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Marco Sonnleitner

Kinderland

Bartholomäus Kammerlanders zweiter Fall

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © jock+scott / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4372-5

1. Kapitel

Vor fünf Wochen

Waldgebiet östlich von Benediktbeuern

Lächeln. Er sollte das Lächeln üben, weil es bei ihm so aussah, als wäre ihm ein Bus übers Gesicht gefahren. Das wiederum täte den Kindern Angst machen, und das wollten sie ja in Zukunft vermeiden, oder?

Ja, hatte er gesagt.

Oder?

Ja, vermeiden.

Richtig. Zumindest so lange wie möglich. Kriegst du das hin, Veit?

Ja.

Ist doch jetzt eigentlich auch viel einfacher als früher, oder? Du musst die Kinder nur noch abholen und hinbringen. Viel einfacher, oder?

Ja, schon.

Na, siehst du. Und heute wär’s ja auch nicht so wichtig. Aber übe es ruhig einmal.

Ja.

Doch so richtig glücklich war Veit Mooshammer nicht damit. Wobei er auch nicht unglücklich damit war. Glücklich- und Unglücklichsein, das waren Zustände, derer sich Veit Mooshammer so nicht bewusst wurde. Es war eher dunkler oder heller im Kopf, ein bisschen mehr Druck oder ein bisschen weniger. Rechts vorn meistens. Manchmal war es auch ein Stechen. Und an den hellen Tagen eben gar kein Druck. Das war dann so, als würde der Kopf auf einmal nicht mehr so viel wiegen wie sonst.

Dunkler oder drückender wurde es aber immer dann, wenn sich irgendetwas veränderte. Darin glich Veit den meisten Menschen: Er mochte keine Veränderungen. Die Dinge sollten so bleiben, wie sie waren, dann war alles in Ordnung.

Aber jetzt sollte er anders lächeln. Anders lächeln, ganz ruhig reden und freundlich sein. Weils fürs Geschäft gut war.

Das mit dem Geschäft war ihm egal, er brauchte keinen Grund. Wenn der Chef sagte, dass er das und das machen sollte, dann machte er das und das. Aber wenn er es halt anders machen sollte, als er es bisher immer gemacht hatte, dann bekam er Kopfweh. Weil das … ungewohnt war. Und anstrengend. Bis man das alles wieder richtig machte, so, wie es der Chef wollte, musste man so viel nachdenken und höllisch aufpassen. Wahrscheinlich war es das. Dass er die Anstrengung nicht mochte, die es kostete, sein Verhalten zu verändern. Auch darin war Veit Mooshammer vielen Menschen ähnlich.

Er sah auf die Uhr. Ein bisschen Zeit hatte er noch. Also übte er halt noch mal das Lächeln. Er drehte den Rückspiegel so, dass er sich darin sah, und zog die Mundwinkel hinauf. Nur die Mundwinkel. Der Rest seines Gesichts lächelte nicht. Er fand selbst, dass das irgendwie anders aussah, als wenn der Chef lächelte. Aber er wusste nicht, woran es lag. Also lächelte er erst nur mit dem einen, dann mit dem anderen Mundwinkel. Das sah auch komisch aus. Wenn er aber die Lippen einen kleinen Spalt öffnete und er hinter dem Speichelfaden seine gelblichen Zähne sah, gefiel ihm das schon ein bisschen besser. Und als er schließlich noch die Augen ein Stück weiter aufmachte, sah das richtig gut aus. So ging lächeln, oder? Beide Mundwinkel hoch, Zähne zeigen, Augen auf. Das musste er sich merken. Mundwinkel, Zähne, Augen. Das war’s. Eigentlich ganz einfach. Und ruhig reden bekam er ebenfalls schon ganz gut hin. Ruhig war halt das Gegenteil von laut, und laut war er sowieso nie. Das Freundlichsein wollte ihm allerdings noch nicht so recht gelingen, obwohl er sich eigentlich gar nicht unfreundlich fühlte. Er war doch kein unfreundlicher Mensch, oder? Aber trotzdem plärrten die Kinder immer, wenn er sie aus dem Auto zerrte. Vielleicht klappte das ja jetzt mit dem Mundwinkel-Zähne-Augen-Trick.

Es war so weit. Die Kundschaft wartete. Veit nahm das Walkie-Talkie vom Beifahrersitz, stieg aus und umrundete den VW-Bus. Zefix. Das Knie tat wieder weh.

Es war ein schöner Tag. Die Luft roch nach Moos und warmen Nadelbäumen, die Sonne hangelte sich von Wolke zu Wolke und die Temperatur war genau in dem Bereich, den die meisten Menschen als angenehm empfanden. So zwischen 22 und 24 Grad Celsius. Optimale Bedingungen für eine aufregende Jagd.

Veit war das alles jedoch vollkommen egal. Der einzige Geruch, der zu ihm durchdrang, war der von Sauerkraut. Das war seine Leib- und Magenspeise, seit er ein Kind war. Er mochte es in allen Varianten, sogar mit Ketchup, und aß es auch gern kalt. Wenn er unterwegs war, hatte er meistens eine Dose dabei, weswegen es in den Autos dann immer nach Essig und kalten Fürzen roch. Für Sonne und Wolken hatte sich Veit auch noch nie interessiert, und ob es warm oder kalt draußen war, las er daran ab, ob er die Scheiben freikratzen musste oder nicht. Die Jagd heute hingegen war ihm nicht egal. Schließlich war es sein Job, dafür zu sorgen, dass das alles reibungslos ablief.

