Fabian Vogt

Kirchengeschichte(n) für Neugierige

Das kleine Handbuch großer Ereignisse

Fabian Vogt, geboren 1967 in Frankfurt am Main, ist Schriftsteller und Künstler, wenn er nicht gerade als promovierter Teilzeit-Theologe kreative Ideen für „kirchliche Kommunikationskonzepte“ entwickelt – oder seine Leidenschaft für Geschichten auf der Kabarettbühne auslebt („Duo Camillo“). Für sein Roman-Debüt „Zurück“ wurde er mit dem „Deutschen Science Fiction-Preis“ ausgezeichnet, zudem hat er mehrere Kleinkunstauszeichnungen erhalten. Fabian Vogt lebt mit seiner Familie im Vordertaunus.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3. Auflage 2016
© 2013 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

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Umschlaggestaltung: Anja Haß, Frankfurt am Main

Buchgestaltung/Satz: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverabbildung: Thees Carstens

Autorenfoto: Nicole Kohlhepp © 2011 Gemeinnützige MEDIENHAUS GmbH, Frankfurt/M.

ISBN 978-3-374-03601-1

www.eva-leipzig.de

Für alle,

die in Geschichten eintauchen

wie in ein Meer.

Inhalt

Titel

Impressum

Vorwort

Einführung: Eine kleine Reise durch 2000 Jahre

Flüsterpropaganda

Die Erfolgsgeschichte der Urgemeinde

Als der Glauben laufen lernte

Das theologische Ringen der ersten Jahrhunderte

Von der Lust an der Macht

Nach der Konstantinischen Wende

Gnade dir Gott!

Die Theologie des Augustinus

Eine Heidenarbeit

Die Geheimnisse der Germanenmission

Christliche Ritter und ritterliche Christen

Erhellendes aus dem dunklen Mittelalter

Ein schwerer Anschlag

Reformatorische Umstürze

Glaub doch, was du willst!

Der Schock der Aufklärung

Erweckung und Erschreckung

Die geistlichen Trends des 19. Jahrhunderts

Krieg und Frieden

Die Kirchenkämpfe des 20. Jahrhunderts

Wegweisendes zum Schluss

Register

Vorwort

Warum erlebte der christliche Glaube eigentlich so einen kometenhaften Aufstieg? Wie entstand das Glaubensbekenntnis? Weshalb sangen die Christinnen und Christen, als sie in den römischen Arenen den Löwen vorgeworfen wurden? Wann zogen die Missionare erstmals nach Deutschland? Besser gesagt: ins wilde Germanien? Wie war das noch mal genau mit den Kreuzzügen, den Hexenverbrennungen und der Inquisition? Ach ja, und nicht zu vergessen: Warum saß Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, obwohl er doch das schöne Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ geschrieben hat? Beziehungsweise: Wer war das überhaupt?

Klingt ein bisschen wie in einer dieser zahlreichen, schrillen Quizshows. Oder? Obwohl, da lauten die Aufgaben eher so: Ist „Origenes“ ein Pizzagewürz? Wer bestellte die Reformation? Kann man „Hugenotten“ essen? Und wann werden sie geerntet? Gilt „Pietismus“ in der Medizin als Nebenform des Autismus? Und natürlich: Ist die „Ringparabel“ wirklich ein Hochzeitsgedicht? Oder bezieht sie sich eher auf Richard Wagner? Nun, spätestens jetzt denken die meisten Leute zu Recht: Was hat das alles mit mir zu tun?

Fragen über Fragen. Und mal ganz ehrlich: Bei einigen dieser merkwürdigen Themen macht es vielleicht im Hinterkopf ganz leise „Klingeling“ (Moment mal! Genau: Gab es da nicht in grauer Vorzeit im Geschichtsunterricht so eine komische Unterrichtseinheit, oder nee, da lief doch mal so ein reißerischer Blockbuster mit Brad Pitt – oder war es Til Schweiger? Egal!). Aber wie das mit der Kirchengeschichte genau war, das wissen die wenigsten. Schade eigentlich. Finde ich. Weil Kirchengeschichte hinreißend sein kann. Wirklich!

