„Wenn du ein Schiff bauen willst, so fange nicht damit an, Holz zu sammeln, Planken zu schneiden und die Arbeit einzuteilen, sondern erwecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Diese Sehnsucht, von der Antoine de Saint-Exupéry schrieb, packt viele Menschen seit langer Zeit. Schon aus der Geschichte der Völker sind uns Wanderungen und Reisen bekannt, die nicht nur auf Gründe wie Eroberungen, Vertreibungen, Hungersnot, Handel oder dergleichen zurückzuführen sind, sondern auf das Bedürfnis des Menschen, die Welt kennenzulernen und freiwillig die Heimat für eine kürzere oder längere Zeit zu verlassen.
Sehnsucht nach der Fremde
Manche spüren ein Fernweh, ohne es genauer erklären zu können, sitzen gern an der Schifffahrtslinie oder auf der Aussichtsterrasse am Flughafen und schauen den in die Ferne strebenden Transportern nach. Vielen reicht die Ahnung von der Welt, die sie dabei bekommen; von fernen Orten und seinen exotischen Menschen, von unbekannten Düften und dem anderen Klima. Andere wollen es selbst erleben und machen sich auf den Weg.
Distanz schaffen
Einige langweilen sich in ihrem Alltagstrott und suchen eine Abwechslung, eine Flucht aus dem Alltag. Andere brauchen Distanz zu ihrem Umfeld, ihren Beziehungen und wollen im Schutz einer räumlichen Distanz Dinge für sich klären. Dies kann auch für jene gültig sein, die beruflich überfordert, unzufrieden oder ausgelaugt sind und eine Auszeit benötigen, um die Zukunft zu überdenken.
Reisen regelt den Abstand zu Alltagsfragen. Man kann sich auch entspannen, Kraft tanken und „Bilder und Farben, Düfte und Geräusche sammeln“ für die trübe Zeit. Für manche bedeutet Reisen Freiheit von Verpflichtungen. Andere genießen die Freiheit durch die Anonymität am anderen Ort.
Zelten in der Antarktis
Manche verbinden Reisen mit Herausforderungen, die sie teilweise sogar an ihre Grenzen treiben können. Hier handelt es sich um Extremreisen unter schwierigen Konditionen oder um das Überwinden der eigenen Ängste, etwa bezüglich des Fliegens, Tiefseetauchens oder vor gefährlichen Tieren. Die eigenen Kräfte und Grenzen werden getestet, der Adrenalinspiegel wird hochgefahren. Bei einigen motiviert der Gedanke, etwas zu tun, das nur wenige getan haben, zum Beispiel in der Antarktis bei minus 50 Grad im Zelt zu übernachten. Manche wollen einfach ihr komfortables, technologiegesteuertes Leben für eine Zeit aufgeben und erleben, wie sie mit sehr einfachen, reduzierten Lebensumständen zurechtkommen.
Das Ausprobieren der eigenen Improvisationstalente in einer fremden Umgebung, das Spüren von Entfernungen, das Eintauchen in eine andere Kultur, Menschen aus anderen Regionen oder Ländern kennenzulernen oder bei Reiseberichten mitreden zu können sind weitere Beweggründe für Reisen. Fremd sein reizt alle fünf Sinne – und damit umzugehen ergibt ein anderes Körpergefühl.
Reisen als Privileg
Das Reisen kann sogar zu einer Lebensform werden. Längere Aufenthalte an einem Ort sind nicht mehr erwünscht oder auch gar nicht mehr erträglich. Es muss immer weitergehen. Viele Menschen, die beruflich mehr unterwegs sind als zu Hause, erleben dies nicht als Belastung, sondern als ein Privileg, als einen Kick.
Ob es um eine Urlaubsreise oder einen längeren Aufenthalt geht, ist nach Saint Exupéry ein gut durchdachtes „Schiffsbauprojekt“. Die sorgfältige Vorbereitung, gepaart mit Begeisterung, ist eine gute Voraussetzung für das Gelingen der Reise.
