C. U. Wiesner
Die Geister von Thorland
Roman
ISBN 978-3-86394-343-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1989 bei
Eulenspiegel Verlag, Berlin
Illustrationen und Titelbild: Bernd A. Chmura
© 2011 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
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Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt
sei, wo die größtmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind,
denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts als die wirkliche tatsächliche Freiheit,
wodurch er die gewaltigen Vorteile des Großstaates, selbst dessen Macht, ideal
völlig aufwiegt.
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen
Einer Großmacht anzugehören..., bringe psychologisch für die
davon Betroffenen einen bedenklichen Nachteil mit sich, die Gefahr nämlich, einem
bestimmten Verhältnisblödsinn zu erliegen. Diese Gefahr wachse mit der Größe
einer Nation... Eine Maus, die sich mit sich allein befinde, betrachte sich
durchaus noch als Maus, sobald sie sich aber unter einer Million Mäusen wisse,
halte sie sich für eine Katze und unter hundert Millionen Mäusen für einen
Elefanten. Am gefährlichsten seien jedoch die Fünfzig-Millionen-Mäusevölker...
Diese beständen aus Mäusen, die sich zwar für Katzen hielten, aber gerne
Elefanten wären.
Friedrich Dürrenmatt, Justiz
Gewidmet sei dieses Buch den Bewohnern zweier Inseln: Bornholm (Königreich Dänemark) und Hiddensee (DDR).
Die einen tragen ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass der Autor gleich seinem Romanhelden von jenem unheilbaren Leiden befallen ward, das beide übereinstimmend als Danophilie bezeichnen.
Die andern haben - zweifellos ungewollt - den Autor dazu angeregt, sich diese Geschichte einfallen zu lassen.
Im Gegensatz zu Bornholm und Hiddensee sind die Inseln Thorland und Gellenthin reine Phantasiegebilde.
Der Autor betont dies um so nachdrücklicher, als er auch in
kommenden Sommern mit den Hiddenseern in Frieden sein Bier am Vitter Hafen trinken
und irgendwann noch einmal die frischgeräucherten Bücklinge am Hafen von
Allinge verzehren möchte.
C. U. W.
Der in der Deutschen Demokratischen Republik erschienene Roman "Die Geister von Thorland" ist sicher eine Bereicherung der europäischen Phantasy Literature. Was jedoch dieses Werk erheblich schmälert, ist die Einführung sprachlicher Begriffe und Redewendungen, die der Autor als Thorländisch bezeichnet.
Wir müssen in aller Deutlichkeit klarstellen, dass es
sich dabei lediglich um ein lexikalisch wie grammatikalisch verhunztes Dänisch
handelt, das jedem unserer Landsleute die Schuhe auszieht. Sollte sich der
Autor, ob er nun Klemens Klingsporn oder C. U. Wiesner heißt, noch
einmal auf unsere Insel verirren (die echte Perle der Ostsee - den ægte
østersøns perle!), so sind wir gern bereit, ihm kostenlos
Nachhilfeunterricht zu erteilen.
Lars Bitsch, Mitarbeiter der Tageszeitung "Bornholmeren", Rønne/Bornholm
Im Herbst 1986 wurde mir ein Paket zugestellt. Es kam nicht mit der Post. Ein hagerer, bärtiger junger Mann gab es bei der Nachbarin ab. Es enthielt eines der merkwürdigsten Manuskripte, die mir je zu Gesicht gekommen sind, dazu die Bitte, ich möge mich für eine Veröffentlichung einsetzen. Das Anschreiben trug übrigens keine Unterschrift. Als Autor wurde Klemens Klingsporn angegeben. Ich kannte ihn flüchtig, weniger von Versammlungen unseres Verbandes, wo er mir nie aufgefallen ist, als von der Ostseeinsel Gellenthin, auf der ich in der Regel meinen Sommerurlaub verbringe.
In der Sanddornklause setzte er sich manchmal ungefragt an den Stammtisch, spendierte eine Lage, trank selber reichlich Bier und Korn und beteiligte sich mit schöner Selbstverständlichkeit an den nicht immer tiefschürfenden Gesprächen in der Runde.
Eigentlich wirkte er nicht unsympathisch. Ein großer schwarzhaariger Kerl, höchstens Mitte Vierzig, der seine entfernte Ähnlichkeit mit Fidel Castro betont zur Schau trug; dabei konnte der Vollbart sein Babyface nur unzulänglich tarnen. Klee, wie er sich gern nennen ließ, schien ein unkomplizierter Mensch zu sein, der gern und laut lachte, auch wenn es meiner Meinung nach gar nichts zu lachen gab, und grundsätzlich alle Leute duzte. Was mich mehr an ihm störte, war seine schnoddrige Art, über unsere Literatur und den Beruf des Schriftstellers zu lästern. Dass er meine Romane schachtgeschneiderte Konfektionsanzüge nannte, die man nach zwei Jahren nicht mal mehr wenden lassen könne - es war zu billig, um mich zu treffen. Unangenehmer war es schon, wenn er über hochgeschätzte Kollegen und Vorstandsmitglieder unseres Verbandes herzog und dabei mit Verbalinjurien wie Konjunkturritter, Hofschranzen, Hochstapler oder Maffiosi nicht gerade sparsam umging.
