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Ammianus-Verlag

Judith C. Vogt

Die Geister des Landes

Das Erwachen – Teil I

Impressum

© 2012, 2014 Ammianus GbR Aachen

Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.

Umschlaggestaltung, Titelfoto und Satz: Thomas Kuhn
Zeichnungen: Tatjana Lehnen
sowie die Charakterportraits nach einer Idee von Juliana Polsterer
Lektorat: Catherine Beck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

ISBN: 9783945025116

www.ammianus.eu - info@ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag

Autorin

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Judith Vogt wurde 1981 in jenem mysteriösen und sagenumwobenen Landstrich geboren, der von tiefen Wäldern, wilden Tieren und grimmigen Ureinwohner beherrscht wird – in der Eifel.

Aufgewachsen in einem 100-Seelen-Dorf verbrachte sie ihre Tage entweder im Wald oder hinter Stapeln von Büchern. Irgendwann, nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin, beschloss sie, die Seiten zu wechseln und Bücher zu schreiben. Dies erwies sich als nicht so einfach wie vermutet, und so haben „Die Geister des Landes“ bereits eine Karriere als Hörbuch beim Hochschulradio Aachen hinter sich, bevor sie beim Ammianus-Verlag heimisch wurden, wo sich noch zwei weitere Bände anschließen werden.

Für den Roman Die zerbrochene Puppe erhielt sie zusammen mit ihrem Mann Christian Vogt im Jahr 2013 den Deutschen Phantastik Preis für den besten deutschsprachigen Roman.

Weitere Infos unter: www.jcvogt.de

Die „Die Geister des Landes“-Trilogie:

Das Erwachen

Gesichtslos

Aus der Tiefe

Dank

Ich bedanke mich bei

… jenen Fans der ersten Stunde, vor allen Dingen Marijke und Judith vom Hochschulradio Aachen.

… bei Stefan und Anna. Trotzdem.

… all jenen, deren Herzblut allmählich auch schon an den „Geistern“ klebt – vor allen Dingen Lydia, die mit mir in finstere Katakomben hinabgestiegen ist.

… Lars Neger, dem doppelten Kollegen – ich drücke deiner „Wolfsbeute“ von Herzen alle Daumen.

… Michael Kuhn, der sich, obgleich er normalerweise auf historischen Pfaden wandelt, von der mythischen Eifelreise hat überzeugen lassen.

… Catherine Beck, meiner Lektorin, die ich „mitnehmen“ durfte.

… Tatjana Lehnen, die behauptet hat, sie könne keine Gesichter malen und sich dann derartig selbst übertroffen hat.

… Juliana, die als Testleserin den Ausschlag gab.

… Thomas Kuhn, für das ganze Drumherum.

… Bianca und Robert vom L__rzeichen.

… allen, die ich vergessen habe. Seht es mir nach, der Weg war lang …

… Christian, wie immer last but not least. Du glaubst mehr dran als ich selbst.

Zitat

I can believe
things that are true
and things that aren‘t true
and I can believe things where nobody
knows if they‘re true or not.

- Neil Gaiman, American Gods

Widmung

Für Yannik,
wie dieses Buch ist er
Einer von Dreien.

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Fiona

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Gregor

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Edi

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Dora

Prolog

Die Hunde bellten gegen die harte Winterluft an.

Als er erwachte, war dieses nach Schnee schmeckende Bellen der erste Sinneseindruck – ein drängendes, sehnendes, kaltes Bellen.

Er war verwirrt, schüttelte sich den Schnee aus dem Mantel, das Laub aus den Haaren. Die Welt sah anders aus, als er sie kannte – die Kanten waren schärfer – die Begrenzungen.

Ja, Begrenzungen. Es gab welche, dort, wo keine sein sollten. Die Welt, wie er sie gekannt hatte, war fließend gewesen – die Welten waren ineinander übergegangen, zerlaufen und hatten sich doch stets erneut gefunden. Nun gab es nur noch das Hier. Das Bellen. Den Schnee. Die harten Linien.

Weiß waren seine Hunde. Rot ihre Ohren, ihre Augen, ihre Lefzen. Weiß war sein Pferd, das Schnauben kaum zu hören durch das aufgeregte Gekläff, am Himmel klirrend wie die Rufe der Gänse, die den Winter ankündigten.

Wut durchzuckte ihn. Wut auf dieses Erwachen in einer Welt, die er nicht wollte.

