Wolfram Hänel • Eskaliert
DER AUTOR
© Jochen Lübke
Wolfram Hänel, 1956 in Fulda geboren, lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Hannover. Er arbeitete als Plakatmaler, Theaterfotograf, Werbetexter, Studienreferendar, Spiele-Erfinder und Dramaturg, bevor er 1987 zu schreiben anfing. Bislang sind über 100 Romane, Erzählungen und Bilderbücher von ihm erschienen, die in insgesamt 25 Sprachen übersetzt wurden. Für seine schriftstellerische Tätigkeit wurde er u.a. 2001 mit dem »Kurt-Morawietz-Literaturpreis« der Stadt Hannover ausgezeichnet.
Mehr über Wolfram Hänel und seine Bücher: www.haenel-buecher.de.
Von Wolfram Hänel ist bei cbt erschienen:
Störfall in Reaktor 1 (30795)
Wolfram Hänel
Eskaliert
cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
1. Auflage
Originalausgabe September 2012
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2012 cbt Verlag, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagbilder: Plainpicture/Harald Braun
Umschlaggestaltung: init. Büro für Gestaltung, Bielefeld
kg · Herstellung: AnG
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-08010-5
www.cbt-jugendbuch.de
Die Hauptpersonen
Die Gang:
Alex, genannt Hobbit
Jessie
Kemal
Janin
Die Boxer:
Leon
Nico
Darius, Hobbits großer Bruder
Aylin
Leonie
Tim
Moritz, Tims kleiner Bruder
Ein Pizzabote
Ort:
Irgendeine Großstadt irgendwo in Deutschland
Zeit:
Heute
LEONIE
2 Tage später
Weiße Kacheln. Glänzender Chrom. Ein unnatürliches Licht, das die Augen schmerzen lässt. In einer Kachelfuge ist ein dunkler Fleck. Getrocknetes Blut vielleicht.
Ich höre auf das Summen und Fiepen der Maschinen, die Tim am Leben erhalten. Falls das noch Leben ist. Eine Maske über Mund und Nase, die bei jedem Atemzug beschlägt. Kabel und Plastikschläuche. Monitore mit flimmernden Zackenlinien und endlosen Zahlenkolonnen. Wenn die Zacken zu einer geraden Linie werden, ist es vorbei. Alle fünf Sekunden löst sich ein Tropfen aus dem Klarsichtbeutel an dem Gestell neben dem Bett und jagt als glitzernder Ball zu der Kanüle an Tims Unterarm.
Die Aufschrift auf dem Beutel sagt mir nichts. Ich habe sie jetzt so oft gelesen, dass ich sie auswendig herunterbeten könnte, aber ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten soll.
Wie aus weiter Ferne dringen manchmal Stimmen herüber. Irgendjemand ruft etwas. Hektische Schritte. Eine Klingel, die unerbittlich schrillt und ganz sicher nichts Gutes bedeutet. Dann wieder nur die Stille, die alles zu erdrücken scheint. Und die umso schlimmer wird, je deutlicher das Brummen der Maschinen zu hören ist. Bei jedem Atemröcheln zucke ich zusammen und starre auf das Laken über seiner Brust, bis es sich wieder hebt. Und senkt. Und hebt. Und senkt. Ein Spuckefaden läuft über sein Kinn. Seine Finger sind steif, kalt und reagieren nicht auf meine Berührung.
