Aljonna und Klaus Möckel
Drei Tropfen Licht
Ein doppeltes Tagebuch
ISBN 978-3-86394-172-7 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Dan Möckel
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Heute war ein sonderbarer Tag. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, Tagebuch zu schreiben, ich fabuliere lieber. Obwohl ich ja andererseits das Buch über Dan veröffentlicht habe, unseren Sohn, das zumindest in Insiderkreisen recht bekannt war, und den Bericht über meine Eltern.
Aber etwas Unvorhergesehenes ist passiert, es gab dieses einschneidende Ereignis. Als Aljonna, meine Frau, (die mich diesmal unbedingt begleiten wollte) und ich an der Tür des Urologen klingelten, dachte ich noch nicht an ein negatives Ergebnis, oder anders ausgedrückt, an einen positiven Befund. Vor ein paar Wochen hatte unsere Hausärztin bei einer Ultraschalluntersuchung Veränderungen an jenem kleinen Teil in mir festgestellt, das sich Prostata nennt. Dabei handelte es sich allerdings nicht, wie von mir erwartet, um eine der häufigen, meist altersbedingten Vergrößerungen. Ein sogenannter PSA-Test bescheinigte mir vielmehr Werte im Grenzbereich, die laut Laborbericht eher auf eine gutartige Geschwulst hinwiesen. Dennoch sollte, gewissermaßen zur Sicherheit, eine Biopsie durchgeführt werden, das heißt eine Gewebeentnahme.
Was sein musste, musste sein: Meine Begeisterung hielt sich zwar in Grenzen (besonders als der Urologe davon sprach, mir über den Darm mit Hilfe einer Hohlnadel acht Proben zu entreißen, und das ohne Betäubung), doch er fügte dann hinzu, das Verfahren sei fast schmerzlos, und das beruhigte etwas. Zumal ihm die Sache nicht gar so dringlich erschien – die Aktion sollte erst in zwei Monaten stattfinden.
Gut, ich will nicht leugnen, dass ich mir in der Zeit bis dahin Gedanken machte und die Sache gern möglichst bald hinter mich gebracht hätte. Wer möchte nicht Bescheid wissen, wenn es um solch eine Geschichte geht. Aber zum Glück blieb mir genug andere Beschäftigung, beispielsweise durch unseren behinderten Sohn. Weshalb grübeln, solange alles nur ein Verdacht und der dazu noch ziemlich vage ist.
Wie auch immer, schließlich war es so weit, ich saß dem Arzt erneut gegenüber, wurde aufgefordert mich auf einer Liege auszustrecken, vom Gürtel abwärts nackt, das Gesicht zur Wand gekehrt. Mich zur Konzentration zwingend, war ich aufrichtig bemüht, den Anweisungen des Urologen zu folgen. Und es stimmte, die Stiche, jedes Mal durch ein kurzes "Jetzt" angekündigt, taten nur mäßig weh, bloß das Fuhrwerken des Tatwerkzeugs im Hinterteil versetzte mich in nervöse Spannung. Der Arzt meinte hinterher netterweise, ich hätte gut mitgemacht und nun könne man nur das Beste hoffen.
Die Biopsie liegt inzwischen eine Woche zurück, und bis heute hofften wir das Beste. Wobei hoffen in meinem Fall nicht zutrifft - den Gedanken, dass ich Krebs haben könnte, wies ich weit von mir. Ich hielt meinen Körper in dieser Hinsicht für unangreifbar. Arthrose in den Knien und der Schulter, ja; beinahe chronisch wiederkehrende, oft bissige Kopfschmerzen, ja; – aber das? Ich bin Nichtraucher, Kaumtrinker, relativ mobil für mein zugegebenermaßen nicht mehr ganz niedriges Alter, und in meiner Familie kennt man keine bösen Geschwülste. Zumindest habe ich nie so etwas gehört. Was also soll diese Gemeinheit! Ich weigere mich entschieden, sie anzuerkennen.