Manche Reisen dauern Jahre. Die Gründe für einen längeren Auslandsaufenthalt sind vielfach. Bereits im 19. Jahrhundert sind viele Menschen von Europa nach Amerika oder Australien aufgebrochen. Sie waren auf der Suche nach einem besseren Leben, das hieß nach materiellem Wohlstand und religiöser Freiheit. Andere verließen ihre Heimat einfach aus Abenteuerlust und Neugierde. Damals hatten die Reisenden viel in Kauf zu nehmen: wochenlang auf Schiffen unterwegs zu sein; den Stürmen, der Kälte, den mangelnden hygienischen Bedingungen zu trotzen. Viele litten Hunger und wurden krank. Manche haben es in ihr Zielland nicht geschafft.
Auch heute treibt es viele Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben ins Ausland. Sie haben sowohl negative als auch positive Gründe.
Laut Angaben der Evangelischen Beratungsstelle in Hamburg kommen auch immer mehr Menschen mit eher seltenen Berufen zur Beratung, da der Arbeitsmarkt in Deutschland für sie wenig bereithält.
Weniger Stress – mehr Balance
Eines betrifft alle: Sie sind auf der Suche nach der Balance im Leben und erhoffen sich im Ausland weniger Stress und mehr Chancen und Zeit für sich und die Familie.
Für manche Personen, die auswandern möchten, mögen sozialpolitische oder demografische Entwicklungen hier und diverse Trends, die das Zielland verspricht zu realisieren, ausschlaggebend sein.
Einen guten Überblick über die Trends in den verschiedenen Ländern liefert das Länderprofil des Statistischen Bundesamtes, www.destatis.de.
Welche Gründe die Menschen auch bewegen, alle werden eine ähnlich radikale Lebensveränderung und einen mühsamen Neuanfang vor sich haben.
Es ist vor der Entscheidung sehr wichtig, über die persönlichen Gründe nachzudenken,
die Heimat verlassen zu wollen und einen Wechsel zu riskieren. Weder eine „rosa Brille“
noch eine „schwarze Brille“ helfen Ihnen wirklich!
Fragen Sie sich deshalb:
Sollten Sie aus persönlich-privaten, eher negativen Gründen, wie belastende Eheprobleme oder Schulschwierigkeiten der Kinder, auswandern wollen, ist aus psychologischer Sicht davon eher abzuraten. Ihre Probleme verschwinden durch den Umzug nicht, sondern verstärken sich oft sogar. Bereits unter der anfänglichen Belastung in einem fremden Land werden die Paarbeziehung und die Familie insgesamt noch mehr herausgefordert. Auch Kinder können Anpassungsschwierigkeiten an das neue Schulsystem, an die neue Klasse sowie an die Sprache haben. Alle Familienmitglieder sind mit sich beschäftigt und haben vielleicht weniger Kraft füreinander.
Sollten Sie überlegen, mit Ihrem Partner einige Jahre ins Ausland zu gehen, obwohl Sie selbst nicht davon überzeugt sind, bleiben Sie besser hier. Sonst könnte es dazu kommen, dass Sie voreingenommen sind und alles durch eine „schwarze Brille“ betrachten. Ihre Unzufriedenheit wird Ihren Partner belasten und Ihre Beziehung zusätzlich stressen.
Nach der Eingewöhnungsphase in einem fremden Land lauern noch immer Schwierigkeiten, die sich irgendwann in einem Kulturschock äußern können oder im Heimweh zeigen. Auf diese Erfahrungen gehen wir im Kapitel 6 näher ein.
