Titelseite

Inhaltsübersicht

Zitat

O.k., hier ist der Deal

BAND I
Fleischbeschau

Bevor sie zu Koteletts werden, stehen die Schweine im Sonnenuntergang auf der Weide

Schlucken lernen

SCHWEINE

Alle Engel fliegen hoch

BAND II
Betäubung

Die Waffen der Frotteerevolutionärin kommen per Luftpost

Wer mitspielen will, muss die Regeln kennen

Elisabeth versucht, sich freizuschwimmen

Wovon Fleischverwerterinnen träumen

Alexander gibt den Romeo

Ich kann einen Oreo-Keks aus Ihnen machen

BAND III
Verarbeitung

Mata Hari, Karteileichen & Sozialismus in Technicolor

Das Wunder nimmt seinen vorgeschriebenen Lauf

Zwischen dänischen Möbeln und Hirschgulasch

Hagen verkackt’s

I got you babe (und bald auch einen Tiefkühlschrank)

Elisabeth hat die Kacke satt

Befreiungsversuche

BAND IV
Selbsterhitzung

È pericoloso sporgersi – Nicht hinauslehnen

Carol lässt die Maske fallen und der Präsident fällt um

Pfirsichdosen, Galgenmännchen und andere Todesarten

Halbe Hummeln sind nicht wettbewerbsfähig

BAND V
Zersetzung

Gesang des Schweinesystems

Dancing Queen

Terror Make-up

Spurensuche auf der Kanincheninsel

Alles vorbei, Tom Dooley

Stilllegung der Schlachtstrecke

Vertrauensbildende Maßnahmen

SYSTEM

FINAL CUT

SCHWEINESYSTEM

Break the Dull Steak Habit

BONUS TRACKS

Chronik 1979–2013

Informationen zum Buch

Über Christine Koschmieder

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

whydunnit?

I’ll cure* it.

* to cure: heilen, erhärten, pökeln

Icon Speaker

O.k., hier ist der Deal, Genosse – wir ziehen beide unsere Püppchen bis zum Anschlag auf und lassen sie flitzen. Und in zwei Jahren gucken wir, welche von beiden hochgegangen ist … Wie bei ner Wippe oder bei der Schiffschaukel im Luna Park. Geht ein Ende hoch, geht das andere runter, alright, comrade?

durchgestrichen, SAC,

Legat Office Frankfurt, 1979

BAND I

Fleischbeschau

Bevor sie zu Koteletts werden, stehen die Kühe im Sonnenuntergang auf der Weide

Waldhilsbach, 7. September 1979

Icon Play

Wenigstens ist es um die sowjetische Raumfahrt nicht besser bestellt als um ihr Liebesleben. Beides ist im Keller gelandet. Aufmunternd lächeln Wladimir Afanassjewitsch Ljachow und Waleri Wiktorowitsch Rjumin, die beiden ansehnlichen sowjetischen Weltraumhelden, ihr von der Zeitung unter dem geblümten Schuhputzlumpen hervor zu, ihr, der armseligen Person, die auf der obersten Kellertreppe hockt und versucht, die verdammte Valium runterzukriegen. Nichts ist, was es vorgibt zu sein. Kosmonauten sind keine Helden. Der Schuhputzlumpen war mal ein Bettbezug. Selbst das französische Bett (ohne Ritze!), ihr erstes Ehebett, ist im Keller gelandet. Wann sie sich auf diesem Bett das letzte Mal französisch gefühlt hat, weiß sie nicht mehr, aber der Anblick lässt sie an ein Foto aus dem Parisurlaub mit Hagen 1969 denken. Sie haben die Köpfe aneinandergelegt, ihre Pupillen verschwinden fast unter dem Lid, so heftig verleiert sie die Augen, um ihn anzuhimmeln. Eine schielende Jean-Seberg-Kopie im neunten Monat. Das war eine der besten Szenen ihrer Ehe. Hat alles gestimmt, der Schauplatz, ihre Frisur, das Schwarz-Weiß. Inzwischen hat das Farbfernsehen Einzug gehalten, die Scheidungsrate steigt, sie heult ihrer jungen, schielenden Jean-Seberg-Kopie hinterher und das Blumenkohlwasser kocht über. Der Mann, der glaubt, dass sie übermorgen in London ihre ehemaligen Gasteltern besucht, gibt draußen im Nieselregen neben dem Saugwagen der Sickergruben- und Fäkalienentsorgung Prognosen darüber ab, wann sie endlich an die Kanalisation angeschlossen werden, während der Schlauch die Überreste ihrer Ehe aus der Klärgrube saugt: Den frittierten Camembert, mit dem sie Hagens Kollegen beeindrucken wollte. Damit nichts danebenging und die Küche noch auslüften konnte, hatte sie die Camemberts schon mittags in die Fritteuse geworfen, vergessen, das Sieb aus dem Öl zu ziehen, und sich nochmal hingelegt. Da hat selbst die Dekoration aus Mandelblättchen, Petersilie und aufgetauten Tiefkühlpreiselbeeren nichts mehr gerettet. Dann natürlich die unvermeidlichen Obsttorteletts mit Gelatineüberzug und Sprühsahne, für den Besuch der Schwiegereltern, »Sahne aus der Dose, na, so was gab’s damals noch nicht, wir haben die immer per Hand aufgeschlagen, elektrische Handrührgeräte, da war nicht dran zu denken, und fertige Torteletts, naja, sicher praktisch, als arbeitende Frau, aber so ein Mürbeteigboden, selbst gebacken mit viel Liebe und guter Butter, das ist schon was anderes, oder, Hagen?« Nicht zu vergessen, Hagens Wurstgulasch, einzementiert in Mondaminpampe, und die panadeverkleisterten Koteletts. Ferner: Kopfsalatblätter, ertränkt in einer Sauce aus Kondensmilch, Zitrone und Zucker, außerdem Kassler mit Sauerkraut, Leber mit Röstzwiebeln, Fischstäbchen mit Remoulade. Dosenravioli. Immer wieder: Eier. Rühreier, Spiegeleier, gekochte Eier, bemalte Eier, Fleischkäse mit Spiegelei, Eigelb in der Quarkspeise, glänzende Eier mit verbrutzelten Rändern im Ochsenauge, Eier im Pfannkuchen, Eier im Tatar mit Kapern und Zwiebeln. Ob ihre Ehe wohl ein französischer Schwarz-Weiß-Film geblieben wäre, wenn sie weniger Eier verbraten hätten?