Da ich wenig Lust hatte, mich ausgerechnet mit Klingsporn vor Urlaubern und Einheimischen in fruchtlose Debatten einzulassen, machte ich mich fortan am Stammtisch der Sanddornklause etwas rarer. Im Stillen wunderte ich mich, was jemand wie er noch in unserem Verband zu suchen habe. Es lag lange zurück, dass er mit guten Reportagen aufgefallen war.
Einmal fragte ich ihn, vielleicht eine Spur zu anzüglich, wovon er überhaupt lebe. Von den Exposés heiterer Filme, die nie gedreht werden, antwortete er grinsend. Es sollen auch ein paar Fernsehschwänke von ihm über den Sender gegangen sein, aber ich sehe mir keine Fernsehschwänke an. So was ist Geschmackssache, und ich will mir da kein Werturteil erlauben. Hingegen waren die kleinen Humoresken, die er ab und an in der Wochenendbeilage einer bekannten Berliner Tageszeitung veröffentlichte, von einer so neckischen Fadheit, dass ich ihm einmal den guten Rat gab, zur Schonung seines Namens doch lieber ein Pseudonym zu benutzen. Wir saßen damals allein am Hafen. Klingsporn war sichtlich betroffen. Eigentlich hätte ich ihm gern geholfen, aber es war schwer, an ihn heranzukommen. Meinst es gut, Alter, sagte er, vielleicht hast du sogar recht. Wer's mit der Heiteren Muse treibt, sollte es nur noch mit einem Präservativ tun.
Einmal machten wir einen Abstecher in das Ostseebad Liebenow und ertappten unsern guten "Inselklee" sozusagen auf frischer Tat. Vor dem Ferienheim Karl Knoll hing ein Plakat der Konzert- und Gastspieldirektion:
Gelächter und Gelichter
Eine schmunzlige Stunde
von und mit dem Humoristen
KLEMENS KLINGSPORN
bekannt von Bühne, Film und Fernsehen
Meine Frau und ich setzten uns in die dunkelste Ecke des Kulturraums, schlechten Gewissens fast, kamen wir uns doch vor wie zwei Voyeure. Breiten wir den Mantel des Schweigens über dieses sogenannte Programm. Die Urlauber quietschten vor Vergnügen, als sie sich in der Kalauerflut badeten, die der bierbäuchige Riese mit dem bärtigen Säuglingsgesicht verströmte. Noch vor der zweiten Zugabe verließen wir die Unterhaltungsstätte durch den Hintereingang. Vielleicht wär es ihm peinlich, meinte ich, uns hier zu begegnen. Meine Frau schüttelte den Kopf: Solchen Leuten ist nichts peinlich.
*
Ich erzähle das alles nicht, um mit Schmutz nach einem ehemaligen Kollegen zu werfen, sondern nur, damit der Leser wenigstens ahnen kann, wie verblüfft, ja, wie erschüttert ich war, nachdem ich das eingangs erwähnte Manuskript gelesen hatte. Ein Roman? Eine Utopie? Oder ein fiktiver Reisebericht? Ich mochte mich noch nie über die Schubladen literarischer Gattungen streiten. Waren der Angeber in der Sanddornklause, der Faxenclown in Liebenow und der Verfasser jener Seiten wirklich ein und dieselbe Person? Und musste ich mir in diesem Falle nicht selber des Hochmuts vorschnelles Urteil vorwerfen?
Ich brauchte Gewissheit und wollte so schnell wie möglich mit Klingsporn sprechen. Im Telefonbuch suchte ich seinen Namen vergeblich, also ging ich zum Verband.
Klemens Klingsporn? Der Bezirkssekretär sah mich groß an. Das wusstest du nicht? Eine traurige Geschichte... Ich denke, du bist selber so eine Art Stammgast auf Gellenthin?
Im vorletzten Sommer hab ich ihn mal kurz gesehen, ich war nur ein paar Tage auf der Insel. Und dies Jahr, du weißt ja, die Vortragsreise in die USA.
Es hat aber auch in unseren Verbandsmitteilungen gestanden, unter der Rubrik: Wir trauern um...
Du meinst, er lebt nicht mehr?
