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Wem sonst als Dir.

Uta-Maria Heim

Wem sonst als Dir.

Roman

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Die Stimme, ach Süßer! die hab ich nicht.
Doch trag ich den Namen Vergissmeinnicht,
Der, wenn ich auch schweige, dem Herzen spricht.
Karoline von Günderrode

Prolog

»Tötet ihn nicht! Dieser Mann hat eine Geschichte zu erzählen.«1

Ich kann hier nicht bleiben. Hier nicht und auch nicht anderswo. Und die Zeit der Gefügigkeit hat bald ein Ende. Ich bin der Sanftmütigen keiner, ich döbere, wann und wie ich will. Der Vater, sagt die Mutter, sei ganz der Gleiche gewesen. Ich kenne diesen Vater noch. War ein kleiner Stöpsel, und er hatte diese Wunde auf der Stirn, über dem einen Auge, abartig, die platzte auf und blutete und da wurde eine fleischige Sichel daraus. Irgendwie steckte was im Kopf, ein Splitter. Russland. Er nahm mich auf sein Knie, der Vater. Hoppe, hoppe Reiter, / wenn er fällt, dann schreit er, / fällt er in den Graben, / fressen ihn die Raben. Kopfüber bin ich auf die Platten geknallt. Dann war es doch das Herz, der Versager. Wo der Vater gestorben ist, war ich schon ein Schulerbub, und ich sag, den hätte man einweisen müssen, so gesponnen hat der, wenn es Nacht war und mit der Mutter. Hiebe gab es keine. Von ihm nicht, dem Irrlichternden. Niemals auch von mir. Hab ich so gelernt, und das bleibt einem. Das andere durchaus. Sobald einer aus der Anstalt kommt und mir nachstellt, lernen sie mich kennen. Ich haue auf den Putz. Sie können mir gestohlen bleiben, die Wucherer des halben Herzens. In der Stube drinnen ist es warm. Ich habe mich manierlich zurechtgemacht, und es fehlte mir an gar nichts. Der Mangel ist inwendig. Man kann das einem Dummen nicht begreiflich machen, und die Gmelin ist dümmer, als die Polizei erlaubt. Sie hat die Weisheit nicht mit dem Löffel gefressen, schon auf der Schulbank fiel sie auf durch Idiotie. Bei der Vernehmung hat sie mir Sie gesagt. Als ob die Kommissarin mich nicht gekannt hätte. Von Kind auf gekannt. Hat sie mich. Die Liebschaft der Schwester. Grad sie kommt, wie vom Teufel gerufen, aber so ist es alleweil. Mutter: tot, liegt auf dem Küchenboden. Die Platten sind schwarzweiß. Das weiß ich noch, und die Mutter trägt einen Schurz. Mit Pfingstrosen drauf, lila, das Küchenmesser steckt ihr in der Brust.2 Sie liegt halb seitlich auf dem Rücken, Gosch auf, Augen himmelwärts, wie ein Lebtag lang. Nirgends Blut, nicht in der Erinnerung. Das Gedächtnis tut ganz sauber. Aber am Tatort gar, da geht noch mehr futsch. Ich denk, die ist nicht hin, die simuliert nur. Die macht Witz. Ich verliere den Verstand, und einundzwanzig Jahre später ist Hopfen und Malz verloren. Da taucht auf einmal Zack auf, es ist das erste Mal, dass ich ihn auf der Wanderschaft spüre, zupft mich in der Stube am Ärmel und schreit.

