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1. Auflage, April 2012

© 2012 Haffmans & Tolkemitt,
Alexanderstraße 7, D-10178 Berlin.
www.haffmans-tolkemitt.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Umschlag von Frances Uckermann.
Umschlagfoto: © Sven Simon. © Foto Axel Sven Springer: privat.
Gestaltung & Produktion von Urs Jakob,
Werkstatt im Grünen Winkel in Winterthur.
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten.
Druck & Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm.
Printed in Germany.

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-942989-20-6

Für Benjamin

Inhalt

Vorwort

I

Das Ende der Kindheit

1 Ein Morgen im Januar

2 Kalte, unbestimmte Angst

3 Mein Pumpelchen, mein Stumpelchen

4 Leider bist du eingeschlafen

5 Rote Rosen, Schweizer Uhren

6 »Es hat Dich lieb…«

7 Kühl, freundlich, aufrichtig, sparsam

8 Im Kofferraum

9 Seltsam, seltsam

10 Gottes Wege sind rau

11 Nur nicht die Fassung verlieren

II

Das schwierige Erbe

1 Das Recht zu schweigen

2 Wenn Granddaddy das so gewünscht hat

3 Nur ein paar Formalitäten

4 Abitur, und was dann?

5 Alle gegen alle

6 Einigkeit und Recht und Freiheit

7 Mündelsicher

8 Ihm zu Füßen

9 Der Zigarettenmann

10 Blaue Tinte

11 Persönliche Überraschungen sind nicht zu fürchten

12 Fischerman’s Friends

III

Der Kampf um die Wahrheit

1 »Lieber Aggi, liebe Ariane«

2 Mineralwasser für Leo Kirch

3 Züricher Besprechungen

4 Zug um Zug

5 Unter dem Teppich

6 Lexotanil und letzte Begegnungen

7 Ein Richter macht die Mücke

8 Bei Friede auf der Couch

9 Handschriftliche Vermerke

10 »Ach, mein Hase«

11 Parade der Zeugen

12 Das Urteil

13 Ganz oben

Quellen

Vorwort

»Mein Name ist Axel Sven Springer.« Wie oft habe ich mich eigentlich schon so vorgestellt? Und wie oft habe ich bei Menschen, die mich nicht kannten, die immer gleiche Reaktion erlebt? Kurzes Innehalten, fragender Blick, oft ein Lächeln. Sind Sie etwa verwandt mit Axel Springer? Meist sage ich: »Ja, ich bin sein Enkel.« Manchmal verneine ich, wenn ich keine Lust auf Konversation habe – das kann schon mal vorkommen. Geht auch eigentlich niemanden etwas an. Aber ich bin nun mal der Enkel eines großen Mannes. Erfinder von Bild und Hör Zu, Gründer und prägender Kopf des größten europäischen Zeitungshauses. Patriot. Christ. Freund Israels. Genialer Blattmacher. Visionärer Unternehmer. Freiheitskämpfer. Ästhet. Und, nicht zu vergessen, Hassobjekt der Linken, die ihm die Haltung seiner Blätter in Bezug auf die 68er nie verziehen und ihn konsequent bei seinem Taufnamen riefen: Axel Cäsar Springer. »Cäsar«, das klingt so schön aufgesetzt, nach vordemokratischem Imperator und viel zu großen Ambitionen. Dabei ließ mein Großvater selbst den »Cäsar« immer weg. So ein Name klang ihm viel zu pompös. »Axel Springer«, das reichte völlig.

Bei mir hieß er »Granddaddy«.

»Mein Name ist Axel Sven Springer.« Ich wurde mal gefragt, ob mich dieser Name eher glücklich oder eher unglücklich gemacht hat. Nun ist der Name ja nicht mein Verdienst, aber natürlich antwortete ich, dass ich stolz auf die unternehmerische Leistung meines Großvaters bin und hoffe, sein Andenken in Ehren halten zu können.

Ich lernte bereits als Kind einige der spannendsten Köpfe der deutschen Medienlandschaft kennen. Ich führe ein finanziell sorgenfreies Leben. Aber das ist nur ein Teil meiner Geschichte. Mein Vater, der auch Axel Springer hieß, nannte sich eine Weile lang lieber Sven Simon. Er nahm sich das Leben, bevor ich ihm all die Fragen stellen konnte, die ein Sohn an seinen Vater hat. Ich war nicht einmal vierzehn Jahre alt. Als neunzehnjähriger Internatsschüler blickte ich eines Nachts in den Lauf einer Maschinenpistole, die ein Kidnapper auf mich gerichtet hielt. Meine Entführer forderten 15 Millionen Mark. In ihrer Gewalt durchlitt ich die schlimmsten 68 Stunden meines Lebens. Dann war ich frei und bin es doch, bis heute, nie mehr so ganz. Dass mir Leid geschah, nur weil ich sein Enkel war, hat mein Großvater nie verwunden. Neun Monate nach meiner Entführung starb er.

Axel Springer, einer der wohl untalentiertesten Familienmenschen, den man sich vorstellen kann, versuchte nach dem Selbstmordmeines Vaters aufrichtig, mir eine liebevolle, männliche Stütze zu sein. Er hatte so viel versäumt bei seiner Tochter und seinen beiden Söhnen, jetzt wollte er wenigstens an mir Gutes tun, mich beschützen und ins wirkliche Leben führen. Einem Freund schrieb er zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters den traurig schönen Satz: »In seinem Sohn einen neuen Sohn geschenkt bekommen zu haben, ist für Friede und mich ein großes Glück.« Manchmal nannte er mich Axel Springer, der Dritte.

