Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85962-4)
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www.beltz.de
1. Auflage 2013
© 2013 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de (Gestaltung),
www.stephanengelke.de (Beratung)
Umschlagabbildung: © Joachim Rolff für Major Ton Records KG
Inhalt
1Intro
2Völlig losgelöst vom Selbstwert – Nomen est omen
3Die Mutter des Seins ist der Selbstwert
4Kindheit und Jugend: Hier liegt der Schlüssel
5Urvertrauen nachträglich fassen – geht das?
6Mein eigener Selbstwert – wie kann ich ihn messen?
7Von A-rroganz bis Z-ynismus: Selbstschutz statt Selbstwert
8Macht der Gewohnheit durch Strukturen: Die eigene Komfortzone verlassen
9»Die Liebe fürs Leben finden« oder »Die Kultur des Egotrips«
10Karriere ja oder nein? – Selbstwert m8 Erfolg
11Wie gesund macht mich mein Selbstwert? – Oder was Erholung mit gesundem Selbstwert zu tun hat
12Wer bin ich: Schonungslose Selbstanalyse und Schatten-Persönlichkeit
13Nackter Selbstwert oder frei von Scham …
14Ein Tag im Leben (m)eines Selbstwertes – Ein Antivirusprogramm
15Die Selbstwertiker
16Outro
Literaturhinweise
1 Intro
Der Mensch ist ein sehr komplexes, individuelles Wesen, mit all seinen Verletzlichkeiten und Erfahrungen, die zum Teil weit in seine Prägungsphase hineinreichen. Individuell auch schon deswegen, weil wir alle kulturell, intellektuell, emotional usw. auf unterschiedlichste Weise geprägt sind.
Manchmal sitze ich im Auto, in der S-Bahn oder im Flugzeug, beobachte Menschen und frage mich, wie diese unterschiedlichsten Interessen, Egoismen, persönlichen Voraussetzungen, individuellen emotionalen Zustände überhaupt so zusammenwirken, dass unsere Gesellschaft auch nur halbwegs funktioniert – wenn es denn so ist.
Einen Teil dieser Antwort findet man in psychologischen oder psychoanalytischen Theorien, die von übergreifenden Ordnungsprinzipien ausgehen, sei es bei den Sozialpsychologen, Motivationsforschern, in Untersuchungen zur moralischen Entwicklung von Kindern, sei es bei Sigmund Freud oder C. G. Jung, bei Letzterem zum Beispiel in der Lehre von den kollektiven Archetypen, die unser Bewusstsein beeinflussen. Also ist der Mensch doch nicht so individuell?
Ich will an dieser Stelle in keine psychologische Theorie eintauchen, auch wenn ich später auf die eine oder andere zurückkommen werde. Denn eigentlich geht es in diesem Buch um eine Vision. Um die Vision, was unser Leben auf einen guten Weg bringt. Man könnte mit dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt einwenden: »Wer Visionen hat, muss zum Arzt«, aber ich meine: »Wer keine hat – auch.«
Ein Beispiel: Als ich im Jahre 1982 den Song U.S.A für mein erstes Album schrieb, war ich noch nie dort gewesen. Erst in den Jahren 1985/1986 lebte ich zwei Jahre lang in New York und gelegentlich in Los Angeles. Ebenso durchquerte ich die USA auf diversen Promotion-Touren. Doch ohne je vorher dort gewesen zu sein, konnte ich in diesem Songtext diese Nation auf den Punkt bringen.
Zweites Beispiel: Ich war – man glaubt es kaum – tatsächlich noch nie im Weltall. Dennoch gelang es mir mit meinem bisher größten Erfolg »Major Tom«, das Lebensgefühl der Astro-/Kosmonauten zu treffen. Ich weiß dies, da ich mittlerweile einige der Jungs persönlich getroffen habe, die da oben waren. Von Prof. Ernst Messerschmid, Gerhard Thiele über Miroslaw Hermaszewski bis hin zu Ed Buckbee.
Und noch ein drittes und letztes Beispiel: Der Text zu dem Song »Die Wüste lebt« entstand 1981. Er ist heute (leider) aktueller denn je.
Vor diesem Hintergrund wage ich mich also an ein bereits von vielen Seiten beleuchtetes Thema der Psychologie heran. Dabei handelt es sich um das Thema »Selbstwert« mit all seinen Facetten.
Ich bin überzeugt, dass ich Ihnen dieses Thema und die vielfach damit verbundenen Probleme, untermauert mit meinen sehr persönlichen Erfahrungen, auf eine Weise nahebringen kann, in der Sie sich selbst wiederfinden, so dass Sie angeregt werden, einige meiner Gedanken und Erkenntnisse auch auf sich zu beziehen. Vielleicht sehen Sie nach der Lektüre dieses Buches sogar das eine oder andere in Ihrem Leben anders und sind bereit, was Sie schon lange stört, an sich zu ändern. Aber das bleibt natürlich einzig und alleine Ihnen überlassen. Dazu gehe ich offen – und, wie ich glaube, auch ehrlich – auf Sie als Leser zu und bedanke mich schon jetzt für diese nonverbale Kommunikation und wiederum daraus folgend – Ihre Offenheit.
