Rubel_Rotlicht_u_Raketenw_RLY_Coverimage.png

Bernd Hesse

Rubel, Rotlicht und Raketenwerfer

Privatdetektiv Rübels erster Fall

390453.png

Zum Buch

Sex. Suff. Stalinorgel. Für Privatdetektiv Sven Rübel wird’s langsam eng: Während der Alkoholkonsum stetig steigt, tendiert die Auftragslage gegen null. Plötzlich erscheinen an einem Tag gleich zwei Klienten: Er soll die Zerstörung von Biberburgen im Oderbruch und das Verschwinden eines Obdachlosen ermitteln. Leicht verdientes und dringend benötigtes Geld. Dass beide Fälle zusammenhängen und er in den Dunstkreis der russischen Mafia gerät, merkt Rübel viel zu spät …

Bernd Hesse wurde 1962 in Bad Saarow geboren. Er ist Kulturwissenschaftler und Jurist, hat zwei Mal promoviert, ohne zu plagiieren – so jedenfalls Eigenauskunft des Autors. Als Strafverteidiger taucht er von Zeit zu Zeit tief in die Abgründe der Organisierten Kriminalität ab, kehrt aber abends ganz bürgerlich zu seiner Ehefrau und mittlerweile vier Kindern zurück. Allesamt glücklich. Ebenfalls Eigenauskunft des Autors.

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

Print-Erstausgabe:

2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Copyright der digitalen Originalausgabe: © 2015 – Gmeiner-Verlag (E-Book Only bei Gmeiner Digital)

 

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © 2mooar/photocase.de

ISBN 978-3-7349-9296-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

1. Kapitel:
Ein ganz großer Fisch

Horst Arndt ging mit den zögerlichen Schritten eines gebrochenen Mannes, der über Jahre die ständige Erfahrung von Ablehnung und Unverständnis ertragen hatte, in Richtung des sich selbst öffnenden Supermarkteingangs. Schon heftete sich unerbittlich ein Augenpaar auf ihn. Jeder durchschnittliche Typ konnte gelassen durch die Schranke gehen und dabei so unauffällig wirken, wie er wirklich war oder im Moment aussehen wollte. Ein Obdachloser hingegen, in verschlissener Kleidung, gebeugter Haltung und mit ungepflegtem Aussehen, war immer zu erkennen, ob er es wollte oder nicht.

Wie alle seiner gegenwärtigen Bekannten war er nicht immer ein mittelloser Trinker gewesen; er hatte in seinem Leben schon bessere, viel bessere Tage erlebt und noch nicht völlig die Hoffnung verloren, dass es sein Schicksal wieder gut mit ihm meinen würde. Er hatte einmal gelesen – als er noch las –, dass das Schicksal nicht an die Tür klopfe, sondern man es suchen müsse, oder so ähnlich; wo er das gelesen hatte, wusste Horst nicht mehr, aber auch nicht so recht, wo er nach dem Schicksal suchen musste. Wie nahe er einem dramatischen Wandel aller seiner Lebensumstände stand, davon konnte Horst trotz seiner Hoffnung nichts ahnen. Gibt es in Deutschland mehr Lottogewinner oder mehr Obdachlose, denen die Rückkehr in ein bürgerliches Leben gelungen ist?, überlegte Horst Arndt.

Er hätte die Frage gerne gegoogelt. Leider hatte er sich auch die Zugänge zu öffentlichen Computern in der Stadtbibliothek und der Universität durch Hausverbote verbaut, die ihm gegenüber ausgesprochen worden waren. Sicher, diejenigen, die diese Verbote aussprachen, meinten, dass er sich das durch sein Verhalten selbst zuzuschreiben hatte. Horst Arndt sah das anders: Häufig hatte er nur reagiert. Die zerberstende Tastatur auf dem Schädel dieses schnöseligen Studenten im Anzug, der ihn als versoffenen und nach Pisse stinkenden Penner beleidigt hatte, war ein Bild, das noch heute ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern vermochte. Auch das Gesicht des Professors war nicht zu verachten, in dessen Vorlesung er sich eigentlich nur aufwärmen wollte. Da musste er doch laut seine Meinung sagen, als der die jungen Studenten anlog, von wegen Sozialstaatsprinzip und so. Ein paar besonders eilfertige Studenten hatten ihn dann auch schnell ›entsorgt‹. Er hatte schon zuvor so ein seltsames Gefühl gehabt, das ihm bedeutete, nicht in eine Vorlesung von Juristen zu gehen. Wäre er mal besser zu den Literaturwissenschaftlern gegangen: Die Vorlesungen dort fand er interessanter, verstand auch mehr davon als von der trockenen Juristerei, auch wenn diese Studenten wegen seines Geruchs ebenfalls von ihm abrückten. Trotzdem fand er sie sympathischer. Bei den Literaturwissenschaftlern waren selbst die Professoren so gekleidet, dass sie gut als Hausmeister durchgehen konnten; zugegeben, als gut gekleidete Hausmeister in unbefleckter Arbeitsmontur. Die Studentinnen sahen in der sommerlichen Farbenpracht ihrer Kleidung aus wie Blüten. Sie hätten gut auf die Wiese des Wappens ihres Fachbereichs gepasst; die Literaturwissenschaftler gehörten dem Fachbereich Kulturwissenschaften an, für den die Abkürzung KuWi gefunden worden war. Was lag bei KuWi näher, als sie durch eine Kuh, die auf einer grünen Wiese stand, zu symbolisieren? Dieser Grad an Selbstironie und Kreativität widersprach dem der Juristen, die für sich ein schwarzes Paragrafenzeichen auf weißem Grund gefunden hatten. Die Juristen zeichneten sich Horsts Beobachtungen zufolge auch durch ein entgegengesetztes Bekleidungsverhalten aus; je höher die Studenten in den Semestern stiegen, desto konservativer kleideten sie sich, desto ähnlicher wurden sie ihren Professoren. Sicher gab es bei den Juristen Prüfungen, von denen nur die naiven Studenten glaubten, es ginge um die Lösung juristischer Fälle. In Wirklichkeit wurde notiert, welche Studenten sich zu bunt, zu schrill, überhaupt zu auffällig kleideten; diese waren dann schon durch die Prüfungen gefallen, ohne es zu wissen. Horst erkannte, dass für ihn profane Fragen wie die der Bekleidung einen steigenden Stellenwert gewannen, je nachlässiger, schmutziger und verschlissener seine eigene Kleidung wurde.