In diesem Buch erzähle ich von unseren gemeinsamen Stunden, von einem Axel Springer, wie ihn nur die wenigsten gekannt haben dürften. Und ich erzähle von seinem Erbe, das für mich weit mehr umfasst als Geld und Besitz. Es geht um den Geist Axel Springers, den er auch nach seinem Tode noch in seinem Unternehmen walten lassen wollte. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hatte er angeordnet, dass seine Nachfahren eine wichtige Rolle im Verlag spielen sollten. Doch was er genau verfügen wollte, erscheint mir als immer geheimnisvoller, je länger sein Tod zurückliegt. Zwar gibt es ein beurkundetes Testament, aber das habe er noch einmal ändern wollen, wurde uns Nachfahren kurz nach seinem Tod berichtet. Um diesem »neuen« letzten Willen Axel Springers zu genügen, verzichtete ich auf 80 Prozent meiner Anteile an seinem Unternehmen. Es dauerte viele Jahre, bis ich erfuhr, dass man mir damals nicht die ganze Geschichte über die letzten Wochen im Leben meines Großvaters erzählte. Ich habe lange überlegt, ob ich das alles nicht besser für mich behalten möchte. Auch weil ich fürchtete, nicht gegen die Mächtigen anzukommen, die Teile ihres Einflusses und Reichtums der Naivität eines Neunzehnjährigen verdanken. Doch bevor sich einige von ihnen zum nächsten Ehrentag meines Großvaters wieder einmal in hehren Worten auf sein Erbe berufen, möchte ich hier erstmals erzählen, welche Machenschaften hinter diesem Erbe stecken und wie sie es beinahe verspielten.

Bevor dieses Buch erscheinen konnte, haben sich zahlreiche Anwälte mit dem Manuskript befasst. Wenn sich manche Sätze etwas holprig lesen, dann mag das daran liegen, dass die Juristen Persönlichkeitsrechte anmahnten, mich an »Verschwiegenheitsvereinbarungen« oder »Treuepflichten« erinnerten. Ich habe um jeden Satz, um jeden Absatz gekämpft. Die ganze Wahrheit sollte es sein – so wie ich sie erlebte. Dass Sie dieses Buch in Händen halten, ist insofern bereits der größte Erfolg, den ich mir wünschen kann.

Gestatten Sie mir daher, mich an dieser Stelle bei allen zu bedanken, die das Erscheinen dieses Buches möglich gemacht haben. Einige wollen nicht genannt werden – ich habe eine Ahnung, warum. Ohne ihr Wissen und ihre Erfahrung hätte es dieses Buch nicht gegeben.

Axel Sven Springer

Hamburg, im April 2012

I

Das Ende der Kindheit

1

Ein Morgen im Januar

Am Morgen des 3. Januar 1980, einem Donnerstag, erwachte ich mit einem Riesenschreck. Verschlafen! Draußen war es fast schon hell. Die dünne Schneedecke über Hamburg schimmerte nicht mehr nachtgrau, sondern weiß durchs Fenster. Ich hätte längst unterwegs sein müssen. »Pappi?« Er wollte mich doch wecken, um vier, wie immer, wenn er mich zur Jagd mitnahm; seinen schlaftrunkenen Sohn, der eigentlich noch viel zu müde war für diese Ausflüge, aber jede Sekunde an der Seite seines Vaters liebte. Jetzt war es fast acht. »Ariane? Melanie?« Die beiden schliefen bestimmt noch, schließlich waren Ferien. Das Gut Schierensee, zu dem mein Vater und ich heute früh fahren wollten, lag knapp eine Autostunde entfernt. Mein Großvater hatte das heruntergekommene Anwesen am Holsteiner Westensee 1968 gekauft und drei Jahre lang aufwändig restaurieren lassen. Ein hochherrschaftliches Haus. Aber »Schloss« durfte man nicht sagen, das klang meinem Großvater zu förmlich. »Museum« passte auch nicht recht, dafür war es dort viel zu wohnlich und gemütlich, auch wenn die umfangreiche Sammlung historischer Möbel, Gemälde und Fayencen aus dem 18. Jahrhundert jede kulturgeschichtliche Sammlung bereichert hätte. Mein Vater schätzte an Gut Schierensee vor allem den großen wildreichen Wald, der es umgab, und die herrliche Ruhe. Sie ließ einen Kraft tanken, wie an keinem anderen mir bekannten Ort der Welt.

Im Haus war es ganz still. Irgendwas stimmte nicht. Ich lag allein in meinem Zimmer. Ariane und Melanie schliefen gemeinsam nebenan. Ich war dreizehn, Ariane siebzehn und Melanie sechzehn Jahre alt. Silvester hatten sie zum ersten Mal hier in Hamburg auf einer Party von Freunden gefeiert und nicht, wie sonst, mit uns in Morsum auf Sylt. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich noch zu klein war, um zu merken, dass da jetzt etwas fehlen könnte. Meine Schwester Ariane und ich lebten bei unserer Mutter Rosemarie in München. Mein Vater hatte sich neu verliebt, in Renate, die einen Friseursalon in Hamburgs bester Gegend führte. Auch ihre Tochter Melanie hatte er fest ins Herz geschlossen. Die Oster-, die Sommer- und die Winterferien verbrachten Ariane und ich fast immer mit ihnen. Das gemeinsame Weihnachtsfest auf Sylt, mit Unmengen von Essen, langen Spaziergängen, einem riesigen Weihnachtsbaum und viel Monopoly spielen, war mein Höhepunkt des Jahres. Wir Kinder durften so lange aufbleiben, wie wir wollten. Fernsehen bis Sendeschluss, Lachen und Toben bis Mitternacht – Hauptsache, wir saßen am nächsten Morgen pünktlich um Punkt acht wieder am Frühstückstisch. Aber wehe, man war übermüdet oder hatte schlechte Laune. Die hätte ohnehin nie lang vorgehalten. Mein Vater erzählte leidenschaftlich gern Witze, auch mal zehn hintereinander, und alle waren gut. Oft hatten wir Bauchschmerzen vor Lachen. Am liebsten hätte ich diese Tage auf Sylt in Geschenkpapier gewickelt und immer mit mir herumgetragen. Gestern erst waren wir von der Insel nach Hamburg zurückgekehrt.