Es dauerte lange, bis ich endlich begriff, wie es dazu kam, dass ich als deutscher Musiker mit unnachahmlichen Erfolgen weltweit nach sieben Jahren auf der Überholspur, in denen ich von nahezu allen geliebt und gefeiert wurde, relativ schonungslos wieder down to earth landete. Vorbei war es mit »völlig losgelöst von der Erde«: Ich war körperlich und psychisch an meine Grenzen gestoßen und kündigte ad hoc alle meine nationalen wie internationalen Verträge – und das, obwohl ich in den Hot-100-Billboard-Charts 1989 mit dem Titel »The different story« ein weiteres Mal ganz oben eingestiegen war – alles andere als selbstverständlich für einen europäischen – insbesondere einen deutschen – Künstler!
Der von mir gewählte, freiwillige Ausstieg aus dem Geschäft und das zu einem Zeitpunkt, an dem es so richtig »brummte«, war beides: überlebensnotwendig und gleichzeitig ein schmerzhafter Schnitt. Denn wer mich kennt, weiß, wie sehr ich diesen Beruf und meine Musik liebe.
Aber es musste sein, und womöglich wäre es zu diesem Buch gar nicht mehr gekommen, wenn ich nicht so konsequent gegen den Strom geschwommen wäre und entsprechend gehandelt hätte.
Meinen damaligen inneren und körperlichen Zusammenbruch nannten Mediziner »Burnout«. Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts war das noch kein geläufiger Begriff.
Ich selbst aber stieg tiefer in meine Situation ein. Zuerst in einer Art Selbsttherapie, bis ich nach einer gewissen Zeit spürte, dass ich ohne professionelle Hilfe nicht weiterkomme.
Somit begann die Suche nach dem geeigneten Psychotherapeuten, denn nicht jeder Therapeut passt zu jedem Patienten. Es dauerte zwei (!) Jahre, bis ich den richtigen gefunden hatte. Deswegen der »richtige«, weil ich mich durch seine väterliche Art verstanden und nicht bewertet fühlte. Mag sein, dass es damit zu tun hatte, dass ich meinen Vater persönlich nie gekannt habe.
Dieser Psychologe machte mir erst einmal klar, dass all das Geschehene nichts mit Glück, Pech oder anderen schicksalhaften Mächten zu tun hatte, sondern vielmehr hausgemacht war: der Erfolg UND der Misserfolg. Klingt abenteuerlich, werden Sie sagen. Stimmt aber. Doch der Schlüssel, das Geschehene wirklich zu begreifen, hängt mit dem Thema zusammen, das für mich seit geraumer Zeit und jetzt auch in diesem Buch absolut im Vordergrund steht: Letztlich laufen alle Spuren beim Selbstwert zusammen, bei dem Gefühl, sich selbst etwas wert zu sein. Das ist der Code, das ist der Schlüssel für alles!
Ob Sie erfolgreich sind, ob Sie glücklich oder unglücklich verheiratet sind, ob Sie mehr ins Verliebtsein verliebt sind oder wirkliche Nähe zulassen können, ob Sie mit Ihren Projekten scheitern oder Ihr Erfolg durch die Decke geht. Das alles lässt sich aus einer Art Formel ableiten, auf die ich später noch zu sprechen komme: Selbstwert=(M)m8=Erfolg.
Ich begriff übrigens ziemlich schnell, dass einem bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstwert schnell das Prinzip »Wer hat Schuld?« in den Sinn kommt, weil diese Frage zu beantworten so herrlich leicht und bequem erscheint. Aber immer nur nach »Schuld« zu fragen, ob sie nun bei einem selbst liegt oder den anderen, hilft überhaupt nicht weiter. Das Zauberwort heißt dagegen Eigenverantwortung, was auch mir auf meiner Suche nach dem verlorenen Selbstwert enorm weiterhalf.
Nach einer schweren Kindheit, geprägt von Gewalt im Elternhaus und Kinderheim, später bei der Oma aufgewachsen, wurde mir ein wesentliches Merkmal für ein gesundes Selbstwertgefühl nicht mit auf den Weg gegeben: das Urvertrauen. Psychologen rätseln bis heute, ob dieses Manko reparabel ist, ob man es auch zu einem späteren Zeitpunkt wiederherstellen kann oder zumindest kompensieren.
Als ich zum Botschafter des Deutschen Kinderschutzbundes ernannt wurde, machte ich Schluss mit Halbwahrheiten und gab ein öffentliches Statement ab, warum ich authentisch für diese Aufgabe stehe. Ich schloss diese Begründung mit den Worten: »Die blauen Flecken, die Schmerzen, die Prügel, die ich als Kind abbekommen habe, das klingt hart, aber sie heilen, sie gehen vorbei. Was bleibt und was dich dein ganzes Leben begleitet, in jeder Sequenz, ist der bereits in der Kindheit niedergeprügelte Selbstwert, und das geschieht nicht nur durch körperliche Gewalt, sondern noch schlimmer: durch Worte der Geringschätzung, die so weit gehen, sich nur noch als ein ›Nichts‹ zu fühlen, als ›ungewollt‹, ›wertlos‹ und so weiter. Mit dem Widerhall solcher Worte geht man als Kind in die Schule, auf den Sportplatz und in die Pubertät – nicht ganz so einfach.«
Bei mir war damit der Grundstein für einen in manchen Phasen des Lebens komplett außer Gefecht gesetzten Selbstwert gelegt. Erst in den Jahren der Therapie wurde mir klar, dass ein weiterer erfolgreicher Lebensweg, und damit meine ich nicht nur beruflichen Erfolg, zwingend auf einem gesunden Selbstwert beruhen muss.