Den VW-Bus hatten sie für ihre Zwecke umgebaut. Eine Trennwand zwischen Fahrerkabine und Fahrgastraum sowie blickdichte Scheiben verhinderten, dass Neugierige hinein- und die kleinen Schratzen hinausschauen konnten. Also die, hatte der Chef gesagt, die schlafen mussten und dann während der Fahrt doch mal aufwachten und raussahen. Oder die, die zwar nicht unbedingt schlafen mussten, aber trotzdem nicht gleich mitbekommen sollten, dass es, wie heute, in den Wald ging. Weil sich vielleicht das eine oder andere Kind nicht vorstellen konnte, dass Kinderland im Wald lag, und deswegen unruhig wurde. Meinte der Chef. Wobei es heute eigentlich egal wäre – hatte er ja vorhin selbst gesagt –, aber grundsätzlich wären eben unruhige Kinder nicht so gut fürs Geschäft. Also Kinder, die zu früh unruhig wurden.

Der Innenraum, den der Chef hatte umbauen lassen, gefiel Veit gut. Wie dieses kleine Kinderzimmer, das er mal in dem Katalog gesehen hatte. Alles sehr plüschig und weich. Es gab Spielsachen, Kuscheltiere, einen CD-Player und sogar einen kleinen Fernseher mit Video-Gerät. Das war aber freilich nur für die Kinder, die keinen Orangensaft brauchten. Die anderen hatten da ja gar nichts davon. Wobei es Veit eigentlich lieber gewesen wäre, wenn alle Orangensaft gekriegt hätten. Aber manchmal ging das halt nicht, wie heute zum Beispiel, und der Fernseher hatte schon auch seine Vorteile. Veit hatte sich darauf auch schon den einen oder anderen Film angesehen, wenn er mal länger hatte warten müssen. ›Findet Nemo‹ war sein Lieblingsfilm. Am meisten mochte er die Stelle, wo die Möwe ins Wasser furzte. Zum Totlachen.

Veit stand vor der hinteren Tür und hielt noch einmal inne. Mundwinkel, Zähne, Augen. Und freundlich sein. Er prüfte sein Gesicht in der Scheibe und fand gut, was er sah. Dann öffnete er die Tür. »Mir sind da!«

Der kleine Junge blickte auf. Große Augen, blonde Haare, ein Blechauto in der Hand. Und recht mager, wie Veit fand. Für heute war es allerdings sicher besser, wenn der Bankert nicht so fett war, weil er dann schneller laufen konnte und das alles länger dauerte. Ein bisschen wenigstens.

»Steign mir aus, oder?«

Der Junge zog sich unmerklich in den plüschigen Sitz zurück und umklammerte das Spielzeugauto. »Warum?«

Warum. In Veits Kopf wurde es eine Spur dunkler. Ihm waren die Kinder viel lieber, die einfach ausstiegen und mitkamen. Fragen mochte Veit nicht. Zumindest die nicht, auf die man nicht mit Ja oder Nein antworten konnte. Aber auf diese hatte er sich eine Antwort zurechtgelegt. Weil sie nicht zum ersten Mal gestellt wurde. Und freundlich sein!, fiel ihm noch ein.

»Ja, also«, die Mundwinkel gingen noch ein bisschen weiter nach oben, vor allem der rechte, »weil mir jetzt da sind! Im Kinderland!« Augen auf!

Der Junge lugte an Veit vorbei ins Freie. »Mir sind im Wald.«

Ja, mir sind im Wald, freilich. Oder war das eine Frage gewesen?

»Im Kinderland, weißt?« Veit machte einen kleinen Schritt zur Seite. Dieses Lächeln strengte an. Und das Augenaufreißen auch.

»Kinderland ist im Wald?« Der Junge wagte sich ein Stückchen nach vorn.

Kinderland ist im Wald. Deswegen hatte der Chef doch den Bus umbauen lassen. Damit sie das nicht fragen. Was sollte er jetzt machen? Sollte er Ja sagen? Veits Mundwinkel verkrampfte. Oder Nein? Langsam spürte er den Druck im Kopf. Rechts vorn.

»Wo denn?« Der Junge war jetzt fast an der Tür, schaute vorsichtig nach rechts und links.

Was, wo denn? Veit sah den Jungen verwirrt an. Was meinte er mit ›wo denn‹? Freundlich bleiben, ermahnte er sich, freundlich bleiben.

Die Augen des Jungen wanderten zu Veit. Und obwohl sich der wirklich alle Mühe gab, ruhig gesprochen hatte, ganz viel lächelte und doch freundlich war, hatte der Junge auf einmal diesen Gesichtsausdruck. Wie ein Zeisig, wenn’s blitzt. Veit kannte ihn genau. Danach wurden die Kinder meistens bockig und steif, und wenn er sie dann am Arm packte, fingen sie an zu greinen. Er sah auf die Uhr. Es wurde wirklich Zeit.

»Kummst jetzt?«

Der Junge schüttelte den Kopf und zog sich wieder in den VW-Bus zurück. »Des ist doch nicht Kinderland!«

»Kinderland, freilich.« Veit hatte plötzlich eine Idee. Er kramte in seiner Jackentasche und fand den Kaugummistreifen. »Magst an Kaugummi?« Er hielt ihn dem Jungen hin.

Aber der schüttelte wieder den Kopf.

Dann halt ned.

Veit hatte jetzt keine Zeit mehr. Der Chef und der Kunde warteten. Er steckte das Walkie-Talkie ein, packte den Jungen lächelnd und freundlich am Handgelenk und zerrte ihn aus dem VW-Bus.

Der Junge fing an zu schreien und zu heulen.

War ja klar. Er kriegte das einfach nicht hin. Obwohl er sich doch wirklich so viel Mühe gegeben hatte. Veit klemmte sich das schreiende und zappelnde Bündel unter den Arm, hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu, weil er laut nicht mochte, und schlug den Weg zur Lichtung ein.