Dann sah er einem Studenten über die Schulter, der sich auf YouTube einen Mann ansah, der einem Obdachlosen ähnelte, den er kannte. Sie nannten ihn einfach den Bärtigen oder Hammer, da er in nüchternen Tagen Boxer gewesen war und einen mächtigen Schlag gehabt haben sollte. Ihn ereilte ein mächtiger Schicksalsschlag, er geriet ins Wanken und fiel in die Gosse. Der Mann mit dem ungepflegten Bart, den etwas längeren Haaren und dem einfachen T-Shirt war ein Philosoph, wie er später las, einer der innovativsten Denker der Gegenwart. Horst lauschte seinen Erzählungen, die für ihn Offenbarungen waren. Dieser gläubige Atheist war ein Messias. Seine Bücher verschlang Horst, ohne seinen Saufkumpanen auch nur ein Wort darüber zu sagen. Die Gefahr war zu groß, dass der Abstand zwischen ihnen zu offensichtlich wurde und sie ihn ausgrenzten, weil er anders war. Obdachlose waren in dieser Beziehung genauso intolerant und spießbürgerlich wie die kleinkariertesten Hauseigentümer. Als Gerry, eigentlich Gerald, ein stark tätowierter Obdachloser, ihn einmal beobachtete, wie er in die Universität ging, war dies ungefähr so, als ob er freiwillig in das Polizeirevier gegangen wäre; in beiden Gebäuden hatte ein Obdachloser freiwillig nichts zu suchen. Als Gerry ihn dazu misstrauisch befragte, meinte Horst nur, dass er dringend pissen musste und man ihn dort auf die Toilette ließe. Dies war für Gerry Erklärung genug. Gegen die Obdachlosen wurde ein Ordnungsgeld verhängt, wenn sie im Stadtzentrum urinierten. Für das sich selbst reinigende Hightech-Klo am Zehmeplatz im Zentrum der Stadt hatte er kein Geld und die Toiletten in den Einkaufszentren waren wegen der auch dort gegen ihn ausgesprochenen Hausverbote unerreichbar.

Jetzt fehlten ihm die Zeiten in der öffentlichen Bibliothek der Universität und der Stadtbibliothek, weg von den anderen Trinkern, jedenfalls von den obdachlosen Trinkern, versunken in einer eigenen Welt, Bücher in Papier oder auf den Bildschirmen im Lesesaal. Jeder hatte seine bösen Geister. Die seinen dürstete es nach einem kleinen Schluck Bier. Nicht viel, nur ein kleines Schlückchen, versicherten sie. Hatte er seine Dämonen getränkt, wurden sie kräftiger und lauter, zwangen ihn, ihnen weiter zu dienen, und schnell glaubte er, dass er es auch selbst wollte, und trank, trank, bis die Welt um ihn schwand. Das erlöste ihn von den anderen Geistern, von den Spießern, die ihn verächtlich oder mitleidig mit immer größer werdenden Augen anglotzten oder taten, als wäre er Luft.

Im Eingangsbereich des Supermarktes kam von der anderen Seite eine Mutter mit einem kleinen störrischen Jungen daher, den sie nur mühevoll an der Hand halten konnte.

»Du bleibst jetzt mal bei mir! Wenn ich dich verliere, finde ich dich hier nie wieder.«

Sicher nicht das Schlechteste, was der Mutter passieren könnte, dachte Arndt bei sich und seine Gedanken glitten ab, hin zu seiner Tochter und seinem Enkel.

»Guck mal, hier ist die Information. Hier gehst du hin, wenn wir uns verlieren. Was sagst du der Dame an der Rezeption?«

»Dass ich naschen will.«

»Nein, deinen Namen.«

»Ich habe von der Tante was zu naschen bekommen.«

»Ja, aber sie wollte dich damit bloß trösten, weil du dich verlaufen hattest.«

»Ich will aber was naschen.«

»Nein, jetzt nicht.«

»Dann laufe ich wieder weg.«

»Wehe!«

Die Mutter mit ihrem Jungen stieß beinahe mit dem gedankenverlorenen Horst zusammen, als sie auf die Türe zugingen. Für Horst war klar, dass er riskierte, nun doch in den Knast zu gehen. Die Bewährung der Bewährung der Bewährung würde es für ihn nicht geben. Schließlich war er kein Bundespolitiker oder italienischer Ministerpräsident. Als Horst erkannte, dass er gleich mit der Mutter und dem Jungen zusammenstoßen würde, schreckte er zurück. Auch die Mutter schreckte zurück.

Der Junge verkündete lauthals: »Iih, der stinkt ja.«

»Sei ruhig«, gebot ihm die Mutter zischend.

»Hat der Mann eingepullert?«

»Pst!«

Marktdetektiv Petruschke hatte die drei Neuankömmlinge schon im Visier, wobei ihm sein geschulter Blick verriet, dass sein Interesse dem heruntergekommenen Typ zu gelten hatte, ebenso wie einigen sich hier noch herumtreibenden Parasiten. Sicher wieder so ein Alki, der Suff klauen wollte, der deshalb seine Aufmerksamkeit verdiente und er genauer hinzuschauen hätte, um sich seine Fangprämie nicht durch die Lappen gehen zu lassen. Kaum einer seiner Kollegen konnte so viele Festnahmen von Marktdieben verzeichnen wie er. Er erkannte es sofort, dieses stinkende, diebische Pack, welches herumjammerte, weil es ihm ach so schlecht ginge, es am Rande der Gesellschaft lebte, ihm keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zuteilwürde, aber nicht früh aufstehen konnte, um zu arbeiten und sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Er war doch auch nicht reich, mühte sich aber und arbeitete stetig daran, Geld zu verdienen, ordentlich zu verdienen, um sich seine Wünsche und Ziele zu erfüllen. Nur die Hände in den Schoß legen, Hartz IV abgreifen und saufend denjenigen auf der Tasche liegen, die den ganzen Tag ehrlich schufteten, dafür hatte er kein Verständnis. Wenn es nach ihm ginge, würde man so ein verachtenswertes Gesocks zur Arbeit zwingen. Ohne Suff, da würden die auch schnell dahinterkommen, dass es sich für sie lohnte, Müll wegzuräumen, statt ihre Abfälle überall herumliegen zu lassen. Gerne verpasste er so einem Parasiten bei der Festnahme noch eine in die Nieren oder stieß ihn so, dass er fallen musste. Wenn er sich mit seinem massigen Körper dann noch auf die Opfer warf, genoss er es, wenn sie vor Schmerz einen gellenden Schrei ausstießen. Nur ihr Gestank und Petruschkes Angst vor vermeintlichen Ansteckungen bewahrten sie vor übermäßiger körperlicher Gewalt. Auf dem Schießstand stellte sich Petruschke gelegentlich vor, es so einem Parasiten so richtig zu geben.

»Sie wissen doch, dass Sie hier Hausverbot haben«, fasste der Filialleiter der Supermarkt-Filiale kurze Zeit später seine Gedanken in Worte; weniger als Frage denn als Vorwurf.

