verbeugte sich. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“

„Tun Sie das. Und veranlassen Sie, dass in fünfzehn Minuten ein heißes Bad für mich eingelassen ist.“

Er wartete, bis Don den Raum verlassen hatte und zündete sich eine Zigarre an. Er war müde und ihn fröstelte ein wenig. Draußen herrschten immer noch an die 30°C Grad, aber die Klimaanlage im Haus war auf 18°C Grad eingestellt. Er hasste schwitzen. Seit diesem kleinen Herzanfall vor acht Jahren hatte er große Schwierigkeiten, die Hitze im Süden der USA zu ertragen. Aber manchmal fror er auch ohne ersichtlichen Grund von jetzt auf gleich. Meist wenn er sich aufgeregt hatte. Er goss sich einen Bourbon ein. Zigarre und Bourbon, nicht gerade das, was der Arzt empfohlen hatte. Aber in letzter Zeit waren seine Nerven zum Zerreißen angespannt. Außerdem sollte er mit achtundfünfzig Jahren selbst wissen, was gut für ihn war.

Die Besprechung heute hatte ihn ermüdet. Es langweilte ihn, immer dieselben Gesichter zu sehen. Über Konzessionen zu sprechen, sich mit seinen ganzen verschachtelten Firmen im Ölgeschäft durch den Dschungel von Vorschriften und Gesetzen zu manövrieren. Früher war alles einfacher. Die richtige Summe Geld an der richtigen Stelle deponieren, und man war auf der sicheren Seite. Nicht, dass das heutzutage nicht mehr funktionierte, aber die Anzahl an korrupten Beamten war gesunken, und es wurde alles immer schwieriger. Das ganze Ölgeschäft langweilte ihn. Aber sich zurückziehen kam nicht in Frage, denn dann könnte er seine Nebentätigkeiten nicht mehr ausführen. Der Waffenhandel war das Einzige, was ihm noch einen Kick verschaffte.

Spannender war, dass er in Texas sowie in Louisiana seine Finger in der Politik hatte. Noch nicht in dem Maße, wie er es sich vorstellte, aber es hatte keine Eile.

Er schaute auf die Uhr. Sein Bad müsste soweit sein. Er wollte den Raum verlassen, als das rote Telefon klingelte. Soweit er wusste, hatte der Präsident auch eins. Also hatte auch er sich eins für Notfälle in diesem Haus in Dallas und in seinem Haus in Baton Rouge installieren lassen. Nur seine engsten Vertrauten hatten diese Nummer. Wobei er niemandem wirklich vertraute. Der Anruf konnte nur Schwierigkeiten bedeuten.

„Was?“

„Mister Evans, Byron Turner hier.“

„Sie müssen sich nicht jedes Mal vorstellen, ich sehe Ihre Nummer auf dem Display. Was ist los?“

„Er weigert sich immer noch. Er will seinen Bruder sehen.“

Cameron umfasste den Hörer so fest, dass die Hülle knackte. „Wie oft wollen Sie mir noch mit Lappalien die Zeit stehlen? Wenn Sie selbst nicht in der Lage sind, dann engagieren Sie jemanden, der ihn zur Kooperation zwingt.“

„Und was ist mit dem Bruder?“

„Gute Frage, Turner, darum wollten Sie sich kümmern. Was ist mit ihm?“ Er hatte diesen überfreundlichen Ton angeschlagen von dem seine Mitarbeiter wussten, dass dieser der gefährlichste war. Cameron musste grinsen. Turner, dieses Würstchen, würde jetzt mit schlotternden Knien am Telefon stehen.

„Äh, ich bin dran, Sir.“

„Dann weiß ich nicht, was dieses Telefonat soll. Sie werden ja wohl mal ein paar Tage ohne mich in Baton Rouge auskommen.“ Warum hielt er eigentlich an diesem Wurm fest? Der machte zu viele Fehler. Aber er war absolut loyal, er würde ihm sogar die Schuhe sauber lecken, wenn es von ihm verlangt würde. „Turner, keine weiteren Schwierigkeiten. Haben wir uns verstanden? Und kein Versagen mehr.“

„Nein, Sir.“

Cameron legte auf. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Erst vor einigen Wochen hatte er sich liften lassen, war aber mit dem Ergebnis noch nicht ganz zufrieden. Aber er musste sich jetzt endlich um andere Dinge kümmern, musste dringend zurück nach Baton Rouge. Dort war die Zentrale seiner politischen Waffentätigkeiten. Das Ölgeschäft lief in Texas von allein. Er hatte genug Zeit hier verplempert. Im Flur warf er einen Blick in die Eingangshalle. Eine weinende Rosa redete auf Don ein.

