Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Vom Sehnen und Wünschen
Bibliothek der Gefühle, Band 8

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© 2009 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Isabella Hemmann
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22444-6
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Wir danken Käthe Frick, Rosalia Costagliola und Andreas Baer für ihre Rückmeldungen und Anregungen zu den Manuskripten, Dorothea Veil und anderen für ihre Geschichte/n, Susanne Wolters für ihre Schreibarbeiten, Cosima und Klaus Schneider für die grafische Gestaltung des Umschlags, Isabella Hemmann für das Lektorat und unseren Kindern, FreundInnen, SchülerInnen und KlientInnen.
»Sehnsucht ist Schmalz im Kopf«, hören wir in einer Rede auf einer PsychotherapeutInnen-Tagung. Sofort regt sich in uns Protest gegenüber diesem Satz, der in unseren Ohren abwertend klingt und sicherlich auch so gemeint ist: Wie oft haben wir erlebt, welche Kraft in der Sehnsucht der Menschen steckt und wie Sehnsucht Berge versetzen kann. Von dieser Kraft der Sehnsucht wollen wir erzählen und von den Bremsen, Stricken und Lasten, die diese Kraft oft stoppen, fesseln, ja sogar begraben können. Wie auch in den anderen Bänden der »Bibliothek der Gefühle« werden wir Geschichten von Menschen erzählen, denen wir in unserem Alltag begegnet sind oder die wir als TherapeutInnen eine Zeit lang begleitet haben. Immer ging es diesen Menschen in ihrem therapeutischen Prozess irgendwann auch darum, ihre Sehnsucht zu spüren und ernst zu nehmen.
Doch das reichte ihnen und uns oft nicht. Die Sehnsucht zu spüren ist erst ein Anfang. Wer nur seine Sehnsucht spürt, aber sie nicht praktisch werden lassen kann, wer in der Sehnsucht aufgeht, aber keine praktischen Schritte unternimmt, sie umzusetzen, der bleibt im Suchen stecken, dem kann das Sehnen zur Sucht werden. Um aus der Sehnsucht Taten folgen zu lassen, muss aus dem Sehnen ein Wünschen werden. Deshalb werden wir auch vom Wünschen, der Brücke zwischen einer mangelhaften Gegenwart und dem Ersehnten, berichten. Über diese Brücke zu gehen erfordert oft Mut und andere Fähigkeiten. Viele Menschen haben das Wünschen verlernt, sind in Resignation erstickt und wissen gar nicht mehr, wie das geht, das Wünschen. Sie machen sich auf, Wünsche (wieder) zu entdecken, sie zu äußern, vielleicht sogar das, wonach sie verlangen, zu fordern. Manche Menschen gehen den Weg zum Ersehnten allein, andere benötigen oder gönnen sich die Begleitung anderer, um die Schwierigkeiten des Wünschens zu bewältigen. Einige Erfahrungen dieser Menschen wollen wir in diesem Buch vorstellen.
Der Lebensraum des Menschen erstreckt sich zwischen zwei Polen. Den einen Pol nennt Viktor von Weizsäcker (1987) das »Pathische«, also das, was der Mensch vorfindet, was er erleidet. Ob ich behindert oder nicht behindert auf die Welt komme, ob ich ein weißes oder schwarzes Gesicht, ob ich liebevolle oder prügelnde Eltern habe, in Wohlstand oder in Armut aufwachse, 1933 oder 1973, in Deutschland oder in Bangladesh geboren wurde – all das und vieles mehr finde ich vor. Es ist gegeben. Die Sehnsucht, diese Gegebenheiten zu verändern, kann helfen, in schlimmen Lebensumständen zu überleben. Sie kann aber auch zu einem Sehnen werden, das keinen Boden findet und keine erreichbaren Ziele, das auszehrt und in Verzweiflung mündet, das an der Chinesischen Mauer des »Pathischen« zerschellt.
