Knut Waldau · Helmut Betz
Berge sind stille Meister
Knut Waldau · Helmut Betz
Berge sind
stille Meister
Spirituelle Begleitung
auf dem Weg durchs Gebirge
KÖSEL
Einleitung
Der Weg durchs Gebirge
Gehen
Wege am Wasser
Stille
Leere
Weite
Ausgesetztheit
Übergang
Gipfel
Bergnacht
Abendstimmung
Praxis unterwegs
Vier Tourenvorschläge
Durch die Texelgruppe –ein Weg der Übergänge
Über dem Virgental – karg und weit
Durchs urweltliche Karwendel – wilde Schönheit
Durchs Rätikon – ein langer Weg
Mit einer Gruppe unterwegs – Hinweise für Leiterinnen und Leiter
Gestaltung der Tage
Sicherheit und Ausrüstung
Anhang
Literatur
Bildnachweis
Kontaktadressen
In den dunsterfüllten Niederungen
unseres täglichen Lebens haben wir
unseren Zusammenhang mit Sternen
und Sonnen vergessen.
Lama Anagarika Govinda
Einleitung
Das weiche Morgenlicht weckt mich,
ich schleiche zurück zu der Hütte und bemerke
die Schönheit der Berge.
Mir laufen die Tränen hinunter.
Meine Angst und Unrast der vergangenen Tage
ist einem Gefühl der Erschöpfung und
Gelassenheit gewichen. Das erste Licht
der Berge, wie weich, wie rötlich, welche Kraft.
Für Momente habe ich das Gefühl,
wunschlos zu sein, ich glaube,
man nennt das Glück.
Reinhard Karl
Das Gebirge ist wie ein neuer Raum. Wir treten ein und spüren eine ihm eigene Atmosphäre. Sie durchströmt diese Landschaft und erfüllt den gesamten Raum der Berge. Und wenn wir einige Zeit dort bleiben, erleben wir, dass eine Wirkung von ihr ausgeht.
Das, was in den Bergen ist, lässt sich schwer benennen. In der außergewöhnlichen Atmosphäre dieses Raumes und seiner Wege verstummen Menschen. Sie staunen und suchen nach Worten, um Blicke zu beschreiben, die sich festlegenden Begriffen entziehen, weil sie einfach fassungslos sind, zu flüssig, zu weit, zu weich. Und es ist noch nicht zu Ende geschaut. Viele dieser Bilder und Gedanken aus den Bergen wirken weiter, auch wenn der Weg schon an seinem Ende ist. Sie hören nicht auf zu fließen.
Das erste Licht der Berge. Auch nach unzähligen Touren für Reinhard Karl eine Erfahrung, die nie zur Gewohnheit wird. Und so staunt er an jenem Morgen über diese Welt, als habe er noch nie zuvor die Sonne aufgehen sehen.
Die Frage nach Gott
Es war nie leicht, als Mensch von Gott zu wissen oder gar irgendetwas über ihn denken oder sagen zu wollen. Aber es gibt Orte, an denen die Frage nach Gott, das Gebet, die Suche nach der Wahrheit aufgehoben sind – leere, stille, zeitenthobene Plätze, in funktionaler Hinsicht nutzlos, der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Es liegt etwas Entgrenzendes und Erkenntnisweitendes in der Atmosphäre dieser Orte.
Solch ein Raum ist auch das Gebirge. Wie weite Meere und ausgedehnte Wüsten ist es entlegen, einsam, still und in eindeutiger Weise für uns Menschen unbeherrschbar und unverfügbar. Im Unterschied aber zu diesen gleichermaßen gewaltigen Landschaften ist das Gebirge geprägt durch die vertikale Raumdimension und Linienführung. Das Unterwegssein ist eine wechselnde Bewegung in die Höhe und Tiefe, ein Durchsteigen verschiedener Vegetations- und Klimastufen im Aufstieg, im Überschreiten von Pässen und im Erreichen eines Endpunktes am Gipfel, an dem es nicht mehr weiter nach oben geht. Stärker als bei anderen Landschaften bestimmen Übergänge und Grenzüberschreitungen das Unterwegssein im Hochgebirge. Erfahrungen, die auch Lebenswege durchlaufen und begleiten.
Das Gehen in dieser Welt der Grenzen und Ausblicke verändert das Denken und Fragen. Eindringlicher als andere Landschaften vermittelt das Gebirge einen Transzendenzbezug – die Erfahrung also eines ergreifenden Wissens von der Tiefe des Seins und des Lebens. An dieser Grenze werden Menschen sprachlos, staunen, fragen und verstummen wieder. Oder sie weinen.
Was sind Bergexerzitien?
Exerzitien haben eine lange Tradition. Unter dem Begriff Exercitia spiritualia waren im Mittelalter Übungen gemeint, die der Vertiefung des geistlichen Lebens dienen. Neben dem Gebet, der Meditation biblischer Texte und der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswirklichkeit, sind Achtsamkeit, die Erfahrungen der Einsamkeit und Stille wesentliche Elemente dieses geistlichen Weges. Es ist eine Zeit, um Raum zu schaffen, für das, was mich in meiner Tiefe bewegt: Begegnungen, Erfahrungen, Fragen, Bilder, Worte.