Horst Arndt, sich weiter das rotgetränkte Taschentuch vor die Nase haltend, reagierte äußerlich nicht. Was sollte er auch antworten? Natürlich wusste er, dass er diesen Supermarkt nicht betreten durfte. Diesen nicht, genauso wie die meisten Märkte im Stadtzentrum von Frankfurt an der Oder. Die Männer im Raum kannte er. Mit denen brauchte er erst gar nicht zu reden. Der Filialleiter war als Machtmensch an seiner Krawatte zu erkennen. Der Privatdetektiv trug keine. Machtfrauen erkannte Horst auch auf den ersten Blick an ihrer Kleidung. Krawattenträger bekennen sich aber nicht offen zu ihrer Sekte; früher hörte er sie sagen: »Glauben Sie denn, in meiner Freizeit laufe ich auch so herum?« In Behörden freute sich Hotte, wie ihn seine Freunde nannten – nur hatte er in Behörden keine Freunde –, wenn er an Sachbearbeiter ohne Schlips geriet. Selbst US-Präsidenten gaben sich gelegentlich volkstümlich in Jeans und ohne Krawatte, dafür aber im kurzen Hemd oder zumindest Polo-Shirt. T-Shirt ging gar nicht. Das wäre ja so wie sein Nachbar in der Wohnung, als er noch eine hatte, bevor ihn seine Tochter aufnahm, die ihn genauso wie der letzte Vermieter dann wieder rausschmiss. Also der Nachbar, der war Polizist und rauchte im Unterhemd am offenen Fenster, nachdem man ihm bei der Morgentoilette zuhören konnte und an den Geräuschen erkannte, wie weit die morgendliche Prozedur vorangeschritten war. Dieser Nachbar trug keine Krawatte.

»Haben Sie nicht gehört, was der Chef gefragt hat?«, spielte Marktdetektiv Petruschke sich auf. »Wissen Sie, dass Sie hier Hausverbot haben?«

Eigentlich hatte Horst immer noch keine Lust auf einen Disput, dennoch schaute er Petruschke an und machte ihm klar: »Ich weiß auch, dass Alkohol mich kaputtmacht. Trotzdem saufe ich.«

Der Marktleiter lächelte, Petruschke glotzte verdutzt.

Horst fuhr fort: »So ist das Leben. Man macht eben Dinge, von denen man weiß, dass man sie besser lassen sollte. Sie zum Beispiel, Sie haben Ihrer Freundin die Treue versprochen und betrügen sie.«

Petruschke stand die Überraschung in sein sonst ausdrucksloses Gesicht geschrieben. »Das tut hier nichts zur Sache«, brüllte er.

»Und wenn sie Sie deshalb verlässt«, ließ Horst nicht von Petruschke ab, »ist das Gejammer groß.«

»Ich muss jetzt eine Anzeige erstatten«, setzte der Filialchef gleich nüchtern hinterher und öffnete die Seite der Internetwache der Polizei des Landes Brandenburg. Arndt nahm wahr, dass sein Gegenüber nicht von seiner Bedeutung oder Macht erfüllt war, nun einen anderen ans Messer liefern zu können. Das kannte er auch anders. Mitleid spürte Arndt von der Gegenseite nicht; das hätte der sich auch schenken können. Der schleimige Typ von einem Privatdetektiv, dessen Ellenbogen angeblich nur bei dem Versuch, ihn aus dem Supermarkt zu bugsieren, mitten in Horsts Gesicht gelandet sein sollte, stand dagegen in Siegerhaltung und in Erwartung einer Kopfprämie im kleinen Zimmer des Supermarktchefs. Der Marktdetektiv rückte merklich von Arndt ab. Ein Verhalten, das Horst selbst von denen bekannt war, die ihm ein paar Almosen zuwarfen, dann doch den Gestank nicht ertrugen und sich gleich abwendeten. Weh tat es nur, wenn er im Gesicht seiner Tochter las, dass sie sich zwingen musste, ihm die Hand zu geben oder ihn zu drücken; für die seit einigen Jahren ausbleibenden Umarmungen der Tochter hätte er viel gegeben, sehr viel, vielleicht sogar alles. Sie war Ärztin geworden und es erfüllte ihn mit Stolz. Früher hatte er das einigen anderen Obdachlosen erzählt, dann wurde er als Lügner beschimpft, schließlich hatte er nicht mehr erwähnt, dass sein kleiner Schatz Ärztin war. Er schämte sich, auch sie immer wieder enttäuscht zu haben, genau wie er alle anderen immer und immer wieder zur Resignation getrieben hatte, einschließlich sich selbst. Sie hatte immer wieder zu ihm gestanden und sogar diesen Sven Rübel engagiert, diesen sympathischen Privatdetektiv, der ebenfalls trank und ihn suchen sollte, damit er nicht jenseits der Oder in Polen unter die Räder kam. Er mochte diesen Detektiv; bei ihm hatte er die Vorbehalte, denen er als Alkoholiker sonst allenthalben begegnete, nicht gespürt. Vielleicht war er diesem Rübel auch nur eine lebende Warnung gewesen: Trink noch etwas mehr und du wirst dort landen, wo Horst Arndt heute ist. Noch konnte Horst nicht ahnen, dass seine Tochter bald wieder allen Anlass haben würde, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Sorgen, die ihren Weg wieder in die Detektei dieses kauzigen Privatdetektivs führen würden.

Oft hatte Horst daran gedacht, seinem irdischen Leid ein Ende zu setzen, den Schlüssel, den er ständig bei sich trug, zu nehmen, und die Tür auf dem Dach des höchsten Gebäudes im Land Brandenburg, dem Oderturm, aufzustoßen und Erlösung im Freitod zu suchen. Selbst als er Charlotte, seine neue Gefährtin, fand, schwand diese Ausweglosigkeit nur für kurze Zeit; wenigstens teilten sie ihre Ängste und Nöte. Charlotte hatte sogar eine eigene Wohnung. Die war zwar lange Zeit nicht renoviert worden, überall lag Unrat und schmutziges Geschirr, aber für ihn war sie wie eine Zuflucht, ein Schlupfloch in die Gedanken aus einer längst vergangenen Zeit in einer angeblich heilen Welt. Nun malten sie sich gemeinsam aus, den allerletzten Schritt im Leben zusammen zu gehen, wenn nichts anderes mehr gehen würde. Seine Tochter war so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels: Hoffnung und destruktive Kraft zugleich. Ihm war nicht klar, ob es das Licht eines irgendwie gearteten Auswegs oder eines zerstörerischen, alles mit sich reißenden entgegenkommenden Zuges war. Sein Sternchen, die ihn immer noch liebende Tochter, würde diesen an seiner Seele nagenden Gedanken brüsk von sich weisen. Aber er wusste, dass er für sie nach ihrer gescheiterten Ehe nicht der Vorzeigevater war, den er sich für sie wünschte, und auch für seinen Enkel nicht der Opa war, von dem man seinen Freunden stolz berichtete. Deshalb könnte es auch für die Tochter durchaus einen Sinn ergeben, wenn er diesem irrwitzigen Treiben, welches Leben genannt wurde, endlich einen Schlusspunkt setzen würde. Wenigstens ließ sich die Tochter ab und zu sehen und wechselte ein paar freundliche Worte. Nicht zu freundlich natürlich, nicht, dass er noch auf die Idee kommen würde, wieder bei ihr einziehen zu wollen. Die Hand reichte sie ihm wie eine Ärztin, die gerne sofort ausgiebig ein Desinfektionsmittel gebrauchen wollte, um den schier unerträglichen Odem der Armut und Obdachlosigkeit wegzuspülen. Horst selbst roch diese penetrante Mischung aus Körperflüssigkeiten und Alkohol, die ihn als Zugehörigen einer anderen Kaste brandmarkten, nicht mehr.