»Na los, Pats, wird das heute noch was? Ich dachte, du willst mitfahren.« Es macht sie wahnsinnig, wie lange dieses Kind brauchen kann, natürlich musste Pats noch mal hoch in ihr Zimmer irgendwas holen und jetzt kommt sie nicht in ihre Stiefel, natürlich hakt der Reißverschluss wieder. »Hagen, könntest du bitte deiner Tochter mit dem Reißverschluss helfen, dann bist du uns umso schneller los! – Ich warte im Auto.«

Jetzt ist es drei, über den Königstuhl brauchen sie eine halbe Stunde, wenn sie in der Plöck gleich einen Parkplatz findet, schaffen sie’s bis um vier in die Fußgängerzone, bleiben noch zwei Stunden bis Ladenschluss. Den Regenmantel kriegt sie bei Hettlage, ein paar warme Wollstrumpfhosen auch, Handcreme und Ohrenstöpsel in der Drogerie Werner. Ein Schauder überkommt sie, als ihre Oberschenkel das schwarze Noppenkunstleder berühren. Es hat zu nieseln angefangen. Sie klemmt sich eine Gauloise zwischen die Lippen, lässt den Motor warmlaufen und startet das Scheibenwischerkino. Hawaiitoasts, die hat sie vorhin bei ihrer Aufzählung noch vergessen. Aber auf Toast Hawaii gehört ja auch kein Ei. Nur Ananasscheiben. Auf Toast Hawaii machen sich Scheiben einfach besser als Stücke. Aber das hier ist kein Toast Hawaii. Das hier ist ihr VW-Käfer, und das Scheibenwischerkino auf ihrer Frontscheibe fragt nicht nach Ästhetik. Nach Unversehrtheit schon gar nicht. Wie immer versucht der linke Scheibenwischer, sein Ananasscheibendrittel auf die feuchte Scheibe zu malen, zuversichtlich und beschwingt zieht das Wischblatt seinen großzügigen Bogen von links nach rechts, für den Bruchteil einer Sekunde liegt das perfekte Ananasdrittel klar und unbeschädigt vor ihr und sie hat freien Blick auf die inzwischen geleerte Sickergrube, aber schon funkt der rechte Wischer wieder dazwischen und macht alles zunichte.

Ihre rechte Hand liegt auf dem Steuerknüppel, beim Versuch, die Zigarette am Aschenbecher abzustreifen, fällt die aufgetürmte Asche in den Fußraum. Warum ist der rechte Scheibenwischer der Zerstörer und der linke der Gute? Projektive Identifikation mit dem fahrerseitigen Wischer, hat Volker gemutmaßt. Volker ist Seelenklempner, der muss es wissen. Selbst durch die beschlagene Seitenscheibe und den Zigarettenqualm hindurch kann sie erkennen, wie Hagen Pats über den Kopf streicht und ihr etwas in die Hand drückt, bevor er die Tür hinter ihr schließt und sie mit hängenden Schultern die Treppe runterschleicht, verdammt nochmal, warum freut das Kind sich nicht, dass sie mit in die Stadt darf? Aber nein, Fräulein schweigt die Fahrt über. Schweigt, als sie am Märchenparadies vorbeifahren. Schweigt, als die malerische Altstadt durch die Bäume sichtbar wird, schweigt, als sie in die Plöck einfahren und schweigt zum Glück auch, als ihre Mutter minutenlang an leeren Parklücken vorbeifährt, bis sie drei nebeneinander liegende findet, in die sie ohne zu manövrieren einparken kann. Pats steigt aus und schweigt. Ihr Strumpfhosenzwickel hängt irgendwo zwischen den Oberschenkeln.

»Könntest du bitte deine Strumpfhose hochziehen! Wie du rumläufst, merkst du das eigentlich nicht?« Natürlich sagt dieses Kind nichts, steht einfach nur stumm, irgendwie unterwürfig, da. Natürlich kann sie die Strumpfhose nicht weiter nach oben ziehen, die ist einfach zu kurz. »Du bist doch jetzt wirklich kein Kleinkind mehr, du musst beim Anziehen doch merken, wenn dir was nicht passt. Warum kannst du nicht rechtzeitig Bescheid sagen, dann ersparen wir uns so eine peinliche Situation!« Sie muss doch dazu zu bringen sein, irgendetwas zu sagen, wie lange will sie sich eigentlich demütigen lassen? »Na danke, ich hatte zwar was anderes vor, schließlich muss ich übermorgen nach London fliegen, aber wenn Fräulein Pats eine Strumpfhose braucht, dann gehen wir halt zuerst zu C & A und kaufen eine.« Als ob sie den gierigen Blick nicht sehen würde, den Pats auf die Konditoreiauslagen wirft. Ein Kännchen Kaffee wäre ja schon verlockend, aber die Blicke, bis sie einen Tisch gefunden haben, und die Zeit, bis die Kellnerin die Karte gebracht und Pats sich endlich entschieden hat. Außerdem kostet das bestimmt wieder drei oder vier Mark, und zu Hause steht schließlich die Kaffeemaschine. »Na los, ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm, das spielt ihr doch immer, wie ging das doch gleich?« Erstaunt guckt Pats zu ihr hoch, hat wohl nicht erwartet, dass der Wind heute nochmal dreht. Zögernd setzt sie den rotbraunen, an der Kuppe zerschrammten Lederstiefel einen Schritt vor, »und eins«, zieht den linken Fuß nach, »und zwei«, wieder kommt die zerschrammte Kuppe unter dem blauen Dufflecoat hervor, »und drei«, schmerzhaft drücken ihr Pats Finger den Ehering ins Fleisch, als wollte sie ihr etwas zurückgeben, heimzahlen, »komm, Mama, und vier«. Der feine Nieselregen ist ihnen in die Fußgängerzone gefolgt, noch braucht man keine Kapuze, aber in der warmen Kaufhausluft wird der feuchte Schleier ihre Haare in eine klebrigklamme Masse verwandeln. »Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm«, abrupt bleibt Pats stehen, die vorbeigehenden Passanten lächeln belustigt, um sie herum spannen sich die ersten Regenschirme auf. »Schluss jetzt, Pats, ich will unter dem Dach sein, bevor es richtig losgeht.« Ihren guten Willen hat sie jetzt doch wirklich bewiesen. Pats schluckt. Saxophontöne reißen Löcher in den tristen Nachmittag, die nasse Luft. Elisabeth nimmt Pats an die Hand, zieht sie, vorbei an C & A, an Regenschirmen und Schaufensterauslagen, über die glänzenden Pflastersteine. Bis sie vor dem Schuhladen stehen. Der Saxophonspieler hat sich so weit nach hinten gebeugt, dass sein Hut fast das Schaufenster berührt. Er muss sie meinen, er hat sie gerufen: Folge mir, Mary Elisabeth Poppins. Gleich werden singende Pinguine aus dem Schuhladen watscheln und einen Stepdance aufführen, eine bonbonfarbene Karussellgondel wird vor Pats halten, und der Himmel verwandelt sich in Zuckerwatte. Den Kopf in den Nacken gelegt spürt sie, wie die Regentropfen auf ihre geschlossenen Lider schlagen.

Was hat sie nicht alles angestellt, um glücklich zu werden: Anglistik studiert und Geographie, erstes und zweites Staatsexamen, Referendariat in Nullkommanichts. Sie ist alleine aus der hessischen Provinz in die große Universitätsstadt gezogen, hat sich die leichten Mädchenzigaretten ab- und Gauloises angewöhnt (für Gitanes hat ihre Überwindung dann doch nicht gereicht, von denen ist ihr immer schlecht geworden). Eine ein-Meter-zweiundsechzig-kleine Person von achtundvierzig Kilo beeindruckt die brillanten Alphatierchen auch schon mit Gauloises, vor allem, da sie am Abend locker eine Packung wegraucht und ihr davon höchstens die Lippen austrocknen. Nur ihre viel zu kleinen Brüste waren ein eindeutiges Manko. Denn natürlich haben sie das registriert, die künftigen Akademiker, sie selber hätte nie einen Gedanken darauf verwendet, ob sie wohl große Penisse haben. Mit nach Hause genommen und geheiratet haben die dann natürlich doch lieber die mit den großen Brüsten, die, für deren Körbchengröße sie sich vor der Dessousverkäuferin nicht zu schämen brauchen. Aber für verqualmte Abende und Blicke durch viereckige Brillengestelle, »Eliten sind Machteliten«, eignet sich die fast schon asexuelle Elisabeth viel besser, tiefes Luftholen, »weil sie ihre Auffassung durchzusetzen vermögen und nicht, weil sie das Fleisch auf dieselbe Art tranchieren, die gleichen Bücher lesen und denselben Theaterstücken applaudieren.« Vielleicht bestand ihre Eignung vor allem darin, nicht auf der Frage rumzureiten, wie glücklich die Beauvoir wohl mit Sartre und dem vermeintlich einvernehmlichen Beziehungsmodell gewesen ist.