Der Sekretär, ein behäbiger, freundlicher Mann, dem ich keinen Hang zu schwarzem Humor unterstellen würde, nickte. Klemens Klingsporn ist im Juni 1985 bei einem Badeunfall umgekommen. So hieß es in dem abschließenden amtlichen Bericht.
Hat man denn seine Leiche gefunden?
Der Sekretär lächelte. Genosse Schachtschneider, dies ist kein Stoff für einen Krimi, und dieses Genre bedienst du ja ohnehin nicht. Ich habe selber mit den Rostocker Genossen gesprochen, die die Untersuchung führten. Es soll eine der schlimmsten Gewitternächte gewesen sein, die man je auf der Insel erlebt hat. Klingsporn hatte, nun ja, einiges getrunken, als er zum Strand ging. Wer da bei Sturm in den Wellen verschwindet, hat keine Chance mehr, lebend zurückzukehren, das solltest du selber wissen.
Es gäbe noch eine andere Möglichkeit.
Er schüttelte den Kopf. Die Genossen haben alles überprüft. In jener Nacht befand sich kein Wasserfahrzeug in solcher Nähe, als dass es selbst ein guter und vor allem nüchterner Schwimmer hätte erreichen können. Sonst wäre unser armer Kollege wohl kaum nach der offiziellen Frist amtlich für tot erklärt worden.
Hat jemand diese Erklärung beantragt?
Soweit ich weiß, seine Lebensgefährtin, die Genossin Dr. Corinna Schell.
Ach die! sagte ich und muss wohl ein etwas dummes Gesicht gemacht haben.
*
Natürlich, dachte ich, Klingsporn hat in seinem Manuskript alle, wahrscheinlich alle Namen verändert und mich auch in dem Anschreiben gebeten oder bitten lassen, im Falle der Veröffentlichung für ihn das Pseudonym Klemens Klingsporn zu verwenden. Wie der Leser sieht, hat auch der Verlag dieser Bitte entsprochen.
Mein Besuch bei der Literaturwissenschaftlerin Dr. Schell, bleiben wir bei diesem Namen, verlief wenig ersprießlich. Wir kannten uns flüchtig. Sie hatte in einer Bibliothek einen Vortrag über das Thema 'Lebensnähe oder Lebensferne des Schriftstellers in den Kämpfen unserer Zeit' oder so ähnlich gehalten. Dabei war sie in wenig geschmackvoller Weise auf die angeblichen Privilegien gewisser Kollegen eingegangen, und ich hatte ihr in der Diskussion vorgeworfen, von wenigen, nicht mal belegten Beispielen zu falschen Verallgemeinerungen zu kommen.
Ach, Sie sind das! sagte sie kühl.
Ich zog das Manuskript aus der Tasche und legte es auf eine Art Schuhschrank, der in dem engen Korridor der Neubauwohnung stand. Sie schlug den Deckel auf. Falls das Titelblatt sie überraschte, hatte sie sich gut in der Gewalt.
Kommen Sie schon rein, sagte sie widerwillig, es ist nicht sehr gemütlich.
Mitten im Wohnzimmer standen Bücherkisten herum. Die Regale waren fast ausgeräumt.
Corinna Schell sah in ihrem kurzen Kittel viel jünger und weiblicher aus, als ich sie von jener Veranstaltung her in Erinnerung hatte. Trotz meines schlechten Personengedächtnisses war ich mir jetzt ziemlich sicher, ihr auch schon auf Gellenthin begegnet zu sein. Wahrscheinlich am FKK-Strand. Aber wenn die Leute dann angezogen sind, erkennt man sie meist nicht wieder. Die Situation schien mir ungeeignet für Inselreminiszenzen.
Frau Dr. Schell musterte mich spöttisch, oder bildete ich mir das bloß ein? Sie müssen nicht denken, dass mir das da - sie deutete auf die Klemmmappe - einen Schreck eingejagt hat. Ich habe einen Durchschlag bekommen und dazu einen Zettel, dass der Verfasser oder der angebliche Verfasser die Absicht hat, das Zeug veröffentlichen zu lassen. Na und? Mich trifft das nicht im Geringsten.
Mein Gott, was hatte die trauernde Witwe für Nerven!
Mädchen, sagte ich, obwohl ich diese Anrede gegenüber erwachsenen Frauen sonst hasse, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Ihr großer, dicker Klemens tatsächlich zuviel Wasser geschluckt hat?
Sie schüttelte verächtlich den Kopf. Chandler ist nicht Ihr Stil, Herr Schachtschneider. Zu einem Philip Marlowe fehlen Ihnen nicht nur zwanzig Zentimeter.