Also gut. Du musst den Schuh schnüren, und bald bin ich am Turm. Ich könnte genauso gut in Frankreich sein, beim Schöpfer, und ich frage mich, wieso ist Hölder nicht in den Neckar gesprungen. Mit Anlauf hätte er’s geschafft, falls der Fluss damals schon so floss wie heute.3 Raus aus dem Fenster, kopfüber ins Bett. Und er ist ja keiner von den Schwachen gewesen. Sein Turmzimmer geht zu drei Seiten hinaus, Frühjahr, Sommer, Herbst, der Winter verneigt sich zur Türe. Drunten steh ich dann auch und winke hinauf zu Zack, der seelenblind im Turmzimmer haust, sieben Schritte lang, fünf Schritte breit, er läuft im Rechteck durchs Halbrund, Zack hat sich vis-à-vis zum Neckar eingenistet, in Rufweite, und im Neckar lispeln eiskalt die Forellen. Ich bin da, weil ich am Turm bin, und Zack ist innen hoch gewandert, die Stiegen hinauf in das Zimmer. All die Weil war das mein Feinziel, er drinnen, ich draußen, wir kommunizieren. Oft habe ich mich zur Ordnung gemahnt, frühers, den Sätzen nachzuspüren und ihrem Geist. Das quält mich unnötig, weil ich zu spät komme, und Zack ist sowieso schon da. Das ist er immer. Wir sollten noch einmal dort anfangen, wo Willkür herrscht. In der dämonischen Jugend. Wir haben geglaubt, wir könnten den Baum nochmals schaffen. Den Freiheitsbaum, der gefällt ist im Gedenken an all diese Drangsal. Wir umtanzten und erklommen ihn in der Hoffnung bis an die Spitze. Irene und ich, und auch die Gmelin war dabei, die taube, ewig gestrige Nuss. Und noch ein paar andere Genossen. Das ist schon sehr lang her, wir waren Barfüßer und trugen Gewänder, die von Indien hier herüberwehten. Wir haben das Proletariat belehrt. Ich war nie einer von den Wipfeln. Irene wechselte ins Politbüro und die Gmelin zur Gestapo. Wir haben ihr schon in der Schule die Gmelin nachgesagt, den Nachnamen als Spottnamen, einen Vornamen hatte sie nicht, sie war die Vorbotin und die Liebschaft der Schwester. Und dann das. Verrat auf der ganzen Linie. Wir haben uns in dreierlei Linien entwickelt. Irene links, die Gmelin rechts und ich normal in der Mitte. Ich war immer Durchschnitt.

Die Gmelin hat rein zufällig die Mutter aufgelesen, und sie liest genauso mich auf. Zack kriegt sie nie. Er ist drin, ich bin draußen. Wir ergänzen uns. So oder so. Wer noch fehlt, ist Staatsanwalt Keller. Er würde uns die Absolution erteilen unterm Christbaum, so viel ist sicher. Denn das Angstlevel eines Einzelnen ist immer gleich. Dahanne, seltdanne. Jeder hat sein eigenes Maß, jeder schnürt auf dem Grat seiner Furcht, und er wird alles tun, um die Schritte, die ihn straucheln lassen, auszugleichen.

Es war nicht immer gleich mit ihm. Und es mochte sein, dass er sich selbst unterschätzte. Er sah sich oft in der Vergangenheit und sprach von sich in der dritten Person. Dann war er nachgerade vernünftig. Doch nicht er, nicht hier, nicht jetzt. Er war stets ein anderer, zu anderer Zeit, an anderem Ort. Wenn er so weit kam, dann lief es wie am Schnürchen. Es gab keinerlei Veranlassung mehr, in Stadt und Stund ein Ich auszuleben, das leergelaufen war. Wo die Verpflichtung fortschwand, taten sich Gefilde auf des Innern, denen eine trübe Spiegelung widerfuhr über den Wellen des Neckars. Das Licht an jenem heiligen Abend wäre berückend. In einer feuchtwarmen, mulchigen Luft umtanzten quecksilbrige Schneeflocken den Schlick und den Tang, der vom Grund aufstieg. Eiskalte Tropen. Ein Totenantlitz, es hätte keinen gewundert. Treue ist eine Sache, die im Tierreich gemeinhin stärker ist. Dachte Schöller, und dass das Tier dem Menschlichen innewohnt. Da war er dabei, bei dieser Einkehr, er hatte einen Sensor dafür. Zack im Übrigen auch, der seelentrübe Spitz.