Ariane und Melanie, die fast so etwas wie eine zweite Schwester für mich war und auch für Ariane eine gute Freundin, lagen noch im Bett, als ich hereintaperte und nach meinem Vater fragte. Sie wussten auch nichts. Bald hörten wir unten Renate telefonieren. »Ist er bei euch?« »Vielleicht schon vorgefahren?« »Oder noch mal ins Büro?« »Habt ihr was gehört?« Ihre Stimme klang nervös. So hatte ich sie noch nie gehört. Und wo war eigentlich Grouse, der treue schwarze Labrador, der seinem Herrchen so ungern von der Seite wich? Uns wurde unheimlich zumute. Wir saßen stundenlang in Melanies Zimmer, angezogen und ratlos, warteten und hörten NDR 2. »Hey there people, I’m Bobby Brown« von Frank Zappa. Ich habe die knarzige Stimme heute noch im Ohr. Komisch, woran man sich erinnert. »Hey there people.«

Plötzlich stand Claus Jacobi in der Tür. Jaco, wie wir ihn nennen durften, war einer von Vaters besten Freunden und arbeitete mit ihm in der Chefredaktion der Welt am Sonntag. Wir kannten ihn gut, er war oft bei uns auf Sylt gewesen, aber da sah er nie so blass aus wie jetzt. So totenblass. »Kinder … Euer Vater hatte vergangene Nacht einen schweren Unfall«, erzählte er. Ariane und Melanie verstanden sofort, was Jaco uns da schonend beizubringen versuchte. Sie weinten bitterlich, nicht hysterisch, sondern viel schlimmer: tief ergriffen und verletzt. Ich hingegen starrte ihn nur an. Ein Unfall? Mit dem Auto? »Wir müssen sofort zu ihm ins Krankenhaus!« Claus Jacobi schüttelte langsam den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis auch ich begriff. Ich würde meinen Vater, meinen »Pappi«, der seine Briefe an mich immer mit drei »p« unterschrieb, nie wiedersehen. Dann weinte auch ich.

Keine einfache Verbindung:
Mein Vater Axel Springer junior (alias Sven Simon) sieht ein TV-Interview mit meinem
Großvater Axel Springer, 1968

2

Kalte, unbestimmte Angst

Es war schon dunkel, als wir auf Gut Schierensee ankamen. Januartage sind kurz. Mein Großvater stand vor dem großen Torhaus, den Arm eingehakt bei Friede, seiner fünften Ehefrau. Er sah aus wie ein Gespenst, ganz grau im Gesicht. Seine Augen glänzten rot.

Er drückte uns an sich. Wir setzten uns in das große, sonst so gemütliche Wohnzimmer, vor den Kamin. Das Reden fiel allen schwer, auch Großvater und Friede. Da brach es aus ihm heraus und er schluchzte. »O Gott, o Gott!« Kurz darauf hörte ich, wie mein Großvater und Renate im Treppenhaus miteinander sprachen. Plötzlich rief sie: »Ich kann doch nichts dafür!« Immer wieder. Wir wussten gar nicht, wohin mit unseren Tränen. In meiner Hand hielt ich ein Foto meines Vaters. Als wir gerade nach Schierensee losfahren sollten, war ich noch einmal zu der Kommode in seinem Haus zurückgerannt, in der die Alben lagen. Ich riss ein Bild von ihm heraus, das wollte ich bei mir haben und nie wieder hergeben.

Bald sollten wir Kinder erfahren, wie er gestorben war. Es stand in jeder deutschen Zeitung, meist auf Seite 1. Die Fernsehnachrichten meldeten es. »Freiwillig aus dem Leben geschieden«, schrieb die Welt in einem ersten kurzen Nachruf. Die Erwachsenen versuchten es uns zu erklären, so gut es ging, aber es ging nicht gut. Bis heute nicht.

Gegen zwei Uhr morgens hatte mein Vater seinen dicken braunen Wintermantel übergeworfen und mit seinem Hund das Haus verlassen. Die beiden gingen zum Oberlauf der Alster, nur wenige hundert Meter entfernt. Niemand weiß, wie lange er dort am Ufer herumgelaufen ist, ob er mit sich gerungen hat und vielleicht doch noch einmal umkehren wollte, ob er für Grouse noch ein Stück Holz geworfen hat. Man weiß nur, dass er einen Revolver mit 9-Millimeter-Kaliber bei sich trug. Irgendwann zwischen halb vier und halb fünf Uhr morgens nahm er die Waffe und richtete den Lauf auf sich. Eine Spaziergängerin, die sich an diesem tristen Wintermorgen herausgewagt hatte, fand ihn gegen acht Uhr auf einer Parkbank. Der Hund lief unruhig hin und her, bellte jeden an, der sich näherte. Die Dame verständigte die Feuerwehr: »Da sitzt einer und bewegt sich nicht.« Mein Vater hatte keine Papiere dabei. Erst am frühen Nachmittag stand fest, dass er der Tote von der Parkbank war. Einen Abschiedsbrief habe es nicht gegeben, keine Erklärung, nichts, lautete die offizielle Version. Die Münchener Abendzeitung und die Hamburger Morgenpost, die einzigen Blätter, in denen am Tag danach von einem angeblichen Abschiedsbrief zu lesen war, gehörten nicht zum Axel Springer Verlag.

Mein Vater war freiwillig aus dem Leben geschieden. Er wollte nicht mehr leben, mit 38 Jahren. Mein Vater war so jung und hatte den Mut, die Waffe gegen sich zu richten und abzudrücken. Dann war alles aus. Sein Leben war weg, und wir hatten keinen Vater mehr. Von einer zur anderen Sekunde.