Ich verzichtete darauf, sie mit einer entsprechenden Antwort zu verprellen, und wies auf das Manuskript. Frau Dr. Schell, wir glauben beide nicht an Gespenster. Wer also, wenn nicht Ihr... ich meine wenn nicht Klingsporn, hat das Ihrer Meinung nach geschrieben?
Sie zuckte die Schultern. Das weiß ich nicht. Jedenfalls ist das nicht seine Handschrift, seine Persönlichkeit. Von mir aus halten Sie mich für eine herzlose Ziege, aber Klemens ist genau zum richtigen Zeitpunkt gestorben. Er war leer, ausgebrannt, hohl. Es wäre immer rascher mit ihm abwärts gegangen. Dabei hatte er mehr Talent als zehn von Ihrer Sorte, entschuldigen Sie! Er hat mal großartige Auslandsreportagen geschrieben.
Ich musterte eingehend die Bücherkiste neben mir, es war mir unangenehm, diese kaltschnäuzige Person heulen zu sehen wie ein ganz normales Weib.
Sie sind also nicht im Guten auseinander gegangen? Es war so ähnlich, wie es... der Autor beschrieben hat? Quatsch! sagte sie. Was weiß dieser Kerl über mich, über uns? Es ist eine ganz und gar andere Geschichte.
Sie schien sich wieder in der Gewalt zu haben, erhob sich und sagte: Leider eine gute Geschichte. Es wäre ein Jammer, wenn sich kein Verlag dafür fände.
Sie hätten also keine Einwände? fragte ich überrascht. Ich meine, man müsste sowieso anmerken, dass alle Personen frei erfunden sind.
Frau Dr. Schell öffnete die Tür zum Korridor. Für mich wäre nur eine Vorstellung unerträglich, sagte sie, nämlich die, dass Sie selber irgendwie dahinter stecken.
Es war gut, erwiderte ich höflich, dass wir miteinander gesprochen haben. Falls es noch Rückfragen, etwa in rechtlicher Hinsicht, geben sollte –
Es wird keine Rückfragen geben, auch nicht in rechtlicher Hinsicht. In vierzehn Tagen halte ich meine Antrittsvorlesung über deutsche Literatur. An der Enver-Hodscha-Universität in Tirana. Ich habe mich für vier Jahre verpflichtet.
*
Bevor ich mich endgültig entschloss, dem Verlag das Manuskript zu empfehlen, fuhr ich in die Hafenstadt Ralshagen und meldete mich bei dem Direktor des dortigen Museums an. Professor Raimund Jewer gilt als Fachmann für die mittelalterliche Geschichte des Ostseeraums. Da mir der Begriff Thorland selber mehr als fragwürdig erschien, tastete ich mich zur Vorsicht an mein Thema heran und fragte den Professor zunächst, was es mit dem legendären Vineta auf sich habe.
Mit dem liebenswürdigen Lächeln des Wissenschaftlers, der sein Entsetzen über die törichte Frage eines Literaten zu verbergen bemüht ist, bat er seine Sekretärin, uns einen Kaffee zu brühen.
Die Legende ist das eine, meinte er, Sagen, Dichterstoff der Romantik. Die Vinetaglocken, die um die Jahrhundertwende auf jedem besseren Kurkonzert zwischen Bad Ischl und Bad Doberan erklangen. Das gesicherte historische Wissen ist das andere. Vielleicht hätten Sie sich die Vineta-Ausstellung unserer polnischen Kollegen hier in Ralshagen ansehen sollen.
Nun war dies ein Jahr, in dem wir zu Berlin mehr als genug mit den Vorbereitungen auf ein dreivierteltausendjähriges Jubiläum gebeutelt wurden. Über die Vineta-Ausstellung hatte ich nichts in der hauptstädtischen Presse gelesen. Ich bat Professor Jewer um Nachsicht.
Vineta, sagte er, war zu seiner Zeit, also vor allem im 10. und 11. Jahrhundert, die bedeutendste slawische Handelsstadt im Ostseeraum. Zeitgenossen wie Adam von Bremen und Thietmar von Merseburg haben in ihren Chroniken ausführlich darüber berichtet.
Weiß man genau, wo Vineta gelegen hat, oder ist das noch immer umstritten?
Früher wurde vermutet, es habe nördlich von Usedom gelegen. Seekarten verzeichnen das sogenannte Vinetariff. Dort sind 1771 zwei niederländische Schiffe und 1891 der Passagierdampfer Cuxhaven gestrandet und gesunken. Aber schon im vorigen Jahrhundert festigte sich die Meinung, Vineta entspreche seiner Lage nach der Stadt Wollin auf der gleichnamigen Insel zwischen Oderhaff und Ostsee. Heute befindet sich die Stadt Wolin auf polnischem Territorium, und die Ausgrabungen unserer polnischen Kollegen haben erstaunliche Beweise zutage gefördert. Unter anderem entdeckten sie 1985 die Spundwand des alten Hafens, die aus mächtigen halbierten Eichenstämmen errichtet war.