Somit ist an meiner Lebensgeschichte – da besonders plakativ, besonders schwarz/weiß, besonders öffentlich – die Bedeutung eines gesunden Selbstwerts besonders gut abzulesen.
Ich stehe als prominenter Protagonist für die Entschlüsselung dieses persönlichen Codes, denn ich habe selbst erfahren, wie der Selbstwert zu reparieren ist. Dennoch ist meine Erfahrung auf jeden von uns anwendbar. Wenn Sie sich dem Thema öffnen, werden Sie merken, dass Sie unter Umständen so manches Verhaltensmuster bei sich gar nicht vermutet hätten. Befand sich Ihre Persönlichkeitsstruktur doch so angenehm geparkt im toten Winkel Ihres Lebens. Das Unterbewusste hat – vereinfacht ausgedrückt – so tief liegende Schichten, da lassen sich ein paar Trojaner in Ihrem persönlichen Netzwerk leicht verstecken. Doch erst, wenn Sie hinschauen, entschlüsseln und das annehmen, was Ihnen widerfahren ist, können Sie Selbstzweifel, Sorgen und Ängste ablegen und zu einem gesunden Selbstwert gelangen.
Als ich kürzlich von einer Journalistin auf mein offenes Interview in der »Bild am Sonntag« angesprochen wurde, in dem ich erzählte, dass ich in der Kindheit über Jahre geprügelt wurde und dass es mir erst nach Jahrzehnten geglückt war, meiner Mutter zu verzeihen, zollte sie mir höchsten Respekt. »Das ist groß«, meinte sie. Danke für das Kompliment. Ich habe zugegebenermaßen lange gebraucht bis zu diesem Punkt. Denn hinter mir liegt eine weite Strecke, auf der ich nicht nur einmal das Gefühl hatte, umdrehen zu wollen oder zu müssen. Denn eine Psychotherapie ist am Ende ein Prozess des Verstehens und der Einsicht. Das ist anstrengend und oftmals sehr schmerzlich.
Auf dem Gipfel meiner ersten Karriere in den 80er-Jahren lag mein Selbstwert bei vielleicht gerade einmal 20 Prozent. Kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, dass ich weltweit durchstartete, Festivals in Rio vor Menschenmassen spielte, meine Songs sich millionenfach verkauften und ich mit namhaften Größen wie The Police oder Fleetwood Mac im Studio war. Das alles half nichts – zumindest meinem Selbstwert nichts. Im Gegenteil, es machte mich noch viel unsicherer, dass ich, dem absolut nichts zuzutrauen war, plötzlich in dieser Liga mitspielte. Nicht ich kannte Freddie Mercury – nein –, er kannte mich. So geschehen bei der Release-Party des Queen-Albums »I want to break free« in Los Angeles. Aber ich besaß zu diesem Zeitpunkt null Selbstwert, er war einfach weg, mein Vertrauen in mich existierte nicht. Ich war mir einfach nichts wert.
Damit sind wir bei einem anderen Begriff, der sehr viel mit Selbstwert zu tun hat, nämlich dem schon kurz angesprochenen »Urvertrauen«. Der Begriff stammt aus der Theorie der psychosozialen Entwicklung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson. Danach entwickelt sich das Urvertrauen in der frühesten Kindheit und hilft einem später, Nähe zu anderen Menschen aufzubauen und »solide sowie emotional erfüllende Beziehungen eingehen zu können«.
Tröstlich und untröstlich zugleich ist die Tatsache, dass nicht nur Menschen aus zerrütteten Familien, so wie ich, sondern auch Kinder ganz mustergültiger Eltern mit Selbstwertschwäche durchs Leben gehen können. Man kann von Vater, Mutter, Großeltern also geliebt und von Kollegen geschätzt werden und sich dennoch selbst wertlos fühlen. Aber jeder hat die Gelegenheit – wie gerade oder ungerade der Lebenslauf auch sein mag –, viel für den eigenen Selbstwert zu tun. Auch Sie können die Blockaden in Ihrer Psyche niederreißen.
Manche tendieren dazu, sich ein Pseudoselbstwertgefühl aufzubauen. Auch ich habe das hin und wieder versucht. Doch auch diese Rechnung geht im Endeffekt nicht auf. Weil Sie Ihr Inneres nicht überlisten können und weil jedes Selbstwert-Schauspiel vor anderen Menschen enorme Kräfte kostet und ab einem gewissen Zeitpunkt ohnehin in sich zusammenfällt, was geradezu peinlich wirken kann. Im Übrigen ist der Weg in eine Depression dann nicht mehr weit.