Da haben Menschen 2000 Jahre lang unfassbar bewegende Erfahrungen gesammelt – wunderbare und grausame, dramatische und beflügelnde – und damit eine große „Schatzkiste“ gefüllt: mit Emotionen, Ängsten, Hoffnungen, Träumen, Sehnsüchten und Enttäuschungen. Kurz: mit dem prallen Leben. Mit allen Dimensionen des Daseins. Und vor allem: mit allen Dimensionen des Glaubens. Und diese Erlebnisse und Erkenntnisse sind wertvoll. Sehr sogar. Weil sich die grundsätzlichen Herausforderungen des Lebens ja nicht wirklich ändern – auch wenn die Jünger Jesu angesichts eines Smartphones oder einer Ray-Ban-Brille sicherlich direkt in Ohnmacht oder in den See Genezareth gefallen wären.

Ich behaupte mal ganz dreist: Schon immer sucht die Menschheit nach dem, was ein Leben wertvoll und heil macht. Heute würde man die dahinter liegende Sehnsucht wohl etwas lakonischer als die „Suche nach Glück“ bezeichnen. Ja, die ganze Kirchengeschichte ist letztlich eine große Erzählung von unzähligen, bisweilen leider völlig missglückten Versuchen, endlich glücklich sein zu können. Und möglicherweise – sogar sehr wahrscheinlich – können wir viel von den reichhaltigen Erfahrungen unserer Vorfahren lernen. Von dem, was sie richtig gemacht haben. Aber auch und gerade von dem, was sie alles falsch gemacht haben. Denn manche der Fehler, die man bei anderen erkennt, kann man dann selbst vermeiden (wenn auch nicht alle!).

Dieses „Kleine Handbuch großer Ereignisse“ möchte die einzigartige Schatzkiste der Kirchengeschichte öffnen. Und das nicht – wie es so einige unter uns traumatisch erlebt haben – in der Aneinanderreihung historischer Zahlen. Dabei war das mit den Zahlen immer so neckisch. Erinnern Sie sich: „Drei – drei – drei, bei Issos Keilerei.“ Nur: Was war das noch für eine Keilerei? Und: Passierte sie 333 vor oder nach Christus? Ich fürchte: Zahlen alleine öffnen den Deckel dieser verwunschenen Schatzkiste nicht. Im Gegenteil. (Vielleicht spricht man ja deshalb auch von „Zahlenschloss“.) Nein, ich bin überzeugt, dass der wahre Schlüssel zur Schatzkiste der Vergangenheit die Geschichten sind. Ja, die Geschichte erschließt sich über die Geschichten – über die konkreten Erzählungen markanter und wegweisender Momente der Historie, in denen wir erkennen, was bestimmte Persönlichkeiten damals motiviert, frustriert oder geprägt hat. Es sind die großen Legenden, die Mythen, die Schilderungen von Schicksalen, in denen der wahre Geist einer Epoche, einer Umbruchzeit oder einer großen wegweisenden Idee spürbar und erfahrbar wird. Deshalb heißt dieses Buch „Kirchengeschichten für Neugierige“. Es erzählt Geschichten aus der Kirchengeschichte, die unsere Neugier befriedigen – und uns zugleich auch neugierig machen wollen: Was kann ich mir von den Menschen des frühen 4. oder des späten 15. Jahrhunderts abgucken? Und ich garantiere Ihnen: Es ist mehr, als man denkt.

Schlaumeier haben sich jetzt schnell noch mal das Inhaltsverzeichnis angeschaut und bemerken zu Recht: „Augenblick mal! Zehn Kapitel? Nur zehn Kapitel! Das geht gar nicht. Da wird es doch massive Lücken geben. Man kann doch nicht in zehn historischen Stippvisiten die Fülle von 2000 Jahren Kirchengeschichte darstellen.“ Stimmt. Das kann man nicht. Und das gestehe ich schon hier im Vorwort ein. Wer ein umfassendes Kompendium des kirchenhistorischen Geschehens seit Christi Geburt haben möchte, den muss ich auf die herrlichen Bibliotheken unserer Hochschulen und die Buch-Bestände vieler kirchlicher Institutionen verweisen. Darin findet man sehr kluge und tiefgehende Untersuchungen zur „Machiavellistischen Territorialpolitik prämoderner Despoten in Südkatalonien“, zum „Ekklesiologischen Verständnis der Zwickauer Propheten unter Gender-Aspekten“ oder zur „Anzahl der heimlichen Mätressen von Karl dem Großen nach seiner Kaiser-Krönung im Jahr 800“.