Es riecht nach Desinfektionsmittel und irgendetwas anderem, das ich nicht einordnen kann. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Mir ist übel. Ich habe den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen. Es kommt mir vor, als hätte ich schon seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen. Ich möchte nicht mehr hier sein. Ich möchte weit weg sein von all dem hier. Nichts mehr sehen. Nichts wissen. Das ständige Fiepen nicht mehr hören müssen, das mich sogar nachts verfolgt, wenn ich mich schlaflos hin und her wälze. Ich will nicht mehr nachdenken! Über gar nichts. Ich möchte, dass alles wieder so ist, wie es mal war. Bevor das hier passiert ist …
Die Ärzte haben gesagt, ich soll mit ihm reden. Reden würde ihm helfen. Auch wenn niemand weiß, ob irgendwas davon bei ihm ankommt. Aber was soll ich sagen? Dass ich Angst habe? Dass alles wieder gut wird? Dass er mich nicht verlassen soll. Dass ich ihn brauche. Dass wir doch noch so viel zusammen erleben wollten. Dass das jetzt unmöglich schon alles gewesen sein kann. Dass es nicht vorbei sein darf, bevor es überhaupt richtig angefangen hat …
Ich bin da, sage ich. Ich bin hier, bei dir. Du hast einen Messerstich in den Bauch bekommen. Deine Leber ist verletzt. Du hast viel, sehr viel Blut verloren. Du wärst fast verblutet. Innere Blutungen, die man nicht sieht, bevor es zu spät ist. Zum Glück hat der Stich nicht deine Aorta erwischt. Das ist deine Hauptschlagader. Ja, ich weiß inzwischen ein paar Sachen, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Es gibt eine obere und eine untere Aorta. In deinem Fall ist die untere Aorta verletzt. Geht vom Herzen abwärts und teilt sich da in die beiden Beckenarterien. Versorgt unter anderem deine Nieren und deine Leber mit frischem Blut. Nicht gut, wenn die Aorta verletzt wird. Gar nicht gut. Wie gesagt: Glück gehabt.
Aber du hast aufgehört zu atmen. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Der Notarzt hat dich in letzter Sekunde noch zurückgeholt. Du lebst, aber du liegst im Koma. Wenn du zu lange nicht geatmet hast, dann wachst du vielleicht als Gemüse wieder auf, weil dein Gehirn nicht ausreichend Sauerstoff bekommen hat. Wenn du überhaupt jemals wieder aufwachst.
Sag doch was! Gib mir irgendein Zeichen, dass du mich hörst! Drück meine Finger. Oder wackel wenigstens mit den Zehen. Wo bist du, Tim?
Nichts.
Aber vielleicht sollte ich auch lieber etwas anderes erzählen. Irgendwas Belangloses, was Mut macht: Eine Amsel zwitschert draußen vor dem Fenster. Die Sonne scheint. Der Sommer ist noch nicht vorbei.
So was in der Art. Der Sommer hat gerade erst angefangen. Alles hat gerade erst angefangen. Komm zurück zu mir, Tim! Lass mich jetzt nicht hängen.
Ich soll dich grüßen, sage ich. Sie fragen alle nach dir, echt! Morgen will dich Jessie besuchen kommen. Erinnerst du dich an Jessie? Klar, oder? Die Freundin von diesem Typen, den sie alle nur Hobbit nennen, du weißt schon. Mit der ich mich noch am See unterhalten habe, bevor … Sie wäre auch schon heute gekommen, ich hatte echt Mühe, es ihr auszureden, aber ich wollte mit dir alleine sein.
Ohne dass ich es will, schießen mir plötzlich wieder die Tränen in die Augen. Wir sind alleine. Jeder für sich. Ich in diesem Zimmer auf der Intensivstation, und Tim im Bett vor mir, mit seiner Hand in meiner, aber doch weit weg. Irgendwo anders, wo ich ihn nicht erreichen kann.
HOBBIT
6. Juni, 7:58 Uhr
Er hat sich eben am offenen Fenster noch ein paar Lungenzüge reingepfiffen. So schnell hintereinander, dass ihm jetzt schwindlig ist. Er schnippt die halb gerauchte Kippe durch den Spalt nach draußen auf den Pausenhof. Kemal kommt wieder mal zu spät, denkt er, besser wenn ich nicht mehr länger auf ihn warte. Außerdem hat es schon zum zweiten Mal geklingelt. Nur noch schnell pinkeln, dann geh ich hoch in die Klasse.
Hobbit steht am Pissbecken, als er das deutliche Gefühl hat, dass irgendwas nicht stimmt. Dass er nicht alleine ist auf dem Jungenklo. Dass er beobachtet wird. Er erinnert sich, dass die mittlere Kabine abgeschlossen war, als er reingekommen ist. Er hat noch gedacht, dass da wieder mal irgendein Penner hockt, der kurz vorm Unterricht noch schnell eine Wurst abseilt. Aber keiner braucht dazu fünf Minuten. Und das Geräusch gerade eben passt auch nicht. Da hockt keiner auf der Kloschüssel, da läuft irgendwas anderes.