Den anderen Pol bezeichnet der Kernforscher Hans Peter Dürr als »Potenzialität« (z. B. in einem Vortrag auf den 9. Baseler Psychotherapietagen 2002). Leben ist Potenzialität, ist immer auch das Mögliche, ist Wahlmöglichkeit, besteht aus Zehntausenden kleiner Weggabelungen, die in verschiedene Wege führen. Vielen Menschen ist dieses Verständnis des Lebens als Potenzialität abhanden gekommen oder sie durften es erst gar nicht kennen lernen. Es wurde ihnen abtrainiert, ja manchmal gewaltsam amputiert. Das Leben wird als vorgegebenes, als zu erduldendes, als pathisch verstanden und erlebt, das keine oder kaum Wahlmöglichkeiten außer dem Umschalten des Fernsehprogramms zulässt. Hier kann die Wiederbelebung des Sehnens und Wünschens Spielräume schaffen, den Raum des Pathischen zurückzudrängen und den Raum des Potenziellen zu erweitern. Viel weniger muss erduldet werden, als meist angenommen wird. Wir können nicht ändern, ob wir schwarz oder weiß geboren werden, wir können aber Lebensumstände verändern, in denen Menschen wegen Hautfarbe, Religion und Herkunft diskriminiert werden. Wir können unser Leben zum Pol der Potenzialität hin orientieren, Wahlmöglichkeiten entdecken und den Mut wachsen lassen, unser Sehnen ernst zu nehmen und – allein ebenso wie solidarisch gemeinsam mit anderen – seine Kraft in Handeln umzuwandeln.
Fast immer, wenn Menschen, die das Wünschen und Sehnen verloren hatten, es sich in der Therapie mühsam wieder aneigneten, konnten sie in diesem Prozess auf kindliche Fähigkeiten zurückgreifen. Kinder, vor allen Dingen jüngere, artikulieren ihre Wünsche deutlich. Viele Eltern können ein Lied davon singen. Wenn kleine Kinder etwas haben wollen, greifen sie mit ihren Händen danach. Das Greifen ist der körperliche Impuls und Aspekt des Wünschens, deswegen werden wir uns mit ihm beschäftigen. Wir begegnen dabei Erfreulichem und Unerfreulichem: Wie oft hören wir von Greifverboten und erleben, wie eingeschränkt, ja unmöglich es Menschen gemacht wurde, in die Welt hinauszugreifen bzw. ihrem Greifen eine Richtung zu geben. Und wie oft erfahren wir, welchen Reichtum und welche Wahlmöglichkeiten des Lebens sich eröffnen, wenn Menschen wieder lernen, nach dem, was sie sich wünschen, nach ihrem Partner, ihren Träumen, nach den Sternen zu greifen.
»Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir weder Reichtum noch Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit; ich wünschte nur ein Auge, das, ewig jung, ewig von dem Verlangen brennend, die Möglichkeit zu sehen.« (Kierkegaard, Der Augenblick. Zit. n. Bloch 1985, S. 1243)
Und Matthias Claudius beschrieb seine Sehnsucht:
»Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
›Es gibt was Bessers in der Welt
als all ihr Schmerz und Lust.‹
Ich werf’ mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach
Und suche es in meinem Sinn
Und sehne mich darnach.«
(Matthias Claudius, Zit. n. Maarten ’t Haart 2000, S. 187)
Wir persönlich haben beim Schreiben dieses Buches gelernt, noch mehr unserer Sehnsucht zu folgen und unsere Wünsche noch häufiger und deutlicher zu artikulieren, auch durch Scham, Angst und Unsicherheit hindurch. Dass wir an den Bänden der »Bibliothek der Gefühle« schreiben, ist auch Ausdruck einer Sehnsucht, der Sehnsucht danach, dass Gefühle in Alltag und Therapie ernst genommen werden.