Ich habe selber während des Studiums ähnliche Arbeiten verfasst – und halte sie auch für wichtig. In diesem Buch geht es mir aber eher darum, anhand geschichtlicher Schlüsselmomente zentrale Zusammenhänge deutlich zu machen. Eben: dem „Geist“ einer Epoche nachzuspüren. Die entscheidenden Wende- und Angelpunkte vor Augen zu führen. So, wie eine alte, schlichte Weisheit der Filmbranche sagt: „Wenn du als Regisseur deinen Zuschauern die Schrecken des Krieges nahebringen willst, dann darfst du nicht riesige Schlachtfelder inszenieren, dann musst du einen leidenden Soldaten in Großaufnahme zeigen. Und wenn du die Schönheit des Glaubens verdeutlichen willst, dann filme nicht euphorische Massen, sondern ein erleuchtetes Gesicht.“ Filmleute lernen, wie man Inhalte vermittelt. Und bekommen dafür oftmals den Rüffel, sie würden zu stark „elementarisieren“, sprich: vereinfachen. Ich persönlich halte „Elementarisierung“ allerdings in einer Zeit immer komplexerer Lebensperspektiven inzwischen für ein Lob. Weil ich ja als Normalsterblicher überhaupt erst anfange, mich intensiver für ein Thema zu interessieren, wenn mich ein Aspekt davon vorher in verständlicher Form angesprochen hat. Und „Verständlichkeit“ ist zum Glück etwas ganz anderes als „Banalität“. Ich wünschte mir, dass wir mehr Mut hätten, das „Schwere leicht zu sagen“, wie der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch es einmal ausgedrückt hat.

Sprich: Eingefleischten Historikern mag meine Darstellungsweise in mancherlei Hinsicht zu grob sein. Und ich lasse auch viele Aspekte aus. Sehr viele sogar. Das macht aber nichts. Meine „Kirchengeschichten“ sind kein Buch für habilitierte Wissenschaftler, sondern für Neugierige. Für all diejenigen, die Lust auf einen charmanten Überblick haben, der es ihnen ermöglicht, in Zukunft die wesentlichen geschichtlichen Entwicklungen besser einordnen zu können und die großen gesellschaftlichen Epochen mit ihren jeweiligen Grundfragen zu kennen – und eben danach zu schauen, welche Phänomene in all dem Ringen der Jahrhunderte letztlich zeitlos sind, weil sie auch im 3. Jahrtausend nach Christus genau so wieder auftauchen.

Vielleicht sind manche existentiellen Fragen heutzutage ein bisschen postmoderner verkleidet, also in einem anderen Gewand, aber im Kern bewegen sie uns genauso wie damals. Und das gilt besonders für Glaubende. Ja, ich wage zu behaupten, dass gerade der Blick in die Vergangenheit der Christenheit viel darüber sagt, warum unsere Kirche heute so ist, wie sie ist, und wie man wohl in Zukunft glauben kann oder soll. Gerade, weil so manche Diskussion, die in den Kirchenleitungen oder in den Medien geführt wird, schon viel mehr als einmal geführt wurde – etwa im 3., im 8. und im 14. Jahrhundert. Und da könnte man sich doch einfach mal ein wenig von unseren Vorgängern inspirieren lassen.

Warum hat dieses markige Büchlein den anmaßenden Titel „Handbuch“? Ganz einfach: Möchte man im 21. Jahrhundert irgendwoher Antworten bekommen – etwa weil der Computer kryptische Warnmeldungen ausspuckt, das Auto fürchterlich quietscht und qualmt, ein unbekanntes, zwei Meter langes Reptil im Garten herumkriecht oder die Liebesbeziehung in die Weltfinanzkrise gerät – dann besorgt man sich … genau: ein Handbuch. Zum Nachschlagen. Zum Informieren. Und zum Lösungen finden. Nun, das, was Sie gerade in den Händen halten, versteht sich in diesem Sinn als Handbuch. Eben eines der Kirchengeschichte. Und es hat den festen Willen, ihre Fragen zu beantworten: Fundiert, hilfreich, übersichtlich und dabei fröhlich verschafft es einen ersten Überblick über die grandiose (und manchmal auch sehr abschreckende) Entwicklung einer kleinen Bewegung begeisterter Jesus-Fans zu einer der größten und einflussreichsten Institutionen der Welt. Vom überschaubaren Jünger-Kreis zur einflussreichen Weltkirche. Vom feurigen Pfingstereignis zum vernetzten Machtapparat. Und vom charmanten Aufbruchsgeist der Frühzeit bis zur enttäuschten Säkularisation der Neuzeit. Wissbegierige können dieses Buch gerne in einem Rutsch durchlesen, andere schauen vielleicht mit einem speziellen Interesse erst einmal nur eine bestimmte Thematik an. Beides ist erlaubt und möglich.