Hobbit schüttelt die letzten Tropfen ab und zieht den Reißverschluss hoch. Dann dreht er sich zum Waschbecken. Er beugt sich wie zufällig so weit vor, dass er in dem fleckigen Spiegel den Raum hinter sich überblicken kann. Da ist die mittlere Kabine und zwei undeutliche Gesichter, oben über der Tür. Eine vorgestreckte Hand, die ein Handy hält, das genau auf ihn gerichtet ist. Irgendwelche Typen haben ihn beim Pinkeln gefilmt! Und filmen ihn immer noch …
Hobbit bleibt ganz cool. Er wäscht sich sorgfältig die Hände, und als er wieder in den Spiegel blickt, sind beide Köpfe verschwunden. Alles klar, jetzt warten sie natürlich darauf, dass er endlich geht. Damit sie auch gehen können. Aber so läuft das nicht.
Als er den Hahn zudreht, hört er ein unterdrücktes Kichern, dann ist wieder Stille. Nur draußen vor dem Fenster zwitschert ein Vogel. Gedämpft dringen Stimmengewirr und hastige Schritte vom Gang in den Kloraum. Hobbit muss fast grinsen, als er an der Kabine vorbei und zur Tür geht. Er macht die Tür auf und lässt sie gleich darauf wieder ins Schloss knallen. Von innen. Dann schiebt er sich in die erste Kabine und wartet. Es dauert nicht lange, bis er ihre Stimmen hört. Sie sind so aufgeregt, dass sie kaum einen zusammenhängenden Satz rauskriegen, ohne sich gegenseitig gleich wieder zu unterbrechen.
»Er ist weg. Wir können auch den Abflug machen …«
»He, warte, zeig noch mal! O Mann, ist das geil, man kann echt voll seinen Pimmel sehen! Hammer, aber voll …«
»Wetten, dass wir damit auf Youtube tausend Klicks in der Woche holen? Wir brauchen nur einen guten Titel! So was wie ›Voll bescheuerter Typ beim Pinkeln auf’m Schulklo‹ oder so was, das bringt’s, da klicken alle drauf …«
»Geil, Alter, sag ich doch!«
Jetzt kommen sie aus der Kabine. Als sie Hobbit sehen, der scheinbar ganz ruhig in der Tür gleich vor ihnen lehnt, zucken sie zurück.
Sie sind beide deutlich kleiner als er, vielleicht siebte Klasse oder auch erst sechste. Egal. Den Schwachmaten mit der Baseballcap kennt er vom Sehen. Sieht irgendwie aus wie eine Ratte, der Typ, und dealt manchmal hinter dem Spielplatz mit Pillen. Kemal hat ihm neulich erst Prügel angedroht, wenn er sich noch mal bei ihnen in der Nähe blicken lässt. Sie brauchen keinen Kindergarten, der ihnen auf der Pelle hängt und sie ausspioniert. Aber wahrscheinlich war es genau das, die kleine Ratte hat sich angemacht gefühlt und will sich jetzt rächen.
»Handy!«, sagt Hobbit und streckt fordernd die Hand aus.
»Was?«
»Gib her! Und zwar sofort, sonst knallt’s.«
»Ich hab nichts gemacht, ey, lass mich!«, versucht die Rattenfresse sich zu verteidigen. Als Hobbit auf ihn zugeht, weicht er bis zum Waschbecken zurück. Seine Augen jagen hin und her, als würden sie einen Fluchtweg suchen.
»Vergiss es«, sagt Hobbit. »Denk nicht mal dran.«
Wieder streckt er die Hand aus.
Der Typ schüttelt den Kopf. Er hat Schiss, so viel ist klar. Aber er gibt auch nicht einfach auf. Im Gegenteil.
»Du kannst mich mal!«, quetscht er jetzt zwischen den Zähnen hervor und zeigt Hobbit den Mittelfinger.