Wenn man davon absieht, dass ich zur Zeit ohnehin schlecht schlafe, war die Nacht normal. Höchstens dass die Gedanken nicht um Literatur, Politik oder unser Kind kreisten wie sonst. Ich... ir, sagte der Urologe, müssten uns daran gewöhnen, dass das Leben in den nächsten Monaten anders verlaufe als bisher. Wie anders? Anstrengend waren die zurückliegenden Jahre für meine Frau und mich sowieso. Aus verschiedenen Gründen! Ich könnte wirklich nicht behaupten, dass uns etwas geschenkt wurde. Muss ich es nun auch noch hinnehmen, krank zu sein? Auf eine verhängnisvolle Weise, die von allen gefürchtet wird? Nein, das darf nicht sein! Fassen wir also zusammen, was Fakt ist, und versuchen, die Ruhe zu bewahren.
Okay, ein Knoten wurde entdeckt, und es wird nicht ohne Schnitt abgehen. Wie groß ist der Kern des Übels, das mir tief im Fleisch sitzt, drei, fünf, zehn Millimeter im Durchmesser oder mehr? Vielleicht haben sich Metastasen in den Lymphknoten gebildet, ist das Karzinom bereits durch die Prostatakapsel gedrungen. Die Lunge wenigstens scheint frei zu sein, das konnte ich gestern noch durch eine Röntgenaufnahme abklären lassen. Auch für die Untersuchung der Knochen, die sogenannte Skelettszintigrafie, deren Termin inzwischen feststeht, hoffe ich auf ein günstiges Ergebnis. Nur wenn das Gegenteil eintreten sollte, sehe ich meine Felle wirklich wegschwimmen. Dann allerdings dürfte manches, was ich im Augenblick noch relativ locker nehme, viel, viel schwieriger werden.
Da hatten wir also die gleiche Idee: nämlich aufzuschreiben, was uns auf so schockierende Weise widerfahren ist. Was Klaus widerfahren ist und damit auch mir, der Familie. Während ich aber sonst meist nur Erzählungen oder Bücher übersetzt, d.h. anderen Autoren gedient habe, fühle ich mich diesmal gedrängt, die eigenen Gedanken zu Papier zu bringen. Das alles muss aus mir heraus, damit ich besser damit fertig werde.
Ich sage, wir hatten die gleiche Idee, weil mein Mann mir gerade erzählte, dass er eine Art Tagebuch begonnen hat. Er will dokumentieren, was ihm zugestoßen ist und in den nächsten Wochen und Monaten weiter geschehen wird. Für einen Autor verständlich. Doch ist es gewiss nicht schlecht, wenn auch ich meine Empfindungen dazugebe. Den Wirrwarr in meinem Kopf ordne und einigermaßen übersichtlich darlege. Vielleicht ergänzen sich unsere Aufzeichnungen ja!
Soweit ich Klaus verstanden habe, will er mit dem gestrigen Tag anfangen, mit dem Augenblick, da sich der Verdacht auf Krebs bestätigt hat. Ich blättere aber im Kalender und stelle fest, dass ich im Gegensatz zu ihm schon viel eher unruhig war. Möglicherweise, weil ich ein gebranntes Kind bin, an Krankheiten bereits einiges hinter mir habe. Vielleicht auch, weil ich mich oft mit Albträumen herumplage. Einmal, als Studentin, träumte ich sogar vom Tod unseres Französisch-Professors, was mich in der Folge ziemlich entsetzte, denn – man mag es glauben oder nicht - er war genau in jener Nacht tatsächlich gestorben!
Jedenfalls zeichnete sich die Gefahr aus meiner Sicht schon eine Weile vorher ab. Am 20.Oktober, vor knapp zwei Monaten also, hatte mein Mann einen Termin bei unserer Hausärztin, musste wegen seiner Schilddrüse hin und weil sie sich per Ultraschall die Prostata anschauen wollte. Er war seit einem Jahr auf Grund einer (wie wir bis dahin annahmen, gutartigen) Vergrößerung der Vorsteherdrüse in Behandlung.
Natürlich erhofft man sich von einer solchen Untersuchung nur Gutes, das heißt, den Beweis, dass alles in Ordnung ist. Aber als die Ärztin im Gegensatz zum Vorjahr einen Knoten entdeckte und ein PSA-Bluttest kurz darauf erhöhte Werte ergab, schrillten bei mir die Alarmglocken. Klaus war zwar nach wie vor optimistisch: "Keine Angst, da ist nichts, ich bin gesund", ich jedoch hatte ein ungutes Gefühl, das in den folgenden Tagen noch wuchs. Ich fand es ganz und gar nicht beruhigend, dass die Ärztin schnellstmöglichst für eine Biopsie plädierte...