Ich wünsche mir, dass Ihnen „Kirchengeschichten für Neugierige“ Lust macht, den Schatz von 2000 Jahren geballter Lebenserfahrung (neu) zu heben, den bisweilen etwas vergammelten Deckel der Truhe zu öffnen, den Anblick der Kostbarkeiten zu genießen – und sich auch etwas herauszunehmen. Denn dazu sind Schatzkisten ja da. Behauptet jedenfalls der Pirat in mir. Mir jedenfalls geht es immer wieder so, dass mich das Ringen bedeutender Persönlichkeiten um den rechten Glauben anspornt, meine eigene Spiritualität zu überprüfen. Oder dass ich plötzlich verdutzt feststelle, dass da jemand schon vor 1000 Jahren etwas begriffen hat, das mir bislang nicht zugänglich war. So kann das Eintauchen in die Kirchengeschichte auch dem eigenen Glauben gut tun.

Eine anregende Lektüre wünscht

Fabian Vogt

Einführung

Eine kleine Reise durch 2000 Jahre

Die Reise in die Vergangenheit beginnt gleich. Keine Sorge. Doch bevor wir uns einige besonders prägnante Wegmarken der Kirchengeschichte genauer anschauen, sollten wir eine nette philosophische und nicht ganz unwichtige Frage ansprechen: Wiederholt sich die Geschichte eigentlich immer wieder (wie manche Menschen ganz überzeugt behaupten) – oder geht sie von jeher einen geradlinigen Weg? Das ist wichtig. Und es ist für Ihre Lektüre von zentraler Bedeutung. Denn von der Beantwortung dieser Frage hängt es ja ab, ob und wie man überhaupt von den Erfahrungen der Vergangenheit lernen kann. Außerdem stehen dahinter auch andere, nicht weniger knifflige Herausforderungen – wie zum Beispiel diese hier: Hat sich die Menschheit eigentlich als Ganzes in den letzten 2000 Jahren weiterentwickelt oder nicht? Spannende Frage, oder? Was denken Sie? Fortschritt, ja oder nein?

Ich meine: Einerseits sind die Lebenserwartung und die materielle Versorgungssicherheit in großen Teilen der Welt seit dem römischen Großreich deutlich gestiegen (obwohl die damals auch schon Einkaufszentren, Sportstadien, hochkarätige Theaterinszenierungen und Toiletten mit Wasserspülung hatten). Trotzdem würden wir wohl spontan sagen: Heute geht es den Menschen besser. Deutlich besser sogar. Dazu kommt: Zumindest im Westen denken wir längst global, sind aufgeklärt und emanzipiert und sterben nicht mehr so leicht an Grippe. Außerdem haben wir edel gestaltete Waschmaschinen, Wurstwärmer, Nasenhaarentferner, Tablet-PCs und Nintendos. Und die meisten Menschen, die heute in einer Demokratie leben, wünschen sich auch keinen absolutistischen Staat zurück. Klingt also erst einmal ganz verlockend. Klingt nach einem: „Ja, die Menschheit hat Fortschritte gemacht!“

Andererseits fanden die (nicht nur zahlenmäßig) verheerendsten Kriege und die brutalsten Völkervernichtungsaktionen der Weltgeschichte in den letzten 100 Jahren statt. Puh! Zudem war der Planet Erde noch niemals so sehr von Vernichtung bedroht wie in unserer Zeit, in der Umweltverschmutzung, Raubbau und Klimawandel wahrhaft jahrtausendealte Gleichgewichte zu vernichten drohen. Und mancher behauptet auch, dass der heutige Finanzmarkt nichts anderes sei als eine Fortführung des prämodernen Raubrittertums mit anderen Mitteln – nur dass die heutigen Geldjongleure nicht nur fahrende Kaufleute, sondern ganze Staaten in den Abgrund reißen. Und dann könnte man auch festhalten: „In mancherlei Hinsicht hat die Menschheit sogar Rückschritte gemacht!“