Hobbit ist für einen Moment so verblüfft, dass er zu spät reagiert, als der Kumpel von dem Penner sich wie ein Schatten an ihm vorbeidrückt und zur Tür sprintet. Und weg ist er. Und die Rattenfresse wagt es tatsächlich, auch noch zu grinsen!
Hobbit schlägt ansatzlos zu. Zwei Schläge, kurz hintereinander. Mit dem ersten Schlag trifft er die Unterlippe, der zweite landet genau auf der Nase, die sofort zu bluten anfängt. Der Typ torkelt gegen das Waschbecken und wimmert.
Mit einem schnellen Griff zieht ihm Hobbit das Handy aus der Hosentasche. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, geht er ganz cool in die nächste Kabine und lässt das Teil in die Kloschlüssel fallen. Eigentlich schade drum, ist ein fast neues Nokia, könnte man gut verticken, denkt er noch. Aber Scheiß drauf, was sein muss, muss sein, und so ist die Wirkung größer. Das merkt sich der Typ aber unter Garantie! Und wenn die Geschichte auf dem Schulhof erst mal die Runde macht, haut sie voll rein, jede Wette!
Hobbit nimmt die verdreckte Bürste und rammt die flache Hand auf die Taste des Spülkastens. Während das Wasser rauscht, drückt er das Handy so lange immer wieder nach unten, bis es verschwunden ist.
Er lässt die Bürste in der Schüssel liegen und dreht sich zurück zum Waschbecken. Der Typ hat immer noch die Hände vorm Gesicht, zwischen seinen Fingern tropft Blut hervor. Aber er sagt irgendwas …
»Was?«, fragt Hobbit. »Hast du was gesagt?«
»Damit geh ich zum Anwalt, du! Da mach ich eine Anzeige, aber voll.«
Hobbit glaubt es nicht. Der Penner ist echt hart drauf. Der hat immer noch nicht genug. Aber er kann ihm gar nichts! Trotzdem, Hobbit muss ihm irgendwie Respekt beibringen. Solche Typen dürfen nicht denken, dass sie eine Chance hätten. Dass sie ihn einschüchtern könnten. Ihm sogar drohen oder so! Solche Typen dürften eigentlich noch nicht mal einen Furz lassen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
»Mach mal«, sagt Hobbit. »Aber ich würde es mir an deiner Stelle überlegen. Sonst kriegst du nämlich von mir eine Anzeige. Aber vorher mach ich dich erst noch mal platt. Denk dran, ich hab dich gewarnt!«
Sein letzter Satz hängt noch in der Luft, als die Tür auffliegt. Ausgerechnet der Klassenlehrer! Der sowieso schon lange davon überzeugt ist, dass es für alle besser wäre, wenn es Hobbit gar nicht geben würde. Oder er wenigstens nicht in seiner Klasse wäre.
Hinter ihm drückt sich der Kumpel von dem Penner durch die Tür. Womit klar ist, dass der Klassenlehrer nicht zufällig aufgetaucht ist …
Hobbit hat keine Ahnung, wie viel der Lehrer noch von seinen Drohungen gegenüber der kleinen Ratte mitgekriegt hat. Aber wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle. Die Situation ist für jeden, der nicht dabei war, eindeutig: Einer von den Kleinen, der mit blutender Nase und aufgequollener Unterlippe vorm Waschbecken kauert und sich scheinbar vor Angst kaum noch zu rühren wagt, und vor ihm einer von den Großen, der jeden Moment wieder zuschlagen wird. Genauso muss es für einen Unbeteiligten aussehen. Und dass »der Große« ausgerechnet Hobbit ist, passt für den Klassenlehrer perfekt ins Bild.
Mit ein paar schnellen Schritten ist er bei Hobbit und will ihn am Arm packen.
»Fassen Sie mich nicht an!«, stößt Hobbit hervor.
»Sonst?«, blafft der Lehrer. »Willst du mich dann auch zusammenschlagen?«
»Ich hab ihn überhaupt nicht …« Hobbit fängt an zu stottern. »Ich meine, er hat mich mit seinem Handy, also er und sein Kumpel da …«
Weiter kommt er nicht.
»Gib dir keine Mühe. Ich sehe doch, was los ist. Also komm, Abmarsch zur Schulleitung. Das wird ein Nachspiel für dich haben, da kannst du dir sicher sein!«
Er bückt sich zu dem Typen vorm Waschbecken und hilft ihm hoch.