Herr Professor, gibt es eine Deutung für den Namen Vineta?
In den Chroniken ist die Rede von Urbs Venetorum, was als Stadt der Wenden übersetzt wird. Adam von Bremen bezeichnet die Stadt als Iumne. Daraus könnte sich durch einen Lese- oder Abschreibfehler die Lesart Vimne ergeben haben. Interessant ist ja, auch dass nahe der Handelsstadt auch eine Wikingeransiedlung, die Jomsburg, gelegen hat.
Und die, fügte ich rasch hinzu, soll nach dem dänischen Chronisten Saxo Grammaticus von dem legendären Wikinger Palnatoke gegründet und 1042 durch König Magnus den Guten von Dänemark zerstört worden sein.
Professor Jewer musterte mich argwöhnisch: Sie stehen ja besser im Stoff, als ich dachte. Vineta selber oder Jumne, Julin, Wolin, wie Sie wollen, wurde, nachdem die Einwohner die Stadt verlassen hatten, erst im Jahre 1173 von den Dänen niedergebrannt. Die Sage von der versunkenen Stadt dagegen scheint auf eine Sturmflut zurückzugehen, die 1304 über die Insel Wolin hereinbrach. Übrigens kann das auch eine sogenannte Wandersage sein: Eine Stadt oder ein Dorf müssen untergehen, weil die Bewohner ein frevelhaftes Leben geführt haben. Erst kürzlich schrieb mir ein Heimatforscher aus Belzig, er sei...
Entschuldigen Sie, Herr Professor, könnte ein Zusammenhang bestehen zwischen Vineta und Vindholm?
Vindholm? Vindholm? Er überlegte angestrengt. Sagt mir nichts. Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen: Vindholm soll die Hauptstadt von Thorland gewesen sein. Davon haben Sie doch bestimmt schon gehört.
Er schüttelte den Kopf. Ich kenne nur Thorshavn, das ist die Hauptstadt der Färöer. Bringen Sie da vielleicht etwas durcheinander?
Kann schon sein, sagte ich seufzend, aber vielleicht hat mir ein Bekannter bloß einen Bären aufgebunden. Er sprach von einem Inselreich zwischen Rügen, Dänemark und Schweden, das der Sage nach um, also irgendwann im Mittelalter untergegangen sein soll.
Ich will Sie nicht kränken, erwiderte er lächelnd, Phantasie ist etwas sehr Nützliches, zumindest in Ihrem Beruf, aber dieses Thorland ist eine absolute Erfindung, sonst wäre mir das im Laufe meiner dreißigjährigen Tätigkeit als Historiker und Volkskundler doch irgendwann mal untergekommen. Übrigens wusste ich nicht, dass Sie sich mit solchen Stoffen befassen. Bis jetzt haben Sie mit Ihren Romanen den Finger - wenn ich so sagen darf - immer am Puls der Zeit gehabt.
Herr Professor, es geht hier auch nicht um meine Arbeit, sondern um die eines jüngeren Kollegen, bei dem ich eine Art Patenonkel spiele.
Und warum wendet sich der junge Mann nicht selber an mich?
Weil er unauffindbar ist. Möglicherweise weilt er noch immer auf Thorland, sagte ich, den Satz gewissermaßen als Testballon nutzend. Das wäre, entgegnete der Professor, ein Ort der Metaphysik, und dahin kann ich weder Ihrem Kollegen noch Ihnen folgen.
Ich erhob mich. Herr Professor~ ich bedanke mich. Sie haben mir trotzdem sehr geholfen.
Verwirrt blinzelte er mich an: Wieso? Indem ich Ihnen nachgewiesen habe, dass dieses angebliche Thorland ein literarisches Hirngespinst ist?
Ich nickte. Die Legende besagt, dass mit dem Untergang Thorlands gleichzeitig alle Erinnerungen, alle Erwähnungen in Dokumenten und Geschichtsbüchern - gelöscht wären.
Das wäre, widersprach er, für eine Sage absolut untypisch; es klingt mehr nach Science fiction.
Thore, Thore, lang mig din väldige hammer!, sagte ich, wohl mehr unbewusst, denn es war ein sehr einprägsamer Satz des Manuskripts, der in meinem Gedächtnis hängengeblieben war.
Professor Jewer fasste mich am Ärmel. Moment mal, was haben Sie da eben gesagt?
Ich wiederholte den Spruch.