„Don! Rufen Sie den Flughafen an. Mein Jet soll morgen früh um acht bereitstehen. Ich muss zurück nach Baton Rouge.“ Er wollte sich das Geflenne nicht weiter ansehen, doch er hielt inne. Rosa war eigentlich ein hübsches Ding. „Und Sie!“ Er deutete mit dem Finger auf sie. Sie sah ihn von unten erschrocken an. „Kommen Sie rauf, wenn Sie Ihren Job behalten wollen.“ Er beobachtete, wie ihr Gesicht erst Überraschung, dann Argwohn spiegelte. Aber sie setzte sich in Bewegung. Langsam ging sie die Stufen hoch, als würde sie den letzten Gang zur Hinrichtung antreten. Wenn sie ihre Familie ernähren wollte, sollte sie sich nicht so anstellen.

Sie stand vor ihm. Mexikanerin, eindeutig. Hatte er sie selbst eingestellt? Oder war es Don gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Die schwarzen Locken waren ein wenig wirr und die schwarzen Augen gerötet. Die Nase ebenfalls. Er mochte blonde Frauen, aber heute war es egal. Mit irgendwas musste er schließlich seinen Stress abbauen.

„Komm mit.“

Sie folgte ihm den langen Flur entlang, in gebührendem Abstand. Diesen Abstand würde er gleich verringern.

Er öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und betrat das angrenzende Badezimmer. Er prüfte kurz die Wassertemperatur im Whirlpool. Perfekt.

„Zieh dich aus.“

Ihre schwarzen Augen weiteten sich, dann schüttelte sie den Kopf. Mit Widerstand war bei den mexikanischen Dingern immer zu rechnen. Er wusste zwar nicht allzu viel über sie, aber das, was er zu sagen hatte, zog bei solchen Leuten immer. „Hör zu. Du tust jetzt, was ich sage, sonst werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder eine Anstellung bekommst, und deine Familie wieder in den Slums von Mexiko landet.“

Wie erwartet begann sie, sich auszuziehen. Er tat das Gleiche. Trotz seiner Jahre konnte er stolz auf seinen Körper sein. Immer noch durchtrainiert und kein Gramm Fett. Sein Gesicht war in chirurgischer Behandlung. Seine Haare waren zwar grau, aber ein Blick in den Spiegel sagte ihm mal wieder, dass ihm die Farbe perfekt stand. Sogar besser als das ursprüngliche blond. Er stieg in die Wanne und winkte Rosa zu sich. Sie zitterte. Das gefiel ihm.

„Bitte …“

Gegen dieses Wort war er immun. Hätte er es sonst so weit in seinem Leben bringen können? Er packte sie, erlaubte ihr, sich mit den Armen an den seitlichen Griffen der Wanne festzuhalten. Sie hatte einen schönen großen Busen. Sein Schwanz war schon steif allein von ihrem Anblick. Er hatte zu lange keinen Sex gehabt. Er hielt sich an ihren Armen fest während er sie fickte. Es war ihm egal, ob sie blaue Flecke davontragen würde. Es war ihm auch egal, dass sie weinte. Kurz vor dem Höhepunkt verschwamm ihr Gesicht vor ihm. Und wie immer sah er dann nur eine vor sich: Hannah.

 

 

Baton Rouge, Louisiana

 

Barrett spielte nervös mit seinem Haargummi. Wann würden sie wiederkommen? Seit Tagen hielten sie ihn hier in diesem Zimmer gefangen. Zimmer konnte man das kaum nennen. Ein Stuhl, ein Tisch, eine Pritsche. Kein Fenster, nur kahle Wände, die von einer Stahltür unterbrochen wurden.