Was machte er bloß falsch? Ihm tat das ganze Gesicht weh vor lauter Lächeln, aber es hatte trotzdem nicht funktioniert. Und der Kopf tat ihm jetzt auch weh. Er überlegte, ob er noch Aspirin im Handschuhfach hatte. Ein paar noch. Der Junge bekam einen Arm frei und schlug damit um sich. Veit fing den Arm wieder ein. Und wenn er dem Chef einmal vorlächelte? Aber eigentlich, das merkte Veit, wäre es ihm lieber gewesen, wenn er das einfach weiter so hätte machen können wie früher. Also nicht wie ganz früher, sondern wie in letzter Zeit. Kind aus dem Auto holen, nichts sagen, nicht lächeln, scheiß aufs Freundlichsein, Kind abliefern. Geschrien hatten die anderen auch nicht mehr als der jetzt. Andererseits wollte es der Chef halt so haben. Veits Kopfweh wurde schlimmer.

Die Lichtung hatte er bald erreicht. Er stellte den Jungen auf den Boden und hielt ihn am Kragen fest. Hielt ihn so weit von sich, dass der ihn nicht treten oder schlagen konnte. Aber der Junge war mittlerweile so erschöpft und verängstigt, dass er sich ohnehin kaum noch rührte. Und sein Schreien war nur mehr ein unrhythmisches, heiseres Schluchzen. Veit holte das Walkie-Talkie aus seiner Jackentasche und drückte auf den Knopf.

»Cheef?«

»Veit? Kann’s losgehen?«

»Ja, Cheef.«

Ein Zögern. »Was ist denn bei dir los?«

»Warum?«

»Ja, weil der so rumheult.«

»Ah so.«

»Veit, ich hab’s dir doch gesagt. Ruhig und freundlich sein und lächeln.«

»Ja, Cheef. Hab ich doch gmacht.«

Ein Seufzen am anderen Ende. »Ach, Veit. Wie lange noch?«

»In zwei Minuten bin ich am Auto.«

»Okay. Dann geh jetzt los.«

»Cheef?«

»Ja, was ist?«

»Ich hab’s wirklich probiert.«

»Ist schon gut. Heute ist es ja egal.«

Veit schaltete das Gerät aus, zog den Jungen zu sich und legte ihm die Hand auf den Mund. Das Kind verstummte vollends und sah ihn aus panischen Augen an.

»Ich muss jetzt gehen. Und du bleibst da. Nicht mir nachlaufn, gell?«

Der Junge sagte nichts, starrte nur.

»Dann pfiad di.« Veit ließ ihn los und machte sich auf den Weg zum Auto. Einmal sah er sich noch um, aber der Junge folgte ihm nicht. Er stand auf der Lichtung, blickte ihm hinterher und weinte stumm. Veit erinnerte sich an den Kaugummi und steckte sich den Streifen in den Mund.

Kurz bevor er den VW-Bus erreicht hatte, hörte Veit die Hunde. Er stieg ein und griff nach dem ›Kicker‹, den er in die Seitentasche gesteckt hatte. Da war eine Bilderserie von Ribéry drin, und die wollte er sich derweil anschauen. Und so gut wie der, dachte Veit Mooshammer und grinste dabei, kann ich auf alle Fälle lächeln.

2. Kapitel

Gestern

Pöcking am Starnberger See

Sie fuhr rechts ran und machte den Motor aus. Hier stand sie gut. Nur von dem Haus dort vorn konnte man sie sehen, aber die Garage war leer. Wahrscheinlich war eh niemand zu Hause. Sie blickte auf die Zeitanzeige im Armaturenbrett. Gleich Viertel nach zwölf. Jeden Moment musste der Unterricht zu Ende sein. Und von der Beccostraße bis da, wo sie jetzt stand, würde Rebecca knappe zehn Minuten brauchen.

Rebecca. Sie nahm das Foto, das auf dem Beifahrersitz lag, und schaute es sich zum x-ten Mal an. Dieses uralte Fahrrad, das allein schon Grund genug gewesen wäre. Verrostet, ohne Licht, ohne Schutzbleche, ohne all das, was Mädchen in dem Alter liebten. Und brauchten. Schnickschnack, Farbe, Bändchen, Schleifchen. Der verschossene Plastikpuppensitz mit dem zerbrochenen Bügel war das Einzige, was an ein Mädchenrad erinnerte. Da drin saß Rebeccas Puppe. Auch die ein Grund, so schäbig, wie sie aussah.

Dabei war Rebecca so ein süßes Ding. Ein wahrer Goldschatz. Lange braune Haare, die sich unten ein wenig eindrehten, braune Rehaugen und ganz feingliedrig. Ein bisschen so wie diese … diese … ah, der Name fiel ihr jetzt nicht ein. Diese Schauspielerin halt.

Sie spürte wieder dieses Ziehen in der Magengegend. Wie konnte man nur so zu Kindern sein? Diese zerbrechlichen, unschuldigen Geschöpfe konnte man doch nur lieb haben, oder? Das ging doch gar nicht anders. Ja, freilich hatte sie auch schon Kinder kennengelernt, die ihr Herz nicht sofort hatten höher schlagen lassen. Aber, mein Gott, es waren trotz allem Kinder. Sie meinten es nie böse, weil sie noch gar nicht richtig wussten, was das ist: gut und böse. Das hatte ihnen der Herrgott verschwiegen, als er sie runtergeschickt hatte. Das erfuhren sie erst sehr viel später, wenn sie größer wurden. Und bestimmt nicht vom Herrgott.

