Brücken bauen
Der Kammerton
Ein Haus in Zürich
Leerstellen
Es wird aber kommen
Der dritte Satz
Wildwechsel
Der Halt
Acht Erzählungen
Engelsdorfer Verlag
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eISBN: 978-3-86268-319-2
1. Auflage
Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag
www.engelsdorfer-verlag.de
An einem unnatürlich milden Februarnachmittag ging Anne Reich nach langem wieder einmal in den Stadtgarten. Die ersten Kohlmeisen sandten Lockrufe aus und täuschten Frühling vor, ein paar Kaninchen hoppelten unschlüssig über die noch braunen Grasflächen. Aus der Ferne hörte man das einschläfernde Rauschen der Autobahn. Als Anne vor acht Jahren hierher gezogen war, gehörte ein Spaziergang durch den Stadtgarten zu ihrem täglichen Ritual. So begeistert war sie von der gebändigten Natur vor ihrer Haustüre, von der familiären Atmosphäre, in der sich Alt und Jung friedlich bewegten, wie sie im Sommer auf den Wiesen sich sonnten oder Federball spielten, im Winter auf dem zugefrorenen Weiher Schlittschuh liefen oder Schneemänner bauten.
Im Laufe der Jahre verlor es allerdings seinen Reiz, wie alles, was schön und selbstverständlich ist. Annes Besuche wurden seltener, nur gelegentlich, bei besonders schönem Wetter, konnte sie sich dazu noch aufraffen. Vor acht Jahren war sie frisch geschieden, und sie lebte in einem schwindlig machenden Freiheitstaumel und einem Zustand ungebremster Zuversicht.
Aber das alles war ziemlich lange her. In letzter Zeit war sie zunehmend depressiv, obwohl es eigentlich keinen Grund dazu gab. Sie hatte keine großen gesundheitlichen oder finanziellen Probleme, eine erträgliche Arbeit und einen Kreis von Menschen, in dem sie sich wohl fühlte. Warum also diese Traurigkeit? Lag es nur am Winter? Früher hatte er ihr nichts ausgemacht. Im Gegenteil, in dieser Jahreszeit war sie immer besonders aktiv gewesen. Ihr fiel ein, dass sie auch in einem Winter Milan kennengelernt hatte. Und sie sah ihn plötzlich wieder vor sich, ganz deutlich, als seien diese ganzen Jahre nichts gewesen. Sein jungenhaftes Lächeln brachte sie tatsächlich immer noch aus der Fassung. Sie atmete tief die noch ungewohnt laue Luft ein und spürte auf einmal, wie sie von einer Fröhlichkeit erfasst wurde, wie sie es lange nicht mehr erlebt hatte. Ganz leicht und jung kam sie sich vor, wie sie an den noch nicht knospenden Bäumen, den schmutzigen Schneeresten und den bedrohlich aussehenden Punks, die sich mit ihren Hunden an einem Springbrunnen niedergelassen hatten, vorbeiging.
Am Bootsanlegesteg des Weihers stand eine Gruppe älterer Männer, die heute vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahr ihren ferngesteuerten, hin und her flitzenden Segel- und Motorbötchen nachschauten. Obwohl sie offensichtlich ihrem Hobby nachgingen, war keine Freude an ihnen erkennbar. Sie standen mit leeren Mienen da, sich kaum bewegend, als seien ihre eigenen Batterien leer.
So hatte sie sich auch einmal gefühlt. In ihrer Ehe. An diese Jahre erinnerte sie sich nur noch wie an Szenen eines unbegreiflichen Theaterstücks, in dem ihr eigentliches Ich nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Wie viele Frauen ihrer Generation hatte sie ihren Beruf für die Familie aufgegeben, und ein großer Teil ihrer Energie musste dafür verwendet werden, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Es wurde im Laufe der Zeit immer schwieriger, aber es war ihr lange recht gut gelungen, sich selbst zu belügen.
Bis sie Milan kennenlernte. Von einem auf den anderen Tag stürzte sie in ein neues Leben und nichts mehr war so, wie es gewesen war.
Kurz nach Milan traf sie Paolo. Paolo war Dozent eines Spanischkurses in der Volkshochschule, zu dem sie sich in ihrer neuen, unbegrenzten Freiheit nach der Scheidung angemeldet hatte. Sie verknallte sich sofort. Es lag nicht nur an der Sinnlichkeit der spanischen Sprache, es lag auch an der blauschwarzen Haarsträhne, die ihm immer vor den Augen hing und durch die sein Blick so verheißungsvoll wirkte. Nach der ersten Unterrichtsstunde träumte sie von seinen feingliedrigen Händen, mit denen er immer wieder vergeblich versuchte, diese Strähne hinter sein rechtes Ohr zu stecken.