Gehen Sie grundsätzlich davon aus, dass Sie etwa doppelt so viele Anstrengungen (Zeit,
Nerven und Geld) benötigen, als zunächst angenommen. Manche müssen auch damit rechnen,
beruflich auf einem viel niedrigeren Niveau anzufangen, als ihre Qualifikation es
vorsieht. Seien Sie realistisch mit Ihren Ausreisegründen und informieren Sie sich
so ausführlich wie möglich über das Zielland, um Illusionen vorzubeugen. Der Informationsdienst
des Bundesverwaltungsamtes (s. Anhang) kann zur Klärung beitragen. Lassen Sie sich
professionell beraten, um eine objektive Sicht der Dinge einzuholen, denn Ihre eigenen
Probleme schleppen Sie mit, egal wohin Sie reisen. Diese bittere Erfahrung haben
schon viele machen müssen.
Aber wenn Sie Ihre Entscheidung zum Auswandern gut durchdacht und von allen Seiten betrachtet haben, werden Sie diesen Schritt sicherlich nie bereuen! Das können wir Ihnen aus eigenen Erfahrungen bestätigen.
2007 äußerten sich bei einer Umfrage des Instituts Management Consult 16 Prozent der Deutschen positiv zu der Idee auszuwandern (Hamburger Abendblatt, 10.2.07). Darunter waren sehr viele selbstständig Tätige, die sich eine neue Existenz im Ausland aufbauen wollten. Noch ist in Deutschland aber nicht zu befürchten, dass zu viele qualifizierte Menschen das Land verlassen, wie es zum Beispiel in Polen bereits kritisch diskutiert wird. Die Süddeutsche Zeitung hat sich des Themas „Arbeiten im Ausland“ angenommen und bietet darin viele nützliche weiterführende Links und Adressen von Anlaufstellen.
Eine besondere Gruppe von Menschen, die im Ausland arbeiten, sind Entwicklungshelfer/innen. Das Entwicklungshelfer-Gesetz (EhfG) setzt bei Entsende- und Empfängerorganisationen bestimmte Kriterien voraus, damit diese vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) für die Entwicklungszusammenarbeit anerkannt werden.
Der Reiz für Entwicklungshelfer/innen besteht darin, dort unterstützend einzugreifen, wo Bedarf an praktischer Zusammenarbeit besteht, um die Bevölkerung vor Ort zu unterstützen, ihre Lebenssituation zu verbessern, die lokalen Fachkräfte weiterzubilden und langfristig für qualifizierte einheimische Arbeitskräfte zu sorgen. Durch ihr Wissen und ihre Erfahrungen können sie dort, wo eigenes Fachpersonal nicht oder nur in unzureichendem Maße vorhanden ist, einen wertvollen Beitrag leisten und Solidarität mit den Menschen in den jeweiligen Ländern zeigen.
Große Herausforderungen im Entwicklungsdienst
Daneben gibt es natürlich auch die Erfahrung, in vollkommen anderen Lebensumständen zu leben, die meistens sehr viel einfacher und asketischer sind als in der Heimat. Mit extremen klimatischen Verhältnissen, ungewohnten hygienischen Bedingungen und fremder Nahrung zurechtzukommen, hohe körperliche Belastungen und emotionale Anstrengungen auszuhalten, aber insbesondere die vielen belastenden Anblicke bewältigen zu können, die häufig mit dem Einsatz im Entwicklungsdienst einhergehen, sind harte Herausforderungen. Jede Person, die sich für so einen Dienst entscheidet, muss eine gute physische und psychische Gesundheit mitbringen. Es gibt hier ähnliche „K.o.-Kriterien“ wie bei Auswanderern und Expatriates: Zu ausgeprägter Idealismus, reine Lust auf Abwechslung und Abenteuer oder auch persönliche oder berufliche Probleme als Ausgangslage und Motivation für den Einsatz sind Alarmzeichen und hindern daran, offen und sensibel auf neue Herausforderungen einzugehen.
Ein besonderes Arbeitsfeld der Entwicklungsdienste ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Sowohl hier als auch bei den Internationalen Freiwilligendiensten ist die Motivation für ein soziales Engagement im Ausland die wichtigste Voraussetzung.