Eigenartig. Wo hab ich das schon gehört? In den fünfziger Jahren sind wir hier in der Gegend durch die Dörfer gezogen, wir jungen Volkskundler, und haben uns von den alten Leuten Sagen erzählen und Lieder vorsingen lassen. Eine Greisin auf der Insel Gellenthin, sie war schon fast taub, sang uns ein Lied vor, darin kam so was vor: Thore, Thore, help mi oder so ähnlich. Da war tatsächlich die Rede von einer versunkenen Insel, aber es war wohl wirres Zeug. Wir konnten der Sache nicht weiter nachgehen, denn bei unserem nächsten Besuch trafen wir die alte Frau schon nicht mehr an. Aber wir nahmen, wie ich heute noch meine, zu Recht an, dass das Lied dem Sagenkreis um das versunkene Vineta zuzuordnen sei. Wie kommen Sie zu dieser Zeile?
Keine Ahnung, sagte ich, kann sein, dass ich sie auch auf Gellenthin aufgeschnappt habe.
Wenn Sie was Neues von der Insel Thorland erfahren, meinte er zum Abschied lächelnd, lassen Sie es mich, bitte, wissen. Auch ein alter Museumsfritze wie ich lernt gern noch dazu.
*
Ich unternahm noch mehrere vergebliche Versuche, dem imaginären Begriff Thorland auf die Spur zu kommen: in der Deutschen Staatsbibliothek, in der Deutschen Bücherei zu Leipzig und in verschiedenen Universitätsbibliotheken, vermied es jedoch, noch einmal irgendwelche wissenschaftlichen Kapazitäten zu befragen. Wäre es nicht gar zu unseriös, könnte ich mich auf einen faulen Witz zurückziehen: Ein Archäologenkollektiv stößt bei Ausgrabungen in Ägypten auf die sensationelle Tatsache, dass die Pharaonen schon die drahtlose Telegrafie gekannt haben. Beweis: Bei den Ausgrabungen wurde nicht ein einziges Stückchen Draht gefunden.
Da mein Bemühen gescheitert ist, in dem Manuskript einen zwar ungewöhnlichen, gleichwohl realistischen Reisebericht zu entdecken, blieb mir nichts übrig, als es für ein Findelkind zu halten, dessen Mutter zweifellos nur die Phantasie sein kann, dessen Vater jedoch als verschollen gelten muss.
Egon Schachtschneider
Ich erwarte nicht, dass man mir auch nur ein Wort meiner Geschichte glaubt. Wenn das wirklich mal an die Öffentlichkeit kommen sollte, gibt es keinen Klemens Klingsporn mehr. Gut so. Richtig so! Denn wenn es ihn noch gäbe, würde man ihn einen Lügenbaron heißen, schlimmer noch, einen Lügengenossen. Lügengenossen sind keine guten Genossen. Also ist es schon besser, es gibt sie nicht, so, wie ich, Klemens Klingsporn, aufgehört habe, als Klemens Klingsporn zu existieren. Dabei bin ich, der "aufgehörte" Klemens Klingsporn, seit ich das erste Mal in meinem Leben einen Bleistift, einen Kugelschreiber, die Tastatur einer Schreibmaschine bedient habe, der Wahrheit noch nie so nahe gewesen wie diesmal.
Thore, Thore, lang mig din väldige hammer!
Junge, hör auf mit dem Selbstmitleid! Thore hilft nicht. Parduina hilft nicht! Corinna hilft nicht. Jytte kann nicht mehr helfen. Nur Beweise könnten es. Ich habe keine.
Es fing alles beinah genauso düster und langweilig an wie in diesen beliebten Partnergeschichten, die im Stadtbezirk Prenzlauer Berg spielen. Kinderwindeln, die Katze an den Müllkästen des sorgfältig rekonstruierten Hinterhofes, der arbeitsscheue versoffene Kerl und die um Selbstverwirklichung ringende Emanze mit Nickelbrille, mit der sie Volker Braun, Heiner Müller oder Christoph Hein liest. Na schön, das sollte ein Witz sein: Im Prinzip stimmt 's schon, aber unsere Wohnung liegt nördlich vom Prenzlauer Berg und befindet sich in einem Neubau. Bei uns stinkts bloß nach Knoblauch und Letscho. Kinder haben wir nämlich nicht. Ich hätte schon ganz gern, von mir aus Vierlinge, schon wegen der Patenschaft. Aber Corinna will nicht. Ich kann ihr keine gesicherte Perspektive für eine Keimzelle der Gesellschaft bieten. Auch sonst stimmt so ziemlich nichts. Eine Katze hab ich bei uns noch nicht gesehen, bloß dicke fette Hunde, welche die Gehsteige und das bisschen Rasen - schöner unsere Städte, scheiß mit - für ihre Kreatürlichkeit (oder ist das Kreativität?) beanspruchen. Emanze - ebenfalls Quatsch. Corinna ist eine gepflegte Erscheinung, nach der sich alle Männer umdrehen. Nickelbrille? Von wegen. Wenn man die Vierzig hinter sich hat und trotzdem von den Studenten begafft werden will, darf man schon Haftschalen tragen. Tun zwar weh, die Dinger, (einmal hab ich im Bad aus Versehen eine zertreten), aber sie verleihen einem den absoluten Scharfblick auf unsere Literatur, auf die Literatur wohlgemerkt. Ich spar mir jetzt die Namen, nachher ist noch einer beleidigt, weil ich ihn ausgelassen habe. Obwohl ich mir nichts Komischeres wüsste als eine Beleidigungsklage gegen einen, den es amtlich nicht mehr gibt.