Wenn man erfährt, dass sich der eigene Vater erschossen hat, dann ist das extrem furchteinflößend. Derselbe Vater, neben dem ich die Nacht vor seinem Tod zum ersten Mal im selben Bett geschlafen hatte. So fremd auf einmal. Die Gewalt, die sonst nicht Teil des Lebens ist. Und mein Unwissen über seine Lage. Ich fror vor Angst. Eine kalte, unbestimmte Angst, als würde der Boden, auf dem man geht, plötzlich wegsacken; als würde die Zimmerdecke, die man nachts anstarrt, weil man nicht schlafen kann, näher und näher kommen und einem die Luft abdrücken.

Auf Gut Schierensee schliefen wir jetzt erst einmal alle zusammen in einem Zimmer, Ariane, Melanie, Renate und ich. Wir blieben bis zur Beerdigung in der Abgeschiedenheit. Natürlich versteht man mit dreizehn Jahren nichts von dem, was passiert ist. Mein Vater wohnte zwar immer in meinem Herzen, aber er war eben ein ferner Held in Hamburg, der sein Leben lebte, während ich in München den Alltag mit meiner Mutter und meiner Schwester teilte. Ich habe später viele Theorien über seinen Tod gehört, auch einige gelesen. Ich möchte diesen Mutmaßungen keine neuen hinzufügen, weil nur mein Vater selbst das Rätsel hätte lösen können. Und vielleicht nicht mal er selbst.

3

Mein Pumpelchen, mein Stumpelchen

Mein Vater Axel Springer junior wurde am 7. Februar 1941 in Hamburg geboren. Er war nach Tochter Barbara (Jahrgang 1933) das zweite Kind meines Großvaters. 1963 kam noch mein Onkel Raimund Axel Nicolaus dazu. Seinen Nachwuchs bekam Axel Springer senior mit drei verschiedenen Frauen. Er verließ die Mütter seiner Kinder stets bereits nach wenigen Jahren. Seine Biografen mutmaßen, dass er seine Frauen mit niemandem teilen wollte, schon gar nicht mit einem Kind. Und sie schrieben, er sei den ständig neuen Reizen der Weiblichkeit gegenüber ausgesprochen zugetan gewesen. Was Frauen und unkonventionelle Liebesarrangements anbelangt, dürfte er einen Lebensstil gepflegt haben, von demmanch angestrengter 68er nur träumte. Einem guten Bekannten, dem Hamburger Zement-Industriellen Horst-Herbert Alsen, spannte er gleich zwei Ehefrauen nacheinander aus. »Bevor ich mich das nächste Mal vermähle, stelle ich die Dame Herrn Springer lieber vorher vor«, soll Alsen nach seiner zweiten Scheidung verkündet haben.

Insgesamt brachte es mein Großvater auf fünf Ja-Worte und vier Scheidungen. Katrin, die Mutter meines Vaters, war seine zweite Ehefrau. Das Mannequin mit den langen schlanken Beinen und einer legendär frechen Berliner Schnauze hieß eigentlich Erna Frieda Bertha Küster. Da weder »Erna« noch »Frieda« oder gar »Bertha« so recht zu ihrem aparten Äußeren passten, nannte mein Großvater sie lieber Katrin. Auch für sie war es die zweite Ehe. Wenige Stunden vor ihrer ersten Hochzeit mit einem schwerreichen Norweger hatte mein Großvater noch wortreich versucht, sie davon abzubringen. Es spricht für seinen Charme und seine Hartnäckigkeit, dass er sein Ziel mit Verspätung doch noch erreichte. Erna alias Katrin trennte sich von ihrem Norweger. Im Dezember 1939 wurde die Liebesheirat zwischen ihr und dem 27-jährigen Axel Springer geschlossen. Dreizehn Monate danach vermeldete der stolze Vater die Geburt seines ersten Sohnes: »Axel soll er heißen. Ich bin sehr froh.«

»Der Kleine läuft mir immer hinterher«, schrieb Axel Springer an einen Freund, da war mein Vater gerade zwei. Er überhäufte den Kleinen mit Kosenamen, »mein Pumpelchen, mein Stumpelchen«, das schreibt sich leicht, nur Zeit für ihn hatte er eher selten. Zwar kam mein Großvater dank der Atteste »verständnisvoller Ärzte«, wie sein Biograf Hans-Peter Schwarz sie nennt, um die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg herum. Aber wie um die Diagnosen zu bestätigen, verbrachte er die düstere Zeit eher in luxuriösen Sanatorien als bei seiner Familie in Hamburg. Und als der Krieg zu Ende war, kämpfte mein Großvater, Sprössling einer Verlegerfamilie aus Hamburg-Altona, bald leidenschaftlich für seinen eigenen großen Zeitungstraum. Die für ihn wichtigeren Kinder hießen bald Hamburger Abendblatt, Bild oder Hör Zu. Soll sich doch die Mutter um den Kleinen kümmern. Hauptsache, der Junge lernt was Rechtes.

Seine ersten – und letzten glücklichen – Schuljahre verbrachte mein Vater bei einer Volksschullehrerin namens Loki Schmidt. Ein verträumter Junge, anhänglich, voller Fantasie, so erinnerte die sich an ihn, als sie längst mit ihrem Mann Helmut im Bonner Kanzlerbungalow wohnte. Und auch der kleine Axel vergaß die wunderbare Pädagogin nie. Aber er war zu Höherem berufen als zu einer stinknormalen Volksschule im Hamburger Westen, befand mein Großvater. Er schickte den Neunjährigen ins ferne, aber feine Schweizer Lyceum Alpinum nach Zuoz. Eine Nachtfahrt mit dem Zug. Mein Vater wusste gar nicht, wie ihm geschah. »Bitte kommt, so schnell ihr könnt«, schrieb er, krank vor Heimweh, nach wenigen Tagen. So schnell ging es dann aber nicht. Erst mussten die Eltern noch ihre Scheidung unter Dach und Fach bringen, da war mein Vater dann schon zehn. Als er endlich zurück nach Hamburg durfte, bekam er einen Privatlehrer zur Seite gestellt, der retten sollte, was zu retten war. Doch das Experiment Heimlehrer wurde bald wieder aufgegeben. Die Eltern schickten den Jungen auf eine Odyssee durch die besten Lehranstalten Europas. »Meine Schulen und Internate wechselten schneller als meine Mütter«, erzählte Axel Springer junior später mit Blick auf die wechselnden Partnerinnen seines Vaters.