Die Fackel in seiner Hand brannte hell.

Fiona erwachte mit einem Schrei – in ihrer verkrampften Hand jedoch hielt sie nur einen Kugelschreiber. Sie hatte es erneut aufgeschrieben – wie auch schon in den letzten fünf Nächten hatte sie in einem eilig vom Schreibtisch gezogenen Heft vermerkt: Reiter Feuer Scheunen. Dieser Traum wollte sie einfach nicht in Frieden lassen.

Dennoch – vier Tage lang waren es nur ein Traum und gekritzelte Buchstaben gewesen. Am fünften jedoch hatte in der Zeitung gestanden, dass Brandstifter in der Nacht mehrere Scheunen niedergebrannt hatten.

Fiona massierte ihre Schläfen und seufzte, lauschte dem pfeifenden Wind, der so kurz vor der Neujahrsnacht an ihrem Fenster entlangstrich wie die Finger des Jägers.

Es gab wohl nur eine Person, mit der sie so etwas Verrücktes besprechen konnte. Nur eine einzige Person, die selbst verrückt genug war, daran zu glauben.

Mit zitternder Hand zog sie die Telefonliste ihrer Stufe aus der Schublade und suchte den Namen und die Handynummer heraus. Euler, Dorothea.

Noch einmal seufzte Fiona, als erschütterte es ihr Innerstes, die Nummer zu wählen, die hinter dem Namen prangte. Dann jedoch tastete sie nach dem Telefon – um drei Uhr nachts.

Der Herr der Wälder

Die Stille hatte sich geradezu klebrig zwischen ihnen ausgebreitet. Auch die Heide, sonst dürr unter dem ewig darüberpfeifenden Wind, hatte sich in etwas verwandelt, das unter ihren Schuhen die unangenehme Konsistenz von Kleister hatte.

„Da wären wir.“ Entschlossen hatte Dora ihre Worte der Stille abgetrotzt, so entschlossen, dass ein Vogel mit einem spitzen, aufgeschreckten Schrei davonflatterte – Edi fühlte sich wie mit einem Ruck aus der Dunkelheit an festes Land gezogen, Gregor neben ihm zuckte zusammen.

„Sollen wir nicht langsam mal anfangen?“, fuhr Dora, mutiger geworden, fort und wedelte mit ihrer Taschenlampe.

„Sollten wir nicht einfach tagsüber wiederkommen?“, hörte Edi seine eigene Stimme leise und gedämpft – er presste sich bereits den Hemdsärmel gegen die Nase, seit sie in Riechweite der Heide gekommen waren.

Auch Gregor ächzte unwillig bei dem Gedanken, mit irgendetwas anzufangen, das nicht Weggehen bedeutete.

„Unsinn!“, empörte sich Dora. „Okay, es ist etwas früher dunkel geworden, als ich dachte. Aber heute ist Vollmond, und es gibt keine Zeit, die besser geeignet wäre …“

„Aber es stinkt“, unterbrach Edi sie, für den Fall, dass es jemandem entgangen war.

„Ach, so was – ich dachte, du hättest ein neues Deo“, ärgerte Gregor ihn und atmete mit einem Geräusch ein, das Edi den Magen umdrehte. Er hoffte, der Gestank mochte noch ein wenig länger an Gregor haften als an Dora und ihm und dem Großmaul einige Mahlzeiten gründlich vermiesen.

„Also, ja, es stinkt, es ist dunkel, meine Güte, soll ich eure Mamas anrufen? Was seid ihr für Kerle?“, erboste sich Dora und drehte sich zu ihnen um. Der Schlamm unter ihren Füßen schlürfte genüsslich.

Gregor wies anklagend und unkameradschaftlich auf Edi. „Er! Nicht ich!“

Dora schnaubte und beleuchtete kurz ihr eigenes Gesicht, damit niemandem ihre strenge Miene entging.

„Es reicht, dass Fiona sich zu fein ist für den Sumpf. Wo sie sich bisher ja für alles zu fein war.“

Edi musste ihr recht geben, andererseits konnte er auch Fiona nur zu gut verstehen – für ihn war es seltsam genug, Träumen auf den Grund zu gehen – dass sie den Drang hatte, sich geradezu davor zu verstecken, erschien ihm einleuchtend. Zum Glück träume ich nicht ständig so einen Müll. Müll, der auch noch stimmt.