Mittlerweile wusste er nicht mehr, ob Tag oder Nacht war. Auch nicht wie lange er schon hier war.

Die Temperatur war immer gleich. Er hatte bereits den Schacht für die Klimaanlage inspiziert, aber da hatte er keine Chance durchzukommen. Es hätte gerade mal sein Fuß durchgepasst.

Mittlerweile musste ihn die Firma vermissen und sein Bruder sowieso. Andererseits hatte er sich mit Leuten angelegt, die einen einfach verschwinden lassen konnten. Er lebte nur noch, weil sie etwas von ihm wollten. Etwas, das er nicht tun wollte. Aber lange würden sie nicht mehr warten. Sie würden Mittel und Wege finden, ihn zu zwingen. Ein kalter Schauder lief über seinen Rücken. Aidan hatte so recht gehabt, er hatte ihn immer wieder gewarnt, dass er sich eines Tages in Schwierigkeiten bringen würde. Aber wer hört schon auf den großen Bruder? Es war alles nur ein Riesenspaß gewesen. Diese ganze Hackerei. Das Schlimmste, was er gemacht hatte, war das Konto der reichen alten Lady von nebenan leer zu räumen. Schon einen Monat später hatte sie ja wieder diesen dicken Pensionsscheck bekommen. Seine Arbeit bei IBM hatte er immer zuverlässig und sauber erledigt. Andere Leute sammelten Briefmarken, er dachte sich Viren aus und hackte sich in anderer Leute Leben ein. Wo war da das Problem? Ernsthaften Schaden hatte er nicht angerichtet. Aber das Spiel sollte jetzt ernst werden, und das machte ihm Angst. Der Gummi in seiner Hand gab nach. „Fuck“, entfuhr es ihm. Langsam strich er sich die langen hellbraunen Haare hinter die Ohren. Sie waren strähnig und ungewaschen. Wie gern hätte er eine Dusche genommen, aber das hatten sie ihm nicht erlaubt. In der Ecke des Raumes stand ein Pisstopf, das war alles.

Die Stahltür gab ein quietschendes Geräusch von sich. Dieser eklige Typ mit dem kahl geschorenen Kopf betrat den Raum. Einmal hatte er versucht ihn zu überwältigen, aber der Typ konnte Karate und sein Angriff wurde locker abgewehrt. Auch wenn der Kerl dünn wie ein Streichholz war, in Sachen Kampftechnik war er Barrett weit voraus. Ohne Waffe hatte er keine Chance hier rauszukommen. Außerdem hatte er die meiste Zeit seines Lebens am Rechner verbracht, wie hätte er da im Nahkampf geschult sein können? Wenn er sich recht erinnerte, hieß der Typ Byron Turner.

„Ich hab hier was für dich.“

Barrett fing das Portmonnaie auf, das ihm Turner zuwarf. Er erkannte es sofort. Das war das abgenutzte Ding seines Bruders.

„Du wolltest deinen Bruder sehen? Wir haben ihn. Wir bringen dich zu ihm, wenn du getan hast, was wir verlangen.“ Nach einem Fingerschnipsen betrat ein großer Mann in einem schwarzen Anzug den Raum. Security. Der bullige Mann stellte einen Laptop auf den Tisch und verschwand wieder. Turner grinste und zog eine Waffe.

„Wenn dir die Geldbörse nicht reicht, kann ich auch Ivan bitten wiederzukommen, er hat so seine Methoden, andere zu überzeugen.“

Barrett sank auf den Stuhl. War er ein Feigling, wenn er sich jetzt nicht weiter widersetzte? Er hatte Angst um sich und seinen Bruder. „Wie geht es meinem Bruder?“

„Noch gut.“

Blufften die Mistkerle? Doch wie hätten sie sonst an Aidans Papiere kommen können? Mit zitternden Händen klappte er den Laptop auf. Würden sie am Ende beide sterben? Auch wenn er tat, was sie verlangten?

„Es tut mir so leid, Aidan“, flüsterte er und begann, die Programme aufzurufen.