Ganz wichtig ist, sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Das ist nicht nur für unsere Gesundheit gut und wichtig, sondern auch für den Aufbau bzw. die Reparatur unseres Selbstwerts. Denn wenn Sie mit einem Rucksack voller Selbstzweifel, angestauter Furcht, hohem Kränkungspotenzial, oft auch Wut, Kritikunfähigkeit und so vielem mehr am sozialen Leben teilnehmen, senden Sie dort eine Mischung aus alldem aus und erzeugen meist Reibung. Sie ecken an. Womit Ihnen erneut bestätigt wird, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Ich selbst habe mir einen solchen Cocktail auch angerührt, der geradewegs in eine Katastrophe führte: Karriere zu Fall gebracht und soziale Kontakte nur an bestimmten Zielen ausgerichtet, die meiner damaligen inneren Struktur entsprachen. So waren echte partnerschaftliche Bindungen unmöglich und geprägt von einer Art Selbst-Zweck oder, um deutlicher zu werden: Ich habe besonders Frauen als Vehikel meines Egotrips eingesetzt.
So etwas geht eine ganze Zeit lang gut, besonders wenn man noch jünger ist. Wer aber nicht aufpasst, verpasst den Zeitpunkt, sich rechtzeitig neu zu finden.
Aber wie soll das gehen? Im besten Fall hilft einem dabei ein nahestehender Mensch aus dem persönlichsten Umfeld wieder auf die Beine, vorausgesetzt er oder sie teilt Ihnen schonungslos seine oder ihre Meinung mit. Oder Sie suchen nach professioneller Hilfe.
Mit den Lehren, die ich aus der Zeit mit »meinem« bereits erwähnten Psychologen zog, habe ich dieses Buch erarbeitet, das Ihnen Schritt für Schritt einen Weg zu gesundem Selbstwert aufzeigt und Ihnen – ganz ehrlich – ein schonungsloser Ratgeber sein soll.
2 Völlig losgelöst vom Selbstwert – Nomen est omen
Nach diesen einleitenden Worten möchte ich nun zunächst auf mein ureigenes Selbstwert-Profil eingehen.
Von Kindesbeinen an wurde mir der Wert meiner Persönlichkeit nie vermittelt. Das heißt: Ich war mir eines Wertes meiner Person an sich überhaupt nicht bewusst. Was das Wort »Selbstwert« bezeichnet – keine Ahnung. Wie sollte ich damit umgehen, wenn meine sozialen Kontakte Bezug auf mein Selbstwertgefühl nahmen? So wurde ich zum Beispiel zum Klassensprecher in der Grundschule und später zum Schulsprecher an der Realschule gewählt und wusste mit dieser Aufwertung meiner Person überhaupt nichts anzufangen. Entsprechend waren auch die Ergebnisse meiner »Amtszeit« als Schulsprecher. Durch mein fehlendes Wertesystem war ich mir der Verantwortung dieser Aufgabe nicht bewusst. Ich spürte wohl, dass ich bei meinen Altersgenossen auf eine bestimmte Weise sehr gut ankam, war mir aber des Wertes dieser Anerkennung nicht bewusst, wie auch. Zu Hause erwartete mich jeden Abend eine Mutter, deren Stimmungslage für mein Leben ausschlaggebend war. Darum drehte sich bei mir als Kind und Heranwachsendem alles. Zeit für ein »sich selbst bewusst werden« gab es nicht. Alle Kapazitäten waren erschöpft. Erst als meine Mutter aus der gemeinsamen Wohnung mit meiner Großmutter auszog, da war ich 13 Jahre alt, erwachte so etwas wie »Forschergeist« in mir. Aber da lagen die Jahre, die mich prägten, schon lange hinter mir. So hinkte ich mit meiner Selbstfindung und dem sich daraus entwickelnden Selbstwert stets hinterher. Was soziale Folgen in der Form nach sich zog, dass ich nahezu konfliktunfähig war, mir also fast alles gefallen ließ. So kannte ich es nun einmal von zu Hause. Soziale Kompetenz konnte ich mir nur über Fußball oder Musik erwerben. Im direkten Kontakt zu meinen Altersgenossen galt ich jedoch als schwierig. Somit war ich lange in der Rolle des manchmal zwar anerkannten Kumpels, aber doch Außenseiters gefangen. Große Gruppen waren mir suspekt. Ich entwickelte mich im Laufe der Zeit eher zu einem Einzelgänger, der Freundschaften nicht einging oder nicht pflegen konnte.
Als ich meine Lehre als Reiseverkehrskaufmann antrat, verhielt es sich auch hier so, dass man mir einiges zutraute, ich mit diesem Vertrauensvorschuss aber überhaupt nichts anfangen konnte. Ich kam in einen laufenden Bürobetrieb mit seiner ganzen Hackordnung und all den Befindlichkeiten, die jeder Mitarbeiter so mit sich herumtrug. Ich glaube, ich stolperte in jede Falle, die man mir stellte.
Sicherlich erwecke ich nach diesen Zeilen den Eindruck eines schwächlichen, untauglichen Jugendlichen. Dem war aber beileibe nicht so, denn parallel zu diesen Ereignissen baute ich mir meine Welt auf ganz eigene Weise zusammen. So bewarb ich mich zum Beispiel bei meiner ersten »amtlichen« Band als Sänger und wurde auf Anhieb genommen. Davon wusste außer meiner Großmutter niemand. Außerdem spielte ich mittlerweile einen ziemlich guten Fußball, wurde meistens als Erster in Mannschaften gewählt und sogar zu einem Probetraining zum VfB Stuttgart eingeladen. Das bestand ich, wollte mich aber lieber auf meine Musik konzentrieren. So baute sich im Laufe dieser Zeit durchaus ein wenig Selbstvertrauen auf.