Er nahm sie öfter dran als die anderen Kursteilnehmer. Er lobte ihr offensichtliches Talent, die fremden Reibe- und Dentallaute auszusprechen. Die spanische Sprache, dozierte er, sei die zweithäufigste Weltsprache, und wer sie beherrsche, könne Brücken bauen zwischen vielen Völkern der Erde. Sie, Anne, sei wie geschaffen dafür. Nach der dritten Stunde ging der gesamte Kurs in ein Weinlokal, und es wurde ziemlich spät. Anne, die normalerweise früh zu Bett ging, wollte den jungen Leuten keinen Anlass geben, über ihr Schlafbedürfnis zu lästern und blieb bis zum Schluss. Außerdem gab es da eine hübsche kleine Blonde, die die spanischen Laute auch gut aussprechen konnte. Anne traute ihr alles zu. Als es ans Bezahlen ging, fand Paolo seine Geldbörse nicht und Anne streckte vor. Er gab ihr dankbar einen Hauch von Kuss auf die Wange, seine Lippen waren noch feucht vom letzten Schluck Rotwein. Sie sah den neidischen Blick der hübschen kleinen Blonden und wurde von einem sportlichen Ehrgeiz erfasst.
Als sie sich später nach dem Liebesspiel verschwitzt auf seinem Bett wiederfand, unterdrückte sie den Impuls aufzustehen, um das sie nervös machende Chaos zu beseitigen. Die auf dem Boden herumliegenden Kleidungsstücke, diverse Teller mit eingetrockneten und verschimmelten Essensresten, unzählige leere Flaschen und Weingläser und überquellende Aschenbecher.
Während der Liebe hatte sie immer an Milan denken müssen und überlegt, ob es mit ihm genauso wäre.
Sie hatte sich noch ein paar Mal mit Paolo getroffen, aber es war auf eine merkwürdige Art fade geworden. Sie hatte sich dabei wie in einem Film gefühlt, dessen Vorspann mehr versprochen hatte, als er halten konnte und man am Schluss nicht so recht wusste, ob es sich nun gelohnt hatte oder nicht.
Im Laufe der nächsten Jahre absolvierte sie noch mehrere Kurse in anderen Sprachen, und sie baute noch einige Brücken zwischen den Nationen. Immerhin hatte sie vieles aufzuholen an Leichtsinn und Lebensfreude, und sie fand es auch gar nicht mehr albern, sich wie eine junge Frau zu kleiden und zu schminken. Insgeheim jedoch war sie froh, dass ihre Tochter Julia das nicht mitbekam. Diese lebte in einem verschlafenen Nest in Amerika ein Hausfrauenleben mit drei Kindern, zwei Hunden und einem Ehemann, der großen Wert auf die Renaissance althergebrachter Ordnungen legte. Anne grauste es, wenn sie nur daran dachte.
Sie hatte eine gute Zeit gehabt. Ja doch. Aber irgendwie wurde es immer anstrengender, ständig jugendlich und frisch aussehen zu müssen. Und dann fehlte ihr auf einmal, von heute auf morgen, die Lust damit weiterzumachen. Es war nicht das, was sie suchte. Milans Sprache, ungarisch, war nie angeboten worden. Vielleicht lag es daran.
Er war ein Freund ihrer Tochter gewesen, und sie hatte ihn nur ein einziges Mal flüchtig gesehen, als er Julia einmal von zu Hause abholte.
Anne verließ die Männer mit den Spielzeugbooten und setzte ihren Rundgang fort. Die noch tief stehende Wintersonne glitzerte durch das schwarze, filigrane Geäst der Bäume und verwandelte den blassblauen Himmel in eine japanische Tuschezeichnung. Sie steuerte eine der wenigen freien Bänke an, holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Manteltasche, legte es auf die abblätternde, noch etwas feuchte Sitzfläche und setzte sich. Die noch fremde Helligkeit und Wärme der Sonne ließ sie die Augen schließen. Und es wurde ganz ruhig in ihr, so ruhig, als säße sie auf dem Grund eines tiefen Brunnens, in dem sie geborgen und sicher war. Der Gesang der Kohlmeisen, die Schreie der tobenden Kinder, die vor ihr auf der Wiese einem Ball hinterher jagten, das Bellen einiger Hunde, all das drang nur noch gedämpft zu ihr.