Die Heide, nein, korrigierte er sich in Gedanken, der Sumpf lag trügerisch und unwägbar vor ihnen, und vom Vollmond war keine Spur zu sehen. In irgendeiner Himmelsrichtung, die vermutlich nur Dora mit ihrem Kompass bestimmen konnte, lag der Hirnberg.

Was für ein bescheuerter Name für einen harmlosen Berg! Vermutlich beschien der Mond einfach gerade die ihnen abgewandte Seite und dachte nicht daran, auch über der sumpfigen Heide aufzugehen.

„Also, Lagebesprechung. Na ja, gut, ich dachte, wir würden den Mond sehen. Ist auch etwas bewölkt, aber er kommt sicher gleich raus“, rang sich Dora mit einem zuversichtlichen Lächeln ab.

Er kommt hinter dem Hirnberg raus …

Gregor pflückte einen Stein aus dem Morast und warf ihn, sodass ihn kurz hintereinander Dunkelheit und schlammige Oberfläche verschluckten.

„Also, richtig sind wir hier auf jeden Fall“, kommentierte er.

„Heide am Hirnberg, ja“, bestätigte Dora, und Edi seufzte: „Und warum ist es dann nicht mehr heidig hier? Warum kann es nicht mal irgendwo nett sein, wo Fiona uns hinschickt?“

Gregor schnaufte unwillig, und trotz der Dunkelheit konnte Edi ahnen, dass auch Dora die Augen verdrehte.

„Das liegt in der Natur der Sache – Mensch, Edi!“

„Erklär mir das mal, Dora. Ich meine, erklär mir mal die Natur dieser Sache hier. Die hast du ja schon begriffen, aber – hey, ich nicht!“ Die Heide am Hirnberg hatte Edis Besonnenheit hinweggefegt. Was Fiona mit ihren Träumen bewirkte, fing an, ihn fertigzumachen. Und es wurde allerhöchste Zeit, dass es auch die anderen fertigmachte.

Nein, sie bewirkt es nicht. Sie sieht es nur. Und keiner sonst …

„Die Natur dieser Sache“, hub Dora mit einem kleinen Seufzer an, „ist, dass etwas nicht stimmt. Und wenn etwas nicht stimmt, muss man es wieder gradebiegen. Wenn du Arzt wärst, würdest du dich auch beschweren, dass deine Patienten alle krank sind, oder was?“ Sie kniete sich hin und stellte ihre Umhängetasche auf eine sorgfältig ausgewählte, halbwegs trockene Stelle neben sich. Weit hatten sie sich nicht in den Sumpf hineingewagt – wie weit er sich noch erstreckte, konnten sie nur mit Hilfe einer einfachen Taschenlampe nicht ausmachen.

„Warum müssen wir es gradebiegen? Warum sind wir hier der Arzt?“, protestierte Edi leise nach einigen Momenten des Schweigens. „Und trotzdem: Sie hätte doch Sumpf gesagt, wenn sie Sumpf gemeint hätte. Vielleicht sind wir falsch.“

Dora und Gregor machten sich nicht mal mehr die Mühe, ihm zu antworten. Waren seine Einwände denn tatsächlich so weit hergeholt, zierte er sich gerade wie eine fünfjährige Balletttänzerin?

Gregor half Dora dabei, im Schein einer altersschwachen Taschenlampe die üblichen Utensilien und Tütchen aus ihrer kitschigen indischen Glitzertasche zu holen. Sie häuften alles neben sich auf und schwiegen beharrlich. Die Glitzertasche fing den Lichtschein der Taschenlampe und ärgerte Edi mit ihren türkisen Steinchen und den lila Spiegelchen, die sicher von Kindern aufgenäht worden waren. Dennoch hielt er einen missmutigen Kommentar zurück und vergrub die vorsichtig vom Gesicht gelösten Hände in den Hosentaschen. Tatsächlich war der Gestank nicht mehr so fürchterlich.

Und morgen sitzt er mir in der Nase, und mein Butterbrot riecht nach verdammtem Gammelsumpf!

„Ich finde, hierfür ist Hekate zuständig“, sagte Dora schließlich und rieb sich die klammen Hände.

Edi kommentierte es nicht. Edi würde heute gar nichts mehr kommentieren.