Bei allen diesen Auslandseinsätzen müssen Sie vorher überlegen, ob Sie Ihren festen
Arbeitsplatz in Deutschland wirklich kündigen möchten und wie es nach der Rückkehr
für Sie weitergehen könnte. Hierbei sollten Sie Ihr Alter und die Entwicklungen auf
dem Arbeitsmarkt berücksichtigen. Wichtig ist ebenfalls die Situation der begleitenden
Partner/innen und Kinder sowie die Auswirkungen einer Wohnungskündigung oder -auflösung.
Reisenden fallen zwischen einzelnen Ländern viele kulturelle Unterschiede auf. Dazu gehören zum Beispiel das Klima und die Bauweise von Häusern, die Kleidung und die Speisen, die Sprachen und die Art der Kommunikation. Alles ist zunächst anders als gewohnt. Manches gefällt uns, manches nicht. Für jene, die sich vorübergehend in einem anderen Land aufhalten, ist die Andersartigkeit entweder von geringerer Bedeutung oder sogar von speziellem exotischem Reiz. Wer aber längerfristig oder für immer in einem anderen Land, einer anderen Kultur leben möchte, sollte sich mit dem Einfluss der Landeskultur auf das eigene Verhalten beschäftigen und nicht sagen: Wie einfach wäre es, wenn alle so wären wie ich!
Mit Kultur ist nicht nur Musik, Bildende Kunst und Literatur gemeint. Menschen in
verschiedenen Regionen der Welt unterscheiden sich wesentlich in ihrem alltäglichen
Verhalten, in ihrem Umgang mit Zeit und Raum, in der Art ihrer privaten und beruflichen
Beziehungen, in der Wertschätzung von Sport oder Arbeit und im Arbeitsstil, in der
Vorstellung von Status und Macht, von Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit, im Umweltbewusstsein
und so weiter. Das hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der geografischen
Lage des Landes (Wasser, Berge, Wüste, Dschungel und vieles mehr). Auch die Geschichte,
die dominierende Religion und die politische Kultur, die wirtschaftlichen Interessen
und die Sprache gehören zur Kultur eines Landes. All dies beeinflusst die Art zu
denken und Probleme zu lösen, Weiblichkeit und Männlichkeit zu definieren oder Ideale
zu bestimmen. Ein guter kultureller Indikator sind zum Beispiel Witze, die man am
ehesten in der Heimat versteht – wegen der Sprache und der vertrauten Symbolik.
Wie groß die Unterschiede zwischen den Kulturen sind und wie sehr Kultur unsere Wahrnehmung, unser Denken und Verhalten beeinflusst, wird uns erst bewusst, wenn wir mit einer anderen Kultur konfrontiert werden. In einem fremden Land ist es leichter möglich, die Perspektive zu wechseln und in die Haut der anderen, der uns Fremden zu schlüpfen. Wir sind plötzlich selbst die Fremden. Dies wirkt wie ein Spiegel, in dem wir uns manchmal doch sehr deutsch (oder bayrisch, alt und erfahren oder auch unerwartet unerfahren) erkennen.
Vielleicht kennen Sie das längst von Ihren Reisen oder aus der Zusammenarbeit mit
Kolleginnen und Kollegen, die anders sind als Sie: Dadurch dass die anderen anders
sind als wir selbst, merken wir erst, wie wir sind und was uns wichtig ist!
Vereinfacht kann man sagen, dass unsere Sozialisation, wo und wie wir aufgewachsen sind, eine Brille formt, durch die wir die Welt wahrnehmen und deuten. Es ist, als ob wir durch eine eingebaute kulturelle Linse die Welt betrachten. Oft fühlen wir uns fremd in der neuen Umgebung. Manchmal sind wir dem Fremden gegenüber feindlich eingestellt. Diese Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) findet man auch unter vermeintlich weltoffenen Menschen.
Wie heißt „Schnee“ in Indonesien?