Keine zwei Wochen mehr bis Weihnachten, aber Vorfreude aufs Fest will sich nicht einstellen. Meine Gedanken kreisen stets um den einen Punkt, denn nun haben sich die Befürchtungen ja leider bestätigt. Ich schlucke Pillen, um im Lot zu bleiben.
Doch der Reihe nach. Die Ärztin hatte auf eine schnelle Gewebeentnahme gedrängt, aber ein Termin beim Urologen für ein Vorgespräch war erst Ende November frei. Klaus wollte auf keinen Fall so lange warten, ging vorher hin, kam nach einigem Ausharren auch dran. Zunächst ein wenig zögernd veranlasste der Arzt, nachdem er die Prostata abgetastet hatte, einen zweiten PSA-Test. Das Ergebnis glich dem ersten, und die Biopsie fand dann endlich Anfang Dezember statt, also vor einer Woche. Obwohl es ja heißt, dass Krebs im Alter langsamer wächst, zog sich das für meine Begriffe sehr lange hin.
Das Geschehen selbst will mein Mann beschreiben, er kann das besser, schließlich wurde ja ihm mit der Nadel durch den Darm gepiekt. Ich ließ es mir aber nicht nehmen, ihn zum Urologen zu fahren, obwohl ich, besonders wegen der leidigen Parkplatzsuche, nicht scharf aufs Chauffieren bin. Trotzdem, ein bisschen moralische Unterstützung konnte in diesem Fall nicht schaden.
Die Woche nach der Entnahme war dann für mich mit bedeutend mehr Spannung erfüllt als für ihn. Ich sagte mir, dass sich die Praxis bestimmt schnell melden würde, wenn ein für uns freundliches Ergebnis vorläge. Versuchte aufkeimende Angst zu unterdrücken, und kam doch nicht davon los. Was würde sein, wenn diese heimtückische Krankheit meinen Mann tatsächlich gepackt hätte? Wie würde sich unser Leben gestalten, wie viel Zukunft bliebe uns dann noch? Es war gewiss zu früh für solche Überlegungen, dennoch konnte ich sie nicht wegschieben. Klaus dagegen schien nichts zu befürchten. Er nahm die Gefahr wohl erst wahr, als wir wieder im Wartezimmer saßen und der Urologe mich gleichfalls ins Sprechzimmer bat. Doch selbst da ergriff es ihn offenbar weniger als mich. Der Fakt Krebs, auf Grund des histologischen Befunds nicht mehr wegzudiskutieren, überraschte ihn zwar, wurde ihm aber erst später so richtig bewusst. Mich dagegen traf er wie ein Hammerschlag. Ich krampfte die Finger ineinander, jetzt bloß nicht die Fassung verlieren! Als der Doktor aufmunternd meinte, das sei ja noch kein Todesurteil, wurde mir richtig schlecht. Zwar gelang es mir, die Tränen zurückzuhalten, aber meine belegte Stimme bei der Frage, wie es nun weitergehen solle, verriet mich trotzdem. Der Arzt bot mir ein Glas Wasser an, ich lehnte dankend ab. Ich war ja zur Unterstützung mitgekommen, nicht um es meinem Mann noch schwerer zu machen.
Nach dem Erhalt dieses bedrückenden Bescheids und einigen mitfühlenden Worten des Arztes waren wir entlassen. Einerseits damit wir Zeit fanden, über die neue Lage nachzudenken, andererseits weil einige Untersuchungen notwendig wurden, um die richtige Therapie zu finden. Maßnahmen, die aufzeigen sollen, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist, und die ich nur von außen verfolgen kann. Von außen, nicht jedoch als Außenstehende, ich bin ja voll einbezogen. Erfüllt von einem undeutlichen Angstgefühl! Immerhin, der derzeit tröstliche Stand: Lunge und Knochen sind frei von Metastasen. Aber was heißt tröstlich. Es bleiben die Lymphbahnen und alle möglichen inneren Organe. Der menschliche Körper besitzt viele Angriffsflächen, man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele.
Zurück zur Therapie, am 19. 12. – es ist zufällig unser Hochzeitstag – wird der Doktor nun erneut mit uns sprechen. Dann erfahren wir, ob es zur Operation kommt, oder ob man anderweitig behandeln muss.