Gefühle gehören weder in die Lächerlichkeits- oder Schmuddelecke, noch erscheint es uns angemessen, sie als allein seligmachende Impulse des Handelns anzubeten. Gefühle sind Kernimpulse menschlichen Erlebens, hilfreich und notwendig, um in der Welt zurechtzukommen und – so weit wie möglich – glücklich zu werden. Dazu müssen Gefühle ernst genommen werden, muss man sich mit ihren Erscheinungsformen und Symptomen, mit den Zusammenhängen zwischen Gefühlen und anderen leiblichen Regungen, mit ihrer inneren Struktur und ihrer Grammatik beschäftigen. Wir wünschen uns, dass dieses Buch auch für Sie ein Baustein dazu ist.
Wenn Sie mit anderen Menschen arbeiten, als TherapeutIn, LehrerIn, SozialarbeiterIn oder in einem anderen sozialen, pädagogischen oder Gesundheitsberuf, wünschen wir uns, dass Sie einige Anregungen aus diesem Buch ziehen können. Wenn Sie das Buch vor allem aus persönlichem Interesse lesen, wünschen wir uns, Sie in Ihrem Sehnen und Wünschen zu bestärken und Ihnen Hilfen anbieten zu können, dem Ersehnten näherzukommen.
Manche Menschen haben ihre Sehnsüchte begraben. Irgendwo auf ihrem Lebensweg ist die Sehnsucht verloren gegangen. Im Laufe der Jahre haben sich dicke Schichten der Enttäuschung, Resignation und Bitterkeit darübergelegt. Die Frage, wie man seine Sehnsüchte erfüllen kann, stellt sich für viele Menschen, denen wir in der Therapie begegnen, gar nicht. Sehnsucht ist für sie ein Fremdwort, ihr Sehnen ist ihnen im Ganzen abhandengekommen. Und wenn wir uns dann erkundigen, wonach sie sich sehnen, antworten sie vielleicht mit einem Achselzucken, verständnislos. Beginnen wir deshalb mit der Geschichte einer Frau, die ihre Sehnsucht begraben hatte und sie wiederfand.
Eine Klientin, Mitte 30, Mutter von zwei Kindern, erzählt, dass sie erschöpft ist und keine Kraft mehr hat. Dabei bewegt sie sich fahrig und unruhig. »Manchmal kommt mir der Gedanke, alles hinzuschmeißen und abzuhauen. Aber ich weiß ja nicht, wohin und ob das überhaupt etwas bringt. Das alles erschreckt mich schon.« Sie liebt ihre Kinder und doch sind sie ihr »zu viel«. Ob sie ihren Mann liebt, weiß sie nicht. In jedem Fall ist er ihr »zu viel«. Ihre Arbeit ist noch am zufriedenstellendsten, manchmal sogar ihr Rettungsseil, um sich durch die Tage zu hangeln. Während sie erzählt und der Therapeut gelegentlich nachfragt, wird sie immer in sich gekehrter. Ihre Stimme klingt bitter.
Der Therapeut: »Bei mir kommt viel Resignation an. Ist das so?«
Klientin: »Ja.« Sie schweigt. Ihr Blick geht zuerst ins Leere, wird dann auf den Boden gerichtet.
Der Therapeut fragt nach: »Worin haben Sie resigniert?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie lange kennen Sie dieses Resignieren schon?«
Die Klientin überlegt lange. Dann: »Ich weiß nicht. Ich glaube, schon immer.«
Während dieses Gespräches spürt der Therapeut, dass die Klientin sich immer mehr aus dem Kontakt mit ihm zurückzieht. Sie schaut ihn nicht mehr an, der Blick bleibt dauerhaft nach unten gerichtet, auch ihre gesamte Ausstrahlung schwindet immer mehr, als ob sie sich zurückzieht.
Der Therapeut: »Kann es sein, dass die Resignation dazu führt, dass Sie sich zurückziehen? Auch vor mir?«
Die Klientin zuckt zuerst mit den Schultern, hält dann inne, nickt.