Eine Person, die in Alaska aufgewachsen ist, hat vielleicht große Schwierigkeiten, die Sichtweise und das Verhalten von jemandem aus Indonesien zu verstehen, da ihre Sozialisation und ihre geografische Umgebung gänzlich unterschiedlich gewesen sind. In den jeweiligen Landessprachen gibt es viele Wörter, die nicht übersetzbar sind, da zum Beispiel Schnee in Indonesien oder Dschungel in Alaska nicht vorkommt. Wenn wir bedenken, dass das, was in einer Kultur überliefert wird, manchmal sogar lebenswichtig ist, kann Kultur als das Know-how für den Alltag betrachtet werden. Australische Aborigines, die in der Wüste leben, haben Pflanzen zu erkennen gelernt, deren Wurzeln Nahrung oder Wasser bergen. Sie kennen auch die Stellen, wo Wasser zu vermuten ist, und Raupen, die ihnen Nahrung geben. Wer in den kanadischen Schneegebieten überleben will, muss Schnee- und Eisverhältnisse richtig deuten können und sich danach gezielt verhalten.
Was ist „normal“?
Wir alle verarbeiten Information (zum Beispiel das, was wir sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen) nach den Mustern, die wir als Kind gelernt haben. Wir (meinen zu) wissen, was im familiären und beruflichen Verhalten gut und richtig ist. Oder wie man sich kleidet, welche Schulen gut sind, welche Diskussionsthemen oder Freizeitaktivitäten gerade angesagt sind; was normal, schön, verboten, erstrebenswert etc. ist. Woanders auf der Welt werden unsere Kategorien oft infrage gestellt, was viele verunsichern und ärgern wird. Das ist zunächst normal, kann aber auch zu einem Kulturschock führen. Es ist, als wenn Sie bei einem gut bekannten Spiel plötzlich mit neuen undurchschaubaren Regeln konfrontiert werden. Sie wundern sich und fragen sich: „Was geschieht hier? Warum spielen die ganz anders als wir? Unsere Regeln sind doch normal und die richtigen!“
Wenn Sie aber das Anderssein im anderen Land als eine positive Herausforderung und nicht als Bedrohung oder Angriff sehen, werden Sie viel Freude bei der Entdeckung anderer Kulturen haben! Auch das bestätigen wir gern.
Geert Hofstede, einer der bekanntesten Kulturforscher, definiert Kultur als die kollektive Programmierung des Geistes, welche die Mitglieder einer Gruppe von Menschen von einer anderen unterscheidet. Durch unsere Kultur werden wir programmiert, ohne dass es uns bewusst ist. Die eingebaute Linse, durch die wir die Welt betrachten, verzerrt zwangsläufig das, was wir sehen, vergleichen und bewerten, danach, wie wir es für richtig halten.
Kultur
Es gibt sichtbare und unsichtbare Kulturen. Hofstede benutzt für die Beschreibung von Kulturen das Modell von einem Eisberg, dessen größere Hälfte unter Wasser versteckt ist. Die Kultur einer Nation ist für Fremde nur teilweise sichtbar und kann nur anhand von Verhaltensmustern und Symbolen beobachtet werden. Die das Verhalten steuernden Werte und Normen dieser Nation sind aber nicht sichtbar und daher zu Anfang schwieriger zu verstehen. Erst bei einem „Tauchgang“ lernt man die Grundmuster dieser Kultur und ihrer Werte und Normen kennen.
Was bedeutet das für Sie, wenn Sie auswandern?
Sie müssen Geduld haben, bis allmählich ein Verstehen der Kultur Ihres Gastlandes möglich ist und das Leben dadurch leichter wird. Mit den beobachtbaren Dingen wie Sprache, Kunst, Musik, Traditionen und Gebräuche, Architektur und Essgewohnheiten ist es einfacher zurechtzukommen. Doch Lebenseinstellungen, gesellschaftliche Regeln, Normen und Tabus sowie Gesetzgebungen sind nicht gleich beobachtbar und daher schwerer zu entziffern. Gerade hier lauern Fettnäpfchen oder sogar Vorzeichen für einen Kulturschock.