In London schließlich legte er so etwas wie eine mittlere Reifeprüfung ab. Ein Abschluss, irgendwie, damit die Quälerei ein Ende hatte.

* * *

Das Verhältnis zwischen meinem Vater und meinem Großvater war »ambivalent«. Das Wort habe ich oft gehört, wenn ich Menschen befragte, die beide kannten. »Nicht frei von Spannungen«, lautete eine andere, vornehmere Formulierung. »Dein Vater hat seinen Vater bewundert«, erzählte mir Claus Jacobi einmal. Aber er habe ihn auch angeschrien. »Schmier dir dein Geld doch in Haare!«, soll er gebrüllt haben. »Sein Befinden war durchaus abhängig vom Stand der Beziehungen zu seinem Vater. Und die schwankten heftig«, schrieb Hermann Schreiber, ehemaliger Geo-Chef und einer der engsten Vertrauten meines Vaters. Der Junior sehnte sich nach einem ganz »normalen« Leben. Einfaches, reichhaltiges Essen, nicht die leicht zickige Suche nach dem »besten Haus am Platz«, den Restaurants, in denen das Teuerste gerade gut genug war. Einfache Menschen, nicht die verschlagenen Anzugträger, die den Verleger umschmeichelten wie Bücklinge die Majestäten bei Hofe. Und Familie, das war die ganz große Sehnsucht meines Vaters: Eine Frau, zwei Kinder, gern noch mehr. Die Familie sollte ein Ort der Ruhe und der Liebe für ihn sein. Ein Ort, der bleibt und nicht dauernd wechselt wie die Teilzeitheimaten seiner Kindheit. Sein Vater hatte sich von ihm getrennt, so empfand er es, nun trennte er sich mit aller Macht auch von ihm. Er wurde Gefreiter bei der Bundeswehr, ein Waffennarr, der später viel Geld für seine Sammlung historischer Gewehre. Viel weiter weg von einem leidenschaftlichen Zivilisten, wie es mein Großvater war, geht nicht. Und er heiratete. Mit 21, darin Axel Springer senior doch wieder ähnlich, der genauso jung war bei seiner ersten Eheschließung, und vielleicht gerade deshalb so heftig dagegen schimpfte.

Rosemarie Koschwald, eine blonde, schlagfertige und unabhängige Frau und waschechte Berliner Schnauze musste es sein. Ihr gefiel der junge Mann, der so ganz anders war als die reichen Jünglinge mit ihren nagelneuen grünen Triumph Spitfires, die sie sonst umschwärmten. Bei ihm musste sie die Tür des rumpeligen VW Käfers von innen festhalten, wenn sie eine Ausfahrt machten. Sein damals schon berühmter Name störte sie eher, als dass er sie beeindruckte. Als sich die beiden ineinander verliebten, war er 19 und sie 16 Jahre jung. Sein feiner, schneller Humor brachte sie ständig zum Lachen. Mit ihm lernte man immer neue Menschen kennen. Die Fotos, die er zunächst nur als Hobby machte, berührten sie. Sie ermunterte ihn zur Fotografenkarriere und klar sagte sie »ja«, mit neunzehn, der musste es sein. Mein Vater erhielt dann erst einmal Hausverbot im Verlag, so sauer war mein Großvater, dass der sich einfach seinen Tiraden widersetzte. Zur Hochzeit erschien der Verleger nicht, erst zum Hochzeitsempfang, den Axel Juniors Mutter Katrin für das Brautpaar gab.

Sie rauften sich zusammen, mein Vater und mein Großvater, aber vor allem rauften sie. Mein Großvater »gewöhnte« sich bald an meine Mutter, die sagenhaft hübsch war und wohl auch ziemlich frech. Er war nicht der Mann, der schönen Frauen lange böse war, tanzte sogar mit ihr auf dem einen oder anderen Ball. Und heimlich bewunderte er seinen Sohn wohl auch ein bisschen, der unter dem Künstlernamen Sven Simon eine große Fotografenkarriere begann und eine erfolgreiche Fotoagentur ins Leben rief. Das Bild von Uwe Seeler, der 1966 beim WM-Finale gegen England an der Seite eines »Bobbys« vom Platz schleicht, ist von ihm. Es wurde zum »Sportfoto des Jahrhunderts« gewählt. In seinen Bildern spürt man die Liebe zu den Menschen und den leichten Zugang, den er zu ihnen fand – zu Hafenarbeitern ebenso wie zu Sportstars, Kanzlern oder Präsidenten. 1967 kehrte mein Vater, der Jahre vorher beim Hamburger Abendblatt volontiert hatte, in den Verlag zurück. Er arbeitete für Twen, das legendäre Magazin, das seine besten Tage bereits hinter sich hatte, als Springer es übernahm. Für einen visuell denkenden Mann wie meinen Vater war das Heft trotzdem eine ideale Spielwiese, um neue Themen und Ideen auszuprobieren. Und vielleicht suchte er inzwischen auch die Sicherheit des großen Verlagshauses. Schließlich lebten Rosemarie und er nicht mehr für sich allein. 1962 war meine Schwester Ariane geboren worden. Und am 15. Januar 1966 konnten die Leser des Hamburger Abendblattes links oben auf Seite 6 eine kleine, bescheidene Anzeige sehen:

»Wir freuen uns über die Geburt unseres Sohnes

Axel Sven am 13. Januar 1966.