Dabei war das Radl ja nur die Spitze des Eisberges. Sie durfte gar nicht daran denken, was man der Rebecca wahrscheinlich noch alles angetan hatte. Tag für Tag. Das arme Ding. Und noch dazu die Menschen, denen so ein reines Engerl am meisten vertraute. Die eigenen Eltern. Das war einfach nicht richtig, und sie hatte sich schon oft gefragt, warum der Herrgott so etwas zuließ. Aber er hatte sicher seine Gründe, der Herrgott.

Und sie konnte ja was dagegen tun. Vielleicht war das der Grund, den der Herrgott hatte. Dass er diese Aufgabe für sie vorgesehen hatte. Denn eine Aufgabe war es allemal, und keine leichte, ganz und gar nicht. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, der Herrgott hätte den kleinen Hascherln das erspart und ihr eine andere Aufgabe zugedacht.

Sie sah Rebecca um die Ecke biegen. Mein Gott, sah die traurig drein! Bekam das Kopferl kaum hoch und schlurfte mit dem schweren Schulranzen müde vor sich hin. Weil sie halt jetzt wieder heim musste.

Aber das musste sie ja zum Glück nicht mehr.

Sie nahm die Sunkist-Tüte und den Bären und stieg aus. Draußen blickte sie sich kurz um. Alles bestens.

Das Mädchen sah die ganze Zeit nicht auf und bemerkte die Frau erst, als sie angesprochen wurde.

»Ja mei, du hast aber einen schweren Schulranzen!«

Rebecca hob den Blick. Sie schaute in ein freundliches Gesicht. Rote Wangen, ein offenes Lächeln, lustige Lockenhaare.

»Sind des lauter Bücher da drin?«

Rebecca blieb stehen. Leicht nach vorn gebeugt, um das Gewicht des Ranzens auszugleichen. »Hefte auch«, sagte sie leise.

»Hefte auch? Aber dann musst du ja schon schreiben können, wenn du Hefte hast!«

Sie nickte. Und lächelte ein bisschen.

»Ah, des hätt ich aber jetzt nicht geglaubt. Da schau her! Und was kannst du schon schreiben? Deinen Namen?«

Ein Nicken mit großen Augen.

Die Frau lächelte listig. »Aber wie man des da schreibt, weißt du noch nicht, oder?« Sie hielt ihr den kleinen Plüschbären hin, den sie in der Hand hielt.

»Ein Bär.«

»Ja, ja. Aber wie schreibt man Bär?«

Rebecca überlegte. »B … E … R.«

Der Frau gingen die Augen über. »Das ist ja sagenhaft! Du bist ja eine ganz eine Gscheite! Und so hübsch dazu!«

Rebecca lächelte glücklich. Verlegen, aber glücklich.

»Wart einmal, ich glaub, ich hab noch was für dich! Weil, wenn jemand so gscheit ist wie du, dann hat man sich eine Belohnung verdient. Eine ganz leckere Belohnung. Ist mir vom Frühstück übrig geblieben.«

Die Frau machte die Beifahrertür auf und steckte den Kopf ins Auto. Rebecca beobachtete sie neugierig. Aber als die Frau wieder aus dem Auto hervorkroch, machte diese auf einmal einen sehr bekümmerten Eindruck.

»Mei, jetzt hab ich mich vertan. Ich hab’s doch schon gessen. Vorhin, als ich meinen Nikolaus in den Kindergarten gebracht hab.«

Rebecca blinzelte. »Nikolaus?«

Die Frau lachte. »Nikolaus heißt mein kleiner Bub.« Ein kurzer Blick die Straße hinab. Ein alter Mann kam aus einem Haus. Aber er sah nicht zu ihnen her.

»Nikolaus?«, hauchte Rebecca. »Wie der … Nikolaus?«

»Ja, genau. Wie der echte Nikolaus. Aber Schmarrn. Ich hab den gar nicht gessen, den Bienenstich. Ich hab ihn dem Nikolaus in sein Pausensackerl getan.«

Rebeccas Mund ging auf. Nikolaus. Der Nikolaus hat einen Bienenstich. Und ein Sackerl.

Die Frau überlegte. »Weißt was? Versprechen muss man halten, gell?«

Rebecca sagte nichts, hatte noch immer einen rot-weißen Nikolaus und eine Biene vor Augen.

»Wenn du noch ein bisserl Zeit hast, fahren wir vor zum Bäcker und ich kauf dir auch einen Bienenstich. Magst?«

Die Biene, die den Nikolaus stach, gab’s beim Bäcker. Rebecca nickte wie in Trance.

»Dann steig ein. Ah ja, und magst des trinken? Des hab ich dem Nikolaus nämlich vergessen mitzugeben. Und bevor’s schlecht wird …« Sie reichte Rebecca die Sunkist-Tüte mit dem Strohhalm. Eine große Orange lachte ihr von der Verpackung entgegen.

Rebecca nahm die Tüte und sog daran.

»Deinen Schulranzen kannst hinten reinlegen.«

Die Frau schob die hintere Tür auf, räumte Zeug zur Seite und schaute sich noch einmal um. Bestens. Als der Schulranzen verstaut war, kletterte Rebecca ins Auto.

Neben dem Sitz, in einer Kiste, lag ein großer Hase im Nikolauskostüm. Rebecca schaute ihn gebannt an, wagte aber nicht, ihn zu berühren. Ein Nikolaushase.

Das Auto fuhr los.

Der Orangensaft schmeckte sehr süß.