„Schon wieder“, murrte Gregor an seiner Stelle. „Jetzt sind wir schon hier, zu deiner Uhrzeit und deiner verdammten … Mondphase, und jetzt schwatzt du uns auch schon wieder deine komischen Götter auf. Warum lässt du mich das nicht mal machen?“

„Weil du nur so komische … Fantasy-Ideen hast!“, erwiderte Dora barsch. „Außerdem … machst du dich über mich lustig!“

„Unsinn! Ich nehme das vollkommen ernst, Hekate und dich und deinen Hexenkram.“ Gregor hatte seine Miene nicht sonderlich gut unter Kontrolle; Edi sah es, weil sich der Mond endlich hinter dem Hirnberg hervorwagte.

„Na sicher“, brummte Dora beleidigt. „Aber ihr seid schon froh, wenn’s funktioniert, ihr Helden!“

„Hey, ich hab doch gar nichts gesagt!“, warf Edi ein – ihre Stimmen waren viel zu laut, hallend in der kleisterartigen Dunkelheit, im sumpfigen Nirgendwo.

„Als auf der versiegelten Müllkippe neulich Gaia erschienen ist, da habt ihr blöd geglotzt!“, keifte Dora weiter – das Licht ihrer Taschenlampe hüpfte wütend umher.

„Ha! Sie ist nicht erschienen! Sie hat den verdammten Mund aufgemacht, genau unter mir, und wenn Edi mich nicht zurückgerissen hätte, hätte sie mich verschluckt! Und nur weil irgendwo eine Müllkippe den Mund aufmacht, heißt das noch lange nicht, dass es Gaia persönlich ist!“

„Aber ich habe Gaia gerufen – wer soll es sonst gewesen sein?“

„Seid ihr vielleicht mal still, ihr Irren?“, zischte Edi – seine Nackenhaare stellten sich auf. Der Mond schenkte ihm einen silbrigen Schimmer auf dem feuchten Untergrund – die schwarzen Silhouetten kleiner Krüppelkiefern ragten um sie herum auf wie verwachsene Hände.

Mülldeponia vielleicht!“, schoss Gregor zurück, der Edi nicht einmal gehört zu haben schien. „Der hungrige Geist der Abfallhalde.“

„Ich bin dafür, dass wir wiederkommen, wenn es hell ist“, knurrte Edi mit aller Nachdrücklichkeit, die er aufbringen konnte. Das ewige Gestreite der beiden würde ihn eines Tages noch den Verstand kosten. „Ich bin eigentlich gar nicht dafür, wieder was zu machen, das plötzlich die Erde aufbrechen lässt. Lasst uns … lasst uns einfach erst mal nach Hause gehen.“

„Warum? Der Mond ist doch jetzt da!“, erwiderte Dora und präsentierte selbigen mit der hohlen Hand.

„Dann nehmen wir Cernunnos, der ist doch verantwortlich für so … Heide, Wald – Sumpf, so was“, entschied Gregor den Disput für sich.

Edi ließ sich vorsichtig tastend auf den Baumstumpf fallen, in dessen Wurzelgeflecht Doras Glitzertasche ruhte.

„Wunderschön, ein keltischer Gott, viel Spaß“, wünschte Dora und wedelte das Licht ihrer Taschenlampe hinaus über den Sumpf.

„Ich mag keltische Götter, und wenn du dich vielleicht erinnerst – wir befinden uns auf gallischem Boden, nicht wahr? Nicht auf griechischem!“, bemerkte Gregor und sah sich suchend um.

Edi fühlte sich immer noch beobachtet – diesem ganzen Hokuspokus misstraute er ohnehin, obwohl man Dora zugestehen musste, dass es fürs Erste funktioniert hatte. Er würde Augen und Ohren offen halten – Skepsis war immer eine gesunde Grundhaltung, und schließlich konnte es ja sein, dass sich wieder eine Erdspalte öffnete und jemanden zu verschlingen drohte.

„Wenn du dich erinnerst – gegen diese Feuerplage in den Raunächten. Also da habe ich ja Frau Holle gerufen, und die ist urdeutsch. Aber gut. Cernunnos“, sagte Dora lauernd. „Versuch es halt.“ Wirst ja sehen, hörten sowohl Edi als auch Gregor mehr als deutlich, obwohl sie ausnahmsweise darauf verzichtete, es zu sagen.