Diese Woche ist unheimlich viel los – Verwandten- und weitere Arztbesuche stehen auf dem Programm, dazu kommt eine kleine, hoffentlich feine Verlagsfeier und schließlich und nicht zuletzt unser Hochzeitstag.
Zunächst fand aber die erwähnte Skelettuntersuchung statt. Man bekommt eine radioaktive Spritze, trinkt einen halben Liter Wasser, wartet zwei Stunden - ich benutzte sie, um in den umliegenden Läden nach einem besonderen Weihnachtsgeschenk für Jonna zu suchen, das ich nicht fand - und wird auf eine Liege gepackt, während eine kastenförmige Apparatur dicht über einen hinweggleitet. Vom Kopf zu den Füßen, zwanzig Minuten lang, ganz gemächlich. Danach nimmt sich der Kasten noch die Wirbelsäule vor. Die Ergebnisse werden am Ende ausgedruckt und weisen eventuelle Krebsaktivitäten aus. Oder so ähnlich. Bei mir jedenfalls scheint noch alles im grünen Bereich zu liegen: Kein Anhalt für Auffälligkeiten. Herz, was begehrst du mehr.
Bedenkt man allerdings, was an weiteren Untersuchungen ansteht, was geschehen muss, um den gröbsten Schaden zu reparieren (und dass vielleicht nur dieser gröbste Schaden behoben werden kann), so dämpft das die Freude erheblich.
Gestern verbrachten wir den Nachmittag als Gäste eines kleinen Kinderbuchverlages. Alljährlich gibt er ein Essen für die freien Mitarbeiter, zu denen wir zählen oder zumindest bisher zählten. Denn es sieht so aus, als hätten wir in diesem Jahr unser letztes Buch für den Verlag geliefert. Die betreffende Märchenreihe, in der Tradition des berühmten "Zauberers von Oz" stehend, verkauft sich wohl zu schlecht. Dabei sind das gut gestaltete, abenteuerlich-spannende Kinderbücher, die auch den Humor nicht vermissen lassen. Auf zwölf Titel können Aljonna und ich verweisen, ein kleines Lebenswerk, aber ob es nun am russischen Namen des Autors liegt, an den eher geringen Werbemitteln des Unternehmens oder daran, dass der Verlag zu viele Bände dieser und ähnlicher Serien veröffentlicht hat - jedenfalls ist fürs erste Schluss. Eine Tatsache, die leider nicht dazu angetan ist, meine Stimmung zu heben.
Unser Hochzeitstag – lang ist's her, dass wir uns das Jawort gaben - und ein weiteres wichtiges Gespräch beim Urologen. In der Zwischenzeit hatten wir uns schon mal etwas über die Möglichkeiten informiert, wie dem Krebsgeschwür (im wahrsten Sinne des Wortes) beizukommen sei. Da gibt es verschiedene Bestrahlungsmethoden, Hormon- und ähnliche Therapien, eine Art Schlüsselloch-OP sowie den großen Schnitt. Doch wofür man sich auch entscheidet, nichts von alldem dürfte angenehm sein, und jede Methode hat ihre Schattenseiten.
Im Anfangsstadium der Krankheit kann man mit sogenannten Seeds arbeiten, winzigen radioaktiven Körnern, die über den Darm in die Prostata gebracht werden und den Tumor zersetzen. Ich nahm an, dass diese Möglichkeit für mich in Betracht käme, aber der Arzt verneinte es. Meine Gewebeproben würden auf eine zu große Streuung innerhalb der Kapsel hinweisen. Bei einer solchen Bestrahlung bestünde die Gefahr, den Krankheitsherd nur teilweise zu beseitigen. Zudem sei nach der Bestrahlung eine Operation nicht mehr so einfach wie im umgekehrten Fall (einfach ist gut!). Besser deshalb gleich operieren, entweder Schlüsselloch (minimal-invasiv) oder mit einem Damm- bzw. Bauchschnitt. Schlüsselloch wäre zwar schonender, berge aber die Gefahr, Herde im Umfeld zu übersehen.