3. Kapitel

Heute, Dienstag

Berg am Starnberger See, Hotel Alpenblick

»Wir hätten das doch irgendeinen Schreiner machen lassen sollen.« Wiebke Kammerlander richtete sich auf und strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus dem Gesicht. Da ihr warm geworden war, streifte sie die Nicki-Jacke ab, öffnete einen Knopf ihres Blusenkleides und fächelte sich Luft zu. »Oder Xaver. Der hätte das sicher auch hinbekommen.«

Bartholomäus, der vor ihr auf den Fliesen kniete, zog mit zusammengebissenen Zähnen die Schraube fest. »Xaver – hat’s – im – Moment – ein – bisschen – im Kreuz. So!« Die Schraube war drin. Bartholomäus blies die Wangen auf und ließ sich nach hinten auf den Hosenboden sinken. »Hat mir die Theresa erzählt.« Er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Wollte ich gerade fragen«, erwiderte Wiebke.

»Du kennst ihn doch. Der Xaver würde auch noch mit dem Kopf unterm Arm zur Arbeit kommen.«

Wiebke lächelte. Wie meistens, wenn sie an ihren Hausmeister dachte. Hätte ihr jemand vor 30 Jahren gesagt, dass sie als waschechte Hamburgerin einmal einen zerknautschten Urbayern, den sie auch heute oft nur mit Mühe verstand, tief und fest in ihr Herz schließen würde, hätte sie das nicht für möglich gehalten. Was sicher auch daran gelegen hätte, dass sie vor 30 Jahren noch ziemlich durch den Wind gewesen war. Und daran, dass 30 Jahre eine lange Zeit waren. Andererseits, fiel ihr eben auf, kannte sie eigentlich niemanden, der Xaver nicht gut leiden mochte.

»Und der Schreiner, der uns als Erster hätte beglücken können«, Bartholomäus hielt drei Finger in die Höhe, »drei habe ich angerufen, drei! – hätte das erst in zwei Wochen tun können. Bis dahin hätte uns aber Urte oder Dexter gekündigt. Oder beide.«

Die kleine Abstellkammer hinter dem Back-Office platzte schon seit geraumer Zeit aus allen Nähten. Die Regale quollen über vor Ordnern, Unterlagen und Prospekten, Büroutensilien waren zum Teil ausgelagert worden, und wenn man zum Kopierer wollte, musste man sich zwischen zwei Rollcontainer quetschen. Für ein Hotel wie das Alpenblick eine Zumutung. Oder vielmehr für die Leute, die hier arbeiten mussten. So sah es zumindest Bartholomäus.

»Urte hat gesagt, dass sie es hier drin sehr gemütlich findet. Und Dexter verirrt sich sowieso nie hierher.«

»Eben. Gemütlich ist ein Synonym für völlig zugemüllt, und Dexter kommt genau deswegen nicht hier rein.«

Wiebke lächelte und beugte sich nach vorn, um ihrem Mann einen Flusen aus dem dichten, grauen Haar zu fischen. »Weißt du, was ich glaube? Ihr Männer braucht einfach ab und zu was, woran ihr euch handwerklich austoben könnt. Das ist so ein Urinstinkt. Wie Höhle graben oder ein Zelt aus Mammutzähnen bauen. Erinnerst du dich an die Szene mit Tom Hanks in ›Cast Away‹?« Wiebke streckte die Brust raus und setzte ein feldherrenhaftes Gesicht auf. »Ich habe Feuer gemacht! Ich! Habe Feuer gemacht!« Sie lupfte die Augenbrauen. »So ungefähr.«

Bartholomäus lachte laut auf. »Und weißt du, was noch so ein Urinstinkt ist?« Er bedeutete ihr mit dem Finger, näher zu kommen, und Wiebke beugte sich erneut nach unten. Ein verschmitztes Funkeln leuchtete in ihren Augen.

»Er erwacht«, Bartholomäus führte seine Hand zu ihrem Blusenkleid und machte einen weiteren Knopf auf, »wenn Mann mit so einem Anblick konfrontiert wird.« Er nickte in ihren Ausschnitt. »Und dieser Instinkt lässt sich fast noch schwerer bändigen als der mit den Mammutzähnen.« Noch ein Knopf ging auf, er zog sie zu sich auf den Boden.

»Schatz!«

»Ist doch keiner da!«

Wiebke zögerte kurz. Dann stand sie auf und ging zur Tür. »Warte!«

Das Back-Office war im Augenblick leer. Urte hatte mit einem Lieferanten zu tun, Dexter empfing vorn an der Rezeption neue Gäste. Wiebke schloss die Tür und kam zurück. Auf dem Weg schob sie ihr Kleid hoch.

»Aber diesen Instinkt müssen wir schnell ausleben, Schatz. Und leise.«

»Ich kann ja im richtigen Moment die Bohrmaschine anwerfen.« Bartholomäus knöpfte sich die Hose auf.

Wiebke lachte. »Komm hoch, ich möchte es im …«

»Wiebke? Bartholomäus? Wo seid ihr?«

Urte! Im Back-Office! Mist!, war das Wort, das beiden aus den Augen sprang. Bartholomäus fingerte an seiner Hose herum, Wiebke ließ ihr Kleid fallen und griff sich an den viel zu tiefen Ausschnitt, dann ging die Tür auf.

»Ach, hier bist …« Pause. Ein erstaunter, dann verstehender Blick. »… seid ihr.« Urte Svenjakob zwang sich, nicht zu grinsen. Es gelang ihr nur ansatzweise.

»Morgen«, rief Bartholomäus viel zu fröhlich und hob sogar die Hand.

»Hallo!«, meinte Wiebke. Dabei hatte sie schon den ganzen Vormittag mit Urte zu tun gehabt.

»Morgen«, brachte Urte hervor und es klang wie: Ups, 20 Sekunden später und es wäre richtig peinlich geworden.

»Wir, ähm«, Bartholomäus zeigte auf die Bohrmaschine, »dübeln gerade die … neuen Regale fest.« Na toll. Weil sie sich das ja nicht denken kann.