Gregor brummte zustimmend, vielleicht in der Annahme, er habe den Machtkampf gewonnen.

„Gib mir die Taschenlampe. Ich muss noch was suchen, das passt.“

„Oh, unvorbereitet? Na, wie schön, dass ich immer eine Tasche voller Kram schleppe. Was willst du jetzt machen? Eisenkraut suchen gehen? Oder einen Hirsch?“

Gregor antwortete gar nicht, sondern stapfte in die trockene Richtung davon.

„Das schafft er nie“, lächelte Dora mit blitzenden Augen.

„Ich würde es ihm ja mal gönnen“, antwortete Edi und stützte den Kopf in die Hände.

„Dir ist das Spirituelle doch eh egal“, sagte sie vorwurfsvoll und warf die Haare zurück.

Der Mond gab ihr etwas Unheimliches – ihre Silhouette, die aufblitzenden Brillengläser. Edi wurde das Gefühl nicht los, dass es eine dumme Idee gewesen war, bei Vollmond in den Sumpf zu stiefeln.

Spirituell“, murmelte Edi abfällig, und Dora tat, als habe sie ihn nicht gehört. „Es funktioniert halt“, fuhr er fort, „was ist daran spirituell? Wenn was anderes funktionieren würde, würden wir halt was anderes machen. Vielleicht geht’s auch anders, und wir haben’s einfach noch nicht ausprobiert. Weil Fiona halt dich gefragt hat.“

Jetzt schnaufte sie doch unwillig.

„Meine Güte, wie kann man so ein Felsblock sein wie du? Gaia hat vor uns den Mund aufgemacht und …“

„… und dieser Mund war ein verdammtes Erdloch; Gregor wär beinahe reingefallen! Das ist gefährlich!

„Das war ein Versehen! Bist du denn von nichts beeindruckt?“

„Mund aufgemacht, meine Güte, du hast Phantasie!“

Ihre Augen erwiderten seinen Blick so kalt, dass er damit rechnete, dass sich jeden Moment Eiskristalle auf ihren Brillengläsern bildeten.

Gregor kam zurück und beendete Doras mörderischen Blick, bevor dieser Edi töten konnte. „Ich hab was!“

Triumphierend streckte er ihnen zwei kahle Zweige entgegen, an denen noch einige Haselblüten baumelten.

„Beeindruckend“, knurrte Dora. „Was soll das sein?“

„Ein Geweih! Bist du blind?“ Er hielt sich die beiden Enden oberhalb seiner Ohren an den Kopf. Die Haselblüten wackelten wie Lametta an einem kümmerlichen Tannenbaum.

Edi seufzte tief und wollte gern woanders hinsehen – warum nur war er so empfänglich fürs Fremdschämen?

„Grandios. Brauchst du noch was anderes, oder genügt dieses mächtige Geweih für deine Beschwörung?“ stichelte Dora.

„Cernunnos beschwört man nicht. So was läuft nur bei Wicca und Satanisten. Cernunnos ruft man. Da braucht man diesen ganzen Messer-Kelch-Räucherkram nicht!“

„Na dann. Satanisten, ja?“ Beleidigt schaufelte Dora ihr Zeug wieder in ihre Tasche.

Mit verschränkten Armen klemmte sie sich neben Edi auf den Baumstumpf, die Tasche zwischen ihren Knöcheln. Edi versuchte, herauszufinden, ob er ihr Parfum riechen konnte, wenn er den Kopf nur weit genug zur Seite neigte, aber seine Nase war bereits belegt vom Geruch des Moders und der undefinierbaren Dinge, die im Sumpf vor sich hingammelten.

Gregor räusperte sich erneut und stieß angespannt die Luft aus. Dann steckte er das eindrucksvolle Geweih vor sich in den Schlamm - das Lametta wackelte kläglich. Er knipste die Taschenlampe aus und breitete mit Schwung die Arme aus, ohne noch einen Blick über die Schulter auf seine beiden Freunde zu werfen.

„Cernunnos“, begann er, viel leiser und schüchterner, als er es vermutlich beabsichtigt hatte. „Herr der Wälder und wilden Tiere! Ich rufe dich zu Hilfe! Dein Reich wird angegriffen, deine Tiere sind von hier ge… gewichen, deine Pflanzen modern und faulen! Böse Kräfte sind am Werk und verwandeln … ähm … verwandeln deine … Heide! Cernunnos! Ich rufe dich! Hol dir dein Reich zurück!“

Stille. Der Sumpf moderte schweigend vor sich hin. Edi sah im Mondlicht, dass Dora eine Schnute zog.