Ich war zu dieser Zeit sechzehn Jahre alt und fühlte mich zum ersten Mal zumindest ansatzweise akzeptiert. Natürlich schmeichelte es mir auch, in dieser Zeit bei den Mädchen einen Stein im Brett zu haben, also, wie es so schön heißt, »gut anzukommen«. Auch das musste ich erst begreifen lernen, denn ich war mir ja – trotz allem – immer noch nichts wert.
Im Nachhinein sehe ich es so: Ich funktionierte mehr, als dass ich in der Lage war, zu steuern. Ich schildere Ihnen das ganz bewusst detailliert, um Ihnen einen Einblick in die Gefühlswelt eines solch »selbstwertlosen« Lebens zu geben. Alles, was passierte, bezog ich niemals auf meine Leistung, sondern auf Zufall oder weil gerade kein anderer zur Verfügung stand. Bei meinem ersten zarten Anbandeln mit jungen Mädchen war es dann auch so, dass ich, sobald diese etwas Ernsteres wollten, Reißaus nahm. Eine Bindung einzugehen war für mich nicht möglich. Ich hatte so etwas noch nie erlebt oder durch andere erfahren. Ich war also schon als Heranwachsender klassisch bindungsunfähig. Zu diesem Zeitpunkt um mein achtzehntes Lebensjahr herum nicht weiter schlimm, aber im späteren Alter sollte sich das noch als richtiges Problem für mich herauskristallisieren.
Ich fragte mich immer wieder, wie andere Jungs so viel wissen konnten, und habe dabei nicht bemerkt, wie viel ich eigentlich schon selber wusste. Spielte mir jemand einen a-Moll-Akkord auf der Gitarre, bewunderte ich denjenigen. Ich vergaß dabei völlig, dass ich das auch konnte. Kurzum: Andere waren immer besser als ich selbst. So war ich erzogen worden, so hatte man es mir beigebracht.
Dennoch gelang es mir im Laufe der Jahre durch Beharrlichkeit in den Dingen, die ich tat, und im Verfolgen meiner Ziele so etwas wie ein Selbstbewusstsein aufzubauen. Natürlich mit entsprechend niedrigem Anspruch. Aber es hat irgendwie funktioniert.
Ich habe mich nie zu lange und zu oft in festen Gruppen aufgehalten, sondern eine Art soziales »Outsourcing« betrieben. Überall ein bisschen, aber nirgends so ganz. So waren auch meine damaligen Beziehungen zu Frauen. Ich befand mich in einer Schleife, in der ich mich im Grunde nicht immer wohl fühlte. Aber noch mal – es hat zu dieser Zeit funktioniert.
Eine geraume Zeit sogar sehr gut. Wenn man jung ist, gehört einem schließlich, wie man so schön sagt, die Welt. Jeder Fehler ist erlaubt und wird einem auch verziehen. Wenn ich von Fehlern rede, dann immer von solchen auf dem Boden von Legalität. Ich wundere mich dabei im Übrigen immer wieder, dass ich nie mit dem Gesetz in Konflikt kam. Ich war, obwohl mir als Kind Gewalt wiederfahren war, weder aggressiv noch irgendwie auf »Krawall gebürstet«. Ich machte die Dinge mit mir alleine aus und war allenfalls gegen mich selbst zerstörerisch. Ganz besonders dann, wenn etwas begann zu funktionieren.
Genau das verstand ich nicht. Wie konnte man einen wie mich lieben oder gut finden – unmöglich. Also begann ein Teufelskreis von Anerkennung, die ich nicht verdient zu haben glaubte, und der anschließenden Torpedierung der Absichten derer, die mich gut fanden, bis ich wieder an dem Punkt war, mir Anerkennung neu erkämpfen zu müssen. Ich war also gewissermaßen in einem dauernden »Kampfmodus«. Sehr unentspannt und unerlöst.
Wenn man jung ist, gehört einem die Welt, sagte ich eben. Im Umkehrschluss liegt aber die Gefahr darin, sich durch diese vermeintliche Leichtigkeit nicht weiterzuentwickeln, zu glauben, das bleibt für immer so. Hier hatte ich aber Gott sei Dank ein instinktives Korrektiv in mir. Mir war klar, dass ich diese Zeit dringend dafür verwenden musste, um mich meinem Traum anzunähern, erfolgreich als Singer/Songwriter zu werden. Ich war von diesem Traum geradezu besessen. War es doch die einzige Möglichkeit für mich, Bestätigung zu erhalten. So dachte ich damals.
Durch mein Leben, das ja in verschiedenen sozialen Gruppen stattfand, Arbeit als Autopfleger bei Mercedes, regelmäßig Fußball mit meinen Fußballkumpels, abends mit meinen »Ausgehfreunden«, die Kollegen, mit denen ich Musik machte, dazu die Agentur, die mir ab und zu Auftritte besorgte, bekam ich ja nie persönliche Anerkennung, d. h. Anerkennung für das, was ich war, für meine Existenz als solche. Die Anerkennung bezog sich immer nur auf das, was ich gerade in dem entsprechenden Umfeld tat, leistete. Dass mir mal jemand sagte »Du bist ein wertvoller Mensch« oder »ein toller Charakter«, oder was auch immer in Richtung persönlicher Anerkennung von mir als Mensch und Persönlichkeit ging, kam nie vor. Also hieß es für mich, Leistung zu erbringen – Punkt.