»Prima.« Dübeln. Natürlich. »Sehr schön.« Eine Hundertstelsekunde zu lange starrte sie auf Bartholomäus’ halb offenen Hosenstall. Und viel zu abrupt wandte sie sich daraufhin Wiebke zu. »Der Schlüssel für den Getränkekeller. Weißt du, wo der ist? Vorn hängt er nicht.«

»Könnte noch in meiner Jacke sein.« Wiebke drehte sich um und raffte dabei noch ein wenig das Kleid zusammen. »Ich war vorhin noch unten wegen den Keck-Fässern.« Wiebke griff nach ihrer Jacke und fand den Schlüssel in der rechten Tasche. »Da ist er.« Sie hielt ihn Urte hin.

»Super!« Sagte sie sonst nie. »Dann … bin ich auch schon wieder weg.« Und dann nutzte irgendein Dämon in ihr einen unbeobachteten Moment und ließ sie mit Blick auf die Bohrmaschine noch sagen: »Viel Spaß noch!«

Als Urte wieder draußen war, konnten sich Bartholomäus und Wiebke noch ein paar Sekunden zurückhalten. Dann schüttelte es erst den einen, dann den anderen vor stillem Lachen. Wiebke liefen Tränen herunter und Bartholomäus biss sich auf die Lippen, damit er nicht losbrüllte. Erst nach einer Weile hatten sie sich wieder halbwegs im Griff.

»Komm, Schatz«, Bartholomäus nahm die Bohrmaschine in die Hand, »lass uns weiter … dübeln.«

»Gern. Aber mach dir erst die Hose zu, ja? Und ich sehe gerade«, Wiebke reckte sich und schaute durch das schmale Lichtband nach draußen, »dass die Post kommt. Bin gleich wieder da.«

Als Bartholomäus ein paar Minuten später aus dem Kämmerchen trat, um sich aus der Küche etwas zu trinken zu holen, war Roswitha, die Postbotin, immer noch da. Wiebke stand mit ihr, diesem Ehepaar aus Dings, diesem Porschedorf, Zuffenhausen, genau, und Giovanni, dem Hotelchauffeur, im Foyer. Die fünf lachten und unterhielten sich. Und irgendwie auch nicht. Während Bartholomäus auf die kleine Gruppe zuging und nach dem Namen der Gäste suchte, stellte er fest, dass sie eher wenig redeten und dafür immer wieder in eine Ecke des Foyers blickten, die er noch nicht einsehen konnte. Der kleine Springbrunnen war da hinten. Und das Schaukelpferd. Und die Leute hießen Knaupp, Norbert und Renate, und er machte in Maschinen. Bartholomäus grinste. Vielleicht ja Bohrmaschinen.

»Guten Morgen. Frau Knaupp, Herr Knaupp, Roswitha.« Bartholomäus nickte dem Ehepaar und der Postlerin freundlich zu und umfasste Wiebkes Hüfte. »Wie geht’s Ihnen?«

»Aha! Selbst ist der Mann!« Norbert Knaupp, ein leicht übergewichtiger Mittfünfziger in Designeranzug und italienischen Schuhen, musterte ihn anerkennend.

Nein, nicht anerkennend, dachte Bartholomäus. Abschätzig. Weil ein Hotelchef nicht im Handwerkeroutfit herumläuft, weil seine Haare zu lang und zu wirr sind und weil er seine Frau in aller Öffentlichkeit anfasst. Knaupp war sicher zum letzten Mal im Alpenblick. Was Bartholomäus allerdings völlig egal war.

»Tja, dadurch können wir uns die Schokolade leisten, die das Zimmermädchen jeden Tag auf Ihre Kopfkissen legt.« Bartholomäus lachte, Knaupp auch. Zumindest der untere Teil seines Gesichts.

Bartholomäus war jetzt auch klar, wohin die fünf die ganze Zeit geblickt hatten. Antonia. »Ah!«, sagte er und nickte zu dem kleinen Mädchen, das auf dem antiken Schaukelpferd Platz genommen hatte und sachte hin- und herschwang. Dabei mit ihren dunkelblauen, handtellergroßen Augen verträumt an die Decke blickte und leise sang. Heute trug sie ein blaues Kleidchen, weiße Strumpfhosen und rote Schleifen in ihrem pechschwarzen, zu zwei dicken Zöpfen geflochtenen Haar. »Die kleine Schnecke. Hat sie wieder ein paar wehrlose Opfer gefunden, die sie um den Finger wickeln kann.«

»Das ist aber auch so ein zuckersüßes Herzchen!«, sagte Frau Knaupp und seufzte.

Wiebke nickte, Roswitha nickte mit noch etwas glänzenderen Augen, Giovanni lächelte selig, und sogar Herr Knaupps Betonstirn entspannte sich beim Anblick Antonias ein wenig.

»Giovanni, was hältst du davon, wenn du ab jetzt mit Antonia in der Lobby wohnst?«, fragte Bartholomäus. »Wir könnten Stühle vor das Schaukelpferd stellen und Eintritt verlangen.«

»Si, Cheffe.« Giovanni hatte gar nicht richtig zugehört.

»Was singt sie denn da?« Frau Knaupp hatte den Kopf ein wenig schief gelegt. Alles an ihr schien ganz weich. Hals, Augenlider, Unterlippe.