Eine gute Basis für das Kennenlernen und Verstehen einer fremden Kultur ist die Kenntnis der eigenen Kultur, das Bewusstsein über die eigenen Denk- und Verhaltensmuster. Eine gute Übung dafür ist das Eisbergmodell. Zeichnen Sie einen deutschen Eisberg mit den typischen Merkmalen der deutschen Kultur. Bei der Überlegung, was sichtbar und was unsichtbar ist, erweitern Sie Ihre Kenntnisse über Ihre eigene Kultur. Dies ist ein wichtiger Schritt im Aufbau Ihrer interkulturellen Kompetenz.
Unsere mentalen Dateien
Zu den „eingebauten Wahrnehmungsfiltern“ gehören auch Stereotype oder Vorurteile, die jeder Mensch hat. Wir brauchen sie als „Dateien“, um neue Informationen zu verarbeiten und mit unseren Kenntnissen oder Erfahrungen zu vergleichen. Treffen wir zum Beispiel einen Amerikaner, graben wir in unseren „mentalen Notizen“ und verhalten uns entsprechend den gespeicherten Daten über Amerikaner. Somit sind wir zwar auf den Amerikaner eingestellt, gleichzeitig aber auch in unserem Verhaltenrepertoire eingeschränkt. Vielleicht entspricht dieser Amerikaner gar nicht unseren Vorstellungen und stereotypen Erwartungen. Diese „mentalen Dateien“ haben dennoch eine positive Funktion, da sie uns helfen, Kulturen oder Nationalitäten einzuordnen. Aber sie können auch auf falscher Information basieren, Vorurteile verstärken, unsere Wahrnehmung einengen und zu Verallgemeinerungen führen. Diese Denkmuster beeinflussen unsere Einstellung zu Gruppen allgemein (die Amerikaner/innen sind …), zu Unternehmen oder zu Religionen (Muslime sind ...). Deshalb ist es wichtig, sich der eigenen Stereotype bewusst zu sein und sie revidieren zu können. Dies setzt höchste Selbstkritik und Aufgeschlossenheit voraus.
Beim ersten Treffen sehen wir immer nur das, was die Spitze des Eisberges präsentiert. Erst bei fortgeschrittener Auseinandersetzung mit einer Person oder einer Organisation merken wir die tiefer liegende und verborgene Kultur.
Unterschiedliche Kulturen und Subkulturen
Neben der dominierenden Landeskultur gibt es in jedem Land regionale Kulturen, die sich zum Beispiel zwischen Nord- und Süddeutschland und Ost- und Westdeutschland oder dem Norden und dem Süden der Vereinigten Staaten deutlich unterscheiden. Weitere Unter- oder Subkulturen sind in Stadtteilen und Nachbarschaften, Sportgruppen und Vereinen, religiösen Gemeinschaften, Ausbildungsstätten und Berufsgruppen zu finden oder werden auch geschlechts- oder altersspezifisch definiert. Unternehmen und Organisationen haben wiederum ihre eigene Leitkultur und diverse offizielle und inoffizielle Subkulturen. Familien pflegen ihre eigenen Traditionen. Sie sehen, der Kulturbegriff ist sehr komplex!
Interkulturelle Kompetenz trägt zum Weltfrieden bei
Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, konstruktiv und sensibel mit Menschen aus anderen Kulturen umzugehen. Den Unterschied zwischen den Interaktionspartnern wertschätzend und respektvoll wahrzunehmen ist die Basis dafür. Ein Mangel an kulturellem Verständnis und Respekt führt oft zu Konflikten, Frustrationen, gespannter Zusammenarbeit, Zeitverlust, schlechten Leistungen, erhöhten Kosten und verlorenen Chancen. Daher gehört die interkulturelle Kompetenz heute zu den wichtigsten Einstellungskriterien in internationalen Firmen. Aber sie trägt auch zur Völkerverständigung und zum Weltfrieden bei – ein äußerst wertvoller Nebeneffekt. Es gibt kaum noch größere Unternehmen, deren Belegschaft nur einer Nationalität angehört. Das tägliche Zusammenarbeiten mit ausländischen Kollegen, länderübergreifende Teamarbeit und Fusionen von zwei internationalen Partnern gehören zur heutigen Arbeitswelt. Diese Entwicklung wird zukünftig noch voranschreiten. Dies ist ein weiterer wichtiger Grund, auf die eigene interkulturelle Kompetenz Wert zu legen und diese zu verbessern.