Rosemarie, Axel und Ariane Springer, München 21«

Sie hatten mich Axel genannt. So viel Dynastie musste wohl sein. Mein stolzer Großvater kam persönlich ins Krankenhaus und gratulierte mit Blumen.

Immer noch Freunde:
Meine Eltern 1975, fünf Jahre nach ihrer Scheidung

4

Leider bist du eingeschlafen

Die ersten acht Jahre meines Lebens habe ich meinen Vater kaum gesehen. Meine Eltern trennten sich 1970, als ich vier war, ließen einander danach wohl nie so ganz los, nur mit der ganz großen Liebe war es eben vorbei. Als junger Fotoreporter Sven Simon war mein Vater viel auf Reisen und dabei wohl nicht immer treu. Aber meine Eltern blieben schlussendlich Freunde. Sie in München, er in Hamburg. Gemeinsam erlebte ich sie so gut wie nie.

Aber ich erinnere mich noch ganz deutlich daran, wie mein Vater mich einmal überraschte, als er in München war. Ich hatte ihn lange Zeit nicht mehr getroffen. »Mal gucken, wie er jetzt aussieht, der Kleine, wie der so ist«, wird er wohl gedacht haben und rief meine Mutter an. »Erzähl dem Kleinen aber nichts!« »Aggi, wir gehen mal in das Café da«, zog meine Mutter mich also kurz vor der verabredeten Zeit ins »Luitpold«, in der Brienner Straße. Wir saßen einige Minuten lang am Tisch. Ich hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet hier und jetzt, aber plötzlich stand mein Pappi vor uns. Die Überraschung war geglückt. Ich habe mich so über ihn gefreut, dass ich noch heute jede Kleinigkeit vor Augen habe – vor allem in der Nase. Mein Vater benutzte das Rasierwasser »Silvestre« von Victor. Er sah blendend aus. Die Haare zurückgekämmt, dunkelblauer Blazer, graue Hose. Sicher war er nicht meinetwegen nach München gekommen, aber dieses kleine Treffen gab mir das schöne Gefühl, wirklich einen Vater zu haben: Mein großer, toller Pappi, der immer auf mich aufpassen würde, wenn was ist.

Als ich acht Jahre alt war, hieß es: »Wenn ihr möchtet, könnt ihr doch noch drei Wochen in den Sommerferien zum Pappi nach Sylt.« Ariane freute sich. Sie erinnerte sich noch gut an die Insel, ich nur an einen üblen Sturz mit dem Fahrrad und an unglaublich viel Wasser. Mami brachte uns zum Münchner Flughafen, der damals noch in der Stadt lag. Noch einmal ganz fest drücken! Dann hängte uns eine hübsche Stewardess ein orangefarbenes Namensschild um den Hals. Wir wurden ins Flugzeug nach Hamburg gesetzt und verbrachten herrliche Wochen bei Pappi, Renate, seiner Neuen, die wir »Molly« nannten, und deren Tochter Melanie - für uns »Mule«. Ich mochte die beiden sehr. Mein Vater war herzlich und liebevoll, die große Familie gefiel ihm, und jedes Mal, wenn wir kamen, war er ein bisschen dicker als vorher. 120 Kilo bei 1,87 Metern werden es in seinem letzten Lebensjahr ungefähr gewesen sein. Das Essen schmeckte einfach zu gut. Vor allem, wenn Molly kochte, die das Wild, das er regelmäßig erlegte – Ente, Fasan, Reh –, in wahre Köstlichkeiten verwandelte. »Noch einen Teller?« Manchmal spielte er sogar Fußball mit mir. Ein echter Liebesdienst, denn er war nach zehn Minuten schon so außer Atem, dass er sich erst mal setzen musste. »Komm, Pappi! Weiter! Du kannst ja ins Tor!« Als ich zwölf war, gewann ich zum ersten Mal gegen ihn im Schach. »Willst du deinen Kleinen nicht mal loben?«, fragte ich. »Nö«, sagte er. »Du spielst ja viel öfter als ich.«

Natürlich erzählte ich ihm alles, was mir so durch den Kopf ging, aber für meine Sorgen und Tränen war eher meine Mutter zuständig. Die war ja immer da, nicht nur gefühlt. »Du wirst die einzige Frau in meinem Leben sein, der ich noch mal was schenke«, erklärte ich ihr, als ich zehn war. Da hatte Nele, mein blonder Klassenschwarm in der dritten Klasse, gerade eine Wum-Figur von mir zum Geburtstag bekommen. 2,50 Mark vom Taschengeld mühsam zusammengespart, und dann beim Schreibwarenhändler gekauft. »Thoeeeelkeee!« - die älteren Leser werden sich erinnern. Es dauerte genau sieben Minuten, da hatte sie Wum an Christoph weiter verschenkt, der war auch eingeladen. Weiber!

Die Grundschule hätte ich ernster nehmen können. Ich fiel eher durch laute Gedanken als durch überdurchschnittliche Noten auf. In der vierten Klasse gab es dafür die Quittung: Mein Notenschnitt lag bei 2,6. Um aufs bayrische Gymnasium gehen zu dürfen, hätte ich 2,5 gebraucht. Ich machte die vierte Klasse einfach noch einmal. Ein schönes Jahr. Nur Einser und Zweier im Zeugnis, und größer und stärker als die anderen war ich auch.

* * *

Mein Vater war ein Mann, mit dem man schnell Freundschaft schloss. Freundschaften, die hielten. Es tat gut, ihn um sich zu haben. Der Kolumnist und Autor Franz Josef Wagner erzählte mir einmal, wie Axel Springer junior alias Sven Simon alias mein Vater ihm den ersten Cashmere-Pullover seines Lebens kaufte. Kaufte, nicht schenkte. Die beiden, der Reporter und der Fotograf, hatten sich 1967 während des Sechstagekriegs in Israel kennen gelernt, waren gemeinsam zurückgeflogen und anschließend durch die Züricher Bahnhofsstraße spaziert. In einem Schaufenster entdeckte Wagner den Pullover, den er schon immer tragen wollte. Warm, weich, lässig. Aber 300 Franken, so viel hatte er damals nicht mal eben so. Mein Vater zog sein Portemonnaie aus der Tasche und bezahlte für ihn. »Wenn du deine erste Million hast, gibst du’s mir wieder!« Ein Geschenk hätte seinen neuen Freund in große Verlegenheit gestürzt, einen Abstand zwischen beiden markiert, der sich falsch angefühlt hätte.