Hirnberg, dachte er. Vielleicht hätten wir mehr Hirn herbeirufen sollen. Cernunnos, wirf Hirn vom Himmel.

„Cernunnos!“, rief Gregor noch einmal, nun schon lauter. Er stampfte ungeduldig mit den Füßen auf. Als die Stille so tief wurde, dass von der Landstraße Motorengeräusche zu hören waren, die sie vorher gar nicht wahrgenommen hatten, knirschte Gregor vernehmlich mit den Zähnen und schrie dann: „CER-NUN-NOS!“

„Nos … nos“, schallte es über die Baumwipfel zurück.

Edi sprang auf – die Ahnung von Gefahr ließ ihn herumfahren.

Ein Rascheln. Eine Bewegung in den Büschen hinter ihnen. Doras spöttisches Gesicht löste sich in Verblüffung und einen kleinen Anflug von Angst auf. Edi merkte, wie sich unwillkürlich seine Muskeln spannten, und er den Drang, pinkeln zu gehen, unterdrücken musste – wie jedes Mal, kurz bevor etwas passierte … oder schiefging.

Es krachte im Unterholz, ein Knurren war zu hören. Dora trat ihm auf die Füße, als auch sie aufsprang und sich in ihrer Tasche verhedderte. Ein Lichtschein blitzte auf.

Edi wusste nicht viel über gallische Götter – aber wenn Cernunnos der mit dem Geweih war, dann wurde er schon seit Urzeiten verehrt … und war ebenso wild wie gefährlich … Würde sich so jemand von Hasellametta ärgern lassen?

Wie auch immer, Cernunnos leuchtete ihnen nun mitten ins Gesicht – mit der vollen Leuchtkraft superheller LEDs.

„Wat brüllt ihr hier so rum mitten in der Nacht? Seid ihr besoffen?“

Der Lichtschein wanderte weiter, Gregor riss einen Arm vor die Augen und ächzte beleidigt.

Edi blinzelte in die umso schwärzere Nacht – hinter der Taschenlampe zeichnete sich ein untersetzter kleiner Mann ab, neben ihm knurrte ein ebenso pummeliger Jagdhund.

„Ich hab euch was gefragt, Kinder!“ Der Mann richtete den Lichtstrahl jetzt auf den Boden, um sie nicht zu blenden, und trat näher heran – ein Jagdgewehr hatte er nicht dabei, doch die Lampe war ohnehin groß genug, um ein paar betrunkene Jugendliche damit zu verdreschen.

Dora seufzte und warf den beiden sprachlosen Jungen ein paar funkensprühende Blicke zu. „Aber nein. Wir sind … hier irgendwie hingeraten. Beim Wandern. Die Dunkelheit hat uns überrascht, und wir haben den Weg nicht mehr gefunden. Mein Freund hier hat … das Tourette-Syndrom. Der bekommt immer einen … Schreianfall, wenn er Angst hat.“

„Ich hab keine Angst!“, schnappte Gregor und stieß wütend mit dem Fuß das Geweih in den Schlamm.

Dora bedachte ihn mit einem sanften, falschen Lächeln.

Der Förster runzelte die Stirn, und schüttelte dann seufzend den Kopf. „Hier solltet ihr jedenfalls nicht bleiben. Das stinkt doch wie verrückt! Außerdem hab ich hier schon mal ’nen tollwütigen Fuchs erwischt.“

Die drei Freunde schwiegen. Dora warf sich mit Schwung ihre indische Kinderarbeitstasche über die Schulter. „Ja, wir wollten auch grade weiter.“

„Kann ich euch denn helfen?“ Der Förster beäugte sie weiterhin skeptisch. „Wenn ihr euch verirrt habt?“

„Ach, ich glaube, mir fällt grad ein – die Richtung, aus der Sie gekommen sind, liegt da nicht Bad Münstereifel?“, knurrte Gregor und stopfte seine Hände in die Jackentaschen.

„Ja, das ist wohl so. Soll ich euch bis zum Waldrand bringen?“

„Ach was! Das schaffen wir schon“, lächelte Dora zuckersüß. „Kommt, Jungs, es geht weiter. Und, Gregor, versuch, nicht mehr zu schreien, bis wir zu Hause sind, ja?“

„Versuch, nicht mehr zu schreien, bis wir zu Hause sind, ja?“, flötete Edi und bog sich vor Lachen.