 

 

20. August 2005, New Orleans, Charity Hospital

 

Heute hatte Scarlett nur kurz nach John Doe sehen können. Ein Schlaganfallpatient war reingekommen. Sie hatte lange mit den Angehörigen zusammengesessen, und jetzt war ihre Schicht zu Ende. Die Übergabe war gemacht, und sie war müde. Doch jetzt um sechs Uhr morgens war die beste Zeit, noch einmal nach John zu sehen. Frühstück für die nicht im Koma liegenden Patienten gab es zwischen sieben und acht. Eine Stunde Ruhe, niemand würde bemerken, dass sie jetzt noch bei ihm saß. Leise betrat sie sein Zimmer. Er lag wie immer vollkommen ruhig da. Sie zog sich den Stuhl heran, der am Fenster stand.

„Ich bin es, Scarlett. Keine Sorge, ich lese dir heute nichts vor.“ Sie musste schmunzeln. „Wahrscheinlich gruselst du dich bereits vor mir. Vom Winde verweht einem Mann vorzulesen. Aber es ist mein Lieblingsbuch. Wegen dieses Romans heiße ich Scarlett. Aber das habe ich dir ja schon erzählt.“ Sie hielt inne. Wie jedes Mal fragte sie sich, ob er sie hören konnte. Niemand konnte das beantworten. Einige Patienten hatten erzählt, dass sie zumindest die Stimmen der Angehörigen wahrgenommen hatten. Wenn dem so war, hatte sie ihm viel zu viel erzählt. Wer konnte schon wissen, wer er wirklich war? Ihre Vergangenheit beinhaltete ein paar Dinge, die sie keinem Fremden erzählen sollte. Das konnte gefährlich für sie werden. Bei ihrem Glück war er vielleicht Journalist und würde eine heiße Story aus ihrem Leben machen. Sie rief sich zur Ordnung, das wäre einfach ein zu großer Zufall, sie hatte in letzter Zeit die Angewohnheit entwickelt, sich in manche Dinge hineinzusteigern. Sie musste sich selbst mal wieder vertrauen. Sie hatte ihm all die traurigen Details aus ihrer Vergangenheit erzählt, weil es sich gut angefühlt hatte, sich auszusprechen. Es war besser, ihm alles zu erzählen, als beispielsweise Lily. Sie musste einfach davon ausgehen, dass er sich nicht würde erinnern können.

Seine Züge waren entspannt, auch wenn der Schlauch aus seinem Mund ragte. Sie fragte sich, welche Augenfarbe er hatte. Wahrscheinlich blau, denn seine Haare waren blond. Er lag seit gut drei Wochen hier. Mittlerweile waren seine Haare etwas gewachsen. Natürlich nicht hinterm Ohr, da hatte man sie wegrasiert. Bald würden sie auch da nachwachsen und die winzige Narbe überdecken, die die Operation hinterlassen hatte. Sie strich ihm einige Strähnen aus der Stirn.

Warum interessierte er sie so? Welche Augenfarbe er hatte, wie sich seine Stimme anhörte? Sie hätte ein Augenlid anheben können. Die Ärzte hatten das sicher oft genug getan, aber das wollte sie nicht. Sie wollte, dass er es von allein tat. Wie würde er sie dann ansehen? Kein Mensch wusste, ob sein Gehirn Schaden erlitten hatte und in welchem Zustand er erwachen würde, wenn er denn aufwachte. Zu viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Aber die wichtigste Frage war: „Wer bist du?“