»Kannst du stehen? Am besten bringt dich dein Freund zur Erste-Hilfe-Station, damit du dich einen Moment hinlegen kannst, bis die Blutung aufhört. Und dann rufen wir deine Eltern an, damit dich jemand abholt. Wird es gehen?«
Der Typ nickt. Gleich darauf greift er sich an den Kopf, als ob ihm schwindlig wäre. Besorgt stützt ihn der Lehrer am Unterarm und führt ihn sogar noch bis zur Tür. Aber er hat sich kaum umgedreht, da hält der Typ Hobbit heimlich noch mal den ausgestreckten Mittelfinger hin.
Fünf Minuten später sitzt Hobbit im Büro der Schulleiterin. Die Sekretärin kommt mit einer Tasse Kaffee.
Die Schulleiterin blickt hoch. »Bringen Sie bitte noch ein Glas Wasser für …« Sie blättert in der Aktenmappe, die vor ihr auf dem Tisch liegt. »Für Alex.«
»Ich will kein Wasser«, quetscht Hobbit zwischen den Zähnen hervor.
»Jägermeister haben wir nicht«, kommt, eher nebenbei, die Antwort.
»Hä? Was soll das? Ich …«
Die Schulleiterin hebt die Hand, um ihn zu unterbrechen, und nickt der Sekretärin zu. Als sie den Raum verlässt, kommt es Hobbit so vor, als würde sie extra einen Bogen um seinen Stuhl machen, um ihm bloß nicht zu nahe zu kommen. Als hätte er irgendeine ansteckende Krankheit.
Hobbit überlegt, wie die Schulleiterin eigentlich heißt. Sie ist erst seit ein paar Wochen da, und sie unterrichtet auch nicht in Hobbits Klasse. Sie ist noch ziemlich jung, viel zu jung eigentlich für eine Schulleiterin. Aber Kemal hat recht, denkt Hobbit. Sie sieht irgendwie scharf aus. Ein bisschen wie die eine Tatort-Kommissarin, lange blonde Haare und echt ganz coole Klamotten eigentlich, und voll geschminkt und vor allem ziemlich dicke … Frau Rupprecht, jetzt weiß er es wieder. Kemal hat neulich auf dem Pausenhof einen schweinischen Reim gerappt: Und dann mach ich voll den Sexknecht, für die geile Schlampe Rupprecht …
Sie muss seine Blicke eben bemerkt haben. Sie lächelt spöttisch und schüttelt den Kopf, als würde sie genau wissen, was Hobbit gerade gedacht hat.
Hobbit merkt, wie er rot wird.
»Dann lass mal deine Version hören«, fordert sie ihn auf.
»Was? Wie jetzt?«
»He, Alex, spiel keine Spielchen mit mir, verstanden?« Ihre Stimme ist unerwartet scharf geworden. »Falls dir das noch nicht klar sein sollte, sage ich es gerne auch noch mal ganz deutlich: Du hast gerade ein Problem, und ich an deiner Stelle würde mir alle Mühe geben, mich davon zu überzeugen, dass es zumindest nicht nötig ist, jetzt augenblicklich die Polizei zu holen. Also, was war los?«
Für einen Moment ist Hobbit irritiert. Hat sie ihm jetzt eben gedroht? Oder will sie ihm zu verstehen geben, dass sie wenigstens fair sein will und ihn nicht schon verurteilt, bevor sie überhaupt weiß, was genau passiert ist? Aber selbst wenn, er traut ihr nicht. Warum sollte sie anders sein als der Rest der Lehrer?
»Ich warte.«
»Okay«, sagt Hobbit. »Also, ich war nur kurz noch mal auf dem Klo, bevor ich in die Klasse wollte. Und dann …«
Er bemüht sich, der Reihe nach zu erzählen. Wie er die beiden Typen mit dem Handy entdeckt hat, die ihn beim Pinkeln gefilmt haben, um die Bilder dann bei Youtube reinzustellen. Und wie er die Rattenfresse deshalb aufgefordert hat, ihm das Handy zu geben. Er sagt natürlich nicht »Rattenfresse«, sondern »der Typ mit der Cap«.