Es brauchte nicht lange, bis die 23 Gauloises in der Aufwachspucke sie genauso angewidert haben wie ihre Selbstverleugnung, und so hat sie sich ein Dreivierteljahr später für den Einzigen entschieden, der kein viereckiges Brillengestell braucht und sie auch tagsüber zum Lachen bringen kann und der ihre Hühnerbrüste mag und dabei Billy Wilder zitiert, der über Audrey Hepburn gesagt haben soll, »das Mädchen wird den Busen noch völlig aus der Mode bringen«. Für den Mann, der morgens um neun mit einem Korb voll Butterbroten, hartgekochten Eiern und Sardellenpaste im Hausflur steht, ihrer Zimmerwirtin ein Usambaraveilchen in die Hand drückt und mit dem Kinn eine Geste die Treppe hinauf macht: Das Fräulein Untermieterin wolle er abholen, ja, zu einem Ausflug, zur Thingstätte, ja, ja, die kenne man auch als junger Mensch noch, und ja, danke, gewisse Tugenden pflege man auch heute noch, entgegen aller Vorurteile, ja, er wisse, was über die Studenten in der Zeitung stünde, und nein, danke, einen Kaffee jetzt gerade nicht und die Fotos könne man ja ein andermal … Sie weiß noch, wie sie an der Stelle kichern musste hinter ihrer Glastür, oben im ersten Stock, auf sechs Quadratmetern mit Dachfenster zum Schlossberg, und sich beinahe am Zahnpastaschaum verschluckt hat, weil sie schon vor sich sieht, wie er nachher, wenn sie unter irgendeinem Busch abseits der Thingstätte liegen, mit seiner großen Pranke ihre kleine, magere Brust umschließen und sagen wird, »ja, danke, gewisse Tugenden pflegt man auch heute noch, die Liebe zur freien Natur, ach nein, die Liebe in der freien Natur, ach nein, die freie Liebe in der Natur«, und dann wird er seine Hand hochnehmen und ihre Brustwarze sich wegen der plötzlichen Kühle aufrichten und er sich über sie beugen und ihre Brustwarze zwischen die Lippen nehmen, sein Räuber-Hotzenplotz-Bart wird kratzen, und wird auf ihrer Brustwarze herumkauen, gerade so fest, dass sie das Unbehagen herunter schluckt und sich ganz fest einredet, dass es so sein muss. Während ihr Hinterkopf rhythmisch über die kurzen trockenen Grasbüschel schrappt und Hagen sich mit den Armen rechts und links von ihrem Oberkörper abstützt – wer ihn über das Gestrüpp hinweg sieht, muss denken, dass da einer Liegestütze im Zeitraffer macht –, freut sie sich auf die Butterbrote und die hartgekochten Eier, die sie hinterher mit großen Schlucken Chianti direkt aus der Flasche runterspülen werden. Bis heute hat sie den Geruch von hartgekochten Eiern in der Nase, wenn er kommt. Aber jetzt ist es zu spät, ihm zu sagen, dass ihr das Brustwarzenkauen schon immer unangenehm war. Seine Wortspiele sich abgenutzt haben. »Früher hat dir das gefallen«, ja, früher hat sie gehofft, wenn ihr das gefiele, dann würde alles gut.

»Mama?« Pats tritt von einem Bein aufs andere, »ich muss mal. Und wir wollten doch Strumpfhosen kaufen.« Wie sie dasteht, mit gegrätschten Beinen, den Strumpfhosenzwickel mindestens eine Handbreit unter dem Schritt, mit diesen großen Augen. Gleich wird sie die Tränen nicht mehr halten können, ihre Mundwinkel zucken schon. »Herrgott, verdammt nochmal, putz dir doch die Nase«, Elisabeth zerrt ein zusammengeknülltes Tempo aus dem Ärmelaufschlag, »wenn du schon kein eigenes hast, mach doch mal den Mund auf, statt mich so anzustarren!« Hass durchflutet einen, angeblich, aber das Bild stimmt nicht, ihr Hass fühlt sich anders an, kantig, und er kommt in Stößen. Ihr Hass kriecht in sie hinein und nimmt ihr die Fäden aus der Hand, sobald sie Pats Gesichtsausdruck sieht, die Demütigung in ihren Augen, die sie nicht mehr sehen will, nicht mehr aushalten kann.

»Entschuldigung, können Sie sich vielleicht zur Abwechslung mal Ihren Kundinnen widmen? Sie sehen doch, dass die Schlange immer länger wird.« Wie auf Kommando drehen sich die Köpfe in der Schlange zu ihr um. Die Plastikbügel, an denen Pats neue Strumpfhosen baumeln, rutschen zwischen ihren feuchten Fingern durch und landen auf dem Kaufhausboden. »Wenn Ihnen nicht gefällt, wie wir unsere Arbeit machen, können Sie sich gerne an einer anderen Kasse anstellen, junge Frau.« Ruckartig straffen sich ihre Schultern, sie geht in Kampfposition. »Mama, nicht!«, Pats hält ihr die drei-zum-Preis-von-zwei-Strumpfhosen hin, wischt sich die Knie ab und guckt von unten zu ihr herauf. »Mama, wir haben es doch schon fast geschafft«, steht ihr ins Gesicht geschrieben, dann guckt sie sehnsüchtig rüber zu dem Palominopferd vor der Umkleidekabine, eigentlich ist sie dafür schon viel zu groß, aber da wird sie dann gerne wieder zum kleinen Mädchen, das auf mechanischen Münzeinwurfspferden reitet. »Wissen Sie, wenn Sie Ihre Arbeit machen würden, hätte ich ja nichts gesagt, aber vor Ihrer Kasse warten fünf Personen.« Jetzt heben auch die Kunden an den Wühltischen und Ständern den Blick von Preisschildern und Reinigungshinweisen, um zu sehen, was da an der Kasse vor sich geht. Elisabeth spürt die Hitze am Hals, mit Sicherheit kriechen ihr dunkelrot hektische Flecken am Hals entlang. »Die Reihenfolge, in der wir den Bedürfnissen unserer Kunden nachkommen, überlassen Sie bitte uns. Im Übrigen könnte ich die Dame schon längst kassiert haben, wenn Sie hier nicht den Betrieb aufhalten würden.« Sie hätte es dabei bewenden lassen sollen. Sie hätte sich nicht provozieren lassen dürfen.