Als wir nachbohrten, erwies sich der Urologe als Verfechter des größeren Eingriffs. Der ist am radikalsten, aber wohl auch am wirksamsten. Übers Wochenende sollen wir uns für eine dieser Methoden und damit für das jeweils spezialisierte Krankenhaus entscheiden. Na dann mal nachgedacht und vor allem die richtige Wahl getroffen. Ich merke, wie sich in mir ein Gefühl zwischen Ohnmacht und Zorn ausbreitet, ein Gefühl, einem ziemlich ungewissen Schicksal ausgeliefert zu sein. Doch dem kann ich mich auf keinen Fall hingeben, um meinet- und auch der Familie willen nicht.
Die Zeitungen sind voll von der Gesundheitsreform, dem Krieg im Irak und Verbrechen aller Art, aber wir haben mit unserem Problem zu tun. Allerdings nicht nur, es gibt ja noch die täglichen Pflichten und dann auch angenehme Dinge, wie vorgestern eine Zusammenkunft beim Verlag, für den wir zuletzt arbeiteten. Daran nahm ich zwar gern, doch mit sehr gemischten Gefühlen teil. Mich von dem freizumachen, was uns passiert ist, gelang mir nicht.
Nun also, wie bereits erwähnt, unser Hochzeitstag, den wir uns natürlich anders vorgestellt hatten. Wir wollten nett essen gehn, ein bisschen bummeln, vielleicht ins Kino. Na ja, Blumen und ein kleines Geschenk gab's am Morgen trotzdem. Dann aber wurde das Gespräch beim Urologen akut, der sich für uns diesmal besonders viel Zeit nahm. Okay, mein Mann war..., wir waren bereit, uns der Situation zu stellen.
Der Doktor erläuterte die verschiedenen Operationsmethoden, benannte die jeweils in Frage kommenden Krankenhäuser. Er wies auch auf unvermeidliche Nebenwirkungen hin: Die Potenz würde möglicherweise abhanden kommen, Klaus vorübergehend das Wasser nicht mehr halten können. Was für wunderbare Aussichten! Aber was hilft alles Lamentieren, wenn man keine andere Wahl hat?
"Wenigstens wird dich das später daran hindern, dir eine Geliebte anzuschaffen", versuchte ich zu spötteln.
"Du dagegen könntest durchaus auf den Gedanken kommen, dir einen Hausfreund zuzulegen", revanchierte er sich.
Galgenhumor hin oder her, wahrscheinlich wird sich Klaus für die Radikaloperation entscheiden. Obwohl wir jetzt wissen, dass zunächst durch einen vorbereitenden Eingriff Lymphe aus dem Becken entnommen und auf Krebsabsiedlungen untersucht werden muss. Zwei Operationen im Abstand von drei bis vier Wochen also. Dennoch, in seinem Fall scheint es die sicherste und erfolgverheißendste Methode zu sein.
"Es kommt schon nicht mehr drauf an", meinte mein Mann, als wir wieder zu Hause waren, wohl auch, um sich damit Mut zu machen. Ein Pfeifen im Walde, das, Flapsigkeit vortäuschend, die bösen Geister vertreiben soll, die da hinterlistig nach uns greifen.
Da gibt es Erdbeben und Überschwemmungen, den Hunger in Afrika und riesige Waldbrände. Ist der Mensch nun schuld an der Klimaerwärmung oder nicht? Ein bisschen, denke ich, sollte er sich schon am Riemen reißen.
Unseren Hochzeitstag feierten wir gestern trotz allem mit ein paar Blümchen und einem bescheidenen Mittagsmahl im Restaurant, das musste einfach sein. So viele Jahre verheiratet; wenn ich bedenke, was in dieser Zeit alles passiert ist. Ein Staat, ach was, ein ganzes politisches System mit seinen (leider) illusionären Zielen wurde zu Grabe getragen, und schon schlagen wir uns mit den Schwierigkeiten einer anderen Gesellschaft herum.
Meine Eltern sind in den achtziger Jahren gestorben, erst mein Vater, kurz darauf auch die Mutter, und Aljonna brachte mehrere komplizierte Operationen hinter sich. Wir haben uns jeder einen Beruf erarbeitet, der schon etwas Besonderes darstellt (ich Schriftsteller, sie literarische Übersetzerin) und den wir zum Glück auch eine Weile erfolgreich ausüben konnten.