Giovanni musste erst Luft holen. »Volevo un gatto nero.«

»Aha«, entfloss es Frau Knaupp. »Schön.«

»Eine so süße Tochter haben Sie da, Herr Angelosanto. Ein ganz süßer Fratz ist das.« Roswitha blähte die gewaltige Brust unter ihrem Postlerhemd, und ein leises Pfeifen entrang sich ihren Luftwegen. »Und so schön singen kann’s auch.«

Jetzt erst wachte Giovanni auf. »Äh, nein. Iste nichte meine Tochter. Iste meine … come si dice? … Nixe?«

Herrn Knaupps fette Augenlider gingen einmal zu und wieder auf. »Nixe?«

»Nichte«, half Wiebke, »er meint Nichte.«

»Si, Niggte«, korrigierte sich Giovanni. »Ecco, meine Schwester müssene dringend nach Italia wegen Problema in Firma und hate mich gefragt, ob Antonia kann ein paar Tage bei mir bleiben.«

»Ja, und ihr Mann?«, fragte Frau Knaupp ungeniert. Offenbar war sie der Meinung, dass man bei einem Hotelchauffeur auf gewisse Anstandsregeln verzichten konnte.

Giovanni sah sie verwundert an. »Meine Mann?«

»Nein, der Mann Ihrer Schwester.«

Giovanni verstand immer noch nicht. »Was iste mit de Mann?«

»Ja, kann der nicht aufpassen?«

»Nein, sinde geschieden und Alice will nicht mehr sehen.«

Ehepaar Knaupp und Roswitha nickten verständig und in angemessener Betroffenheit.

»Ja, ja.« Roswitha sah wieder zu dem kleinen Mädchen. »Da habn’s grad die Kinder immer ned leicht, gell. Aber mei, so geht’s halt im Leben. Und bevor sich ’d Eltern dauernd streiten, is ’s wahrscheinlich oft besser so.«

»Nein, nix gestritten, iste er fremdegegangen.«

Knaupp lächelte herablassend. »Diese Italiener! Dolce far niente. Und da wundern sich alle, dass da unten die Wirtschaft abschmiert.«

Giovanni lächelte auch. »Heißte er Peter, iste er Deutscher.«

Ein Schrei rettete Knaupp. Vielmehr ein Schreien, ein markerschütterndes Gebrüll, ein sirenenhaftes Kreischen, das sich im Foyer ausbreitete wie ein Airbag nach einem Frontalzusammenstoß und alle herumfahren ließ. Es kam aus der Damen-Toilette, deren Tür eben aufgeflogen war. Eine sichtlich überforderte Frau zerrte einen blonden Jungen mit krebsrot geschrienem Gesicht in die Lobby. Dahinter tauchte Xaver Eberhartinger mit seiner großen Werkzeugkiste auf und einem Blick, der irgendwo zwischen schuldbewusst und hilflos lag. Sehr hilflos.

»Was ist denn da los?« Bartholomäus ging zu seinem Hausmeister.

»Entschuldigen Sie mich bitte.« Wiebke folgte ihm.

Die Frau, eine blasse Engländerin mit viel zu vielen Sommersprossen – Bartholomäus musste immer an eine explodierte Ketchup-Flasche denken, wenn er sie sah – lächelte ihnen verlegen zu, während ihr Sohn versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden, um nach Xaver zu treten. »I’m so sorry about that. It’s my fault. So sorry.«

»Xaver, was ist denn passiert?«

Der Hausmeister sah Wiebke hinterher, die die Frau ins Restaurant geleitete und dabei besänftigend auf sie und die zeternde Heulboje einredete. »Der Bua hat sein Bärn ins Klo gschmissn und i hab ’n nimmer rauskriagt.«

»Der hat seinen Bären ins Klo geschmissen? Warum denn? Und was für einen Bären?«

Xaver zuckte die Schultern. »Seinen Teddybärn. Hat ’d Frau Svenjakob gesagt. Vielleicht hat er gmeint, dass der a mal bisln muas. I woaß ned.«

»Aha. Und dann …?«

»Dann hat er den Bärn nuntergspült. D’ Muatter hat der Frau Svenjakob Bescheid gsagt, die hat mi angfunkt und i hab probiert, ob i den Bärn no erwisch. Aber der war scho weg. Und jetzt muas i nunter zu de Revisionsklappn und schaun, ob i ’n da no erwisch. Aber wahrscheinlich schwimmt er scho in der Kanalisation. Weil verstopft ist nix.«

»Aha.« Bartholomäus nickte und wunderte sich.

Ein paar Meter weiter verabschiedeten sich die Knaupps von Roswitha, Giovanni und Antonia, die die füllige Postlerin mit dem riesigen Schlüsselbund ehrfurchtsvoll musterte. »Einen schönen Tag!«, rief Frau Knaupp herüber, und ihr Mann winkte huldvoll.

Bartholomäus winkte ihr zu. »Dann mach des«, sagte er zu Xaver.

Plötzlich war Wiebke wieder da. Regina Mösenbichler, das Zimmermädchen, stürzte aus dem Personaleingang zur Küche und zog Wiebke hinter sich her, die sie kaum zu fassen bekam. Völlig entgeistert, ja entsetzt, wankte Regina an der Wand entlang, biss sich in ihre Fingerknöchel, schluchzte hysterisch und schnappte nach Luft. Ihr sonst immer so rotes Gesicht war leichenblass.

»Regina! Bleib stehen! Um Gottes willen, was ist denn los? Regina!« Wiebke packte sie am Arm und drehte sie zu sich.

Regina sah durch sie hindurch, keuchte, stand kurz vor einer Ohnmacht.

Bartholomäus ließ Xaver stehen und lief zu den beiden hin.

»Regina!« Bartholomäus nahm sie an den Schultern und schaute ihr in die Augen. »Regina! Sprich mit mir! Was ist los?«

Regina Mösenbichler glotzte ihn an, starr, wie versteinert. Xaver kam dazu, das Gesicht voller Sorge. Genau wie Wiebke, die Regina über den Kopf strich.