Pats ist anzusehen, dass sie weiß, was jetzt kommt. Ihr Kopf verschwindet fast in ihrem großen roten Rollkragen, mit hängenden Armen weicht sie einen Schritt zurück, stolpert dabei in die Plastiktüte einer Kundin. »Herrgott, pass auf, die werden doch ganz schmutzig.« Sie reißt ihr die Strumpfhosen, die fast auf dem Boden schleifen, aus der Hand, mit drei Schritten ist sie an der Schlange vorbei, drängt die Kundin, die gerade bezahlen will, beiseite, stützt die Handflächen auf die Theke und lehnt sich der Verkäuferin entgegen. Bis sich ihre Gesichter fast berühren. Das hier ist ein Kaufhaus. In Kaufhäusern gibt es an jeder Ecke Spiegel. Sie weiß, was die Kassiererin gerade vor sich sieht: ein feindseliges Wesen mit stahlblauen, durchdringenden Augen und kriegerisch abstehenden Haaren, die sich wie eine Schlangenbrut auf ihrem Kopf winden, eine Mischung aus Gorgo und der Amazone, die sie so gerne wäre. ›Doppelt gemoppelt hält besser‹, sagt sie immer, Amazonen haben sich eine Brust abnehmen lassen, um besser schießen zu können, sie hat gleich gar keine. Die einzige Waffe, die ihr zur Verfügung steht, ist der Bügel mit den Mädchenstrumpfhosen Größe 148.

Sie kann doch nicht allen Ernstes, doch, kann sie, die Kassiererin zuckt zurück, ihre Kollegin ist schon am Haustelefon, um die Wühltische herum ist es still geworden, Kinder zeigen mit dem Finger auf Elisabeth, »Mama, was macht die Frau da?« Nur das Palominopferd bewegt sich mechanisch auf seiner Schiene vor und zurück. Eigentlich hatte sie die Verkäuferin bitten wollen, ihr zwei Fünfziger für den Münzeinwurf zu wechseln, sie hatte sich sogar schon den Satz überlegt, »ob Sie mir bitte eine Mark kleinmachen können, für das Pferd?«, kleinmachen, hätte sie gesagt, nicht »einwechseln«, und nicht »für den Münzeinwurf«, sondern »für das Pferd«. Man muss nur die Worte richtig aussuchen. Sie verwendet viel Zeit auf die richtigen Worte, es soll sie ja keiner für arrogant halten, nur weil sie keinen Dialekt kann. Und jetzt das. Nicht mal mehr auf dem Palominopferd wird Pats reiten können, das hat sie gründlich vermasselt, der Striemen im Gesicht der Kassiererin fängt sofort an zu schwellen. »Ein bisschen Aufmerksamkeit, ist das zu viel verlangt?« Die Frau neben ihr starrt, das geöffnete Portemonnaie in der Hand, auf die Kassiererin. Diese billig verschweißten Plastikbügel haben scharfkantige Nähte, selber schuld, wenn man für eine Billigkette arbeitet, bei einem textilverkleideten Bügel wäre die Wange der Kassiererin besser weggekommen. Die Frau neben ihr hat ihre Brille abgenommen und wischt mit den Fingern auf den Gläsern herum. Keiner hält Elisabeth auf. An der Rolltreppe zögert Pats, bevor sie auf die geriffelte Platte tritt, die vor ihr aus dem Boden kommt, den Blick rückwärts über ihre Schulter auf das Palominopferd geheftet. Als der Metallkasten mit den blinkenden Glühbirnen, auf dem das Pferd befestigt ist, langsam aus ihrem Blickfeld entschwindet, versucht sie ihre Hand zwischen Pats’ zusammengeballte Finger zu schieben. Als Pats’ Widerstand nachlässt, spürt sie in ihrer Handinnenfläche zwei harte Münzen. Das war es also, was Hagen seiner Tochter in die Hand gedrückt hat.

17:43 zeigt die große Uhr im Schaufenster gegenüber. Um sich in der Scheibe zu spiegeln, muss sie sich direkt davor stellen, auch wenn das so aussieht, als wollte sie die Fahndungsplakate studieren, dabei will sie nur die abstehenden Haare flachdrücken. Ingrid Siepmann mustert sie missbilligend von ihrem Fahndungsplakat herunter, versagt, Elisabeth, scheint sie zu sagen, was willste denn mit deiner kleinen, spießbürgerlichen Strumpfhosenattacke, deiner individualistischen Tat, schon bewirken? Die hat’s geschafft, sich losgesagt, hat verzichtet auf die bürgerlichen Annehmlichkeiten, Vorsicht Schusswaffen, da hätte sie eben eine von gebrauchen können. Oder die Mohnhaupt, mit ihren tiefen Augenschatten, fünf Jahre jünger als sie und auch nur 1,60–1,62 m groß. Eine kleine, aber entschlossene Person. Ansonsten kann sie beim besten Willen keine Ähnlichkeit erkennen, meine kleine Terroristin nennt Hagen sie manchmal, liebevoll klingt das allerdings nie. Ab 18 Uhr rutscht sie in die nächste Tarifstufe, aber in drei, vier Minuten können sie’s bis zum Parkhaus schaffen. »Komm, das mit der Drogerie lassen wir jetzt, ich kann mir die Sachen auch noch am Flughafen besorgen.« An der Fassade über ihren Köpfen lässt der Pustefix-Bär bläulich und lila schillernde Seifenblasen in den schiefergrauen Abendhimmel steigen.

Schlucken lernen

Es gibt eine ganz bestimmte Aufgabe zu erledigen. Sie ist diejenige, die das hinkriegt. Hilf ihr, stolz zu sein auf das, was sie tut. Sorg dafür, dass sie Anerkennung bekommt. Wertschätzung und Anerkennung sind ihr Lohn. Verschaff ihr genügend davon.