Die Vielfalt managen
Multikulturelle Teams bergen Missverständnisse und Konflikte aufgrund der Unterschiedlichkeit der Mitglieder. Kulturelle Diversität ist aber auch ein Vorteil für das Team, da in der Vielfalt der individuellen Hintergründe und Erfahrungen auch ein Reichtum an kreativen, unkonventionellen Problemlösungen und Ideen enthalten ist. Wenn diese kulturelle Vielfalt klug genutzt wird, profitieren davon sowohl die Mitarbeiter/innen als auch das Unternehmen. Diesen noch relativ neuen Führungstrend nennt man Diversity Management, Management der Vielfalt. Viele internationale Projekte, die fachlich und strategisch sehr gut vorbereitet waren, sind gescheitert, weil menschliche Faktoren (kulturelle, personale und Kommunikationsfaktoren) nicht berücksichtigt wurden. Bei Betriebsfusionen zeigen sich schnell Schieflagen, wenn vorher nicht Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Ablehnung des Fremden berücksichtigt wurden und die interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiter/ innen nicht durch ein Diversity Management gefördert wurde.
Für das Berufsleben sind Studien von Richard Lewis, einem britischen Kulturforscher, besonders interessant. Er hat selbst in sehr vielen Ländern gelebt hat und spricht eine große Anzahl von Sprachen. Er teilt die Kulturen der Welt in drei grobe Kategorien ein, in die linearen, die multiaktiven und die reaktiven Kulturen. Entsprechend diesen Kategorien ist etwa die Einstellung zur Nutzung von Zeit sehr unterschiedlich, was ganz erhebliche Konflikte in der Zusammenarbeit, insbesondere im Geschäftsleben, verursachen kann. In linearen Kulturen wird die Zeit auf einer Achse (von Vergangenheit über Gegenwart in die Zukunft) betrachtet und häufig in Geld gemessen. Nach einer groben Einschätzung gehören Nordeuropa mit Deutschland, Österreich und der Schweiz, mit Großbritannien und Irland, aber auch Australien und Neuseeland, Kanada und die USA dazu. Hier lieben es die Menschen, eine Aufgabe nach der anderen zu erledigen; Uhren und Tagesordnungen geben das Tempo vor. Diese Kulturen können als aufgabenorientiert oder vertragsorientiert bezeichnet werden.
Lineare Kulturen
Beziehungsorientierte Länder
Die Zeit wird in manchen asiatischen Kulturen als zyklisch erlebt, sie wird als unendlich gesehen und als etwas, das immer wieder kommt. Sowohl die Jahreszeiten als auch die Tageszeiten kehren im Zyklus immer wieder. Was jetzt nicht zu erledigen ist, kann ein anderes Mal, einen anderen Tag, nächstes Jahr oder im nächsten Leben geschehen. In der Reinkarnation (Wiedergeburt) von Leben und Zeit gibt es immer wieder eine neue Gelegenheit.
Ein weiterer Unterschied liegt in der individualistischen und kollektivistischen Orientierung. Sind individuelle Bedürfnisse wichtiger als die der Gruppe, zählt also auch individueller Erfolg mehr als das Gruppenergebnis? Personen von individualistischen Kulturen, wie die amerikanische oder die nordeuropäische, sind meistens mehr aufgabenorientiert, während Menschen in kollektivistischen Kulturen, wie manche asiatischen oder die südeuropäischen und lateinamerikanischen, eher beziehungsorientiert sind. Das beeinflusst die Zusammenarbeit einer multikulturellen Gruppe und die Vorgehensweise im Team. Selbstverständlich sind nie alle Menschen in einer Kultur gleich in ihrem Verhalten. Es kann also sein, dass Sie zwar in Deutschland aufgewachsen sind, aber in vielen Aspekten eher einer multiaktiven oder beziehungsorientierten Kultur entsprechen.