Milan nahm ihre Hand und sah sie an. Seine Augen hatten eine undefinierbare, zwischen blaugrün und grau changierende Farbe, und der starke Kontrast zwischen diesen hellen Augen und den schwarzen Haaren war es vielleicht, was sie damals am meisten aus der Bahn geworfen hatte. Genauer gesagt, aus dem immer nur im Kreis fahrenden Bummelzug, in dem sie in den dreiundzwanzig Jahren ihrer Ehe dahingedämmert war. Und auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie von Milan schon längst bekommen hatte, was sie brauchte: Ein freies Leben. Und dass sie nur das brauchte.
Danke, flüsterte sie.
Vor ihr auf dem Rasen schoss einer der spielenden Jungen ein Tor. Seine Mannschaft fiel begeistert über ihn her. Ihr ohrenbetäubendes Jubelgeschrei ließ Anne schmerzhaft zusammenzucken. Aber sie lachte und winkte den Kindern zu.
Vor vielen Jahren, als man noch keinen Eintritt für ein Kirchenkonzert bezahlen musste, also die Musiker noch für Gottes Lohn oder die geringen Erträge des Klingelbeutels spielten, saß eine nicht mehr junge Frau mit knochigem, blassen Gesicht und grau werdenden, straff am Hinterkopf zusammengebundenen Haaren alleine in einer Kirche. Sie saß auf dem äußersten Platz in einer der ersten Reihen, genau gegenüber des Seitenausgangs, so dass sie notfalls jederzeit aufstehen und gehen konnte, ohne unangenehm aufzufallen. Sie hatte das zwar noch nie getan, aber die Möglichkeit, es tun zu können, beruhigte sie. Ihr gefiel es auch, mindestens eine Stunde vor Konzertbeginn auf ihrem Platz zu sein, die Atmosphäre der Stille in sich aufzunehmen und an nichts zu denken.
Diesmal waren noch nicht einmal die Musiker da, um sich einzuspielen oder notwendige Einzelheiten zu besprechen. Nur ein kleiner, dicklicher Mann war, kurz nachdem sie sich hingesetzt hatte, gekommen und hatte sich um die Kabel der Mikrofone und anderes technisches Zubehör gekümmert und dann eine ganze Weile die Stecker mehrmals hintereinander in verschiedene Steckdosen gesteckt und wieder herausgeholt, so als passten sie nicht richtig, oder als wüsste er nicht, wo sie genau hingehörten. Dabei hatte er ihr mehrmals misstrauische, ja fast aggressive Blicke zugeworfen. Er sah nicht aus wie ein Techniker, eher wie ein Bäcker, fand sie, denn er schien mit einer dünnen, weißlichen Schicht überzogen, fast wie Mehl, und er trug ein zu großes, weißes Leinenhemd locker über einer hellen Hose, auch seine Haare waren wie ausgeblichen. Aber vielleicht sah das ja nur so aus, weil er sich die ganze Zeit während seines Herumhantierens im staubigen Lichtschein der schräg durch die schmucklosen weißen Kirchenfenster fallenden Abendsonnenstrahlen befand, und so alle Farben eliminiert wurden. Als er mit seiner Arbeit fertig war, drehte er sich zu ihr herum und sah sie einen langen Moment fast drohend an, als wolle er sagen, sie solle bloß nirgendwo dran gehen und sein mühseliges Werk zerstören. Dann ging er mit grantigem Gesicht in die Sakristei, machte geräuschvoll die Türe zu und war verschwunden.