Während der Filialleiter die Anzeige in den PC tippte, brabbelte er »Zeuge?« vor sich hin und wartete, dass der Detektiv seinen Namen nannte. Der kam aber nicht darauf, dass er gemeint sein könnte. Deshalb hakte der Mann vor dem PC nochmals nach und sprach den Detektiv direkt an: »Wie heißen Sie noch mal?«

Endlich klingelte es beim Privatdetektiv. »Petruschke, Kevin Petruschke«, erscholl es gewichtig.

»Ach so! Ja, ja … natürlich«, gab der Marktleiter vor, sich zu erinnern, und hämmerte weiter auf die Tastatur des Computers ein. Er schaute auf den Privatdetektiv und dachte bei sich, diesem nicht über den Weg trauen zu wollen. Er selbst hatte gerade einem anderen Privatdetektiv seine Hausschlüssel anvertraut, damit dieser Ganoven eine Falle stellen konnte, die unter dem Vorwand der Erbringung von polnischen Handwerkerleistungen deutsche Häuser ausräumten. Diesem Detektiv, Sven Rübel, dem vertraute er. Der hatte ihm schon einmal seinen Arsch gerettet und er war ihm dafür dankbar, wie eben ein Mann dankbar sein konnte. Also nicht so mit Blümchen und Pralinenpackung, aber als er ihn neulich fragte, ob er seinen Hausschlüssel für die Aktion haben könnte, da sagte er gleich zu. Selbst wenn es da größere Probleme geben würde, wäre das nicht mehr so schlimm. Das Haus schien ohnehin verloren. Weder er noch seine Frau würden es nach der Scheidung alleine halten können. Eigentlich waren sie in dem Haus glücklich gewesen … eigentlich. Er fand, dass man es einem Haus anmerken konnte, ob die Menschen, die in ihm lebten, glücklich waren oder nicht. Doch in den letzten Jahren hatte sich der Charakter seines Hauses geändert …

So hatten der Filialleiter und Horst Arndt einen gemeinsamen Bekannten, den sie beide achteten, aber voneinander um die Bekanntschaft zu Rübel nichts wussten. Aber dem hier, und der Filialleiter musterte Petruschke, würde er nicht einmal den Schlüssel zum Gartenhäuschen anvertrauen. Der Filialleiter wusste um dessen Freundschaft mit dem Teamleiter der Warensortiererinnen, einem feisten Kerl, der die Frauen gerne angrapschte und laszive Bemerkungen fallen ließ. Er selbst hatte bei dem Werkunternehmer, den der Supermarkt zur Bestückung der Regale beschäftigte, angerufen und sich über das unmögliche Verhalten des Teamleiters beschwert. Man hatte dort die Beschwerde entgegengenommen, geändert hatte sich aber nichts. Aus seiner eigenen Firmenzentrale hatte der Marktleiter einen Anruf bekommen und wurde um Mäßigung gebeten. Das war die Höhe, er wurde um Mäßigung gebeten und nicht der Freund des Marktdetektivs. Man brauche diese Bestücker. »Die Leute wollen billig kaufen, immer billiger, bei den Lieferanten kann im Einkauf kaum noch gedrückt werden, denken Sie an Rhön-Gold, diesen Milchprodukthersteller, der mit den schwarz-weißen Verpackungen im gefleckten Kuhmuster, als der unsere Preise nicht akzeptieren wollte und wir die Verträge nicht verlängerten, da haben wir den in die Knie und Pleite gezwungen, und nun, beim Personal, da wird schon alles gespart und ausgegliedert. Wenn wir nicht die Bestücker im Billiglohnsegment haben, fliegen uns die Kosten um die Ohren. Was für Arbeitsbedingungen erwarten Sie denn da?« Der Marktleiter dachte an ein Bild aus einem Asterix-und-Obelix-Comic, einem fetten Sklavenantreiber mit Glatze und Peitsche. Das passte. Nur, dass diese Frauen hier weder von Asterix noch von Obelix erlöst werden würden. Vielleicht brauchen wir unsere Helden in Comics, weil es sie in Wirklichkeit nicht gibt. Vielleicht war aber auch die sogenannte Wirklichkeit die eigentlich absurde und groteske Geschichte. Der Chef klickte auf Enter und schickte die Anzeige über das Netz hin zur Internetwache.

Kurz darauf verließ Horst Arndt den Markt in Begleitung des Detektivs, der ihn bis zur Tür begleitete und dann gewichtig dreinschaute, wie um sich zu vergewissern, dass Arndt nicht mehr zurückkehrte.

Hotte, wie ihn seine Freunde nannten, ging ein paar Schritte mit schmerzender Nase. Er spürte den arroganten Blick des Privatdetektivs im Rücken. Kurz entschlossen stellte sich Horst an die Hauswand, öffnete seine Hose und begann zu pinkeln.