Das heißt: Ob ein kleiner Köhler mit elf Kindern im alten Griechenland, ein mittelalterlicher Minnesänger auf der Wartburg oder eine Marketenderin im 17. Jahrhundert wirklich mehr oder weniger glücklich waren als wir, lässt sich nur äußerst schwer feststellen – und auch aus heutiger Sicht kaum beurteilen. Abgesehen davon, dass die moderne Suche nach dem individuellen Glück, die uns von morgens bis abends auf Trab hält, damals insgesamt noch gar nicht so bedeutsam erschien. Wir müssen also sehr achtsam überlegen, woran wir so etwas wie „Entwicklung“ eigentlich festmachen. Und das wird – ob wir wollen oder nicht – immer auch damit zu tun haben, was uns selbst im Leben bedeutsam erscheint und was nicht.

Die grundsätzliche philosophische Diskussion darüber, ob die Menschheit in ihrer Geschichte Fortschritte macht oder ob sie nur zu mehr Bequemlichkeit tendiert, kann und will ich hier gar nicht führen. Ich möchte nur die Augen dafür öffnen, dass es nicht so leicht ist, Geschichte unter den Aspekten „gut und böse“ oder gar unter „besser und schlechter“ zu betrachten. Weil es dafür keine endgültigen Kriterien gibt. War das Leben früher besser oder schlechter? War es einfacher oder schwerer? Na klar: Wir freuen uns, dass wir heute kein Holz mehr hacken müssen. Aber gefühlte 257 E-Mails am Tag zu beantworten, ist auch kein Zuckerschlecken. Und selbst, wenn es früher im Alltag in vielerlei Hinsicht anstrengender war, war es dann zugleich weniger erfüllt? Wer weiß das? Und auch bei dieser Frage kann man den Horizont gut auf die Ebene der Theologie ausweiten: Natürlich freue ich mich darüber, dass ich heute in Glaubensfragen historisch-kritisch und in großer Freiheit meinen eigenen Weg suchen kann. Aber dann lese ich plötzlich jahrhundertealte Gebete und denke: „So einen starken Glauben möchte ich auch gerne haben!“

Lassen Sie uns also unsere Ausflüge in die Vergangenheit unvoreingenommen und vorsichtig unternehmen. Nur weil Menschen früher anders gedacht, gehandelt und gehofft haben als wir, sind sie deshalb nicht automatisch besser oder schlechter. Ich betone das, weil viele Menschen (mich eingeschlossen) dazu neigen, auf frühere Zeiten „vom hohen Ross“ herabzuschauen – um einmal einen tradierten Ausdruck zu benutzen. Ja, ich ertappe mich selbst gelegentlich dabei, dass in meiner Vorstellung das „dunkle Mittelalter“ (wie es die „Humanisten“ nannten) oder das „finstere Germanien“ (Zitat von Bonifatius) schon vorab in ein düsteres und fahles Licht getaucht sind. Dann denke ich leicht süffisant: „Mann, muss das alles grau und dunkel gewesen sein!“ Dabei hat damals genauso die Sonne geschienen wie heute. Und es wurde sicherlich auch nicht weniger gelacht und gefeiert.

Dass wir bei der Beurteilung früherer Epochen achtsam sein sollten und wir die Frage nach dem Fortschritt (zumindest hier) nicht eindeutig klären können, heißt allerdings nicht, dass es keine Muster gäbe, mit deren Hilfe sich geschichtliche Ereignisse auch miteinander vergleichen lassen. Solche Muster gibt es natürlich, und es ist äußerst sinnvoll, sie zu kennen, weil sie helfen, die Wahrnehmung von Geschichte zu strukturieren. Nebenbei: Wenn ich hier im Weiteren von „Mustern“ rede, dann meine ich damit prägnante gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, die beschreibbaren Gesetzen gehorchen.