Was bleibt übrig vom Klischee? Der besoffene Kerl, ich, der damals noch real existierende Klemens Klingsporn.
Ach, Parduina, altes Mädchen, wenn du mich hören kannst, gib mir ein bisschen von deiner Weisheit! Mach mich gelassener und gerechter.
Es war ein ganz gewöhnlicher hässlicher Krach zwischen zwei Menschen, die wie Feuer und Wasser sind. Ein abgeschmacktes Bild? Ich weiß, wovon ich rede. Vor Jahren bin ich mal aus der Redaktion geflogen und kurzzeitig zur Bewährung in die Produktion gesteckt worden, genauer gesagt ins Gaswerk am Blockdammweg. Wenn wir den glühenden Koks aus den Öfen gestoßen hatten, wurde er in die Löschtürme gefahren. Unter den Wasserstrahlen schrie er förmlich auf. In den Dampfwolken stob der Teufel davon und hinterließ seinen Gestank von Pech und Schwefel.
Das Streiten war zwischen Corinna und mir schon fast zu einem Ritual geworden. Andere Leute spielten Canasta, Rommee oder Menschärgerdichnicht, wenn es im Fernsehen auf allen fünf Kanälen nur wieder mal Mist gab, wir spielten E und U, ein Spiel, in dem es am Ende keinen Sieger gab, sondern nur noch zwei Kaputte. Da diese Unterscheidung nur für Ästhetiker, Literaturwissenschaftler und Idioten von wirklichem Belang ist - Store Thore, hjaelp mig, ich werde schon wieder unsachlich! - sei der Blödsinn mal kurz für den gemeinen Mann erläutert.
E steht für Ernste oder Ernsthafte, U hingegen für Unterhaltende oder noch schlimmer für Unterhaltungskunst. Leider bleibt unser Kulturministerium da seit Jahrzehnten in den Ansätzen stecken. Konsequent wäre es doch gewesen, bei der Planung des neuen Berliner Stadtzentrums neben Nikolaiviertel und Palast der Republik, vielleicht zwischen Grandhotel und Schauspielhaus, gleich noch nach altteutschem Muster eine Walhalla oder nach französischem Exempel ein Pantheon der Unsterblichen der Nation zu projektieren: III. Klasse Gips, II. Klasse Marmor, I. Klasse Kupferbronze, gefördert von den dankbaren Kumpeln aus Mansfeld und Sangerhausen in Initiativschichten. Nun gut.
Die Amtsträger sind auch nur arme Teufel. Sie wissen nicht mehr, was gehaut und gestochen wird. Wie sonst konnten sie es wagen, den Rennsteigsänger, den Rinnsteinpoeten der Berge neben den Dichter mühseliger Ebenen zu setzen? Nun wieder sachlich.
Nein, sachlich waren wir beide nicht mehr an diesem Abend, weder Corinna noch ich. Wir fanden, wie üblich, nach einigen Umwegen zu unserm Standarddialog.
Sie: Merkst du nicht, wie du dich verplemperst? Wer auf die Mitte Vierzig zugeht, sollte dem Liedermacheralter entwachsen sein.
Ich: 'Ich mein es doch nur gut mit dir', hast du vergessen. Is noch was drin in der Flasche, oder soll ich 'ne neue holen?
Sie: Jetzt gib mir auch 'n Schluck! Eine vernünftige, ernstzunehmende Sache, verstehst du? Dass man einmal sagt, der kann auch noch anders.
Ich: 'Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.'
Sie: Nimm dich doch mal ernst, verdammt noch mal. Du hast mal so gute Reportagen...
Ich: Ja, ja, erzähls mir zum Frühstück! Ich hab keinen Bock mehr auf grenzüberschreitenden Verkehr. Andere können auch nicht. Es stimmt, es kotzt mich an, aus dem Koffer zu leben und abends die paar Bunten zu zählen. Denn was kommt raus? Dass Schneewittchen hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen genauso krumme Knie beim Kacken macht wie du auf deinem akademischen Lokus.
