Impressum

Erik Neutsch

Auf der Suche nach Gatt

Roman

ISBN 978-3-86394-383-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1973 bei
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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GATT LEBT.

Gatt lebt also noch. Seit Jahren ging er mir nicht aus dem Sinn, wie ein Feind saß mir seine Geschichte im Nacken, und jetzt diese Nachricht. Jeremias Weißbecher rief mich an. "Hallo, alter Freund! Ich wollte dir einen Brief schreiben. Aber das dauert zu lange. Wir haben ihn gefunden. Fahr hin. Beeile dich. Ich komme nach..."

Zwar scheint ein Zeitalter zwischen damals und heute zu liegen, die Entfernung von Himmelskörpern zwischen unserer Begegnung in M. und meiner jetzigen Reise, die Welt hält keinen Tag still, doch nun, da ich mich jeder Einzelheit zu erinnern versuche, ist alles eine Denksekunde erst her. Ich sitze im Zug. Angetrieben durch die Erwartung, ihn wiederzusehen, zögerte ich keinen Augenblick, fuhr sofort zum Bahnhof und löste eine Karte. Wohin? Nach Mansfeld oder doch nur ins Ungewisse? Von Weißbecher weiß ich nur, daß er, Gatt, sich dort in der Nähe aufhalten muß. Vielleicht in E. Vielleicht in S.

Aber er lebt. Wird jedoch unsere Anstrengung nicht vergebens sein? Was ist ein Mensch? Ich entsinne mich, wie er den Atlas mit den Bildern in seiner Hand hielt, Bamberger Reiter, Kreidefelsen auf Rügen und Karten von Europa. Ich entsinne mich seiner Worte: Man müßte sich irgendwo als Punkt darauf eintragen, wie eine neue Stadt, schwarz oder rot... Und ich nahm auch die Manuskripte mit. Lose Blätter. Halbfertig. Kein Ende. Hier und dort schon mit GilbsteIlen versehen. Denn ich hatte es aufgegeben, noch weiter daran zu schreiben. Mir fehlte das Urteil, mir fehlte der Mut, über ihn zu urteilen, ein entscheidendes letztes Wort, mit dem vielleicht auch er gerechnet hatte.

Es ist Nacht. Die Räder hämmern über die Schienen. Draußen liegt die Erde unter dem Schnee, und weit oben, kann ich erkennen, sobald ich die Stirn fest an die Scheibe presse, flimmern die Sterne. Unendlichkeit. Nirgends ist die Welt zu Ende. Die Astronomen sagen, daß auch das Leben auf unserem Planeten nichts Außergewöhnliches sei. Irgendwo existiert die Vernunft noch einmal. Sie liegt nur noch außerhalb der Reichweite unserer Teleskope, außerhalb unseres heutigen Wissens. Also: Was ist der Mensch? Ein Gegenzug rast vorbei. Licht und Schatten. Lichtschatten. So nahmen wir damals Abschied. Im Gegenüber des Zuges glaubte ich Gatts Gesicht zu entdecken. Ich suchte ihn. Ich durchbohrte die Nacht mit meinen Blicken. Hinter einem der erleuchteten Fenster war ein Schattenriß aufgetaucht, seinem Profil sehr ähnlich. Doch die Lichtpunkte wurden kleiner. Bald verschwanden sie in der Dunkelheit.

Und später begann ich zu schreiben. Und jetzt halte ich die Fetzen des Geschriebenen auf den Knien und lese. Der Weg bis Mansfeld, wo ich Gatt wiederzufinden hoffe, ist noch weit.

Das Jahr war kalt, und folgerichtig kam der November mit nassen Nebeln. Die Fabrikdämpfe ätzten die Straßen, auf dem Pflaster lag Wasser wie geschmolzenes Blei. Grauheit, Gräue, milchigblasse Nebel, verschleierte Gegend, am Himmel eine Sonne, strahlenlos, die mehr einer abgegriffenen Aluminiummünze glich als sich selbst. Es war ein Jahr der Rechenschieber, und die Natur schien willfährig und sich danach zu richten. Mit ihren Nebeln zuerst, mit ihrer klammen Kälte. Wir glaubten schon, wir hätten die Logik neu erfunden. Nach unserem Willen sei alles zu messen, sogar der Mensch, seine Arbeit und seine Lust, das einmalige, für jeden von uns unwiederholbare Leben. Die dumpfen Nebel würden weichen, dachten wir, und das nächste Jahr würde von Wärme und Freundlichkeit strotzen, sobald wir es nur im voraus berechnet hätten. Ich war ein eifriger Vertreter dieser Theorie der gesteuerten Hoffnung.