So lässt sich kein echter, tragfähiger Selbstwert aufbauen. Das wird einem im Normalfall vielleicht mit Mitte dreißig oder später bewusst – hoffentlich. Ich hatte jedoch einen Katalysator, der alle meine Vorstellungen sprengen sollte – den Erfolg über Nacht.
Dass dabei ausgerechnet die Zeile »völlig losgelöst« zu meinem Markenzeichen werden sollte, grenzt für mich an »Voodoo« oder nüchterner formuliert, an eine »sich selbst erfüllende Prophezeiung«.
Scheinbar kam dieses Lebensgefühl, diese Geschichte von Major Tom – oder besser nicht scheinbar, denn es hat ja funktioniert –, dermaßen glaubwürdig bei den Menschen an, dass wir streckenweise bis zu 85.000 Tonträger pro Tag verkauften.
Nichts, aber auch gar nichts war für mich mehr begreifbar. Ich war allein, hatte keine richtige Familie, hatte durch mein »Outsourcing Relationship Behaviour« keine wirklich vertrauten Freunde und war in eine Situation geraten, die mich dazu zwang, entweder unterzugehen oder mich dieser einzig wahren Aufgabe meines Lebens zu stellen: Wer bin ich eigentlich, wo liegen meine wahren Qualitäten, was kann ich? Kurz: Was bin ich mir wert – was bestimmt meinen Selbstwert?
Die alles entscheidende Frage im Leben eines jeden Menschen.
Ich wusste damals, nach einem wunderbaren Urlaub im August 1984, dass auf mich ein Lebens-Tsunami zukommen würde. Nachdem sich meine Urlaubsbekanntschaft, mit der ich mich über zwei Wochen super verstanden hatte, verabschiedet hatte, mein Flug ging erst einen Tag später, saß ich am Strand von Albufeira in Portugal und habe mindestens eine halbe Stunde lang geheult wie ein Schlosshund. Ich konnte nicht anders. Es platzte aus mir heraus. Überlebe ich diesen Sturm, der mir drohte, dann wird mich nichts mehr umhauen, wenn nicht, waren das die letzten schönen Momente für eine Weile meines Lebens. Das wusste ich instinktiv und ich lag richtig. Es hat dann auch über zwanzig Jahre gedauert, bis ich wieder an ein Lebensgefühl herankam, das ich als wirklich lebenswert empfand.
3 Die Mutter des Seins ist der Selbstwert
Die Blessuren, die ich, wie man aus der Presse weiß, in meiner Kindheit erlitten habe, waren nicht das Schlimmste. Viel schwerer wog der niedergeprügelte Selbstwert.
Der Selbstwert hat viele Gesichter, genau genommen wohl so viele, wie es Gesichter auf unserem Planeten gibt. Denn der Selbstwert ist höchst individuell. In der Psychologie versteht man darunter die persönliche Einschätzung des eigenen Wertes.
Dabei berücksichtigt man innere wie äußere Eigenschaften, Vorlieben, Schwächen, Stärken, Kompetenzen, Akzeptanz im gesellschaftlichen und familiären Bereich, Religionszugehörigkeit, Nationalitätsbewusstsein und Prägungen von Kindheit an. Wer nicht nur in den Spiegel im Bad schaut, sondern auf den Spiegel seiner ganz persönlichen, höchst individuellen Struktur, kann seinen Wert nicht nur erblicken, sondern auch einschätzen. Bitte schonungslos, Schattenseiten inklusive. Das geht nicht gänzlich alleine. Aber dazu im Laufe der nächsten Kapitel mehr.
Was bin ich mir selbst wert? Welche Wertschätzung habe ich mir gegenüber? Wie trete ich in der Reflexion meiner Mitmenschen auf, d. h., wie werde ich eigentlich gesehen?