All diese Muster verhalten sich nach dem bekannten Grundsatz von „Aktion und Reaktion“. Was ist damit gemeint? Nun: Eine historische „Aktion“, etwa ein Veränderungsprozess, reagiert immer auf bestimmte, vorhandene Umstände. Das heißt konkret: Ein „Zeitenwandel“ geschieht nicht spontan und aus heiterem Himmel, sondern wird durch irgendetwas ausgelöst. Es gibt einen guten Grund dafür, dass sich etwas ändert. Sprich: Jede Aktion basiert auf einer Reaktion. Ein Beispiel: Oftmals erleben wir am Ende einer Epoche eine massive Unzufriedenheit in einigen Bevölkerungsgruppen, die so mächtig wird, dass die alten Zustände nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Dann reagieren innovative Vordenker mit neuen Lebensmodellen und lösen dadurch „Bewegungen“ aus, die im Weiteren zu einer neuen Epoche führen. (Die allerdings ihrerseits wiederum nach kurzer Zeit für Gegenreaktionen sorgen. Und so weiter.) Weil diese großen Entwicklungsprozesse das eigentlich Spannende an der Geschichte sind, ist es wichtig, nicht nur zu wissen, was zu einer bestimmten Zeit geschehen ist, sondern auch warum. Und es ist dabei hochinteressant zu sehen, wie bestimmte gesellschaftliche Ausprägungen einander quasi abwechseln. Ja, es gibt einige Themen, die seit Jahrhunderten zwischen zwei gegenüberliegenden „Polen“ hin und her schwenken. Immer und immer wieder.

Die frühen Christen etwa waren in den ersten Jahrhunderten sehr gemeinschaftsorientiert, weil sie als unterdrückte Minderheit im Römischen Reich ihre Stärke vor allem aus dem intensiven Miteinander bekamen. Als Reaktion auf diese reizende Kleingruppen-Mentalität gab es dann bald starke Kräfte, die alles daran setzten, das Christentum zu einer gesellschaftlich anerkannten Größe zu machen. Und tatsächlich: Kaum war das Christentum im 4. Jahrhundert Staatsreligion geworden, verlor „die kleine Gemeinschaft“ in den Gemeinden merklich an Bedeutung. Christsein war plötzlich legal und öffentlich, so dass man den ursprünglichen Kuschel-Club nicht mehr brauchte. Jetzt fing die christliche Glaubensgemeinschaft an, sich vor allem um öffentliche Handlungsfelder wie Politik und Macht zu kümmern. Als Reaktion darauf gab es dann wiederum starke Kräfte, die alles daran setzten, den Glauben neu an das persönliche Miteinander von Kleingruppen zu binden. So entstand wenig später das Mönchtum. Ja, man versteht das Mönchtum erst dann richtig, wenn man es als Gegenreaktion zu einer oberflächlich gewordenen Kirche erkennt, die den Reiz der engen Gemeinschaft zu verlieren droht.

Tatsächlich kann man sagen: Die Entwicklung der christlichen Kirche pendelt seit 2000 Jahren zwischen diesen beiden Polen hin und her: Einmal kommt eine Epoche, in der der nach innen orientierte Gemeinschaftscharakter des Glaubens im Vordergrund steht, dann kommt eine Epoche, in der vor allem der äußere, politische Charakter des Christentums präsent ist. Ja, betrachtet man die 2000 Jahre des Christentums strukturiert, dann kann man wunderbar beobachten, wie die Waage mit den beiden Schalen „Innere Gemeinschaft“ und „Äußere Gesellschaft“ stetig hin und her schwingt. Hin und her. Hin und her. Kleine Gruppe. Große Politik. Kleine Gruppe. Große Politik. Bis in unsere Zeit. Nebenbei: Wenn man das weiß, dann man kann sich auch mal frech fragen, was wohl im Deutschland des 21. Jahrhunderts demnächst zu erwarten ist.

Im Folgenden habe ich Ihnen als Vorgeschmack auf unsere historischen Ausflüge einige der prägnantesten dieser Muster mitgebracht und stelle sie Ihnen kurz vor. Es handelt sich – wie bei „Kleingruppe versus Machtapparat“ jeweils um klar erkennbare Gegensatzpaare, um starke Positionen, zwischen denen die Kirche (bzw. die gesamte Gesellschaft) im Lauf der Jahrhunderte in großen Wellenbewegungen gewechselt hat. Sich diese zeitlosen Muster bewusst zu machen, hilft – nach meiner Erfahrung – vielfach, die großen Veränderungsprozesse innerhalb der Kirche bewusster wahrzunehmen und die umfassenden geschichtlichen Linien besser zu verstehen. Und sie sind als Fragestellungen so universell, dass wir sie auch heute noch überall in unserem Alltag wiederfinden. Fangen wir an!