Doch dann begegnete ich ihm. Während der Nebelzeit. Ein Mann im besten Alter, Ende der Dreißig, kein unbeschriebenes Blatt mehr, was ich zunächst, wie ich nun sagen muß, nur erriet. Denn erst später wurden meine Vermutungen bestätigt, hundertfach von ihm selbst und, nachdem ich einer der Spuren in seinem Leben nachgegangen war, eben jener, die zu Weißbecher führte, auch von ihm, dem Chefredakteur, Gatts einstigem Freund. Damals aber, als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, konnte ich noch nicht ahnen, daß er mir um so rätselhafter werden würde, je näher ich ihn kennenlernte.

Er stand auf dem Bahnhof von M., für mich noch ein Fremder, und M., eine mittlere Kreisstadt, befand sich gerade im Aufbruch, kehrte ihr Unterstes zuoberst. Die Chemie färbte ihr Gesicht, und Forschung und Ökonomie prägten ihr Ansehen. Schon bestanden exakte Pläne, von elektronischen Gehirnen programmiert, den alten Stadtkern einzureißen, die winkligen Gassen, in denen der Schwamm nagte und die Ratten pfiffen, unter Hochstraßen zu bringen. Ringsum ragten Schlote und Destillierkolonnen auf, umklammerten hufeisenförmig die Stadt wie ein riesiges Gatter und ließen nur eine Lücke zum Fluß frei, dort, wo die Sümpfe und die dunklen Gehölze begannen, dahinter die Äcker und dahinter die anderen Städte... Die Fahrdämme waren seit langem überbelastet, hatten sich unter den Rädern krumm gebuckelt; sie würden sich dehnen müssen, und sie würden gedehnt werden, um auch dem Verkehr der Jahrtausendwende gewachsen zu sein. Bis dahin jedoch trugen die Schienenstränge, was die Straßen nicht fassen konnten. Und so war der Bahnhof dieser Stadt, wie in früheren Jahren vielleicht der Markt, der Ort ihres größten Gewimmels, besonders in jenem November.

Denn die Fahrpläne stimmten nicht mehr, hingen nur noch pro forma aus. In der gläsernen, hochkuppligen Vorhalle stauten sich täglich die Menschen, am dichtesten während der Zeit des Schichtwechsels, vom späten Nachmittag bis in den frühen Abend. Die meisten wußten nicht, wo sie sonst hätten warten sollen. Der öffentliche Garten, der unmittelbar vor den Schwingtüren angelegt war und im Sommer zu Spaziergängen einlud, troff vor Feuchtigkeit; seine Kieswege waren aufgeweicht, und die jungen Linden reckten kahl und starr ihre Zweige, so daß niemand wagte, sich hier noch auszuruhen. Das Restaurant und die Wartesäle hingegen waren überfüllt, und obwohl eine stickige Luft das Bleiben dort zur Qual machte, verteidigte doch jeder einen einmal erkämpften Platz bis zur Abreise. Nur die Halle, der Glasbauch, nahm jeden auf. Stundenlang oft standen die Männer und Frauen hier, frierend und müde, und warteten darauf, daß die knarrende Stimme im Lautsprecher sie erlöste, den Zug anmeldete, mit dem sie nach Hause fahren wollten, in ein Wohnnest, zur Familie, zu den Kindern. Aber die Züge hielten auf offener Strecke irgendwo im Nebel, irgendwo in der Dunkelheit, sie kamen nur mühsam voran.

Inmitten der Menge bemerkte ich sein Gesicht zum ersten Mal. An der Sperre. Neben dem eisernen Zaun, der die Halle von der Unterführung trennte, die die Bahnsteige miteinander verband. Heute weiß ich, daß er diesen Platz nie - bis zu jenem Augenblick jedenfalls nicht, da ich mich nach Ruth umschaute, seiner Frau - verließ, um es den anderen, den Reisenden, gleichzutun, um sich der Reise anzuschließen.