Vor Fionas Haus ketteten sie ihre Fahrräder aneinander. Gregor hatte seither kein Wort mehr gesagt, und seine tödlich beleidigte Miene schien geradezu festzementiert.

„Ich bring dich um, Alter! Sag Fiona nur ein Wort, und ich bring dich um!“

Dora sah auf die Uhr. „Schon zwei! Sie schläft wahrscheinlich längst. Habt ihr eigentlich die Lektüre gelesen?“

„Nö. Aber wenn die Olbrich mich fragt, sag ich einfach: ‚Daran sieht man deutlich, dass Brecht Kommunist war.’ So was zieht immer“, sagte Edi und gähnte. „Bei Kafka hab ich auch immer nur gesagt, dass der ’nen Vaterkomplex hatte.“

„Ja, und in der Arbeit hattest du ‘ne Vier.“

„Ja, ist doch super, dafür, dass ich das Buch nicht gelesen hab. Und außerdem bin ich Russe, mit Kommis kenn ich mich aus. Angeborenerweise.“

„Psst!“, zischte Gregor von hinten.

Neben einer bereits erloschenen Straßenlaterne bogen sie in die Einfahrt ein und stiefelten von dort geradewegs in den Garten. Auf den kleinen kiesbestreuten Gartenwegen rempelten sie lautstark nebeneinander her. Edi seufzte unhörbar und blickte hinauf zum ersten Stock, wo Fionas Mutter bei geöffnetem Fenster schlief. Hoffentlich fest.

Schließlich kamen die knirschenden Schritte vor einer schmalen Terrassentür zum Stehen, hinter der Fionas Zimmer im Dunkeln lag. Dora schnippte drei Mal leise mit dem Finger gegen das Glas.

Es dauerte nicht lange, bis das Licht angeknipst wurde und eine Silhouette mit einem leisen Quietschen die Tür öffnete.

Im Gänsemarsch und mit schlammverkrusteten Schuhen traten sie auf einen Fußabtreter und balancierten dort nebeneinander, bis Fiona die Tür geschlossen hatte. Edi ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und streifte sich die Schuhe von den Füßen.

„Gott, ihr stinkt wie irre!“ Fiona setzte sich auf ihr zerwühltes Bett und machte mit abgespreizten Armen klar, dass sich niemand in die Nähe wagen sollte.

Sie trug ein blaues, knielanges Nachthemd, und die Locken standen ihr wild um den Kopf. Gregor gaffte sie ziemlich unverhohlen an. Cernunnos blickte ihm immer noch aus den Augen, und der mochte Mädchen mit wilden Locken und Nachthemden.

„Es war wirklich grässlich“, begann Dora. „Ein Moderloch, schlimmer als die Müllkippe neulich. Trotz Vollmond hat nix geklappt, und der Förster hat uns überrascht. Bist du dir sicher, dass wir an der richtigen Stelle waren?“

„Es klingt ja schon danach – wenn es so eklig war, oder? Das ist ja auch nicht normal …“

Edi seufzte, ließ den Kopf in den Nacken fallen und drehte sich auf dem Bürostuhl hin und her.

Fiona stand auf und grabbelte auf ihrem Schreibtisch herum, bis sie einen Zettel gefunden hatte. Zwischen Matheaufgaben stand dort in deutlichen Druckbuchstaben: Die Heide am Hirnberg.

„Ich musste die Hausaufgaben noch mal abschreiben, so kann ich das Blatt ja nicht abgeben. Mann, das war schon das dritte Mal!“

„Reg dich bloß nicht auf! Du kritzelst ab und zu mal was auf ’nen Zettel“, schnappte Dora, die sich immer noch mit Gregor auf der Fußmatte drängelte. „Wir müssen immer los und die Drecksarbeit machen!“

Fiona und Dora funkelten sich einen Moment lang an, wandten aber gleichzeitig den Blick ab.

„Was macht ihr denn jetzt?“ fragte Fiona matt und gähnte.

„Pennen“, antwortete Edi. „Und morgen dann wieder hin. Ohne Vollmond. Irgendwie kriegen wir’s schon raus, hat ja die letzten Male auch immer geklappt.“