»Was der Typ mit der Cap aber natürlich nicht einfach so gemacht hat?«, fragt die Schulleiterin.
»Genau! Der hat mich voll angemacht, mit Stinkefinger und allem, und …«
»Da hast du gedacht, das löst du auf deine Weise.«
»Musste ich ja. Null Respekt, der Typ. Und jetzt echt mal, das darf der doch auch überhaupt nicht, andere beim Pinkeln filmen, meine ich. Dafür kann ich ihn doch anzeigen, oder?«
»Und das Handy ist jetzt wo?«
»Hab ich ins Klo geworfen und so lange gespült, bis es weg war. Hab ich extra gemacht, damit er mal was lernt. Das war ein Nokia, teures Teil, wird ihn ganz schön nerven, dass es jetzt weg ist.«
»Klasse Aktion. Herzlichen Glückwunsch, Alex.«
»Was?«
»Du bist nicht auf die Idee gekommen, das Ganze vielleicht einfach zu melden? Bei deinem Klassenlehrer, zum Beispiel? Und das vielleicht, bevor du zuschlägst?«
Hobbit zuckt mit der Schulter. War ja klar, denkt er. Sie hat genauso wenig Ahnung vom richtigen Leben wie alle anderen auch. Sie kapiert es einfach nicht!
»Alex?«
»Schon klar. Sie kapieren es nicht. Sie denken immer irgendwie, dass man so was mit Reden lösen kann, so nach dem Motto: ›He, sorry, Alter, aber das war voll fies jetzt von dir. Und deshalb gehe ich jetzt zu den Lehrern und erzähle ihnen alles. Und bitte lass dein Handy in der Zwischenzeit nicht verschwinden und lösch auch den Film nicht, versprichst du mir das?‹ So ungefähr meinen Sie das doch, oder?«
Die Schulleiterin blickt ihn einen Moment nur ganz ruhig an. Als würde sie ernsthaft überlegen, ob Hobbit vielleicht recht hat.
Dann sagt sie leise: »Das Problem ist nur, dass das Handy jetzt weg ist. Du hast also keinen Beweis für das, was du erzählst. Und die beiden aus der Siebten werden ganz sicher nichts zugeben. Außerdem sind sie zu zweit, also stehen ihre Aussagen gegen deine. Und Tatsache ist nun mal, dass du einen Mitschüler übel zusammengeschlagen hast, daran ist nicht zu rütteln.«
»Na ja, also übel zusammengeschlagen würde ich das ja nun nicht nennen, ich meine …«
»Hör auf, Alex! Kapierst du es wirklich nicht? Selbst wenn deine Geschichte stimmt, dann hast du trotzdem Mist gebaut. Und es ist ja leider nicht das erste Mal …« Sie tippt auf die Aktenmappe vor sich. »Das Einzige, was ich jetzt machen kann, ist, dass ich mir diese beiden Siebtklässler vornehme und mir mal sehr genau anhöre, was sie zu sagen haben. Aber wenn der, den du verhauen hast, eine Anzeige erstattet, werde ich dir kaum helfen können. Dafür ist schon zu viel gewesen, was gegen dich spricht.« Sie blickt wieder kopfschüttelnd auf die Aktenmappe. »Warten wir’s ab«, sagt sie dann. »Auf jeden Fall werde ich mir was überlegen, wie es mit dir hier an der Schule weitergehen soll. Und mit deinen Eltern möchte ich auch sprechen. Ich werde dir heute Mittag einen Brief für sie mitgeben.«
»Sind sowieso nicht da.«
»Bitte?«
»Meine Eltern. Die sind nicht da. Mein Alter ist irgendwo anders zum Arbeiten. Fremde Stadt, Holland oder so, glaube ich. Auf Montage. Und meine Mutter ist auch nicht da. Und wenn doch und ich erzähl ihr irgendwas, dann heult sie. Aber ich kann ihr den Brief geben, klar. Kann ich dann jetzt gehen?«, setzt er hinzu, als die Schulleiterin ihn wieder nur irritiert ansieht.
»Wie?«, fragt sie abwesend.