Wagner beschreibt diese Episode in seinem 2010 erschienenen Brief an Deutschland, einer autobiografischen Liebeserklärung an die Kunst des Schreibens und an unser Land. Die Erinnerung an die Freundschaft zu meinem Vater ist ihm so wichtig, dass er ihn mehrmals in seinem Buch auftauchen lässt. Wagner beschreibt auch eine magische Nacht, die er mit ihm in der Wüste auf der Halbinsel Sinai verbrachte. Im Gefolge einer israelischen Panzerstaffel – »embedded«, wie man heute sagen würde. Über beiden leuchtete der Sternenhimmel, so intensiv, wie man es in keinem Planetarium hinbekommt. Näher dran an Gott geht nicht. Franz Josef Wagner lag stumm vor Staunen da und blickte vorsichtig rüber zum Schlafsack neben ihm. Aber da regte sich nichts. Verwöhnte Verlegersöhne! Verschlafen die Schönheit der Welt! Haben ja sonst alles! Irgendwas in dieser Art hat Wagner damals wohl gedacht. Ein Jahr später schenkte mein Vater ihm einen prächtigen Bildband mit Fotos, die er in China gemacht hatte. Darin hatte er eine Widmung geschrieben: »Über uns die Milchstraße. Leider bist du eingeschlafen, dein Axel.«

Mein Vater war ein unglaublich ehrlicher Mensch. Einer, der Arroganz hasste und jede Art von Dünkel, der jeden duzte und lieber mit kantigen Sylter Bauern jagen oder fischen ging, als mit den »Flanellmännchen« um die Gunst des großen Verlegers zu rangeln. »Er war der Springer zum Anfassen im Verlag der 12 000«, nannte ihn Claus Jacobi. Die Verlagsspitze war nicht gerade durchsetzt mit Männern »zum Anfassen«. Die »Höflinge«, wie der Autor Michael Jürgs sie despektierlich nennt, wussten längst, dass der Junior bereits 1968, notariell beglaubigt, auf die Nachfolge an der Konzernspitze verzichtet hatte. Das Erbe ließ er sich auszahlen. Axel Springer, der Zweite? Thema durch. Der war ungefährlich, dachten die Manager im Verlag. Natürlich musste man vorsichtig sein, man weiß ja nie. Aber der hatte ja nicht mal Abitur, konnte keine Bilanzen lesen, verstand wahrscheinlich auch nichts von Umsatz und Gewinn. Und dann diese alberne Zeit als Fotoreporter! Ein Millionär in spe, der sich jeden Samstag im Dreck hinter dem Fußballtor wälzt, um das beste Foto zu schießen. Der durch die Welt reist, auf dem Boden schläft, das Leben und Leiden der Menschen sehen und verstehen will und ihr Lachen auf seinen Bildern einfängt wie einer, der beim Fotografieren mitgelacht hat. »Foto: Sven Simon.«

Nach der Scheidung meiner Eltern holte Axel Springer, der Erste, seinen Sohn etwas näher zu sich, machte ihn neben Claus Jacobi zum Chefredakteur der Welt am Sonntag. Jacobi hatte mit 34 schon den Spiegel geleitet, da konnte nichts schiefgehen. »Er hatte Großes mit ihm vor«, schrieb Claus Jacobi dann auch später über den großen, mächtigen Vater und dessen Sohn. Sven Simon, der jetzt wieder Axel Springer Jr. ins Impressum schreiben ließ, fing sogar an, Betriebswirtschaft zu pauken. Julius Greifzu, Autor u.a. vom Handbuch des Kaufmanns, kam für ein prächtiges Honorar vorbei und sollte ihm alles erklären. »Ich lerne auf Verleger«, soll mein Vater Freunden erzählt haben. Die konnten es kaum glauben. Manchmal paukte er fünf Stunden am Tag. Was für ein Irrsinn. Mein Vater, der begnadete Fotograf, der Mann, der so gut mit Menschen umgehen konnte, der ein Gespür für Themen und Geschichten hatte wie nur wenige, sollte es nun auch noch den »Flanellmännchen« beweisen müssen? Hans-Peter Schwarz, Autor der gewissermaßen »amtlichen« Biografie Axel Springers, urteilt mitleidlos. Springer Nummer 1 habe bezweifelt, dass sein Sohn jemals eine leitende Rolle im Konzern spielen könne. Das lag weniger am Sohn als vielmehr am Verleger selber, denn im Grunde traute Axel Springer »nur einem einzigen zu, den komplizierten Konzern zu regieren: sich selbst«.

Im Sommer 1979 erwischten Windpocken meinen Vater. Kinder stehen so etwas durch, das gehört zur Abhärtung der kleinen Körper. Für Erwachsene ist das eine Katastrophe. Überall schlimmer Ausschlag, der nicht zu weichen scheint, Juckreiz, Schmerzen im Kopf, Übelkeit. Mehrere Wochen hatte die Krankheit meinen Vater fest im Griff. Windpocken können Depressionen verstärken, las ich in einem Nachruf. Er soll nach dieser Krankheit nicht mehr derselbe gewesen sein. Vielleicht stimmt das sogar, ich habe davon nichts mitbekommen. Aber Windpocken, die »Depressionen verstärken«, das ist auch eine ziemlich gute Sprachregelung für Presseerklärungen, die das eigentlich Unerklärliche erklären sollen. Windpocken. Depressionen – dann kann ja keiner etwas dafür, wenn sich einer in einer bitterkalten Nacht aus dem Leben verabschiedet. Ein »tragisches Geschehen«.