Der Therapeut: »Ich schlage Ihnen ein kleines Experiment vor. Versuchen Sie einmal, mich anzuschauen und mir zu zeigen oder zu sagen, dass Sie resignieren.«
Der Klientin stockt bei diesem Vorschlag kurz der Atem. Sie wartet dann lange und sagt schließlich leise: »Das geht nicht.« Und nach einer weiteren Weile: »Ich fühle mich so hilflos, ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Der Therapeut: »Wenn ich kann, würde ich Ihnen gerne helfen. Ich weiß aber nicht, welche Hilfe Sie brauchen. Und darüber hinaus wirken Sie auf mich gerade sehr unerreichbar.«
Die Klientin: »Ja, ich fühle mich auch unerreichbar. Und ganz allein.«
Der Therapeut: »Vielleicht können Sie das Experiment wagen, mich wenigstens ab und zu einmal aus den Augenwinkeln anzuschauen oder mal kurze Blicke zu riskieren.«
Die Klientin wirft dem Therapeuten einen kurzen Blick zu, schaut aber sofort wieder weg. Dann wird sie traurig und beginnt zu weinen. »Ich merke, dass ich oft traurig bin über mein Alleinsein. Und über meine Kraftlosigkeit. Und über alles.«
Während die Klientin auf Bitten des Therapeuten immer wieder einmal einen kurzen Blick auf den Therapeuten riskiert, betreten die Gefühle der Einsamkeit und der Trauer deutlich den Raum. Wie ein roter Faden zieht sich ein drittes Gefühl durch den Prozess hindurch und taucht immer wieder auf: die Hilflosigkeit.
Der Therapeut: »Welche Hilfe brauchen Sie von mir? Haben Sie einen Wunsch, eine Idee, eine Vorstellung?«
Die Klientin: »Das geht nicht.«
Der Therapeut: »Haben Sie keine Vorstellung von Hilfe oder können Sie Ihren Wunsch nicht sagen?«
Die Klientin: »Das kann ich nicht sagen.« Dabei kriecht sie wieder in sich hinein, schaut weg. Resignation ist da, aber auch noch ein anderes Gefühl. Die Scham betritt den Raum.
Der Therapeut: »Was könnte passieren, wenn Sie es sagen?«
»Sie könnten das lächerlich finden. Es peinlich finden.«
»Kennen Sie es in Ihrer Lebensgeschichte, dass Sie lächerlich gemacht werden, wenn Sie den Wunsch nach etwas äußern?«
Die Klientin überlegt und sagt dann: »Das weiß ich gar nicht mehr. Ich habe schon so lange keine Wünsche mehr geäußert.«
Der Therapeut: »Wenn man etwas von sich zeigt, so wie Sie hier jetzt, dass Sie Hilfe brauchen, und wenn man das lange nicht getan hat, dann ist es ganz normal, dass man dabei unsicher ist. Dann taucht sehr häufig die Scham auf: ›Wie könnte das wirken? Was könnten die anderen von mir denken? Finden die das nicht doof oder lächerlich?‹ Das ist normal. Ich kann Ihnen sagen, dass ich daran interessiert bin, dass wir gemeinsam herausfinden, welche Hilfe Sie brauchen, und dass ich Ihren Wunsch ernst nehmen und nicht lächerlich finden werde. Ich weiß, dass Sie ein Risiko eingehen, wenn Sie sich dazu entscheiden und es wagen, den Wunsch zu äußern. Sie gehen das Risiko ein, dass das nicht wahr ist, was ich sage. Ich glaube aber, hier ist eine Situation, eine gute Gelegenheit, dies einmal zu riskieren.«
Die Klientin wartet lange, dann blickt sie wieder kurze Sekunden den Therapeuten an, schaut wieder weg, schaut wieder hin, schaut immer wieder weg, ringt mit sich. Die rechte Hand bewegt sich, während die Klientin mit sich ringt.