»Ob ich jetzt gehen kann? Ist doch alles gesagt, oder?«
Sie nickt. Immer noch so, als würde sie gar nicht mitkriegen, was Hobbit gesagt hat.
Im Vorzimmer schiebt ihm die Sekretärin wortlos ein Glas Wasser über den Tresen.
Hobbit nimmt das Glas und stürzt den Inhalt in einem Zug hinunter. Dann haucht er der Sekretärin einen Kuss zu. Sie starrt ihm mit offenem Mund hinterher, als er durch die Tür auf den Gang verschwindet. Das leere Glas nimmt er mit. Und ich setze mich jetzt nicht in den Unterricht und tue so, als ob alles in Ordnung wäre, denkt er. Vergesst es, Leute. Ich lass mich nicht verarschen.
Er weiß nicht wirklich, was er von der ganzen Sache da eben halten soll. Aber es ist ihm auch egal. Die Schulleiterin hat es ja oft genug betont. Seine Akte spricht gegen ihn. Er hat sowieso keine Chance.
Als er in die Eingangshalle kommt, nimmt er das Glas und schleudert es mit aller Kraft gegen die Scheibe der Hausmeisterkabine. Das Glas zerplatzt in tausend kleine Splitter. Die Scheibe bekommt noch nicht mal einen Sprung.
Aus dem Hinterzimmer kommt der Hausmeister gerannt. Hobbit hält ihm den Mittelfinger hin und stößt die Tür nach draußen auf. Mit zwei schnellen Schritten springt er die Stufen hinunter. Auf dem Fußweg hält er kurz noch mal an und brüllt. So laut er kann. Immer wieder. Wie ein wildes Tier, das verwundet ist. Und wütend. Bis sein Hals anfängt zu kratzen und wehzutun.
JESSIE
6. Juni, 8:01 Uhr
Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr.
»Wir sind schon wieder zu spät«, stellt sie fest, während sie gleichzeitig verwundert den Kopf schüttelt. »Ich kapier es nicht, echt, wieso? Wir sind doch extra eher los heute, das kann doch irgendwie gar nicht sein. Das muss an der Scheiß-Bahn liegen.«
»Mann, nerv nicht, ist doch egal«, kommt prompt die Antwort von Janin. »Dann sind wir eben zu spät, na und? Mehr als uns rausschmeißen kann er nicht machen. Und dann haben wir frei, ist doch gut!«
»Ist nicht gut. Der wartet doch nur darauf, dass er uns irgendwann fertigmachen kann. Der hat was gegen uns, das solltest sogar du inzwischen mal gemerkt haben.«
»Was soll das denn jetzt wieder? Glaubst du, ich bin blöd? Das weiß ich selber, dass der was gegen uns hat. Aber das würde sich auch nicht ändern, wenn wir ausnahmsweise mal pünktlich kommen würden. Dann findet er irgendwas anderes! Es ist völlig egal, was wir machen. Der findet trotzdem irgendwas.«
Jessie zuckt mit den Schultern. Stimmt schon, was Janin sagt. Ihr Klassenlehrer ist tatsächlich ziemlich daneben. Tut immer so, als könnte man mit ihm über alles reden. Aber in Wirklichkeit gilt das nur für seine Lieblinge in der Klasse. Die anderen interessieren ihn überhaupt nicht. Und Janin und Jessie gehören eindeutig zu den anderen. Zu denen, die er am liebsten loswerden würde, damit alles so läuft, wie er es gerne hätte. Bisschen Rumlabern über irgendwelche bescheuerten Bücher, die sie ständig lesen müssen, und dann irgendwelche bescheuerten Fragen dazu, die sie beantworten sollen. Warum die Mutter der Hauptfigur sich in ihrem Zimmer einschließt, als wolle sie sich lebendig begraben. Bescheuert! Woher soll Jessie das wissen? Ihre Mutter hat jedenfalls kein Blütenstaubzimmer irgendwo in einem coolen Haus in Italien, in dem sie sich verkriechen kann, wenn sie nicht mehr weiterweiß.