Die Spirale ist positiv wie negativ eine schnell nachvollziehbare: Je gesünder der Selbstwert, desto besser die soziale Kompetenz, ergo – in unserer heutigen Welt: desto erfolgreicher der Mensch. Jeder Einzelne speist seinen Selbstwert aus seinem privaten und seinem öffentlichen Selbst. Ist das private einmal angeknackst, gleicht ein intaktes öffentliches das Ungleichgewicht wieder aus. Auch Ihr Verhalten in Gruppen kann dem persönlichen Selbstwert zuträglich sein. Ein eingefleischter Fußballfan kann seinen Selbstwert mit der »Wir sind alle Weltmeister«-Mentalität kurzfristig anheben bzw. immer wieder vitalisieren. Die amerikanische Therapeutin Patricia Linville wusste schon Mitte der 80er: »Je vielschichtiger das Spektrum eigener Selbstkonzeptionen ausfällt, desto leichter lässt sich auch ein einzelner negativer Selbstwert ertragen«, so wird sie von Uwe Kanning zitiert. Fest steht also: Je mehr Selbstwertquellen zu unserem eigenen Selbstwert führen, desto besser, denn dann ertragen wir auch mal einen Dämpfer. Was deutlich macht, dass der Selbstwert Schwankungen unterliegt: Hier eine Kränkung zu Hause, da die Kritik vom Chef, morgens der unfreundliche Schaffner in der S-Bahn, eine Prägung von anno dazumal noch im Ohr – keine gute Voraussetzung für einen guten Tag. Kommt zu vieles zusammen, muss man etwas tun. Der eigene Selbstwert unterliegt harten Prüfungen. Pubertät, Menopause, Renteneintritt, Arbeitslosigkeit, Scheidung sind Major-Themen. Dann gibt’s noch die anderen kleinen Selbstwert-Insekten, die unser gutes Gefühl bedrohen: Kränkungen, Kritik, Beschuldigungen, die schlecht sitzende Frisur, der Zeiger auf der Waage, der zu viel anzeigt. Sie sehen schon: unzählige kleine »Störer« …
Selbstwert ist sichtbar, ja, tatsächlich, und zwar an der Art, wie Sie sich geben, an der Körperhaltung, wie Sie agieren, an Ihrer Ausstrahlung, an Ihren Reaktionsmustern, negativ gesehen an Ihrem Kränkungspotenzial; und wenn der Selbstwert schon lange unter ein gesundes Maß gesunken ist, kann er auch Ihre Gesundheit bedrohen. Der Psychotherapeut Harlich H. Stavemann nennt Selbstwertprobleme als die mit Abstand größte Gruppe emotionaler und psychischer Probleme, die Menschen im Laufe ihres Lebens zu schaffen machen. Etwa 80 % der Patienten in ambulanter Psychotherapie leiden darunter. Es lohnt sich also, nach den Quellen eines gesunden Selbstwerts zu forschen. Lynda Field dazu: »Wenn wir uns selbst achten, sind wir mit uns selbst im Einklang. Wir bestimmen unser Leben selbst und sind anpassungsfähig und im Kontakt zu unseren Kraftquellen.«
Selbstwertstörer lauern überall. Und jeder Mensch, egal welchen Alters, egal aus welcher sozialen Schicht kommend, kann davon betroffen werden. Entdeckt die Frau, dass ihr Mann heimlich Pornos guckt, kann das für sie selbst sehr selbstwertschädigend sein. Eine andere mit anderer Selbstwertstruktur würde vielleicht nur sagen »Was hast du denn? Lass ihn doch!« Und so hängt es von der Persönlichkeit eines jeden Einzelnen ab, was uns trifft und was abprallt. Für Selbstwertschwäche gibt es auch keine Altersgrenze nach oben. Noch für sehr betagte, demenzkranke Menschen ist es wichtig, dass Familie und Betreuer sie zu Aktivitäten anregen, weil ihnen der Impuls dafür und im Zuge dessen der Selbstwert verloren gegangen ist. Ob also Mobbing, schlechte Schulnoten, Hintergehen in der Familie, Fremdgehen, Krankheit, Unzufriedenheit mit der eigenen Optik: Es kann Sie jederzeit treffen. Das hängt ganz von Ihnen ab. Interessant fand ich vor allem in meiner Jugend, dass Menschen, die nach gängigen Maßstäben nicht attraktiv waren, durch die Art ihrer Präsenz, ihre Ausstrahlung und durch das, was sie sagten, irgendwie attraktiver wurden – ja sogar richtig sexy. Sie haben sich selbst und ihren Wert erkannt und somit über Äußerlichkeiten nicht mehr nachgedacht.
Versucht man, den Begriff Selbstwert genau zu erklären, braucht man entweder sehr viel Zeit, sehr viele Worte oder Umschreibungen.
Wichtig ist mir an dieser Stelle der Hinweis, dass Selbstwert und Würde miteinander zusammenhängen. »Wenn wir davon ausgehen, dass Selbstwert der Wert ist, den wir uns persönlich zuschreiben, so ist der Begriff Wert etymologisch mit Würde verwandt«, wie Mario Jacoby in »Scham-Angst und Selbstwertgefühl« schreibt. Ich finde, wir sollten diesen Begriff, wenn er auch etwas altmodisch klingt, nicht ganz außer Acht lassen. Spannend finde ich Jacobys Bild, dass unsere Scham gewissermaßen unsere Würde bewacht. Denken Sie nur an Formulierungen wie »Das ist unter meiner Würde« oder »Würdevolles Verhalten«. Damit ist klar, dass seelische, körperliche und sexuelle Übergriffe unsere Würde traumatisieren. Mit der Erfahrung meiner von Gewalt geprägten Kindheit kann ich das nur bestätigen. Aber auch harmlosere Verletzungen, Beschämungen, Ablehnungen, Kränkungen, egal welcher Art, können dem Einzelnen zusetzen. Wobei mir an dieser Stelle wichtig ist, beim Begriff »harmlos« zu differenzieren. Der kleine Klaps auf den Po mag für das eine Kind eine Katastrophe sein, während ein anderes Kind so etwas als harmlos empfindet.
Neben Würde als Synonym für Selbstwert wird uns im weiteren Verlauf dieses Buches auch immer wieder das begegnen, was wir als Identität bezeichnen.