Der Therapeut versucht, sie zu unterstützen: »Achten Sie darauf, was Ihre rechte Hand macht. Vielleicht kann die rechte Hand Sie unterstützen oder Ihnen zumindest einen Hinweis geben.«
Die Klientin: »Ach, weiß ich nicht, ich wage es einfach. Auch wenn es mir peinlich ist: Ich möchte mich bei Ihnen einhaken.« Der Therapeut bietet ihr seinen Arm: »O.K. Tun Sie es.«
Die Klientin hakt sich beim Therapeuten ein. Er bietet ihr zuerst seinen rechten Arm, aber die Klientin sagt: »Nein, die Seite stimmt nicht. Ich muss links gehen.« Beide gehen eingehakt langsam durch den Raum.
Dabei fragt die Klientin mehrmals: »Ist das wirklich o.k., was wir hier jetzt machen?«, »Geht das wirklich?«, oder: »Bin ich nicht lächerlich?« Wenn der Therapeut sie in ihrem gemeinsamen Tun bestätigt, ihr versichert, dass es nicht lächerlich ist, nach Hilfe zu suchen, dass es nicht lächerlich ist, sich bei ihm einzuhaken und generell nach Kontakt und Unterstützung zu streben, ist es für eine halbe Minute gut, doch dann greift die Resignation immer wieder nach ihr und sie bleibt stehen. Aber irgendwann, während sie miteinander gehen, fällt der Klientin ein, dass sie mit ihrem Vater, der ihr sonst sehr fremd war und mit dem sie wenig zu tun hatte, eines geteilt hatte: die Leidenschaft, spazieren zu gehen. Sie wirkt einen Moment wie »vom Donner gerührt« – so drückt sie es später aus – und traurig und aufgeregt zugleich.
Der Therapeut: »Ich bin ja nun nicht ihr Vater. Aber wir gehen jetzt auch spazieren. Den Wunsch, mit jemandem zu gehen und sich dabei einzuhaken, scheinen Sie sich lange Zeit verboten zu haben, doch die Sehnsucht danach scheinen Sie immer noch zu haben.«
Nun bricht es aus der Klientin heraus: »Ich will nicht immer nur anderen unter die Arme greifen, sondern mich selber auch mal irgendwo anlehnen können. Immer mache ich etwas für andere, aber wer macht was für mich? Ich will mich auch mal festhalten können, ich brauche auch mal Halt. Und ich will mich auf jemanden verlassen können. Ich will, dass jemand mal da ist, wenn ich ihn brauche, und nicht gleich abhaut oder weggeht …« Ihre Stimme wird kraftvoller, ihre alte Sehnsucht, die sie ihrem Vater gegenüber hatte, wird lebendig. Es ist die gleiche Sehnsucht, die begraben worden war, als der Vater sich immer mehr zurückgezogen hatte. Später war ihr mit ihrem Mann das Gleiche widerfahren. So wurde die Sehnsucht immer mehr überlagert von der Resignation, von der Hilflosigkeit und von der Scham. Diese drei Ascheschichten, die über der Sehnsucht lagern, tauchen in der Begegnung mit dem Therapeuten wieder auf. Als sie gefühlsmäßig durch sie hindurchgeht, kann die Glut unter der Asche wieder sichtbar werden, kann ihre Sehnsucht in ihr wieder lebendig werden. Der Körper hat sich eher als der Kopf erinnert; der Impuls der rechten Hand hat der Frau die Möglichkeit gegeben, ihr Sehnen wieder zu fühlen.
Theodor Fontane:
Mein Herze, glaubt’s, ist nicht erkaltet
Mein Herze, glaubt’s, ist nicht erkaltet,
Es glüht in ihm so heiß wie je,
Und was ihr drin für Winter haltet,
Ist Schein nur, ist gemalter Schnee.
Doch was in alter Lieb’ ich fühle,
Verschließ’ ich jetzt in tiefstem Sinn,
Und trag’s nicht fürder ins Gewühle
Der ewig kalten Menschen hin.
Ich bin wie Wein, der ausgegoren:
Er schäumt nicht länger hin und her,
Doch was nach außen er verloren,
Hat er an innrem Feuer mehr.