An dieser Stelle unserer rhetorischen Serenade angelangt, holte sich Corinna ihr Bettzeug aus dem Schrank und trug es ins Arbeitszimmer. In solchen Momenten bekam ich richtig Lust auf sie, aber ich wusste, es war zwecklos.
Weißt du eigentlich, rief ich und merkte, dass mir die Zunge schon nicht mehr gehorchen wollte, was die Abkürzungen U und E wirklich bedeuten? Keine Antwort aus dem Bad. U, schrie ich, heißt Unentbehrliche Kunst! Dann langte ich mir die Gitarre und sang (singen kann ich dann immer noch besser als sprechen):
E und U und U und E,
min Deern, di deit de Muschel weh?
U und E und E und U,
geff man din Muschel Ruh!
Ich sang noch eine paar schlimmere Verse, erntete aber keinen Applaus, obwohl ich mich kurzzeitig für den bedeutendsten Spielmann des Landes hielt.
Als mich Corinna am Morgen mit Kaffee und frischen Brötchen weckte, bemerkte sie eher freundlich als vorwurfsvoll: Wenigstens die Schuhe hättest du dir ausziehen können.
Ich hoffe, sagte sie, du hast es dir überlegt. Natürlich hatte ich es mir überlegt, und wäre sie nicht mit diesem Frühstückstablett an mein zerwühltes Lager getreten, hätte mein Schicksal nicht diesen Lauf genommen. Ihre Sanftmut, ihr Verständnis und diese verdammte Nachsicht machten mich wahnsinnig. Weg, raus, fort, dachte ich und sagte: Ich fahre heute noch nach Gellenthin. Wenn ich mich beeile, schaffe ich noch das Abendschiff von Ralshagen. Auf Deutsch: Ich haue ab.
Sie setzte das Tablett so hart auf den Nachttisch, dass der Kaffee überschwappte. Du hast heute eine Besprechung in Johannisthal.
Ich schlürfte den Kaffee von der Untertasse. Was soll mir ein Dramaturg, der mir eine Stunde lang mit grämlicher Miene erklärt, wie schlecht die Welt eingerichtet ist und was in der augenblicklichen Situation bei uns im Film alles nicht geht? Wie kann ich dem eine komische Geschichte anbieten, die ich selber zum Heulen finde? Ich werde ihn um Aufschub bitten und die Story in frischer Inselluft noch einmal überarbeiten.
Typisch, wenn 's schwierig wird, verschwindest du und findest immer die passende Ausrede vor dir selbst.
Mit dem Frühstück hatte sie sich wirklich Mühe gegeben. Ich wollte ihr was Nettes sagen: Kannst ja gleich nach der letzten Vorlesung nachkommen. Ich bestell dir einen Parkplatz und hol dich vom Postboot ab.
Corinna zündete sich eine Zigarette an und erklärte sehr ruhig: Wenn du heute aus Berlin abhaust, siehst du mich weder auf der Insel noch überhaupt wieder. Gut, dass ich noch gezögert habe, Professor Pospichil abzusagen. Er hat mich nach Prag eingeladen.
Wie schön für dich, erwiderte ich, grüß ihn herzlich und trink nicht zuviel Becherovka. Die roten Flecken im Gesicht verderben jedem Mann den Appetit.
Dann legte ich die Schnulze von den sieben Brücken auf, zählte in Gedanken als achte die Karlsbrücke hinzu und begann, meine Puppenlappen einzusammeln.
Na shledanou, sagte ich, als ich Corinna in die Jacke half. Dabei ahnte ich nicht, dass wir uns tatsächlich nie mehr wiedersehen sollten.
Die Tür fiel ins Schloss. Ich nahm mir eine große Selters aus dem Kühlschrank und gurgelte sie in mich hinein. U oder E, murmelte ich vor mich hin. Selters oder Sulturs. Und schon kam die Kohlensäure zurück. Für einen Moment kam ich mir vor wie ein grunzendes Schwein.
Ich rief meinen Dramaturgen an und erzählte ihm mit dezentem Röcheln was von Atembeschwerden und dass mir der Arzt dringend Luftveränderung empfohlen habe.
Der arme Kerl war richtig erschrocken. Mensch, Klee, mach uns bloß nicht schlapp, sagte er, und ich konnte mir seinen traurigen Hundeblick vorstellen. Denk mal am besten 'ne Weile gar nicht an die Arbeit. Das mit dem Termin werd ich schon klären. Hoffentlich hast du da oben besseres Wetter.
Als ich auflegte, fühlte ich mich fast so miserabel, wie ich mich eben benommen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es draußen Strippen regnete.