Porkette Handbuch

Perry, September 1st 1979

Icon Play

Blondie ist zum dritten Mal mit Heart of Glass durch. Ob sie’s nochmal riskieren kann? Nicht, dass Larry genau in dem Moment reinkommt, wenn sie nackt vom Tisch steigt, um die Kassette zurück zu spulen. Um sieben war Schichtende, garantiert hat Wayne sich noch was einfallen lassen, um ihn bis halb acht aufzuhalten, eine Viertelstunde in der Umkleide, zwei, drei Zigaretten mit den Jungs, Rührei mit Bratkartoffeln und Speck bei Safeway – Larrys Morgenprogramm ist fast so verlässlich wie die Weltzeituhr. Tatsächlich, kaum setzt Blondie zum vierten Mal an, Once I had a love, and it was a gas, hört sie den Kies in der Einfahrt knirschen. Gleich wird Larry die Tür zu seinem Pick-up hinter sich zuschmeißen, dann das Poltern, wenn er seine Arbeitsstiefel auf der hinteren Treppe fallen lässt, die fellgefütterte Weste abstreift und das karierte Flanellhemd aufknöpft (er hat nur karierte Flanellhemden). Mit einem Klirren kommt seine Gürtelschnalle auf den Küchenfliesen auf, ein sanftes Ploppen, die Kühlschranktür, das darauffolgende metallische Knacken verrät ihr, dass es keine Milchflasche ist, die er sich daran aufmacht. Soon found out I was losing my mind, gleich wird sich sein nackter Oberkörper mit der ausgefransten Narbe, die sie so gerne mit dem Finger nachfährt, durch die bunten Plastikschnüre schieben, seemed like the real thing, but I was so blind / Mucho mistrust, love’s gone behind, in Erwartung, sie im Frotteemantel am Frühstückstisch zu finden. »Shirl, bist Du wach? – Was’n das für ’ne beschissene Musik? Um die Uhrzeit!« Gleich. Gleich. Das Haarspray, das Trish ihr im Salon draufgemacht hat, hat sie sofort wieder rausgebürstet. »Angela Davis«, hat sie versucht zu beschreiben, wie es hinterher aussehen soll. Verrucht und verwegen. Eine Rebellin zwischen all den betonierten Haarhelmen à la Doris Day. »Fick mich, lass mich die schmutzige Bettwäsche, den Schlachtgeruch und den Mittleren Westen vergessen.« Das sollte ihre Botschaft an Larry sein. Natürlich hat sie’s beim Friseur ein bisschen anders beschrieben: »So Richtung Black Power«. Kopfschüttelnd hat Trish toupiert, kopfschüttelnd Aqua Net in den Afro gesprüht, ihr die Tür aufgehalten und sie mit einem Kopfschütteln in die nach Schlachtbetrieb und Faulgasen stinkende Willis Avenue entlassen. Die Donuts-Verkäuferin musste sich ganz schön anstrengen, nicht dauernd auf ihre Angela-Davis-Frisur zu starren, aber die ist auch auf Doris Day hängen geblieben und am Rückspiegel ihres Chevy hängen selbstgebastelte Miniaturmaiskolben aus Salzteig. Larry macht das an, ihre Haare mit beiden Händen an den Wurzeln zu packen und bei jedem Stoß dran zu reißen. Deswegen hat sie das Haarspray auch gleich wieder ausgebürstet. Heute kriegt er einen Freifahrtschein, heute darf er alles, heute wird sie alles mit sich machen lassen. Gleich. Sie wird ihn sogar in den Mund nehmen. Wenn sie ihn heute in den Mund nimmt und Larry an ihren Haaren reißen lässt, wenn sie ihn dazu bringen kann, sich gehen zu lassen, wenn er einmal vergisst, sich über den Haushalt oder Pete aufzuregen, dann 

»Was soll das? Kann man hier nicht mal morgens seine Ruhe haben?« Sein Oberkörper schiebt sich durch die bunten Plastikschnüre, die aufgefädelten Kunststoffperlen klackern gegen die Bierflasche. Sein Blick, der zunächst verdutzt auf ihren Oberschenkeln landet – auf dem Esstisch hat er sie nicht erwartet – wandert zu ihrem Gesicht. »Is’ keine Milch mehr da.« Nur ganz kurz mustert er ihren Afro, bevor sein Blick zu ihren Unterschenkeln zurückkehrt. »Und rasier’ dich mal.«

An den Haaren hat er sie an dem Tag nicht mehr gepackt, und von der Schwangerschaft hat sie ihm auch nicht erzählt. Plötzlich hat sie das Schwein in ihm gesehen. Will sie ein Kind von einem Schwein, den Rest ihres Lebens zwischen Schweinen zubringen?, hat sie sich gefragt, als Annie sie acht Stunden später zu ihrer ersten Mary-Kay-Party abgeholt hat. »Ihr arbeitet doch alle in der Fleischverarbeitung?«, hat Carol Sendich, die Mary-Kay-Direktorin mit dem Goldzahn und der goldenen Hummel am Revers, sie gefragt. »Dann stellt euch bitte mal folgende Situation vor: Ihr wollt ab sofort den Verkauf von Corned Beef neu organisieren. Ihr habt einen Termin mit dem Werksleiter und stellt ihm euer Konzept vor. Und eure Konditionen natürlich. Erstens. Sie geben mir 50 % Kommission auf jede verkaufte Büchse Corned Beef. Zweitens. Ich überzeuge weitere Frauen, Corned Beef zu verkaufen. Auf jede Büchse Corned Beef, die eine von mir angeworbene Frau verkauft, bekomme ich Provision. Drittens. Ich lege selbst fest, wann und wie viel ich arbeite. An manchen Tagen werde ich keinen Gedanken an Corned Beef verschwenden, an anderen wird Ihr Fließband nicht hinterherkommen, so viel Corned Beef werde ich verkaufen. Für die immense Steigerung Ihres Corned-Beef-Absatzes schulden Sie mir Anerkennung: Brillantschmuck, exotische Reisen, Prämien. Muss ich noch erwähnen, dass ich dazu einen eigenen PKW benötige? Pink. Pink muss er sein.« Mit großen Augen haben sie dagesessen und die Frau mit dem Goldzahn angestarrt. Ihre Freundin Annie hat es nicht beim Träumen belassen. Annie hat noch am selben Abend den Bestellschein ausgefüllt.

Seitdem schwärmt Annie über abgebrühten Schweinehälften von Hautpflegeprodukten, schmeißt nach, vor und zwischen ihren Schichten Hautpflegepartys und versucht, in der Umkleide verschwitzte Fließbandarbeiterinnen für eine Mary-Kay-Karriere zu begeistern. Natürlich hätte Carol Sendich am liebsten auch gleich Shirley Pesternecks Unterschrift einkassiert. Ob sie, wenn die Produkte ihr doch so zusagen, es nicht selber mit Mary Kay versuchen möchte, schon allein wegen der 50 % Rabatt, die sie als selbstständige Schönheitsberaterin auf jede Bestellung bekommt. Dass sie doch mal ganz unverbindlich mit einer Party bei sich anfangen könnte, als Gastgeberin springen für sie 10 % Rabatt auf alles raus, was sie an dem Abend kauft. Einen Lippenstift legt sie noch oben drauf. Klar hat Carols Vorstellung sie beeindruckt. Natürlich hat sie ihr das komplette Basis-Set aus Reinigungscreme, Gesichtswasser, Nachtcreme, Maske und Grundierung für 27,50 Dollar abgekauft und selbstverständlich ist sie sofort eingesprungen, als Annie sie letzte Woche gebeten hat. »Weißt du, Shirl, wenn du schon nicht selber einsteigen willst, kannst du ja vielleicht wenigstens eine Party bei Gloria in Marshalltown organisieren und deine Porkette-Mädels dazu einladen. Wenn jede von denen nur eine Creme nimmt, oder die Maske oder einen Lippenstift – das wird ein Mordsspaß, glaub mir, und ich hab hinterher meine 30, 40 Dollar beisammen. Scottie braucht schon wieder diesen teuren Hustensaft.«