Ideen versus Begriffe

Die scheinbar höchst skurrile Frage, was relevanter ist, die abstrakte Idee von etwas (beziehungsweise: der allgemeine Begriff, die ideale Vorstellung) oder der einzelne konkrete Gegenstand, beschäftigt als „Universalienstreit“ die Gemüter seit Jahrtausenden. Sprich, was hat den Vorrang: das „Prinzip“ (das meinen die sogenannten „Realisten“) oder das fassbare „Objekt“ (das meinen die sogenannten „Nominalisten“). Dieser alte Streit klingt zwar völlig abgehoben, wird aber ganz konkret, wenn man etwa folgende Fragen stellt: Was ist wichtiger: „Das Wesen Gottes zu verstehen“ oder „Den Glauben an Gott konkret zu leben“? Es mag erstaunlich klingen, aber über diese Frage wird bis heute heftig gerungen. Und je nachdem, welche Frage Ihnen wesentlich erscheint, wird auch Ihr Glaubensleben aussehen. Noch ein Beispiel. Was ist für Christinnen und Christen wichtiger: „Das allgemeingültige Gesetz Gottes“ oder die „Umsetzung von Gottes Gesetz in der Alltagspraxis“? Und was ist, wenn das manchmal nicht hundertprozentig zusammenpasst? Ich behaupte: Viele heftige Kontroversen in Kirchengemeinden lassen sich nach wie vor auf genau jene unterschiedlichen Perspektiven herunterbrechen: Den einen geht es um das Prinzip, den anderen um die praktische Anwendbarkeit im Alltag. Und wir werden in diesem Buch sehen, dass die Christenheit zwischen diesen beiden Polen andauernd hin- und herwechselte.

Gesetz versus Evangelium

Geht es im Christentum vor allem darum, ein gottgefälliges Leben zu führen – oder steht im Vordergrund die erlösende Gnade Gottes, die alle Menschen befreien will? Da brauchen wir gar nicht erst in die Geschichte zu schauen, um anschauliche Beispiele für dieses Muster zu finden, da fallen uns höchstwahrscheinlich sofort unzählige eigene Erfahrungen ein, in denen wir Konflikten begegnet sind, die damit zu tun haben. Die einen stellen das Gesetz in den Mittelpunkt, die anderen die Vergebung. Konkret heißt das: Nach wie vor ist die Welt voller moralinsaurer Glaubensgruppierungen, voller meist ungeschriebener Gemeindeordnungen, die das Heil des Menschen letztlich doch von seinem Verhalten abhängig machen („Du bist geschieden, dann bist du draußen!“ „Du bist homosexuell, dann bist du draußen!“ „Du bist theologisch nicht unserer Meinung, dann bist du draußen.“), während andere Konfessionen sich in einer derart lässigen Weise auf die Vergebung berufen, dass es auf einmal ganz gleichgültig zu sein scheint, wie und ob man überhaupt noch verantwortungsvoll lebt („Gott liebt mich doch auch, wenn ich ein blödes Sackgesicht bin! Wozu soll ich mich anstrengen?“). Einige der größten Entwicklungsschritte der Kirchengeschichte haben mit diesem komplexen Muster zu tun (etwa die Reformation, die der Gesetzlichkeit der damaligen Amtskirche die Botschaft von der „Gnade allein aus Glauben“ entgegenschleuderte) und ließen die Kirche einmal in dieses, einmal in jenes Extrem verfallen. Dieses Muster offenbart aber auch ein echtes Dilemma, weil es zeigt, dass weder die eine noch die andere Position in ihrer extremen Form korrekt sein müssen. Und gerade dann, wenn sowohl Haltung A als auch Haltung B in ihrer Reinform den Glauben gefährden, ist die Kirche immer wieder von einem Extrem ins andere gerutscht.

Bewahren versus Erneuern

Gerade Institutionen wie die Kirche neigen dazu, sich an ihren bewährten, überlieferten Traditionen festzuklammern oder in unruhigen Zeiten gar längst vergangene Werte wieder aufzuwärmen