Im März 1985 schrieb Axel Springer I. in einem Brief über meinen Vater und mich: »Axel III ist der Sohn meines vor 5 Jahren freiwillig aus dem Leben geschiedenen Nachfolgers. Wenn ich es als Vater sagen darf: ein ganz besonders netter, bescheidener, begabter Junge, der eine gesundheitliche Störung nicht verwinden konnte.« Mit dem komplizierten Verhältnis zu seinem Vater, der ihn früh verliefs und später wohl nie überzeugend liebte, vielleicht auch, weil er sich von dem unabhängig denkenden jungen Mann nicht genug bewundert fühlte, nein, mit diesem komplizierten Verhältnis, mit einer stillen, kalten Anklage des Sohnes an seinen Vater, hatte dieser Freitod nichts zu tun. Natürlich nicht.

An dem Tage, an dem mein Vater starb, wollte Axel Springer ihm eröffnen, dass er Großes mit ihm plane im Verlag. Eine neue Position, irgendwo ganz weit oben. Das habe ich jetzt in vielen Biografien über meinen Großvater gelesen, zur offiziellen Geschichtsschreibung geadelt. Mein Vater war 38, als er starb. Dass ausgerechnet am Tage seines Todes genau das passieren sollte, wozu Axel Springer I. viele, viele Jahre lang Zeit gehabt hätte, hat mich nie ganz überzeugt.

5

Rote Rosen, Schweizer Uhren

Meine ersten beiden bewussten Erinnerungen an meinen Granddaddy spielen auf Sylt.

Beim ersten Mal muss es ein Sommer Ende der 70er Jahre gewesen sein. Mein Vater entdeckte, als wir gerade in seinem dunkelgrünen VW-Variant knapp bei Archsum vorbeifuhren, einen Hubschrauber am Himmel. Ich weiß noch: unglaublich schönes Wetter, strahlende Sonne, kaum eine Brise. Der Hubschrauber drehte sich einmal im Kreis, Pappi kehrte um, fuhr den alten VW eilig zurück zu unserem Haus. Als wir gerade angekommen waren, tauchte der Hubschrauber schnell nach unten, blieb knapp einen Meter über dem Boden in der Luft stehen, die Seitentür öffnete sich, der Pilot warf ein orangefarbenes T-Shirt heraus. Es flog im hohen Bogen auf den grünen Rasen. Der Hubschrauber zog dann seitlich nach oben Richtung Himmel davon, wir winkten ihm hinterher. Pappi hob das T-Shirt auf. XXL-Größe - und auf der Brust stand: Axel Caesar.

Damals verstand ich noch nicht, warum Pappi schallend lachte.

»Axel Cäsar«, so nannten seine Gegner den mächtigen Verleger, um ihn zu ärgern. Der »Cäsar« amüsierte sich drüber, ebenso selbstironisch wie dem Gewese gegenüber, das viele seiner Verlagsoberen, aber auch Politiker und Wirtschaftsführer um ihn veranstalteten.

Die zweite Begegnung, an die ich mich noch gut erinnern kann, spielt ebenfalls in unserem Haus auf Sylt. Granddaddy und Friede waren zu Besuch. Zu Besuch bei Pappi, Ariane und mir. Er alberte mit uns Kindern auf dem Sofa im Wohnzimmer herum. Obwohl Granddaddy nicht lange blieb, waren es doch besonders schöne Momente, die wir an diesem Nachmittag erlebten; sonst wüsste ich nichts mehr davon. Noch heute freue ich mich, dass Pappi das alles foto-grafierte. Es sind mit meine Lieblingsfotos.

Wenn mein Großvater auf Sylt war, meldete er sich oft mit »Hier spricht der König selbst« am Telefon. Nicht ernst gemeint, natürlich, aber so ein bisschen königlich hatte er es schon gern. Er wohnte nicht, er residierte: Das Haus »Tranquillitati« auf Schwanenwerder, nach seinen Ideen erbaut, Gut Schierensee, in dessen Herrenhaus er Privatkonzerte veranstaltete, ein Stadthaus in London, eines in Hamburg, direkt an der Alster, ein Haus auf Patmos, eine Wohnung in Jerusalem mit einem der schönsten Ausblicke der Stadt. Und doch umgab diesen unzweifelhaften Reichtum etwas Lässiges, Leichtes. Mein Großvater hatte einen unglaublich sicheren Geschmack, etwas, was man nicht lernen und auch mit sehr viel Geld nicht kaufen kann. Keine Nuance zu viel oder zu wenig, nie prunkvoll oder protzig. Wenn man ihn besuchte, stand alles an seinem festen, dem perfekten Platz – Möbel, Antiquitäten, Kunst. Und trotzdem fühlte man sich nicht unbehaglich bei ihm, weil es eben Welten für Menschen waren, die er schuf, und nicht Ausstellungsorte für protzende Sammler.

Bis zum Tode meines Vaters habe ich Granddaddy nur selten erlebt, ich glaube sechs- oder siebenmal. Eigentlich wusste ich gar nicht, wie Großväter zu sein hatten. Dass es sie in der knurrigen oder knuddeligen Variante gab. Dass sie wie Patriarchen über Familienversammlungen thronen konnten, bis sie, wenn sie sehr alt waren, irgendwann einnickten und die Grofenütter ihnen die erkaltete Zigarre aus dem Mundwinkel fischten. Bei uns gab es solche Familienversammlungen nicht. Mein Großvater kreiste viel zu sehr um sich, als dass er ein ehrliches Interesse an regelmäßigen Treffen solcher Art gehabt hätte. Aber er wirkte auf mich wie ein echter Gentleman, der es vermochte, unsere wenigen frühen Begegnungen so kostbar zu gestalten, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich nach einem normalen Opa zu sehnen.