Als würde sich auch nur eins von ihren Porkette-Mädels mit einer Maske oder einer Creme begnügen. Zu fünft haben sie sich bei Gloria, Shirleys Mom, in Marshalltown um den Küchentisch gedrängt, in den Mundwinkeln die Salzkrümel ihrer Salty Dogs, Shirley, Annie, Choppy Cindy und Betty, eine Schulkantinenkollegin ihrer Mom. Die beiden Älteren hatten schon ein bisschen vorgeglüht, wobei, was heißt älter, so jung ist Cindy auch nicht mehr. Ihre Lederhaut macht sie wahrscheinlich älter, als sie ist, aber über vierzig ist sie auf jeden Fall. Drei in Alkohol konservierte Weiber und Annie, das Hühnchen, mit ihren 24 Jahren und ihrer glatt über die Wangenknochen gespannten Haut, an jedem Ohrläppchen ein Glitzerklunker, Beine bis zum Hals und ein Mund, in den die halbe Oscar-Mayer-Belegschaft gerne mal was reinschieben würde. Ihre Porkettes haben sich mit den Handrücken die Salzkrümel aus den Mundwinkeln gewischt und gehofft, dass in den Tübchen, die Annie da abwechselnd hochhält und auf- und zuschraubt, auch ein bisschen Annie drinsteckt. Annie, die Cremes auf ihren Händen und in ihren Gesichtern verteilt, »das ist eine Serie, alles aufeinander abgestimmt, einzeln bringen die nicht die erwünschte Wirkung, die kann ich euch nur als komplettes Set verkaufen.« Was haben sie gehofft, dass sie auch ein bisschen was vom Annie-Look aus diesen Tübchen herausdrücken und auf ihren Gesichtern verteilen können. Annie, die die Reihenfolge von Reinigungscreme und Maske verwechselt und ihnen natürlich hinterher die Tübchen doch einzeln verkauft, mit dem Fingernagel kleine Portionen aus dem Tiegel schabt und in Frischhaltefolie einwickelt, damit sie sich einen Tiegel zu dritt leisten können, scheiß drauf. Dann jede noch einen Salty Dog, sie hatten einen Mordsspaß, Annie ihre 43 Kröten in der Tasche, Betty einen Schwips und »ne Haut wie’n Babypopo, wie’n Babypopo …«

Gloria hat Annie ein zweites Bettzeug gegeben, »in dem Zustand fahrt ihr nicht mehr zurück«, dann haben sie in Shirleys altem Kinderzimmer gelegen und sie hat Annie von der missglückten Stripteaseaktion erzählt. Und dass sie schwanger ist. Sie haben noch eine und noch eine geraucht und schweigend durch das kleine Fenster in die Nacht gestarrt. In der Dunkelheit lässt sich leichter vergessen, dass sie von Maisfeldern, Schlachtanlagen und Futtersilos umgeben sind. Kurz vor dem Einschlafen hat Annie gemurmelt, »ganz ehrlich, Shirley, wenn du Larry echt abschießen willst, wär’ Mary Kay doch die ideale Lösung für dich. Was die andere Geschichte angeht, du weißt schon, da hat Carol garantiert auch eine Lösung.«

Carol Sendich, das ist die Frau mit dem Goldzahn, für die 1980 das Jahr werden soll, in dem sie ihre nylonbestrumpften Beine in einen Pink Cadillac schwingt. Carol Sendich aus der Ukraine, deren Urgroßmutter nicht mal ein Plumpsklo hatte (geschweige denn Nylonstrumpfhosen), für die 1980 das Jahr werden soll, in dem sie ihre Verkaufseinheit zur erfolgreichsten von Iowa macht. Dazu braucht sie Mädels wie Shirley und Annie. Annie, der man die Legende vom alten Fellgerber mit den jungen Händen sofort abkauft. Alt und knittrig soll er eines Tages gewesen sein, wie nicht anders zu erwarten. Die Natur macht auch vor alten Fellgerbern nicht Halt. Bemerkenswert allerdings, dass sie vor seinen Händen Halt gemacht hat. Das hat auch den alten Fellgerber gewundert. Bis er sich daran erinnert hat, dass er seine Hände jahrelang in Gerbsäure gebadet hat. Klug, wie so ein alter Fellgerber ist, erkennt er den Zusammenhang zwischen Gerbsäure, Tier- und Frauenhäuten und entwickelt eine verjüngende Hautpflegeserie für Frauen. So die Legende. Dabei war Annies Haut schon makellos, bevor sie Mary-Kay-Produkte verwendet hat. Jedenfalls vergeht in Annies Leben inzwischen kaum ein Tag ohne Carol Sendich, die alles, was sie über Hautpflege, alles, was sie über Rekrutierung, alles, was sie über die einmalige Chance weiß, die Mary-Kay-Frauen bietet, mit Annie teilt. Genauso wenig, wie seit ihrem Gespräch in ihrem alten Mädchenzimmer in Marshalltown ein Tag vergeht, an dem Shirley Eudora Pesterneck nicht darüber nachdenken würde, was sie sich alles leisten könnte, wenn sie sich Annie und Carol und all den Frauen anschließt, die beschlossen haben, mit Mary-Kay-Kosmetik ihr Leben zu bereichern.

Kaum waren sie aus Marshalltown zurück, hat sie sich vor den Badspiegel gestellt und versucht, sich selber anzusprechen. Aber sie hat sich’s nicht abgekauft. Carol würde sie alles abkaufen. Carol Sendich, die ihr erzählt, dass die Flügel von Hummeln – den Gesetzen der Aerodynamik zufolge – einfach zu schwach sind und ihr Körper zu schwer, als dass die Hummel fliegen könnte. Aber die Hummel weiß das nicht. Sie fliegt einfach los. Carol Sendich, die es mit Mary-Kay-Kosmetik in weniger als einem Dreivierteljahr zur Verkaufsdirektorin und zum Buick Regal gebracht hat. Bei Carol ist die Magie wahr geworden. Von Carols Gesichtspflegepartys geht keine ohne die komplette Basisausstattung raus. Bei Carol ist nichts mit Portiönchen in Folie packen und Tubeninhalte zentimeterweise kaufen. Wenn jemand einer Hummel das Fliegen beibringen kann, dann Carol. Also hat sie Carol angerufen, sie hätte es sich überlegt und würde jetzt doch gerne die Gastgeberin sein. »Wunderbar, Sweety, wusst’ ich’s doch, dass du früher oder später anbeißen würdest – ich erkenn doch eine Mary-Kay-Kandidatin!« Nicht mal groß was vorbereiten müsse sie, nur einen Tisch frei räumen, dazu vier Stühle. Für Spiegel und Unterlagen hat Carol sich zuständig erklärt – »fließend Wasser und ein paar Handtücher wird’s bei dir ja wohl geben.«