Schöller konnte an Irene nicht denken ohne die Wand zwischen ihnen. Also dachte er dauernd die Wand. Er dachte die Wand, um so an Irene zu kommen, die Schwester, die hinter der Wand lag. Sie lag, obwohl sie nicht tot war, Irene war definitiv nicht tot. Sie lag nur. Das hätte er sagen können. Sonst nichts. Und so einfach ist die Sache mit dem Wahnsinn und dem eingefleischten Mangel an Gegenwart. Man will etwas erfassen und spürt zwischen sich und dem Gegenstand ein Hindernis. Unüberwindlich. Das ging schon Hölderlin so. Darin lag seine ganze Tragik. Man musste wahnsinnig sein, um so einfache Worte zu finden für die Welt hinter dem Scheitern. Aber auf Dauer war das auch nicht genug. Hölderlin floh in fremde Körper und Epochen, um stumpfe, sinnige Verse zu finden, nachdem ihm vorschnell das Hirn implodiert war. Der Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter. Dreierlei Fenster, die Tür. Sieben Schritte lang, fünf breit. Die Grausamkeit der Geliebten, der Mutter und der niedergeschlagenen Zeit hatte auf ewig den Eispickel erhoben.

Sie feiern Feste im Innern. Das ja. Das sagt man über Menschen.

Ich komm schon zurand. So werd ich mich selber bei Troste halten. Von mir aus kann man toben, einander drangsalieren, Schindluder treiben, und ich lobe auch die Faust, aber nie soll man einen Eispickel mit Gewalt in einen Menschen hineinlöcken. Darin bin ich mir wild und mache nicht Halt vor der Schwester. Doch die Verzeihung kam spät und eigentlich erst, als ich hörte, dass Irene nicht mehr war.

1 Aus dieser Motivation heraus rettete der schwerverletzte Leo Trotzki seinem Mörder Ramón Mercader 1940 das Leben. Der genaue Wortlaut ist nicht überliefert. Bei Padura steht, Trotzki habe den Leibwächtern zugerufen, nachdem Mercader ihn hinterrücks überfallen, ihm mit dem Eispickel die Schädeldecke zertrümmert und er einen infernalischen Schrei ausgestoßen habe, »sie sollten ihn nicht töten, er müsse zum Sprechen gebracht werden«.

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte. Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein. Zürich 2011, S. 638

2 Das Opfer wurde in der Umklammerung von hinten erstochen. Eine Tötung auf diese Weise vorzunehmen, ist, wie ein Sachverständiger beim Prozess darlegte, ohne Nahkampfausbildung nicht ganz einfach. Stelle und Winkel des Einstichs legten eine gewisse professionelle Präzision nahe oder zumindest eine profunde Kenntnis der Anatomie des menschlichen Körpers.

3 Vgl. Jan Bürger: Der Neckar. Eine literarische Reise. München 2013, S. 18: »Hölderlin wird, am Fenster stehend, vorwiegend Fischer und Flößer zu Gesicht bekommen haben, die auf dem Neckar stocherten.«

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Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen. Und doch ist man bei jedem solchen allgemeinen Urteil in Gefahr, an die Buntheit der Menschenwelt und ihres seelischen Lebens zu vergessen.

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

 
 

Theuerste Mutter!

Ich muß Sie bitten, daß Sie das, was ich Ihnen sagen mußte, auf sich nehmen, und sich darüber befragen. Ich habe Ihnen einiges in der von Ihnen befohlenen Erklärbarkeit sagen müssen, das Sie mir zustellen wollten. Ich muß Ihnen sagen, daß es nicht möglich ist, die Empfindung über sich zu nehmen, die das, was Sie verstehen, erfordert.

Ich bin

Ihr

gehorsamster Sohn

Hölderlin.

Hölderlin, Briefe 1806-1843,

Große Stuttgarter Ausgabe, Sämtliche Werke,

Sechster Band, Stuttgart 1954