Ihre Mutter hat nur das Sofa im Wohnzimmer, mit dem bräunlich-roten Fleck auf der Armlehne, über den sie immer extra eine Decke legt, damit man ihn nicht sieht. Und von Italien träumt sie nur, wenn sie wieder mal genug Pillen eingeworfen hat, um sogar den bräunlich-roten Fleck zu vergessen. Ihre Mutter hat auch keinen schwermütigen Maler als Mann, der freundlich durchs Haus schleicht. Sie hat nur einen Mann, der bei jedem Fußballspiel im Fernsehen laut mitbrüllt und ansonsten sowieso nicht redet. Über nichts. Und mit seiner Frau schon gar nicht.
Aber als Jessie im Unterricht gefragt hat, worum es in der Geschichte eigentlich gehen soll und warum sie nicht mal etwas lesen können, was wirklich mit ihnen zu tun hat, war die Antwort nur: »Das hat mit euch zu tun, verstehst du das denn nicht? Die Ich-Erzählerin, die desillusioniert von den Lebenslügen der Erwachsenen schließlich aus der Welt ihrer Kindheit herauswächst, das könntest doch ebenso gut du sein!«
Wohl kaum, hat Jessie nur gedacht. Aber sie hat nichts mehr gesagt. Und auch keine Fragen mehr gestellt. Wozu auch? Für den Klassenlehrer war ja ohnehin klar, dass sie nichts begreifen würde. Und ein paar Tage später hat er dann auch Klartext geredet. Als er ihnen ihre Aufsätze zurückgegeben hat und es darum ging, dass Hobbit nur ein leeres Blatt abgegeben hatte.
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich hier tatsächlich Perlen vor die Säue werfe«, hat er gesagt. Und damit hat er nicht nur Hobbit gemeint, so viel war schon klar …
Janin rammt ihr den Ellbogen in die Seite. »Guck mal da!«, sagt sie und zeigt auf den Penner, der wie üblich sein Lager in der Ecke unter der Rolltreppe aufgebaut hat. Und sich jetzt gerade schwankend zum nächsten Betonpfeiler schleppt, sich ungeniert die Hose aufknöpft, sein Ding rausholt und anfängt zu pissen.
»Widerlich«, meint Janin. »Voll abartig. Den müsste man doch mit seinem ganzen Kram auf die Müllkippe bringen, aber echt. Habe ich dir schon erzählt, was Kemal und ich neulich gemacht haben?«
»Hast du«, sagt Jessie und nickt.
Aber Janin redet trotzdem weiter. »An der Haltestelle bei Kemal. Da lag auch so ein Typ auf der Bank rum. Echt, der hat so gestunken, dass dir voll schlecht werden konnte. Und Kemal ist hin und hat ihm einfach die Flasche weggenommen, die er in der Hand hatte. Und als der Typ sich beschwert hat, hat er nur gesagt: ›Halt’s Maul, Alter, sonst haue ich dir eine.‹ Und dann hat er dem Typen die Flasche ganz langsam über den Kopf gegossen, war noch fast halb voll, die Flasche, und der Typ hat echt fast geheult und versucht, das Zeug von seinem Gesicht zu lecken, damit er wenigstens noch was davon hat, kapierst du? Voll auf Alk, der Typ, und so widerlich, echt, du! Und dann …«
»Und dann kam so eine Frau und hat euch angemacht, was das soll«, unterbricht Jessie ihre Freundin. »Hast du schon erzählt. Und ihr seid abgehauen, weil ihr Angst hattet, dass sie sonst die Bullen holt, weiß ich doch alles. Und ich hab dir beim letzten Mal schon gesagt, dass ich es nur blöd fand von euch. Die Typen können doch nichts dafür, dass sie Penner sind!«
»Ach nee?«, regt sich Janin auf. »Und das gibt ihnen das Recht, dass sie alles vollpissen und überall hinkotzen und so, oder was? – Ey, du Pisser«, ruft sie im nächsten Moment zu dem Penner an dem Betonpfeiler hinüber. »Kannst du nicht woanders hingehen, du alte Sau?«
»Hör auf, Mann«, sagt Jessie und zieht Janin mit sich auf die Rolltreppe. »Das ist nicht witzig. Lass ihn doch einfach in Ruhe.«