Die Motivation, welche die Menschen antreibt, ist höchst unterschiedlich:
Wie sind Sie? Was ist Ihnen wichtig?
Selbstverständlich wirkt sich die kulturelle Orientierung auch auf den Führungsstil aus. Hierarchische Ebenen sind in kollektivistischen Kulturen gewöhnlich viel ausgeprägter als in den individualistischen. Der Einfluss von Kultur auf das Geschäftsverhalten zeigt sich nicht nur im Führungsstil, sondern auch in der Formalität des Umgangs miteinander, etwa in Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, im Einhalten von Verträgen und Fristen, in der Vorbereitung auf Meetings. Die lokale Kultur bestimmt auch die Sitzordnung im Raum, wie Geschäftspartner/innen angesprochen werden (Vorname oder Nachname, mit oder ohne Titel), wie Informationen weitergegeben werden (transparent oder verschlüsselt), wie Konflikte entstehen und wie sie gelöst werden.
Bei Ihrer Entscheidung für ein Einwanderungsland müssen Sie auch diese Unterschiede berücksichtigen, damit Sie wissen, worauf Sie sich in der Zusammenarbeit mit den Einheimischen und mit anderen Zugereisten einlassen. Die kulturellen Unterschiede und deren Bedeutung im Alltag sollten nicht unterschätzt werden. Die Programmierung bezüglich der Einstellung gegenüber der Zeit macht sich im gesamten Lebensstil der Menschen bemerkbar. Auch im sozialen Umgang zeigen sich unterschiedliche Gebräuche, die Fremde oft verwirren. Zwei Beispiele: Es ist gut zu wissen, dass in China und vielen anderen Ländern Gäste selten nach Hause eingeladen werden, da die Wohnungen zu beengt oder bescheiden eingerichtet sind. Wird man dagegen nach Hause eingeladen, wie zum Beispiel in Finnland, sollte man darauf vorbereitet sein, die Straßenschuhe an der Tür stehen zu lassen. Vielleicht werden Sie sogar in die private Sauna eingeladen.
Um sich in einer fremden Kultur wohlzufühlen, ist es wichtig, Kulturen beschreiben zu lernen, statt sie zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Kultur ist in jedem Land die Grundlage für den nationalen Stolz.
In islamischen Kulturen bestimmt die Religion alle Bereiche des Lebens. Personen, die dorthin auswandern möchten, sollten das wissen und sich mit dem Islam beschäftigen. Auch in den oben genannten traditionellen Einwanderungsländern wie Australien, Neuseeland, Großbritannien und in den USA finden Sie Muslime, Hindus, Buddhisten oder Orthodoxe, die Ihre Vermieter oder Ihre Kollegen sein können.
Verhaltensformen werden je nach Land und Kultur als angebracht oder unangebracht angesehen. So sind in manchen Ländern Zärtlichkeiten – sogar einfacher Körperkontakt – in der Öffentlichkeit verboten oder die linke Hand wird nicht zum Essen benutzt. Insbesondere im Bereich der nonverbalen Kommunikation wie Gestik und Mimik, Nähe oder Begrüßungen gibt es große Unterschiede, die man kennen sollte.
Wenn Sie das akzeptieren und diesen Unterschieden mit Neugierde begegnen, haben Sie ein spannendes Lernfeld mit interessanten Entdeckungen vor sich.
Und wenn Sie einerseits Ihre eigene Kultur kennen, auch die Vorurteile und Ängste bezüglich fremder Länder und Menschen, und den Einfluss auf Ihre Wahrnehmung der Welt erkennen; wenn Sie andererseits ausreichend Informationen über das Zielland und Sprachkenntnisse haben sowie eine tolerante, respektvolle, nicht bewertende Haltung fremden Kulturen gegenüber mitbringen, dann sind Sie gut ausgerüstet.