Wenn sie bei ihm war, dann fühlte sie sich endlich nicht mehr allein. Seine Nähe gab ihr Trost, obwohl er sie überhaupt nicht wahrnehmen konnte, sich mit ihr unterhalten oder sie berühren konnte. Hätte er ihr gesagt, dass sie all das ändern konnte? Dass sie dieses selbst auferlegte Exil durchbrechen konnte? Würde er ihr helfen? Aber warum sollte er, sie war eine Fremde für ihn. Sie wünschte sich, dass es anders wäre. Sie war nie gern allein gewesen in ihrem Leben, aber sie musste damit klarkommen. Im Grunde hatte sie hier nichts verloren, aber was sprach dagegen, wenigstens die Momente mit ihm zu genießen, wenn sie sich dadurch besser fühlte. Sie ertappte sich dabei, dass sie lächelte, als sie wieder mal den Blick über seinen Körper schweifen ließ. Auch wenn er sorgsam zugedeckt war, konnte man erkennen, dass er groß und sein Körper perfekt war. Schließlich hatte sie ihn auch schon gewaschen. Sie hatte alles an ihm gesehen. Vom perfekten Oberkörper zu den breiten Schultern hin zu den muskulösen Oberarmen. Sie hatte auch tiefer geschaut. Die schmale Taille … wenn sie an sein Geschlecht dachte, wurde ihr heiß im Gesicht. Für ihre extrem unprofessionellen Gedanken und Gefühle hatte sie sich mehr als einmal gescholten. Aber alles an seinem Körper war nicht nur beeindruckend, sondern löste in ihr eine Wärme und Sehnsucht aus, die sie nicht benennen konnte. Seine Hilflosigkeit wenn sie sich um ihn kümmerte, hinterließ ein Brennen hinter ihrem Brustbein, und sie ließ es sich nicht nehmen sich um ihn zu kümmern, pflegte und versorgte ihn als hätte sie allein einen Anspruch darauf.

Ob er ein Arbeiter war? Das würde die Muskeln erklären, die nicht nach Fitnessstudio, sondern harter, körperlicher Arbeit aussahen. Dennoch, dazu waren seine Hände zu gepflegt. Sie konnte rätseln so viel sie wollte, solange er nicht aufwachte, und mit jemandem sprach, würde sie es nicht erfahren.

Was, wenn er Familie hatte? Eine Frau? In diesem Fall hätte sie mit der Familie fühlen müssen, die ihn nun sicher schmerzlich vermisste. Es war egoistisch und im Grunde ungeheuerlich von ihr, aber wenn sie ganz tief in sich hineinhorchte, mochte sie im Moment gar nicht daran denken, dass da vielleicht jemand auf ihn wartete und sich Sorgen machte.

Er war ihr John Doe.

Sie schob diesen Gedanken schnell beiseite. Wie konnte sie nur so etwas Trauriges überhaupt in Erwägung ziehen? Jeder Mensch verdiente es, dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Sie seufzte innerlich und strich ihm noch einmal über die Stirn. Sie fühlte sich so sehr zu ihm hingezogen. Unglaublich. Nicht zum ersten Mal vermutete sie, dass es daran lag, dass er der Einzige war, mit dem sie reden konnte. Dem sie auf wundersame Weise all ihre Ängste und Sorgen anvertraut hatte. Sie wusste, dass er irgendwann wieder aufwachen würde. Dann würde sie einen Freund verlieren. Er würde ihnen sagen können, wer er ist, seine Familie, vielleicht seine Frau würden kommen und er wäre kein Teil ihres Lebens mehr. Ein Gedanke, der sie froh für ihn und etwas traurig für sie selbst werden ließ. Aber bis es soweit war, war sie für ihn da. Sie leistete ihm Gesellschaft und war seine Freundin, wie auch er ihr Freund war. „Wir haben eine seltsame Freundschaft wir beide, nicht wahr? Ich bin verrückt oder? “ Dabei hielt sie seine Hand. Er bewegte seine Finger.

Sie sprang auf. Er hatte die Hand bewegt! Sie starrte auf seine Finger. Nichts, sie lagen ruhig auf dem Laken. Sie überprüfte alle Anzeigen auf den Geräten. Nichts. Keine Anomalie. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Mit Sicherheit hatte sie sich getäuscht. Sie musste dringend nach Hause und ins Bett. Sie redete jede Nacht mit einem Komapatienten und verlor langsam den Bezug zur Realität. Sie blieb noch einen Moment und hielt nochmal eine Weile seine Hand. Nichts.

Vielleicht sollte sie doch mal mit Dr. Lance Del Monte essen gehen.

Als sie das Zimmer verließ, wusste sie, dass sie sich dieses Date noch hundert Mal vornehmen konnte. Am Ende würde sie doch wieder kneifen.