Sein Gesicht war eins unter vielen, und der Ausdruck seiner Augen, so will es die Erinnerung heute, unterschied sich in nichts von der Ungeduld in all den anderen Augen. Und dennoch, obwohl ich dafür keinen Grund mehr zu nennen vermag, fiel sein Gesicht mir besonders auf. Wie die gesamte Gestalt wirkte es hager, blaß und ein wenig ungepflegt. Den Schädel, der in der zugigen Halle meist unter einer Schiebermütze verborgen blieb, bedeckten strähnige Haare, die die Farbe von Schiefer hatten, grauschwarz, und die immer glänzten wie im Schweiße. Unter der hohen, kantigen Stirn und den buschigen Brauen lagen zwei bräunliche, von stark geädertem Weiß umgebene Pupillen, deren Blicke, wie ich später erfuhr, unangenehm stechen und zupacken konnten. Der Nasenrücken war glatt, der Mund schmal, die dünnen Lippen aber schimmerten so rot, daß sie auf mich den Eindruck machten, als fieberten sie. Kinn und Wangen waren eigentlich nie, jedenfalls nie während der Tage meiner Bekanntschaft mit ihm, glatt rasiert, immer überdämmerte sie ein bläulicher Schatten. Das alles aber hätte ich auch in anderen Gesichtern finden können, die Abgespanntheit, das Zucken in den Augen, die kleinen äußeren Unachtsamkeiten. Und wenn ich's mir jetzt, im nachhinein überlege, dann fiel mir sein Gesicht, so erstaunlich es klingen mag nach all dem Geschilderten, vielleicht nur deshalb auf, weil es mehr wartete, einfach nur mehr wartete als jedes andere.

Ich begann, ihn täglich zu beobachten, und bald wurde ich auch gewahr, daß ihn das Treiben in seiner Unlgebung nur wenig kümmerte. Die Kommandos der Lautsprecher erreichten ihn nicht, er rührte sich nicht vom Fleck. Die aufgewirbelte Menge flutete an ihm vorbei, er schien sie nicht einmal zu bemerken, er hielt sich nur mit beiden Händen, sobald das Gedränge ihn fortzuzerren drohte, an dem Eisenzaun fest. Er fuhr mit keinem Zug, empfing auch niemanden, der mit einem der Züge ankam. Er stand an der Sperre, reckte hin und wieder den Hals, um besser sehen zu können, und - wartete.

Meine Neugier kannte keine Geduld mehr. Kaum ein anderer hatte sie jemals so geködert wie dieser wartende Mann. Ich richtete es fortan ein, daß ich vor ihm auf dem Bahnhof eintraf, daß ich ihm folgen konnte, sobald er mit gebeugtem Rücken und hoch aufgeschlagenem Lederkragen die Halle betrat, erfuhr aber lange Zeit nichts, was ich nicht schon gewußt hätte: Er schüttelte die Nässe von sich ab, ging auf den Platz neben der Sperre und stellte sich dort auf, als zöge er auf Posten. So plötzlich und selbstverständlich dann, wie er gekommen war, entfernte er sich schließlich, meist nach einer halben Stunde, selten erst nach zweien oder gar dreien, wobei mir das System dieser Intervalle nicht einleuchten wollten. Manchmal warf er noch einen Blick in das überfüllte Restaurant, bevor er verschwand, meist trat er sofort durch die Schwingtüren hinaus ins Freie, krümmte den Nacken und zog den Kopf wieder zwischen den Kragen der Lederjacke. Ich spürte große Lust, ihm nachzugehen, zu erkunden, wo er wohnte, wie er lebte.

Eines Tages, dessen bin ich mir sicher, wäre ich dazu auch entschlossen gewesen, wenn ich nicht plötzlich - oder war es doch allmählich? - eine andere Entdeckung gemacht hätte.

Ich kannte inzwischen jede Geste, jede Regung in seinem Gesicht, und da fiel mir auf, daß er stets dann von einer kaum merklichen, aber doch innerlich sehr heftigen Unruhe geplagt schien, sobald im Lautsprecher die Züge aus der nahen Bezirkshauptstadt angekündigt wurden. Dann stemmte er sich mit seinen knochigen Fäusten auf die eiserne Querstange des Gitters und hob seinen Kopf so hoch als möglich über die Menge. Seine Augen nahmen einen stechenden Ausdruck an, ich folgte ihren Blicken und bemerkte eine Frau, deren Verhalten mir verriet, daß es zwischen ihr und ihm eine Beziehung gab.