Im Laufe unseres Lebens durchlaufen wir mehrere Identitätsprozesse. Die Gefühle, die wir dabei empfinden, drückt unser Körper aus. Deshalb sagte ich vorhin, dass man einem jeden den Selbstwert ansieht: Und manchmal ist das, was wir vorgeben zu fühlen, nicht stimmig mit dem, was der Körper »spricht«. Wenn Sie also, selbstwertgebeutelt, gerade den Job verloren haben und, Existenzsorgen im Kreuz, einem Bekannten vormachen wollen, dass es Ihnen dennoch blendend gehe, wird er vielleicht nicht gleich darauf kommen, was in Ihnen vorgeht, wohl aber merken, dass irgendetwas nicht stimmig ist. Unser Gesicht, unser Körper senden Gemütszustände aus. Wieder mal ein Beweis, dass Schönheitsoperationen vielleicht äußeres Mimenspiel vertuschen, nicht aber Ihre Seele belügen können.
Wichtig für unseren eigenen Selbstwert ist die Rückkopplung durch andere Menschen. Sie können uns in der Spiegelung mancher Reaktionen Hinweise geben oder aber direkt ansprechen, was ihnen auffällt. Denn Sie erinnern sich: In unserer Selbsteinschätzung gibt es immer einen toten Winkel.
Selbstwertquellen sind Beziehungsgeflechte, Erinnerungen, Interessen, Emotionen usw. Aber auch sogenannte Modelle flößen uns Selbstwert ein, Menschen, die an irgendeinem Punkt im Leben beeindrucken. Die Psychoanalytikerin Verena Kast berichtet von jenen, »die etwas können, was man selber an sich entwickeln möchte, man kopiert sie, und dann verbessert man die Kopie, bis man, wenn es gut geht, wieder zum Original wird«. Ich selbst hatte so ein Modell: groß, stark, erfolgreich, gebildet, wortgewandt, ein Socializer vor dem Herrn, nicht so zurücknehmend wie ich. Nach so einer Persönlichkeit strebte ich. Als ich mich selbst gefunden hatte, tat dieses Modell nichts mehr zur Sache. Mehr noch: Als eine Bekannte mich bei einer gemeinsamen Begegnung mit ebenjenem Herrn sah, platzte es aus ihr heraus, als sie sinngemäß sagte: »Mach dich neben ihm doch nicht so klein. Du hast längst deine eigene Persönlichkeit gefunden.«
Selbstwert setzt sich demnach aus vielem zusammen, nicht zu vergessen auch aus dem, was man sich erarbeitet hat – und daraus resultierender Bestätigung. Wie viele Menschen haben Angst vor der Rente, weil dann ein nicht unerheblicher Teil ihres Selbstwertgefühls wegbricht. Dass Arbeit eine lohnende Quelle für den Selbstwert darstellt, wusste schon Sigmund Freud. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass man sich zu sehr über seine Firma oder seine Position definieren sollte. An Silvester vor schätzungsweise sieben, acht Jahren war ich auf eine dieser von mir nicht so geschätzten »In«-Partys eingeladen. Man kam so ins Gespräch und beim Small Talk mit einer Frau, einem hohen Tier bei einer Modezeitschrift mit langer Geschichte, ging mir, während sie mir mit entsprechender Attitüde ihre Visitenkarte entgegenstreckte, im Kopf herum: »Was wäre wohl, wenn man ihr diese Position nähme? Um was wäre es dann in diesem Gespräch gegangen? Über was würde sie sich definieren ohne diese Visitenkarte?« Dazu fällt mir ein anderes Beispiel ein, nämlich ein junger Mann, der nach seiner Ausbildung arbeitslos wurde, wo er doch eigentlich das Geschäft der Eltern übernehmen wollte. Aber der Vater war dagegen, und so geriet sein Sohn in eine schwere Identitätskrise, die sich auch im privaten Bereich ausbreitete. Er versuchte, sich das Leben zu nehmen, und kam in eine psychosomatische Klinik. Die anschließende ambulante Psychotherapie nahm er nur wenige Male in Anspruch. Die könnten ihm sowieso nicht helfen, war seine Einschätzung. Er wisse schon, was ihm fehle. Fataler Irrtum. Er ertränkte seine Probleme im Alkohol und erlitt mit Mitte dreißig einen Herzinfarkt. Meiner Meinung nach bleibt ihm nur eine Chance, nämlich indem er einmal auf seinen Seelengrund taucht und aufräumt mit allen Verletzungen, Prägungen und den daraus resultierenden Verhaltensstrukturen.
Auch ein Workaholic, der glaubt, wie ein Uhrwerk funktionieren zu müssen – Leistung, Leistung, Leistung –, gerät in eine nicht minder gefährliche Schleife. Andere wichtige Identitätsbereiche wie Beziehungen und soziale Kontakte werden komplett ausgeblendet bis hin zur Soziophobie. Ich habe es selbst erlebt. Am Schluss dieser Phase hatte ich sogar Angst, wenn das Telefon klingelte.
Was unseren Selbstwert dagegen stärkt, sind Werte. Zum einen als Kind vermittelt, über die Jahre erneuert, wiederbelebt, wie auch immer. Ich ertappe mich dabei, dass ich den Austausch mit anderen Menschen brauche, um mich meinen Werten rückzuversichern. Unsere Umwelt kann uns eben auch helfen, uns zu beschreiben. Was wir selbst nicht erblicken, sehen andere. Schonungslos, aber hilfreich.