Kevin Petruschke empörte sich: »Das gibt’s doch nicht«, und rannte auf Arndt zu, der sich umdrehte …

Das auflodernde Feuer in Horsts Augen erlosch schnell wieder, als er sich in Richtung Lenné-Passagen bewegte, und wich dem leeren, müden Blick des Obdachlosen. Seine unbestimmte Wut auf alles und jeden ergriff seine Seele mit jedem Schritt mehr und mehr. Wenn die soeben gegen ihn erstattete Anzeige durchginge und es zu einer Verhandlung käme, würde er diesmal während der laufenden Bewährungszeit nicht mehr mit einem blauen Auge davonkommen. Dann müsste ihn seine Tochter im Knast besuchen kommen. Würde sie ihn dort besuchen? Noch gab es in Frankfurt an der Oder eine kleine Justizvollzugsanstalt, in der Untersuchungshäftlinge und solche mit kurzzeitigen Haftstrafen einsaßen. Auch diese Einrichtung sollte der Rotstiftpolitik der Landesregierung zum Opfer fallen. Vielleicht war auch nur ein Beamter, der etwas zu sagen hatte, einem anderen, der vorgab, etwas mehr zu sagen zu haben, nicht tief genug in den Arsch gekrochen, mutmaßte Arndt. Würde seine Tochter ihn besuchen kommen, wenn sie dazu noch das halbe Land Brandenburg durchqueren müsste? Er stapfte so, als ob im Sommer Schnee läge und er festen Tritt erst durch das kraftvolle Auftreten erlangen könne. Seine Stimmung wechselte schnell von Wut zu Resignation und seine Schritte verlangsamten sich und wurden weicher. Ein paar seiner Saufkumpane, darunter auch ein über und über mit Tätowierungen überzogener Obdachloser und einer mit einem ungepflegten Bart vom Typ des Räubers Hotzenplotz, saßen vor dem Aldi auf den Bänken der Lenné-Passagen. Horsts raue Hände waren tief in die Tasche gesteckt. Mit der rechten Hand umklammerte er seinen Schlüssel; seinen Schlüssel, der ihm von dem ganzen Schlamassel befreien konnte. Nur war es noch nicht an der Zeit, diesen Joker zu ziehen.

»Dis hat aber gedauat«, maulte der Tätowierte.

»Scheiße, Mann, mich ham se erwischt«, fiel Horst in den Jargon seiner Gefährten ein.

Der Bunte erkundigte sich: »Beim Klauen?«

Dazu konnte auch der Bärtige etwas sagen. »Mich auch.«

»Nee, mich nich beim Klauen. Aber ich hatte da doch auch Hausverbot. Der Marktdetektiv hat mich erkannt, mir eins auf die Nase gehau’n und mich angeschissen.«

Mitleidlos kommentierte der Tätowierte: »Tolle Ausbeute.«

Der mit dem Bart empörte sich ehrlich: »Was, der hat dich geschlagen? Da kannste den dafür anzeigen, kannste.«

Im Tonfall seines mitleidlosen Kommentars bremste der farbig Tätowierte seinen Saufkumpan: »Langsam, langsam. Dis is so, als ob de ’n Bullen bezichtichst, dass er dich jeschla­gen hat, wenn fünfe seiner Kollegen danebenjestanden sind, die bezeugen, dass du gefallen bist, verstehste. Da kriegste selba noch ’ne Anzeige von wegen Falschbeschuldigung, Beleidigung, Widerstand gegen die Polizei und so.«

»Wer kommt?«, interessierte sich Kriminalkommissar Frank Fechner im Bordell namens Nummer zwei beim Mann hinter dem Tresen.

»Iwan Blomov … Iwan der Schreckliche.«

»Wer ist denn so bescheuert und gibt sich einen solchen Namen?«, platzte es aus dem Kriminalkommissar heraus.

Boris Gonscharov stand hinter dem Tresen, putzte mit einer unruhiger wirkenden Hand, als sie ihm sonst eigen war, ein Champagnerglas, prüfte dessen Sauberkeit gegen einen der Strahler, befand sie für ausreichend und erklärte: »Soweit mir bekannt ist, haben seine Feinde ihm den Namen gegeben.«

Mit einem wortlosen Blick forderte Frank eine weitere Aufklärung.

»Wenn der in die Hölle kommt, warten da viele auf ihn, die er höchstpersönlich dorthin verfrachtet hat.« Boris stellte wieder ein im Licht der Strahler blinkendes Glas ab und nahm das nächste. »Heute macht er sich nicht mehr selber die Hände schmutzig.«

Eine junge Frau in schwarzen Dessous und einem Kimono kam auf Boris am Tresen zu und bat: »Boris, machst du mir mal eine Wurst warm?«

Boris war hier auch für das leibliche Wohl der Damen verantwortlich. »Hab vorhin welche aufgesetzt«, meinte er freundlich. »Die müssen gleich fertig sein. Ich sag dann Bescheid.«

»Wie siehst du denn heute aus, Kiara?«, erkundigte sich Frank Fechner.

Kiara schaute an sich herunter. »Meinst du, schwarz steht mir nicht?«

»Doch. Aber deine Augen. Siehst aus wie so ’n Grufti, Gothic­-Freak oder Panda.«

Kiara beugte sich vor, schaute in den Spiegel hinter dem Tresen und erklärte ruhig: »Das ist der Scheißmascara, der so schmiert. Ist keine Absicht. War vorhin noch alles in Ordnung.«

Boris mischte sich ein: »Oder hast du geheult? Is was?«

»Nein, wirklich nur der Mascara.« Sie formulierte das so trocken, dass es wirklich so hätte gewesen sein können.

»Der oder die Mascara?«, wollte Fechner wissen.

»Bin ich Deutschlehrer oder was?«, kam als Antwort. Die Panda-Dame lächelte müde und verschwand in dem Halbdunkel, aus dem sie gekommen war.

»Weißt du Konkreteres über diesen Blomov?«, interessierte Fechner sich wieder dienstbeflissen.

»Er ist in Russland in gewissen Kreisen eine lebende Legende … Nicht so beschränkt wie die Typen, die nur durch ihre Brutalität im Knast und auf der Straße von sich reden gemacht haben und dann zu Geld gekommen sind, wie einige von den Dieben im Gesetz

»Auch so ein komischer Name«, unterbrach Fechner seinen Gesprächspartner.

Boris klärte den Polizisten auch diesbezüglich mit leidenschaftsloser Miene auf. »Nur eine Frage der Gewohnheit, wie bei allen neuen Wörtern. Bei uns in Russland sind sie schon jedem Kind geläufig.«

»Genau wie die Bedeutung der Tätowierungen, was? Du musst mir bei Gelegenheit auch mal deine ganzen Bildchen erklären.« Frank zeigte mit dem Finger auf Boris’ Arme und Oberkörper.

»Alle?«, fragte Boris und versuchte, mit einem spöttischen Lächeln das Gespräch von diesem heiklen Thema abzulenken.

»Natürlich«, meinte Frank entschieden, überlegte kurz und ergänzte: »Außer Rumbalotte, natürlich.«

Boris runzelte fragend die Stirn.

»Sag bloß, den kennst du nicht?«

»Was … wie, Rumbalotte?«

»Na den Witz, in dem eine russische Frau den Mann fragt, was die Tätowierung ›Rumbalotte‹ auf seinem Ding zu bedeuten hat. ›Das musst du mal sehen, wenn er steht. Ruhm und Ehre der Baltischen Rotbannerflotte.‹«

Boris lachte und log. »Den kannte ich nicht.«

»Bitte?«, fragte Frank ungläubig.