Sah sie etwa so aus, als sei sie in der Lage, hier eine Art von Sabotage zu betreiben? Wahrscheinlich verwechselte er sie mit jemand anderem. Wider Willen war Sybille belustigt. Es war überraschend, aber es tat gut, belustigt zu sein. Sie hätte nicht geglaubt, dass sie dazu jetzt in der Lage wäre. Vor sechs Tagen war Jochen, ihr Mann, gestorben. Es war ein langes Sterben gewesen, ein mühseliger Prozess, der vor zwei Jahren angefangen und sie langsam zermürbt hatte. Während dieser Zeit hatte sie es aber gar nicht so empfunden, ihr ganzes Sinnen und alle Energien waren auf Durchhalten programmiert gewesen. Sie hatte ihn rund um die Uhr zu Hause gepflegt, hatte ihn gefüttert und gewaschen und neben seinem gemieteten Krankenhausbett geschlafen, um mitzubekommen, wenn er keine Luft mehr bekam und ihm dann schnell Sauerstoff zuzuführen. Auch tagsüber war sie kaum aus dem Haus gewesen, nur gelegentlich, wenn sich die eine oder andere Bekannte bereit erklärt hatte, sie für ein paar Stunden abzulösen. Ihre eigenen Bedürfnisse waren im Laufe der Zeit völlig aus ihrem Bewusstsein verschwunden, und heute morgen, bei der Zeitungslektüre, als sie die Ankündigung zu diesem Konzert las, erinnerte sie sich daran, dass sie ja früher immer gerne zu Kirchenkonzerten gegangen war, und sie hatte gedacht, es könne sie heute vielleicht ein wenig trösten. Doch jetzt, als sie hier saß, wurde ihr bewusst, dass es vielleicht unschicklich sein könnte, noch bevor Jochen unter der Erde war, solch eine öffentliche Veranstaltung zu besuchen. Würde es nicht so aussehen, als trauere sie nicht? Aber die Meinung der Leute war ihr doch immer gleichgültig gewesen. Auch daran musste sie sich wieder erinnern.
Sybille wurde aus ihrer Versunkenheit aufgeschreckt, als die schwere Kirchentüre knarrend aufging und sie gleichzeitig mit dem Eindringen der Außengeräusche – dem hellen Rauschen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt, dem Plockplock, wenn sie über den losen Gullideckel vor der Kirche fuhren, eine rufende Kinderstimme, begleitet von einem Fahrradklingeln – auch ein lautes Reden und Lachen eintretender Leute hörte. Es waren mehrere Personen, die da redeten und lachten, aber eine Stimme erkannte sie augenblicklich heraus: Es war unverkennbar Daniel, ihr Sohn, den sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Im ersten Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden, sie wankte, aber sie fing sich und verharrte bewegungslos, während ihr Kopf, ganz unabhängig von dem Schmerz, der sie fast zerriss, blitzschnell und klar alle Möglichkeiten durchspielte, wie sie jetzt reagieren könnte. Sie könnte aufstehen und zu ihm gehen und ihn ansprechen, oder sie könnte sitzen bleiben und darauf warten, dass er sie sähe, und sie würde ihn dann ansehen, als sei sie sich keiner Schuld bewusst, sie könnte aber auch aufstehen und möglichst unbemerkt gehen, ohne sich zu erkennen zu geben. Dann jedoch gewann ein anderes Gefühl die Oberhand: Angst. Denn alle Möglichkeiten waren riskant.
Er könnte ihrem Annäherungsversuch ablehnend begegnen, er könnte unfreundlich sein oder sogar barsch, er könnte, falls er zu ihr käme, sie zur Rede stellen, und sie wüsste dann nicht, was sie antworten sollte. Er könnte sie aber auch – und das wäre das Schlimmste – ignorieren, mit Verachtung strafen und so tun, als kenne er sie nicht. Und da wusste sie, dass sie gar nichts tun konnte von dem, was sie erwogen hatte. Sie war gar nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als einfach nur sitzen zu bleiben und abzuwarten, was jetzt geschähe.
Sie hatte sich von Klaus, seinem Vater, getrennt, als Daniel vier Jahre alt war. Sie war in einen anderen Mann verliebt gewesen und mit ihm nach Kanada gegangen. Natürlich hatte sie immer vorgehabt, Daniel nachzuholen, aber ihr Leben war so aufreibend und wechselhaft gewesen, dass sie es nie geschafft hatte. Es hatte sich einfach nie ergeben. Sie hatte sich schuldig gemacht, das war ihr natürlich immer bewusst gewesen, aber sie hatte Kontakt gehalten mit ihm und Klaus, war auch anfangs noch hin und wieder gekommen, um sie zu besuchen, aber es war mit der Zeit immer seltener geschehen. Von verschiedenen Freundinnen, die in der Nachbarschaft wohnten und deren Kinder in den gleichen Kindergarten und später in die gleichen Schulen wie Daniel gingen, hatte sie immer gehört, dass er offensichtlich ein frohes Kind war und sich normal entwickelte. Nur zu gerne hatte sie es geglaubt, obwohl ein nagender Zweifel daran immer gegenwärtig war. Aber auch von Klaus hörte sie am Telefon jedes Mal von Daniels Fortschritten. Vor allem klang immer durch, dass niemand sie vermisste, dass sie nicht gebraucht wurde. Zuerst tat es weh, das zu hören, später gewöhnte sie sich daran.