2

 

New Orleans

 

Da war Nebel. Undurchdringlicher Nebel. Etwas sagte ihm, dass er weiter musste. Er hatte etwas Dringendes zu erledigen. Aber wie sollte er vorwärtskommen, wenn er in diesem Nebel nichts sehen konnte? Bewegte er sich überhaupt? Wo war er? Er wollte rufen, fragen, ob es hier noch etwas anderes außer diesem Nebel gab, aber aus seiner Kehle kam kein Laut.

Dann dämmerte es ihm. Das musste ein Traum sein. Er schlief.

Er musste unbedingt aufwachen. Aber auch das ging nicht. Am Anfang, als er begann, den Nebel zu sehen, war da zudem noch Schmerz gewesen, aber der wurde immer weniger, je mehr Nebel sich bildete. Manchmal hatte er das Gefühl, dass jemand ihn berührte, aber sein Körper blieb eigenartig schwerelos.

War er tot? War das der Zustand, in dem er bis in alle Ewigkeit verharren sollte? Panik ergriff von ihm Besitz, aber nicht lange, denn der Nebel umfing ihn wieder wie Watte. Zuckerwatte. Da war ein Duft. Manchmal. Lieblich und süß, wie ein Strauß Rosen. Wenn dieser Duft da war, war da auch diese Stimme. Wunderschön und melodisch, auch wenn er nicht verstehen konnte, was sie sagte. Er wollte unbedingt näher an diese Stimme heran. Woher kam sie? Er konnte in diesem Nebel nichts sehen.

Jemand hatte seine Hand genommen, da war er sicher. Die Person mit der wundervollen Stimme. Warum konnte sie ihn berühren, er sie aber nicht sehen?

Er drückte die Hand. Das war ein Fehler. Die Hand zog sich zurück und auch die Stimme verschwand. Das durfte nicht sein. Mit all seiner Kraft versuchte er den Nebel zu durchdringen.

Er nahm ein unangenehmes Piepen wahr. Der Nebel lichtete sich ein wenig. Er musste sich weiter anstrengen. Das Piepen wurde lauter und der Nebel weniger. Ein helles Licht wie von einem Blitz fuhr durch seinen Körper, ließ seine Augen schmerzen. Das war nicht der Himmel, und da war auch kein Nebel mehr. Das war eine weiße Zimmerdecke. Er blinzelte und ignorierte den Schmerz in seinen Augen. Er konnte nicht atmen, da steckte etwas in seinem Hals. Panisch griff er danach und genauso panisch fing ein Gerät neben ihm an zu piepsen. Die hohen Töne um ihn herum machten ihn fast wahnsinnig.

Er hörte, dass sich jemand näherte. Schritte, jemand rief nach einem Arzt. War jemand verletzt oder ging es um ihn?

Jemand sprach beruhigend auf ihn ein. Ein Mann. Das war nicht die Stimme, die er die ganze Zeit gehört hatte, die ihn aus dem Nebel geführt hatte. Langsam verstand er. Er war in einem Krankenhaus. Die Menschen hier sprachen ruhig und geduldig mit ihm, er hatte einen Unfall oder so was gehabt. Jetzt wollten sie ihm den Schlauch aus dem Hals ziehen. Eine Schwester befolgte die Anweisungen des Arztes, auch ihre Stimme war nicht die Richtige. Als sie den Schlauch entfernten, musste er furchtbar husten, fast hätte er wieder Panik bekommen, denn erst bekam er keine Luft. Doch dann, ganz langsam erinnerte sich sein Körper daran, wie man atmet.

„Können Sie uns Ihren Namen sagen?“

Er bewegte einen Finger und seine Beine. Ja, sein Körper erinnerte sich daran, wie er zu funktionieren hatte, aber sein Geist, hatte keine Ahnung wer er war, geschweige denn, wie er in dieses Krankenhaus gekommen war.

 

*

 

Scarlett wälzte sich von einer Seite auf die andere. Drei Mal war sie aufgestanden, um die Anzeige der Klimaanlage zu kontrollieren. 21°C Grad, warum war ihr so unerträglich heiß? Sie war todmüde und in wenigen Stunden musste sie wieder zur Nachtschicht aufbrechen. Gar nicht gut. Sie musste unbedingt schlafen. Sie schaute auf den Wecker. Schon früher Nachmittag. Viel zu spät, um noch eine Schlaftablette zu nehmen.