»Ist wohl wieder so ein Russenwitz, der den Russen zugeschrieben wird, den aber keiner in Russland kennt.« Boris freute sich, Frank vom Thema der Tätowierungen abgebracht zu haben. Wie hätte er ihm die Symbole für die Toten erklären sollen, die Kreuze auf den Kirchen, und gleich vier davon, seine Verurteilungen und den Knast?

»Und Blomov, der ist ja nun kein Witz«, versuchte Frank das Gespräch wieder in halbwegs dienstliche Bahnen zu lenken, »weißt du von dem mehr?«

»Der war früher Offizier bei der Armee, auch ein Grund, weshalb er Probleme hatte, von den anderen Gangstern akzeptiert zu werden. Blomov war auch hier in Deutschland stationiert, soviel ich weiß.«

»Verstehe«, gab Fechner vor, »wie euer Präsident.«

»Ex.«

»Du hast doch selbst gesagt, dass der die Fäden im Hintergrund zieht … Und jetzt der hier. Ihr seid ein richtiges Strippenzieherland.«

Ein Lächeln auf sein Gesicht zeichnend, meinte Boris: »Geht bei euch ganz genauso. Ihr fühlt eure Strippen nur nicht mehr. Das ist viel subtiler, wenn man über Menschen herrscht, ohne dass es ihnen ständig bewusst wird. Vielleicht wird es dadurch auch viel gefährlicher.«

Frank Fechner kommentierte das Gehörte nur mit einem »Hm«. Er mochte Boris und fand dessen Ansichten durchaus interessant. Dennoch war er Informant und Fechner wollte Genaueres über diesen Blomov erfahren. Einen Streit brauchte er nicht. Andererseits sollte Boris auch nicht das Gefühl bekommen, dass Frank ihm nur nach dem Munde redete, um seinen Vorgesetzten sensationelle Informationen präsentieren zu können. Um Sensationen ging es in seinem Job auch eher weniger. Es waren Puzzleteile, die in mühevoller Kleinarbeit zusammenzusetzen waren, damit man bei den Ermittlungen vorankam. Natürlich gab es auch mal einen Glückstreffer, einen nicht vorhersehbaren Zufallsfund, aber so etwas war eher die Seltenheit. Frank wollte das Gespräch wieder auf die dienstlich zu erfragenden Informationen lenken. »Und Iwan der Schreckliche?«

»Nach der Entlassung aus dem Dienst und dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es erst bergab mit ihm. Dann aber war er wieder da, hatte viel Geld, wer weiß woher, und konnte Polizisten und Politiker schmieren. Wer sich ihm in den Weg stellte oder von wem er nur annahm, dass er im Weg stand, der verschwand gänzlich von der Bildfläche oder landete unter fadenscheinigen Gründen im Knast.«

Frank nahm den letzten Schluck aus dem Glas und stieß unmerklich auf. »Das Leben unter Schurken ist hart und brutal, mein Lieber; niemand gönnt dem anderen sein Futter … Al Capone landete im Knast und Richard Nixon stolperte über Watergate … Nein, Verbrechen lohnt sich nicht.«

»So blauäugig heute?«, zweifelte Boris.

»Hast recht. Vielleicht ist es nur ein Zufall, auf welcher Seite wir landen.«

»Seite? Du bist zu lange Polizist, mein Freund. Bei dir ist das Schwarz-Weiß-Muster da oben schon eingebrannt.«

»Ach? Und Leute wie dein schrecklicher Iwan sind toll?«

»Quatsch. Aber die haben hier die Macht.«

»Hier?«, Frank schaute in die Runde. »Dann sind sie aber bald pleite.«

»Ist noch nichts los heute … Mal sehen, ob’s noch wird. Die Konkurrenz hinter der Oder macht mir das Geschäft schwer und euer Gewerbeamt … aber das erzähl ich dir später … Die Blomovs, die reden hier überall mit. Keine wichtigen Entscheidungen in deinem Land, egal ob in der Wirtschaft oder den Regierungen, ohne diese Oligarchen. Die haben ihr blutiges Geld in den wichtigsten von euren sauberen Unternehmen.«

»Siehst du, so sind die Russen dann doch wieder die Gewinner in der Geschichte. Früher wurden die Völker für Sklaven, Bodenschätze und Macht in Kriege geschickt. Heute kauft man sich die Konkurrenten.«

»Soll mich das stolz machen?«, fragte Boris mehr zu sich selbst. »Und wo das, was ich dir leichtfertig sage, so überall gelesen wird, das möchte ich erst gar nicht wissen. Zum Glück interessiert das niemanden weiter, was in diesem Nest passiert. Bei euch hat der doch auch seine Leute, bis oben hin.«

»Blomov?«

»Klar doch.«

»Genaueres?«

»Sag ich dir gleich. Wenn ich dir konkrete Namen nenne, kann ich mir schon mein Loch schaufeln. Ich werde dir da ein paar Andeutungen für deinen Vermerk oder ausführlicheren Bericht diktieren. Mal sehen, was dann passiert.«

»Na, hör mal, wenn du da was weißt, dann sag es mir. Den Sumpf kann man nur trockenlegen, wenn man einem mit dem Spaten so richtig eine gibt«, forderte Frank.

»Du, ich hab da jetzt meine eigenen Sorgen, wenn er sich hier sehen lässt.«

»Hier?«, erkundigte sich der Polizist noch einmal und schaute rechts und links auf die mit rotem Leder bezogenen Barhocker. »Was hast du denn mit dem zu tun?«

»Persönlich wird er nicht kommen. Er wird demnächst sein Erbe inspizieren. Da ist einer in Moskau gestorben, der das hier«, dabei vollzog Boris eine ausladende Armbewegung vom Tresen hin zum Raum, in dem die Frauen in Plüschsesseln ruhten, »als sein Eigentum betrachtete.«

»Musst du viel zahlen?«

Boris zögerte mit der Antwort, schaute auf den Wurstwärmer und rief: »Kiara, deine Wurst ist fertig.«

»Komme«, erscholl eine Frauenstimme.