Exerzitien brauchen Zeit. Die klassischen ignatianischen Exerzitien dauern vier Wochen, aber schon Ignatius hat davon abweichende Formen als legitime Adaptionen vorgesehen. Bei Bergexerzitien führt dieser Weg der geistlichen Vertiefung durchs Gebirge. Das Gehen und Steigen ist ein integraler Teil der Exerzitien. Zwei grundlegende Voraussetzungen sind in den Bergen für Exerzitien gegeben:
Ein Ort für die Frage nach Gott
Dieses Buch ist für alle, die in den Bergen etwas erfahren haben, was sie bindet an diese Welt jenseits der Ebenen – eine ungekannte Tiefe, Stille, Weite, eine Nähe zum Leben, vielleicht zu Gott. Und es ist ein Buch für alle, die das Gebirge entdecken wollen. Nicht nur die ausgewiesenen Gipfel und bergtouristischen Sehenswürdigkeiten, sondern auch das, was ihnen auf dem Weg widerfährt. Schließlich ist es ein Begleitbuch für Gruppenleiter, die selbst Bergexerzitien oder spirituelle Bergtage anbieten wollen.
Für Bergexerzitien empfiehlt sich ein Zeitraum von mindestens fünf Tagen. Bleiben Sie nach Möglichkeit in diesen Tagen im Gebirge, und steigen Sie nicht am Ende jedes Tages wieder ins Tal ab.
Die Texte dieses Buches eignen sich selbstverständlich auch als Begleitung auf kürzeren Touren in den Bergen. Oft ist schon ein langer Tag im Gebirge eine sehr eindrückliche Erfahrung. Für einen Exerzitienprozess aber braucht es mehr Zeit als einen Tag.
Sie können Bergexerzitien allein oder in einer Gruppe durchführen. Beides ist gut möglich und hat seinen je eigenen Charakter. Sind Sie allein, ist der Weg durchs Gebirge weit stärker noch als das Unterwegssein in der Gruppe geprägt durch Erfahrungen von Ausgesetztsein, Tiefe, Stille, Weite, Einsamkeit, vielleicht auch Angst. Diese Form von Bergexerzitien ist eine herausfordernde Grenzerfahrung. Sie sollten sich vor Aufbruch genau überlegen, ob Sie sich dieser intensiven Einsamkeitserfahrung aussetzen wollen und wie Sie im Falle eines Unfalls schnell Hilfe bekommen können. Es empfiehlt sich, einen nicht allzu abgelegenen Weg zu wählen.
Ob Sie bei Bergexerzitien diesen Raum in den Tagen des Gehens als voll, leer, faszinierend, furchterregend, weit, eng, verletzend oder heilend erleben, bleibt offen. Und ebenso, ob und wie in diesen Tagen auf die immer wieder verändert auftauchende Frage nach Gott eine Antwort gefunden wird. Eine Erfahrung kann nicht vorherbestimmt, willkürlich initiiert oder gar erwartet werden. Wir bestimmen nicht Weise, Ort und Zeit einer Erfahrung, sie widerfährt uns vielmehr.
Durchs Buch
Das folgende Kapitel bildet den Hauptteil des Buches. Wir haben für unseren Weg durchs Gebirge zehn Themen ausgewählt. Es sind Orte und Stimmungen, die wir mit der besonderen Atmosphäre in den Bergen verbinden. Jedem Abschnitt vorangestellt ist ein ausgewählter Text, der in das Thema einführt. Sollten Sie selbst als Leiter Bergexerzitien für eine Gruppe veranstalten, finden Sie zudem weiteres Textmaterial in den einzelnen Abschnitten.
In vielen dieser zehn Teile gibt es zudem eine Anregung für eine meditative Übung zum Thema. Es handelt sich hier um einen Vorschlag; vielleicht finden Sie auch ganz andere Wege, auf denen Sie ein beschriebenes Thema auf sich wirken lassen können.
Vier Vorschläge für jeweils fünftägige Touren und Anregungen zu praktischen Fragen finden Sie im Kapitel Praxis unterwegs.
Wir haben diese Texte auch zur Begleitung für unterwegs zusammengestellt. Nehmen Sie das Buch also mit, wenn Sie in den Bergen unterwegs sind. Gehen Sie mit diesem Buch. Sie werden andere Entdeckungen machen als bei der Lektüre zu Hause.
Der Weg durchs Gebirge
Gehen
Wir interpretieren unser ganzes Leben immer wieder am Leitfaden der ursprünglichen, urtümlichen Erfahrung unseres alltäglichen Gehens. Wir gehen und wir sagen durch dieses ganz physiologische Gehen allein schon, dass wir erst noch wirklich ankommen müssen, noch das Ziel suchen und wirklich Pilger sind, Wanderer zwischen den Welten, Menschen im Übergang (…) erfahrend, dass man nicht immer dort ankommt, wohin der Gang geplant war. In dem schlichtesten Gehen, das der Gang des Wissenden und Freien ist, ist so das ganze Dasein des Menschen eigentlich schon da (…).
Karl Rahner