Bei all dem aber stand im Mittelpunkt unser Schmerzens- und Hoffnungskind Dan, geboren 1966, gehörlos, geistig behindert, groß gezogen, ohne erwachsen zu werden, und doch so einmalig. Als ich 1980 mein Buch über ihn begann, war Dan vierzehn Jahre alt und fing langsam an, seine Wildheit abzustreifen. Er ist zwar Kind geblieben, hat sich aber sehr zum Guten verändert. Wobei Worte wie gut und böse, wenn es sich um das Verhalten eines solchen Menschen handelt, ohnehin leere Sprachhülsen sind.
Weihnachten steht vor der Tür, aber ich denke an Ende Januar. In gut einem Monat soll ich in die Klinik einrücken. Wir haben uns für die große OP entschieden, die ich hier, im Gegensatz zu der vorgeschalteten "kleinen", einmal so nennen will. Ob diese Entscheidung richtig war? Die minimal-invasive, sagte der Doktor, böte auch keine besseren Aussichten auf Erhalt der Kontinenz. Er hätte großes Vertrauen in die Spezialisten der Klinik, die ich aufsuchen soll. Wir glauben, dass wir uns auf sein Urteil verlassen können.
Doch anlässlich des Weihnachtsfestes und meiner speziellen Situation in diesem Jahr kommt in mir eine ganz sonderbare Stimmung auf. Ich bin versucht, mein Schicksal zu beklagen, möchte mit Gott und der Welt hadern, betrachte aber auch vieles mit anderen Augen. Ich fühle mich zum Philosophieren angeregt. Zwar rückt einem der Tod für Momente näher, ergreift einen die Furcht, lange in Qualen dahinzusiechen, denn fast jeder könnte auf Anhieb nahe oder fernere Bekannte nennen, denen ein solches Schicksal beschieden war. Aber das ist trotzdem kein Grund, gleich ans Sterben zu denken. Meine Aussichten sind ja nicht schlecht, und ich habe den festen Willen, den Kampf zu bestehen.
Viel Zeit zum Überdenken ist nicht geblieben, wenngleich uns die Sache mit der zusätzlichen OP zu schaffen macht. Sie bringt ein paar Sorgen mehr. Was passiert zum Beispiel, wenn die Lymphe doch befallen ist?
Ich schiebe diese Befürchtungen rigoros beiseite, so darf es einfach nicht kommen!
Am 21. haben wir unseren freundlichen, aber auf die Hilfe anderer angewiesenen Sohn, der mittlerweile fast vierzig Jahre alt ist, zu den Weihnachtsferien nach Hause geholt. Dan freute sich diesmal besonders, er weiß, dass ihm ein etwas längerer Aufenthalt bevorsteht. Als er etwa zwölf war, hatten wir ein spezielles Kalendersystem für ihn entwickelt, nach dem er sich zeitlich orientieren konnte: Wir verwenden es heute noch. Abends, bevor er zu Bett geht, streicht er auf dem jeweiligen Monatsblatt den vergangenen Tag durch. Wir markieren die Wochenenden, die er zu Hause verbringt, Urlaube, Feste, Arztbesuche und sonstige für ihn wichtige Ereignisse. Auf diese Weise kann er sich innerlich besser auf die betreffende Situation einstellen. Am Ende des Monats reißt er das Blatt ab, und wir richten das neue für ihn ein. Diese Methode hat sich bewährt, sie hilft ihm und zugleich uns, denn wir können ihn jetzt vorbereiten, sind nicht mehr gezwungen, ihn im Positiven wie im Negativen zu überraschen.
Dan ahnt natürlich nichts von unseren Sorgen, solche Dinge kann man ihm nicht erklären. Höchstens, dass er bestimmte Regungen von unseren Gesichtern abliest: Trauer, Ärger, Zorn. Was ihn erschreckt, beheben wir meist mit einem Lächeln. Aber selbst wenn man ihm mehr sagen könnte, würden wir ihn nicht damit belasten. Er muss ja alles mit sich allein ausmachen, verfügt weder über die Laut- noch die Gebärdensprache, um sich Probleme von der Seele zu reden, kann sich auch nicht durch Schreiben mitteilen. Wir vermögen uns nur mittels Gesten, kleinen Bildern, Fotos und einigen geschriebenen Wörtern über ganz konkrete Dinge mit ihm zu verständigen. Dabei ist er schlau, würde manches begreifen, wenn das Hörzentrum intakt wäre.