Boris wandte sich wieder an Frank: »Mit dem Obschtschak, das ist erträglich. Solange ich zahle, lassen sie mich wenigstens in Ruhe.«

»Obschtschak, was is’n das?«

»Kennt ihr nicht. Wird in allen deutschsprachigen Dokumentationen falsch übersetzt. Das ist der Beitrag, den man für die Organisation zahlt, für die Hinterbliebenen, also eine Art Sterbe- und Notfallkasse. Natürlich muss für den Dieb im Gesetz noch ordentlich was rausspringen. Aber die Deutschen tun sich sowieso schwer im Verstehen anderer Länder und Kulturen.«

Frank Fechners Polizistenherz war zum Widerspruch herausgefordert: »Jetzt mach aus eurer Kriminalität mal gleich eine Kultur.«

»Du hörst dich an wie die alten sowjetischen und die neuen russischen Politiker, die das nicht wahrhaben wollen und vor aller Welt leugnen. Die Diebe im Gesetz haben eine viel längere Tradition, als es gemeinhin bekannt ist. Schon unter den Zaren während der Leibeigenschaft gab es sie. Sie waren Gesetzlose, die sich dem Schicksal, in Leibeigenschaft und Armut geboren zu sein, nicht beugten und für ihre Freiheit kämpften. Aus dieser Zeit resultiert immer noch so etwas wie Achtung vor den Dieben im Gesetz.«

»Boris, mach mal ’nen Punkt. Du sprichst hier über Kriminelle, denen ein Menschenleben nichts wert ist.«

»Reg dich nicht so künstlich auf. Wir waren bei den historischen Gründen für die Verwurzelung und die Achtung, die den Dieben im Gesetz entgegengebracht wurde und wird. Genau das ist es doch, was ich meine, dass ihr nicht versteht und nicht verstehen wollt.«

»Alles Vorurteile«, meinte Fechner leichthin. »Von wegen wir tun uns schwer im Verstehen anderer. Wir sind richtige Superversteher. Außerdem bist du doch jetzt selber Deutscher.«

»Schon. Aber Versteher? Mein Gott … Nein, nein … Denk doch nur daran, was ihr zu den Franzosen beim Einsatz in Mali gesagt habt, die ihn führen, weil sie sich dort so gut auskennen, in der ehemaligen Kolonie. Das ist doch so was von zynisch.«

»Jetzt spring doch nicht von den Russen über die Deutschen zu den Franzosen nach Mali.«

Boris blieb unbeeindruckt: »Weißt du, welche Schuld die Franzosen in Afrika auf sich geladen haben? Das ist so, als wenn jemand sagte, die Deutschen sollen einen Einsatz in Israel führen, weil sie sich so gut mit den Juden auskennen.«

Fechner schluckte.

»Seit ich in Deutschland bin, habe ich den Eindruck, dass die Deutschen auch nur die Deutschen interessieren. Um den Rest der Welt scheren sie sich doch nicht. Hauptsache es geht ihnen gut und es geht immer so weiter.«

»Da ist vielleicht sogar was dran«, bestätigte Frank Fechner. »Aber ist das so schlecht?«

»An sich wohl nicht. Aber es wird nicht immer so weitergehen. Und das ahnt ihr auch. Mehr aber nicht. Ich weiß noch, wie mein Vater, studierter Elektroingenieur, Zeitungen austrug, um uns zu ernähren, und der Verlag, wie viele andere Unternehmen auch, seinen Arbeitern keinen Lohn mehr bezahlen konnte. Da hat er ein paar Stapel Zeitungen extra bekommen, die er verkaufen konnte.«

»Nicht zu glauben. Wenn so etwas hier in Deutschland passieren würde, dann würden die Leute aber streiken.«

»Glaub ich nicht«, widersprach Boris gelassen. »Bevor einer in Deutschland auf die Barrikaden geht, beantragt der doch erst eine Baugenehmigung.« Boris erblickte Franks leeres Glas. »Nimmst du noch einen Schluck?«

Mit einem kurzen »Jau« hielt Fechner dem hinter dem Tresen stehenden Boris das Glas hin und erkundigte sich: »Kommt Stella noch?«

In diesem Moment setzte Kiara sich neben Frank und begann, ihre Wurst zu essen. Sie spürte kurz die Blicke der Männer, schob sich die Wurst, ohne abzubeißen, tief in den Mund, zog sie langsam zurück und wiederholte das lasziv noch einmal. Als Kiara mit einem Knacken kräftig in die Wurst biss, zuckten die Augenbrauen der beiden Männer.

Franks Frage aufgreifend, klärte Boris ihn auf: »Glaub schon. Wenn die Kleine nicht schlimmer krank ist. Die hatte etwas Fieber. Sie wollte sie zur Oma bringen … Findest du es nicht seltsam, Stefanie ›Stella‹ zu nennen?«

Frank klopfte auf den Tresen. »Hier soll ich sie so nennen.«

»Klar«, verstand Boris. »Wie wird es da mit euch weitergehen?«

»Wie?«, spielte Frank den Unwissenden.

Boris nagelte den Polizisten fest. »Du weißt ganz genau, was ich meine. Mit dir und Stella. Deine Vorgesetzten werden es nicht toll finden, wenn du mit einer Prostituierten zusammen bist.«

»Ach, das ist heute alles viel liberaler als noch vor Jahren«, versuchte Frank ein Problem herunterzuspielen, welches ihn und ihre Beziehung schon seit einiger Zeit belastete, »sie zahlt ordentlich ihre Steuern und Kassenbeiträge …«

»… und morgen kommt der Weihnachtsmann«, unterbrach ihn Boris, der an die Beendigung seiner Beziehung denken musste. Für seine Tätigkeit hatte er so ausreichend Freiraum, glücklich hingegen war er nicht. Er sah, welchen Kampf sein Gegenüber auszustehen hatte, und beschloss, das Thema nicht wieder aufzugreifen.

Aus dem Halbdunkel des Raumes rief eine der Frauen: »Bobbele, hast du noch einen Schluck?«

Boris gab zurück: »Sind wir hier in Freiburg? Und wer zahlt? Ist doch kein Kunde in Sicht.«

Frank prostete Boris gekünstelt lächelnd zu: »Auf deine Zahnärztin!«

»Wie kommst du jetzt auf sie?«, interessierte Boris sich skeptisch, goss sich selbst einen Schluck ins Glas, erhob es und trank. Ahnte der Polizist, dass es mit der Zahnärztin ein anderes Bewandtnis hatte, sie sich langfristig darauf vorbereiteten, sich gegenseitig zu helfen, auch in verwickelten Situationen und mit äußerst unorthodoxen Methoden?

»Der Verlust deines Goldzahns ist ja nicht zu übersehen.«

»Hat sie hübsch gemacht, was?«, strahlte Boris mit seinem neuen weißen Schneidezahn und ging davon aus, dass seine Zähne nur auf oberflächliches Interesse gestoßen waren.