(zit. n. Reich-Ranicki 1996, S. 303)
Wenn Menschen etwas ersehnen, wie im eben genannten Beispiel Halt und Unterstützung, und das Ersehnte nicht erhalten oder erreichen, dann schmerzt das. Wenn sie keine Wege wissen, dem Ersehnten näherzukommen, dann entsteht Hilflosigkeit. Wenn Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht werden, wächst Resignation. Enttäuschung und Erfolglosigkeit können, treten sie gelegentlich auf, der Sehnsucht gewöhnlich nichts anhaben. Erstrecken sie sich aber über längere Phasen des Lebens, wiederholen sie sich und damit auch die Schmerzen, dann suchen Menschen Wege, die Enttäuschungen und die Schmerzen zu vermeiden. Ein Weg besteht darin, die Sehnsucht überhaupt zu eliminieren, nach dem Motto: Wenn ich nichts mehr ersehne, kann ich nicht enttäuscht werden, dann tut mir nichts mehr weh. Gerade Kinder sind häufig gezwungen, auf diesen Ausweg zu verfallen, zu groß, zu unaushaltbar sind sonst die Kränkungen und Schmerzen. Sicherlich kann es auch Sinn machen, die Sehnsucht eine Zeit lang nicht zu spüren, um Kraft zu sammeln, das Unaushaltbare zu tragen, und durch es hindurch neue Möglichkeiten der Veränderung zu suchen. Doch häufig geht, leider, das Sehnen dauerhaft verloren.
Der Weg, die Sehnsucht zu begraben, zu betäuben, zu verstecken, nimmt individuell unterschiedliche Formen an. Manche Menschen machen sich gefühllos, andere betäuben sich mit Ersatzhandlungen wie zerstörerischer Aggressivität oder mit Alkoholkonsum. Einige tauschen die Sehnsucht in andere Gefühle um. Wieder andere begraben die Sehnsucht so tief, dass sie vergessen, dass es sie je gegeben hat. Sehnsucht ist für sie etwas, was in schmalzige Romane oder kitschige Fernsehserien gehört, aber nicht in ihr Leben.
Das Verstecken und Begraben der Sehnsucht kann über viele Jahre gelingen, oft verbunden mit einem bitteren Nachgeschmack, mit der unendlichen Suche nach irgendetwas, »aber ich weiß nicht, was«. Dahinter lauern bei manchen Menschen die Verzweiflung und die Leere. Doch auch, wenn sich Menschen mit der begrabenen Sehnsucht gut eingerichtet haben – es fehlt ihnen etwas. Es fehlt die Perspektive der Veränderungsmöglichkeit, der Blick in ein vielleicht anderes, zumindest eigenwillig zu gestaltendes Leben.
Wir TherapeutInnen haben meistens mit Menschen, KlientInnen zu tun, die Veränderungen aus einem Zustand, mit dem sie nicht mehr einverstanden sind, wollen. (Es gibt auch Ausnahmen: In Krisensituationen wünschen sich Menschen das »Normale«, kämpfen Menschen darum, dass alles so bleibt, wie es ist. Auch das ist selbstverständlich legitim und unterstützenswert.) Für die große Mehrheit der KlientInnen, für diejenigen, die ein besseres Leben und ein anderes Erleben wollen, sind wir als TherapeutInnen parteilich für die Veränderung, für das Bessere, für das bisschen mehr Glück. Und manchmal gilt eben auch das, was Bloch als Philosoph, der auf Veränderung setzte und gleichzeitig die Kräfte des Beharrens kannte, so ausdrückte:
»Ein Neues soll kommen, das mit sich nimmt. Die meisten reizt schon der leere Unterschied zum Bisher, die Frische, gleichviel zunächst, was ihr Inhalt ist. Hier bringt es bereits Genuss, dass etwas geschieht, es soll nur kein Unglück für uns selbst enthalten.« (Bloch 1985, S. 44)