»Regina! Schätzchen! Was ist passiert?«

Regina Mösenbichler holte keuchend Luft. »In der … Küch«, stieß sie heiser hervor, »in der … Küch … in dem Fisch … ham s’ … ham s’ an … Finger gfundn.« Dann brach sie in Tränen aus.

*

Pratica di Mare bei Rom

Sanft wie ein Schmetterling setzte die Lockheed C-130 auf dem Militärflugplatz Mario de Bernardi in Pratica di Mare auf. Lorenzo Palladio war Schlimmeres gewohnt. Die Landepisten in Afghanistan waren voller Risse und Schlaglöcher gewesen, und er wartete förmlich darauf, dass es ihn durchschüttelte. Die Schubumkehr setzte ein, und sein Kumpel Pietro, der neben ihm am Fenster saß, gab den alten Witz über den Piloten zum Besten, der nachts um drei noch mal in die Kneipe will. Die Ehefrau erwischte ihn, Schubumkehr, haha. Lorenzo lächelte pflichtschuldig. Aber in Gedanken war er längst zu Hause.

Er hatte Angst vor diesem Zuhause. Seit sein Vater vor einem Jahr an Krebs gestorben war, war es seiner Mutter von Monat zu Monat schlechter gegangen. Von Brief zu Brief, von Telefonat zu Telefonat. Natürlich hatte sie versucht, ihm etwas vorzumachen. Ah, tigrotto mio, es ist alles gut, du musst dir keine Sorgen machen. Ja, das Geld reicht. Aber er hatte es gehört, die Einsamkeit, die ihre Stimme so dünn hatte werden lassen, die Sorgen, die sie zu oft und zu überschwänglich lachen ließen, ihre Angst vor dem, was kam, die sich hinter zu vielen Ausrufezeichen und unter getrockneten Tränen in ihren Briefen versteckte.

Es hatte ihm wehgetan, er hätte sich gern um sie gekümmert. Aber er hatte seinen Job, konnte hier nicht so einfach weg. Er schrieb, so oft er konnte, telefonierte, auch wenn die Verbindung meist hundsmiserabel war und man nur Gekrächze auf der anderen Seite hörte. Aber er musste ja gar nichts Besonderes sagen, seine Stimme reichte ihr, auch wenn sie auf dem Weg von Afghanistan nach Casalotti zu wenig mehr als einer Funkstörung wurde. Und außerdem war da ja noch Francesca.

Francesca, piccola pulcina. Er sah sie vor sich. Die dunkelblonden Locken, wegen denen Babbo immer von seinen Arbeitskollegen aufgezogen worden war, weil er und Mama beide rabenschwarze Haare hatten. Die winzigen grünen Punkte in ihrer Iris, die wie kleine Smaragde funkelten, wenn die Sonne schien. Dieses Lachen, das ganz tief aus der Kehle kam und fast ein wenig unanständig klang. Am liebsten hätte er es ihr abgewöhnt, weil er genau wusste, wie es auf Männer wirkte. Aber Babbo hatte es so gern gehört.

Vor knapp drei Monaten dann der erste Brief. Francesca habe am Sonntag nicht angerufen. Ja, Mama, mach dir keine Sorgen, hatte er zurückgeschrieben. Vielleicht ist ihr Telefon kaputt. Und er hatte dem wirklich keine große Bedeutung beigemessen. Francesca war 25, arbeitete in Deutschland und war kein Kind von Traurigkeit. War sie nie gewesen. Doch für seine Mutter war sie immer noch la mia piccola principessa, und er hatte wenig Drang verspürt, Mama zu erklären, was die Prinzessin von ihrem Sonntagabendanruf abgehalten haben könnte.

Dann waren es zwei Wochen. Die Telefonverbindung in Kabul war gnädig gewesen, er hatte länger mit seiner Mutter sprechen können. Francesca sei wie vom Erdboden verschluckt. Kein Anruf, kein Brief, nichts. Bei ihrem Handy ging nur der Anrufbeantworter ran, in der Pizzeria, in der sie arbeitete, wusste auch keiner, wo sie war, und die Nummer einer Freundin habe sie nicht. Er hatte auch keine.

Nach drei Wochen ging er zu seinem vorgesetzten Offizier und bat um Urlaub. Wichtige Familienangelegenheiten. Aber da niemand gestorben war oder im Sterben lag, dauerte es weitere zwei Monate, bis die Sache durch war.

Als die Lockheed zum Stillstand gekommen war, stand Lorenzo Palladio auf und ging zur Gepäckablage.

»Und? Was machst du? Wollen wir uns mal treffen?« Pietro grinste ihn breit an. »Ich kenne da ein super Lokal an der Piazza Navona. Da sind Frauen, kann ich dir sagen!« Er küsste Zeigefinger und Daumen, die er zu einem Ring geformt hatte. Das machte er dauernd.

»Mal sehen.« Lorenzo schulterte seinen Seesack. »Ich habe ja deine Nummer.«

»Du verpasst was, Kumpel, ehrlich!«

»Ich ruf dich an.«

»Tu das!«

Natürlich hatte er das Bedürfnis gehabt, mit jemandem darüber zu sprechen. Gegen Ende hin hatten ihn die Sorgen fast aufgefressen, und es hätte sicher gut getan, jemandem sein Herz auszuschütten. Aber irgendetwas in ihm hatte ihm davon abgeraten. Irgendetwas sagte ihm, dass es besser war, wenn nur er wusste, was los war und was er vorhatte. Dabei wusste er das selbst noch nicht einmal. Weder, was los war, noch, was er tun wollte.

Das heißt, er wusste schon, was er tun wollte. Er hatte es sich nur noch nicht eingestanden.