»Jetzt musst du dich wohl generalüberholen lassen. Ist da jetzt eine Keramikblende?«

»Sieht doch viel besser aus, oder?«

»Hab ich dir doch schon immer gesagt. Das mit dem Gold sah schon sehr … russisch aus.«

»Hm.«

»Musst du dir jetzt all deine Goldfüllungen machen lassen?«, zog der Kriminalkommissar seinen Informanten auf. »Und wenn sie mit dir fertig ist und nichts mehr rumzufummeln hat, angelt sie sich dann den Nächsten?«

»Da gibt’s schon noch genügend rumzufummeln bei mir …«

»Wenn’s bei der Inspektion oder dem Antritt des Erbes durch Iwans Leute Probleme gibt, soll ich dir da helfen?«

»Kannst du als Bulle schlecht. Das kann hart auf hart gehen und für umfassende Polizeimaßnahmen habt ihr nicht genügend gegen ihn in der Hand. Jedenfalls hier in Deutschland. In Amerika hat er sich gerne aufgehalten. Er macht auch lieber Geschäfte in Dollar als in Euro oder Rubel. Aber die Amis haben ihn des Landes verwiesen oder Haft angedroht oder so. Jedenfalls soll er sich dort schon länger nicht sehen lassen haben, und das, obwohl er sich da eine Villa hingesetzt haben soll, die seiner bisherigen auf der Halbinsel Krim bis ins letzte Detail gleichen soll.«

»Das fände ich komisch«, meinte der Polizist, »da schlägst du am Morgen deine Augen auf und weißt nicht, wo du bist, könnte ja genauso gut auf der Krim sein. Eure reichen Ganoven sind schon reichlich seltsam.«

»Weshalb? Hat doch … Madonna, glaube ich, genauso gemacht, ich glaube wegen des Kindes, damit es sich bei dem dauernden Hin-und-her-Gereise so fühlt, als wäre es immer zu Hause.«

»Hat die ein Kind?«

»Glaub schon, sonst gäbe die Geschichte ja keinen Sinn.«

»Mal sehen, vielleicht gibt es gegen den dicken Iwan …«

»Schrecklichen Iwan!«

»Meinetwegen, gegen den dicken, schrecklichen Iwan sogar einen internationalen Haftbefehl. Ich werde das prüfen.«

»Aber dann wärt ihr doch sowieso nicht mehr zuständig.«

»Hört sich so an.« Mit sorgenvoller Miene bot Frank ernsthaft seine Hilfe an. »Wenn es da Ärger gibt, kannst du mich jederzeit anrufen.«

»Weiß mir schon zu helfen«, lächelte Boris, »habe schon Vorsichtsmaßnahmen getroffen.« Boris befürchtete, dass er mit seiner Aussage Franks Interesse geweckt hatte. Er konnte ihm nicht sagen, was er alles vorbereitet hatte. Da dürfte er als Polizist nicht einfach schweigend zusehen.

Fechner schlug wie befürchtet in diese Kerbe: »Was hast du denn da auf dem Feuer?«

»Verschiedenes«, gab Boris vage zurück und überlegte schon, was oder wie viel er Frank im schlimmsten Fall offenbaren durfte. Auch wenn ihr Verhältnis über das zwischen einem Polizisten und einem Informanten weit hinausging, dürfte Frank nicht einfach zusehen, wenn Boris Straftaten beginge, auch wenn dies nur geschehen würde, um sein Leben und das anderer zu schützen. Dem Zufall durfte er bei seinen Landsleuten nichts überlassen. Die waren Gewalt gewohnt, und nicht nur aus dem Fernsehen. Wenn die hierherkämen, weil er einen Befehl nicht richtig ausgeführt oder die Geschäfte nicht in ihrem Sinne betrieben hatte, dann würden sie nicht mit ihm diskutieren wollen oder einen Arbeitskreis einberufen. Er kannte solche Typen aus seinem Leben und aus dem Knast, eine Erfahrung, die er nicht zum Leben hinzuzählte. Er erinnerte sich gut an diese Kerle, die damit geprahlt hatten, wie sie Menschen bedrohten und töteten. Ein großer, kräftiger Kerl hatte im Knast damit angegeben, dass Gläubiger und solche, von denen sein Chef auch nur behauptete, dass sie ihm Geld schuldeten, gleich zahlten, wenn er ihnen mit seiner Axt in der Hand gegenüberstand. Es war selten, dass er sie gebrauchen musste, aber jeder wusste, dass er ohne zu zögern zuschlagen würde. Sie gaben ihm den Spitznamen Axt.

Frank Fechner gab sich mit der Antwort seines Informanten nicht zufrieden. »Verschiedenes?«

»Hm … ’n Kumpel«, druckste Boris herum, »ein Privatdetektiv, hier aus Frankfurt, wird mir helfen. Hat die polnische und deutsche Staatsbürgerschaft.«

»Klingt ja noch nicht so richtig nach einem Plan. Wie heißt der denn genau? Ich würde ihn mal gerne checken.«

»Sven Rübel, aber lass ihn bitte aus deinem Bericht raus.«

»Ja«, erklärte Fechner tonlos.

»Versprochen?«

»Ja ist ja. Der Name klingt ja nicht so richtig polnisch.«

»Der Vater ist Deutscher, soviel ich weiß. Früher hat er mal bei der Mutter in Polen und mal beim Vater gelebt. Jetzt hat er hier seine Detektei.« Boris schaute Frank fest in die Augen. »Ich habe ihn selbst gecheckt. Der arbeitet nicht mit irgendwelchen Typen aus der Unterwelt zusammen. Bloß …«, Boris stockte.

Das war eine Situation, in der Fechner nachfragen musste. Bei Boris war er sich nur nicht sicher, ob das von ihm provoziert wurde. »Bloß?«

»Mit seinem Bruder ist was. Der lebt in Polen und wird dort von der Polizei gesucht. Mit dem hat er aber nichts mehr am Hut.«

Spöttisch meinte Fechner: »Klingt ja alles sehr vertrauenerweckend.«

»Ich kenn ihn, ich vertrau ihm.«

»Hm«, meinte Frank nachdenklich. »Und wie will er dir helfen?«

»Der hat gedient und wirklich Ahnung, lass mal. Der war bei der polnischen Armee Anwärter bei GROM.«

»Is’n das?«

»Au Mann … Heute würdest du aber bei ›Wer wird Millionär?‹ nicht punkten.«

»Da mag was dran sein«, räumte Frank ein. »Aber kein Grund zur Kritik. In unserer Welt ist der Erfahrungshorizont schon zweier Menschen, die du nebeneinanderstellst, völlig unterschiedlich. Ich wage die These«, formulierte der Polizist gewollt gebildet, »dass es sogar schwer ist, Fragen zu formulieren, die alle Menschen gleichermaßen beantworten können.«

Boris schaute ungläubig, weshalb Frank die Probe aufs Exempel machen wollte: »Jeder deutsche Polizist weiß seit seinem ersten Dienst, was RSG heißt. Du nicht, stimmt’s?«

Der Mann hinter dem Tresen überlegte nur kurz: »Rattenscharfe Geisha?«

»Oh Mann, damit kannst du aber auch nicht Millionär werden.«

»Da liegst du richtig. Es muss was mit eurem Dienst zu tun haben. Da tippe ich auf … ruhig schlafen gehen.«