Dann hat Carol sogar extra eine Riesenschüssel Snowy Confetti Chicken Salad in ihrem Buick Regal angekarrt, damit Shirley nach ihrer Schicht nicht auch noch Häppchen zubereiten muss. Eine Stunde nach der Party steht sie mit immer noch perfekt erdbeerroten Lippen in Larrys Küche, während Shirley ihre Salatschüssel spült. Carols Makellosigkeit lässt die vergilbten Wände und die von Feuchtigkeit aufgequollenen Pressspanregale noch schäbiger wirken. Als könnte sie Gedanken lesen, legt Carol Shirley ihre erdbeerroten Fingernägel auf die Schulter. Unter der Puderschicht wirken die matten Härchen auf ihren Wangen fast durchsichtig, nur der vorstehende Leberfleck über ihrem erdbeerroten Mundwinkel glänzt. Vielleicht klebt Carol den da auch nur hin, sie wird mal drauf achten müssen, ob der immer an derselben Stelle sitzt. Mit dieser Frau kann sie ja wohl schlecht über künstliche Schönheitsflecke und die Nachteile von Pressspanregalen reden, von der Fließbandzerlegung von Schweinen oder dem Gewerkschaftsstreik in Greeley ganz zu schweigen. »Dein Hühnchen-im-Schneegestöber-Salat war großartig, verrätst du mir das Rezept?« Sie reicht Carol das hellblaue Salatbesteck mit den Hühnerköpfen, Carols erdbeerfarbene Mundwinkel heben sich, ihr Blick wandert über Shirleys handetikettierte Einmachgläser auf den Wandborden. »Eigentlich ist das mein ganz persönliches Geheimrezept. Aber für dich mach ich eine Ausnahme – bist ja schon fast eine von uns!« Die Duftwellen, die Carol aussendet, sind schwer und üppig, Jasmin und irgendwas Orientalisches, eine ganz andere Liga als Shirleys Allerwelts-Charlie. »Also, du brauchst: Gelatine, Hühnerbouillon und Mayonnaise. Komm bloß nicht auf die Idee, die selber zu machen, die kaufst du schön im Glas und in der gesparten Zeit machst du locker drei Partytermine aus. Ich steh ja auf Hellmann’s.« Hellmann’s, schreibt Shirley auf den Einkaufszettel, Carol muss ja nicht wissen, dass sie lieber die markenlose Mayo nimmt, die ist fast 20 Cent günstiger. »Was das Hühnchenfleisch angeht: Büchsenhühnchen! Den Unterschied merkt kein Mensch. Nur den Sellerie musst du schon selber schnippeln. Sellerie ist ein so dankbares Gemüse, ganz wenig Kalorien.« Sellerie mag ich nicht besonders, liegt ihr schon auf der Zunge und ob sie den durch Mais oder Möhren ersetzen kann. Carols Blick sagt alles. Der Sellerie steht nicht zur Debatte. Carol Sendich hat in ihrer grenzenlosen Großzügigkeit ausgerechnet sie, Shirley Eudora Pesterneck mit der Schmuddelküche und dem struppigen Afro, auserkoren und bietet ihr die Chance ihres Lebens. Da sortiert man nicht einfach den Sellerie aus. »Die Gelatine rührst du in die heiße Bouillon und lässt das abkühlen, bis es zu gelieren anfängt. Mach bloß nicht denselben Fehler wie ich, in der Zwischenzeit schnell Wäsche aufhängen zu wollen – kaum komm ich zurück in die Küche, ist das Zeug so fest, dass ich’s stürzen kann. Ein Grund mehr, dir eine Haushaltshilfe zu nehmen, wenn du ernsthaft bei Mary Kay einsteigen willst.«

Ein Rezept für finanzielle Unabhängigkeit hat sie sich erhofft, und jetzt soll sie teure Mayonnaise kaufen, Sellerie essen, den sie hasst, und Geld ausgeben, das sie nicht hat? »Sobald die Mischung zähflüssig wird, mischst du die restlichen Zutaten und die steifgeschlagene Sahne drunter und stellst das über Nacht kalt.« Genau. Sellerie wegen der Kalorienarmut, aber Schlagsahne unter den Salat schmuggeln. Sie wird sich hüten, Carol auf diesen Widerspruch hinzuweisen. »Zum Garnieren kannst du Gurkenrosetten oder Radieschenröschen nehmen wie die meisten. Ich persönlich hab’s ja gerne ein bisschen stilvoll, ich nehme Kapern und Oliven. Aber da kann nicht jeder was mit anfangen.« Wie zufällig lässt Carol den Zeigefinger über die Etiketten von Shirleys Einmachgläsern mit den eingelegten Gurken, dem süß-sauren Kürbis und der eingekochten Sülze streifen. »Möchtest du ein Glas mitnehmen? Hausmannskost. Kocht meine Mom nach original polnischem Rezept.« Aus dem Ausguss gluckert es. Sie hängt das Geschirrtuch über den Boiler und streckt sich nach einem Glas, »Hier, Schweinskopfsülze, sozusagen die polnische Version von deinem Gelatinesalat. Passt gut zu Bratkartoffeln.« Carols Pupillen weiten sich, sie ähnelt jetzt ein bisschen den Trickfilmfiguren aus den Cartoonserien, die Pete immer guckt. Zögernd nimmt sie das handbeschriftete Einmachglas entgegen, das Shirley ihr hinhält. Als würde die Schweinskopfsülze gleich nach ihren sorgfältig manikürten Fingernägeln schnappen. »Danke, aber ich habe lange und hart gearbeitet, um mich von meiner ukrainischen Sippe abzusetzen. An deiner Stelle würde ich auch nicht so mit meinem Polackenerbe hausieren gehen, wenn du’s bei Mary Kay zu etwas bringen willst.« Carol nimmt ihr die Salatschüssel aus der Hand, stellt das Glas mit der Schweinskopfsülze in die Schüssel und drückt mit dem Rücken die Verandatür auf, den Buick hat sie direkt neben Larrys klapprigem Dodge in der Auffahrt geparkt. »Aus dir könnten wir wirklich was machen, ich sehe da großes Entwicklungspotenzial. Manchmal ist es nur eine Frage der Disziplin. Alles andere stehen wir gemeinsam durch.« Noch einmal legen sich die erdbeerfarbenen Fingernägel auf Shirleys Unterarm. »Pass auf: Ich lasse dir jetzt einfach die Starterausstattung da, ohne Zahlung, ohne Vertrag. Dafür räumst du deine polnische Sülze aus dem Regal, stellst ein Basis-Set auf den freigewordenen Platz und guckst, was das mit dir macht. Falls du noch was anderes aus dem Regal zu räumen hast …«, sie wirft einen vielsagenden Blick auf Shirleys Bauch und streicht mit dem Finger über das Einmachglas in der Salatschüssel. »Wenn du bei Mary Kay einsteigst, kann es passieren, dass du viel schneller erfolgreich bist, als du dir jetzt vielleicht erträumen kannst. Dazu bräuchten wir aber die ganze Shirley. Da muss man sich auch mal von liebgewonnenen Dingen verabschieden können.« Die Spitze ihres glänzenden Pumps landet auf der Trittklappe von Shirleys Mülleimer, die erdbeerroten Fingernägel umschließen jetzt fest das Sülzeglas. »Ich kann mir vorstellen, dass die Teilnahme an einem unserer Gesichtspflegeseminare in London dir bei deiner Entscheidung helfen könnte. In London läufst du keine Gefahr, beim Betreten oder Verlassen bestimmter Gebäude erkannt zu werden, wenn du verstehst, was ich meine …«