Zunächst glaubte ich an eine Täuschung. Doch je länger ich die beiden beobachtete, desto auffälliger fand ich ihr Benehmen.

Die junge Frau scheute das Gedränge an den Barrieren. Sie tauchte aus der fahlbeleuchteten, schummrigen Tunnelhöhle auf, sobald der Strudel aus Menschenleibern seine größte Wucht verloren hatte. Festen Schritts stieg sie die Treppen hinauf, stockte aber fast immer, bevor sie den Fuß auf die letzte Stufe gesetzt hatte. Es war ihr anzumerken, daß sie in diesem Augenblick den Mann entdeckte, der am Gitter auf sie wartete. Jedesmal erschrak sie neu, und vielleicht hatte sie wieder und wieder gehofft, ihn nicht mehr zu treffen. Danach aber, ein wenig hastiger als zuvor und ein wenig ängstlich sogar, wie mir schien, eilte sie auf die Sperre zu, die am entferntesten lag. Manchmal geriet sie erst dadurch in den Sog, den sie bisher gemieden hatte, und sie kämpfte dagegen an, allerdings nur mit einer sanften, mißlingenden Gewalt. Einen einzigen stummen Blick hatte sie mit dem Manne getauscht, und sofort hatte sie ihr Gesicht abgewandt. Sie richtete ihre Augen auf die Fahrkarte, die sie zwischen schmalen, von weichem Handschuhleder überspannten Fingern hielt. Ihre kleine anfängliche Furcht verflog, wich einem abweisenden, beinahe hochmütigen Trotz. Sie mußte wissen, daß sie mit einem heißen Begehren betrachtet wurde, aber sie ging, ohne den Kopf zu wenden, aufrecht davon.

Das war dann stets die Entscheidung, eine Entscheidung, die sich täglich wiederholte. Er trennte sich von seinem Platz an der Sperre und schlich, auffällig nur einem Eingeweihten wie mittlerweile mir, in tiefer Ratlosigkeit davon.

Ich ahnte eine erregende Geschichte. Und immer öfter sann ich darauf, den Fremden zu stellen, ihn zu einem Gespräch mit mir zu zwingen. Die Gelegenheit dazu bot sich früher, als ich gehofft hatte.

Mehrere Wochen schon hatten meine Nachstellungen gedauert. Ihretwegen hatte ich täglich meinen Zug versäumt, manchmal auch den nächsten oder gar übernächsten, was außer mir freilich niemanden kümmerte, da es mich ohne Frau und Kinder in dieser Gegend verschlagen hatte und es also niemanden gab, der nach mir fragte. Du streunst umher, bist ein ewiger Wanderer, dachte ich von mir selbst, und vielleicht war es das, was mich insgeheim mit dem Manne verband. Denn ich fühlte, auch er war ruhelos. In den letzten Tagen ging er immer öfter in das Restaurant, besonders dann, wenn die Frau aus irgendeinem Grunde nicht mit dem Zuge eintraf. Die Nebel begannen sich zu lichten, manchmal stahl sich schon ein matter Sonnenschein in das kahle Gezweig der Linden, wurden nachts die Leuchtfeuer der Werke am Himmel sichtbar. Die Züge fuhren pünktlicher, und in der Gaststätte wurden die Tische schneller wieder geräumt.

Ich ging ihm nach. Auch diesmal war die Frau nicht gekommen. Wir - ich muß schon sagen: wir - hatten vergebens auf sie gewartet.

Er postierte sich nahe der Tür, drückte den Schirm seiner Mütze tief in die Stirn, als wollte er sein Gesicht darunter verstecken, und vergrub die Fäuste in den Taschen. Ich stand in seinem Rücken, schaute ihm über die Schulter, sah seinen Hemdkragen, der, was nun gar nicht zu meinem bisherigen Bild passen wollte, sehr sorgfältig, wie von Frauenhand gebügelt schien. Doch noch ehe ich länger darüber nachdenken konnte, wurden an einem der Tische zwei Stühle frei, und wir stürzten beide gleichzeitig darauf zu. Nun saß ich ihm gegenüber. Er nahm die Mütze vom Kopf, stülpte sie über den Lehnenholm und wischte sich mit der Innenfläche der Hand über die schweißnasse, bärtige Haut. Als die Serviererin kam, die mit ein paar belanglosen Worten verriet, daß sie ihn kannte, bestellte er Bier und Branntwein. Ich tat es ihm nach, und ich erreichte, da meine Bitte wie ein Echo klang, daß er mich mit seinen stechenden Augen musterte und wohl zum ersten Mal bemerkte.