Sie hat Larry immer noch nicht gesagt, dass sie schwanger ist. Ein Gesichtspflegeseminar in London, er wird sie für verrückt erklären. Andererseits, die Vorstellung, sich regelmäßig die Haare machen zu lassen und im eigenen Auto über die Highways zu brausen, vielleicht sogar mit schwarzen Ledersitzen, oder wenigstens Kunstleder, eine riesige Sonnenbrille im Gesicht, die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, Blondie, Pete Seeger, die King Singers – Musik, die ihr gefällt, nicht Larrys Country-Gejaule – und nur mit Frauen zu tun zu haben, Frauen, denen sie dabei helfen kann, mehr aus sich rauszuholen und sich unabhängig zu machen von Männern, die sich wie Schweine benehmen. »…wärst du finanziell unabhängig und könntest jeden Monat etwas für Petes Zukunft zurücklegen.« Carol guckt sie auffordernd an, das Glas mit der Schweinskopfsülze in ihrer Hand schwebt über dem geöffneten Mülleimerdeckel. Wenn sie sich Larrys Verhalten in den letzten Tagen anguckt, kann sie sich immer weniger vorstellen, ein Kind mit ihm … Carol scheint ja wirklich an sie zu glauben. Sie schluckt kurz, guckt auf das Einmachglas, auf den geöffneten Mülleimer und nickt Carol zu. »Mir ist natürlich klar, dass ein Busticket nach Chicago oder in irgendeine andere anonyme Großstadt günstiger ist als eine Reise nach London. Deswegen beteiligt sich Mary Kay natürlich an der Qualifizierung von Frauen, die die Chance ergreifen wollen.« Carol öffnet die Hand mit dem Glas und nimmt den Fuß von der Trittklappe, der zufallende Deckel übertönt das Geräusch beim Aufprallen des Glases. »Lass es mich so formulieren: Dein Höhenflug bei Mary Kay soll nicht an zu schweren Flügeln scheitern. Wenn du dich von irgendwas befreien willst, ruf mich an. Wir bei Mary Kay sind füreinander da.«

Carol hat Shirley die Zaubersätze diktiert, die sie aufrichten sollen, wenn sie zweifelt. Die Zaubersätze, deren Magie sich entfaltet, sobald man sie aufschreibt. Also hat Shirley noch am selben Abend die Einmachgläser mit der Sülze, dem süßsauren Kürbis und den eingelegten Gurken aus dem Küchenregal geräumt und die Tuben und Tiegel mit Reinigungscreme, Gesichtswasser, Nachtcreme, Maske und Grundierung dort aufgebaut. Den Zettel mit den magischen Sätzen an den Badspiegel gehängt, damit die Magie sich entfalten kann. Hat sich vorgenommen, sobald er nach Hause kommt, mit Larry zu sprechen. Ihm endlich von der Schwangerschaft zu erzählen. Ob er sich das vorstellen kann, ein Kind mit ihr, und dass sie nebenbei ein bisschen was mit Kosmetik dazuverdient. Aber dann ist er wieder erst so spät von seiner Sauftour nach Hause gekommen, dass sie schon längst im Bett lag. Er muss noch am Kühlschrank gewesen sein und sich den Rest Snowy Confetti Chicken Salad reingeschoben haben. Sein Sellerieatem war kaum auszuhalten. Irgendwann ist sie mit hochgeschobenem Nachthemd aufgewacht, hat gespürt, wie sich etwas an ihrer Unterhose vorbei in sie hineinschiebt und bevor sie etwas sagen konnte, hat er ihr mit der Zunge ein paar Selleriefasern in den Mund geschoben.

Carols Jasmingeruch hängt noch in der Küche, Carols Worte in ihrem Kopf, und den Selleriegeschmack hat sie auch mit Zahnpasta nicht weggekriegt. Shirley zieht die Verandatür hinter sich zu und tritt in den kühlfeuchten Morgennebel, der sich in den nächsten zwanzig Minuten lichten wird, auch wenn er jetzt noch wie eine feuchte Mullbinde in ihre Mundhöhle zu kriechen und sich um ihre Lungen zu legen versucht. Eine feuchte Mullbinde getränkt mit Kadavergeruch. Sie wirft ihre Tasche auf den Beifahrersitz, schiebt die leeren Bierdosen im Fußraum beiseite und klettert ins Fahrerhäuschen. Im Kassettendeck steckt Rednecks, white socks and Blue Ribbon Beer, immer dieselbe gottverdammte Kassette, als ob’s nichts anderes gäbe. Jesusfuckinchrist, was hält sie eigentlich, doch nicht die 6,40 Dollar die Stunde? Bei fünf Schichten in der Woche kommt sie auf knapp tausend Dollar im Monat, und Oscar Mayer zahlt gut, keine Frage. Aber ist das die Schüssel Gold am Ende des Regenbogens? In einer Schrottlaube mit Fadenkreuzaufkleber auf dem Armaturenbrett zur Schicht fahren, sich eine Arbeitsmontur überstreifen, in der sie vergisst, dass sie eine Frau ist, würden die Jungs es nicht gelegentlich mit dem Wasserstrahl des Reinigungsschlauchs nachprüfen. Acht Stunden lang Kartons in den Kompressor stopfen, toten Säuen die Zitzen absäbeln und sich dabei schlüpfrige Witze anhören und an den Arsch grabschen lassen? Plötzlich, sie biegt gerade aus der Ausfahrt, lichtet sich der Morgennebel und Carols magische Sätze entfalten ihren Zauber.

Ich arbeite gerne mit Menschen. (Bisher ja eher mit toten Tieren und kreischenden Maschinen. Und, naja, auch mit schweigenden Menschen.)

Ich bin attraktiv.

Noch sitzt da ein struppiger Afro mit Augenringen hinter dem Steuer. Aber das ist nur eine Frage der Disziplin. Und der richtigen Hautpflege.

Ich bin entschlossen.

Noch sehen sie ein bisschen fremd aus zwischen ihren Einmachgläsern, die Tuben und Tiegel mit Nachtcreme, Gesichtswasser und Grundierung. Noch ist sie vom falschen Mann schwanger. Noch trägt sie ihr Herz auf der Zunge. Aber sie wird nach London fliegen und lernen, zu lächeln, zu schweigen. Sellerie zu schlucken. Mary Kay ist ihre Chance. Auch wenn sie die Reinigungscreme in den Truthahnbräter schmieren und die Nachtcreme zu Jell-O-Pudding verarbeiten muss, sie ist dabei, what the fuck!

SCHWEINE

Marshalltown Village Cooperative, November 11th 2014

Icon Play

So. Ich denke, das sollte reichen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Trauen Sie sich das zu? Sie haben 24 Stunden, um das restliche Material zu sichten, auf Anschlussfehler zu prüfen und die Timecodes zu erfassen, also ganz klassische Script/Continuity-Aufgaben. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr Zeit geben, aber sie läuft mir ja selber davon. Mein eigenes Band fängt langsam an zu leiern. Was Parkinson ist, wissen Sie, oder? Da kommt es im Hirn zur fehlgeleiteten Signalübermittlung. Die kranken Nervenzellen verursachen einen Konflikt von Signalen und bringen sich dadurch letztendlich selbst um. Was wollen Sie machen, wenn Ihre Hirnzellen scharenweise Selbstmord begehen? Natürlich lässt sich das verzögern, ich krieg zum Glück Pramipexol, aber das hat auch so seine Nebenwirkungen … Ich kann zum Beispiel nicht mehr einschätzen, ob meine Halluzinationen davon kommen oder Anzeichen einer beginnenden Demenz sind. Dabei war ich mal verdammt gut in meinem Job, aber jetzt bin ich kein zuverlässiger Zeuge mehr.

Am Anfang bin ich ja noch zu den Spielenachmittagen gegangen, Wortfindung und Gedächtnistraining zur Demenzprophylaxe. Scrabble hab ich am liebsten gespielt, kennen Sie, oder? Da legen Sie aus Buchstaben Begriffe, jeder Buchstabe hat einen bestimmten Punktwert, und auf bestimmten Feldern wird der Wert verdoppelt oder verdreifacht. Hier, gucken Sie, der letzte Spielstand, S, E, N und I bringen je einen, C, W und H