Er umklammerte mit beiden Händen das Bierglas, trank daraus in kleinen Schlucken. Den Branntwein dagegen ließ er lange Zeit unberührt.

Und plötzlich sprach er mich an. Er atmete schwer, und seine Stimme klang rauh und spröde, so daß ich versucht war, mich statt seiner zu räuspern. "Wartest du auch auf einen Zug hier?" fragte er.

Das Du in seiner Anrede überraschte mich nicht, denn es war hier wie auf dem Arbeitsplatz üblich, auch einem Fremden gegenüber das vertrauliche Du zu gebrauchen. Ich verneinte und antwortete, daß ich nur vorübergehend hier zu tun hätte und bald die Stadt verlassen würde.

"Monteur?" forschte er weiter und wies mit einem leichten Nicken auf meine Hände, die, da sie damals rissig und von Hornhaut überzogen waren, meinen Beruf nicht verrieten.

Ich schüttelte den Kopf. Ich begegnete zum zweiten Mal seinen Augen aus unmittelbarer Nähe, und ich empfand, daß ihr Stechen von einem erbitterten, tief in die Seele gebrannten Mißtrauen herrührte. Sie glänzten wie im Fieber, und ich erschrak darüber.

"Ist ja auch gleich", sagte er nach einer Weile. "Eine gräßliche Gegend. Sie macht mich fertig. Gesundheitlich, verstehst du? Die Luft wird immer schwerer, und ich würde die Flucht ergreifen vor ihr... Würde ihr nicht länger meine Lungen zum Fraß vorwerfen... Wenn ich nur loskommen könnte von hier."

Ich wollte ihn fragen: Hält dich die Frau? Aber ein Geständnis, daß ich ihn beobachtet hatte, hätte wahrscheinlich unser Gespräch schon im Keime erstickt. Er kam mir auch zuvor, indem er zu sprechen fortfuhr: "Wenn du einer von denen bist, die ich nie wiedersehe, kanst du's ja wissen. Ich suche wieder ein Ziel, für das sich zu leben lohnt. Das bißchen Nahrungssuche, das Bett einer Frau, sie erfüllen mich nicht. Der Mensch ist kein Mensch, wenn er aufgibt zu kämpfen. Allein die Hoffnung, es könnte noch einmal anders werden, hält mich. Noch treibt sie mich weiter, doch manchmal fürchte ich schon, daß auch sie mich verlassen könnte. Ich habe mein Leben lang gekämpft. Wofür? Wozu? Ich weiß es nicht mehr. Ich würde die Welt zertrümmern, säh ich für mich einen Sinn darin. Dort bin ich. Denn wenn auch sie mich verläßt, die Hoffnung, wär ich ein alter Mann."

Ich horchte auf, hörte ihm zu: Sein Ton gefiel mir nicht. Doch erst im nachhinein, heute, da ich an dieser Stelle meiner Notizen angelangt bin, wundert es mich, weshalb er ausgerechnet mir, einem unter siebzehn Millionen, das Herz ausschüttete. Er tat nicht schön, weder mit mir noch mit sich, am allerwenigsten wohl mit sich, und nur, wo er bei besserer Einsicht sich selbst hätte strafen müssen, verfiel er in die uns allen eigene Schwäche, die manchmal so unangenehme Wahrheit angenehmer machen zu wollen. Was also war der Grund seiner Beichte? Allein das Bedürfnis dazu, glaube ich, das Loch in der Seele, das er nun spürte und stopfen wollte, mit der Zunge, mit Worten. Immer sucht dann ein Mensch den anderen.

Ich erfuhr, daß er Gatt hieß. Und ich gestehe, daß ich bald in eine Stimmung geriet, die sich sonderbar mischte aus Zorn und Mitleid, Abscheu sogar und Achtung. Vielleicht war es diese Unordnung meiner Gefühle, die mich so lange zaudern ließ, die Geschichte zu Ende zu bringen, sie aufzuschreiben und mitzuteilen. Doch nun?

Ich sitze im Zug und fahre nach Mansfeld. Gatt lebt. UND HIER BEGINNT SEINE ERZÄHLUNG.