Rainer M. Schröder, 1951 in Rostock geboren, ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Jugendbuchautoren. Mit seinen bis ins kleinste Detail exakt recherchierten und spannend erzählten historischen Jugendromanen begeistert er seit mehr als zehn Jahren seine Leserschaft. Nachdem er viele Jahre ein wahres Nomadenleben mit zahlreichen Abenteuerreisen in alle Erdteile führte, lebt er heute mit seiner Frau in den USA.
Nichts auf dieser Welt hat wirklich ein Ende, und wer wollte schon sagen, wo etwas endet oder gerade seinen Anfang findet?
Für Abby Lynn bedeutete das Jahr 1808 den Beginn ihrer Ehe mit Andrew Chandler, aber doch noch längst nicht das Ende ihrer Prüfungen in Australien. Für Gouverneur Bligh war es ein weniger erfreuliches Jahr. Er wurde lange unter Hausarrest gehalten. Die Rum-Rebellen gaben ihm schließlich die Freiheit, nachdem Bligh versprochen hatte, an Bord der Porpoise nach England zu segeln und sich der Kolonie fern zu halten. Bligh fühlte sich jedoch nicht an ein Versprechen gebunden, das ihm Meuterer abgepresst hatten. Und nachdem der Captain der Porpoise es abgelehnt hatte, Sydney mit seinen Schiffsgeschützen unter Feuer zu nehmen, begnügte sich William Bligh damit, nach Van Dieman’s Land (heute Tasmanien) zu segeln und von dort aus seinen politischen Kleinkrieg, der jedoch mehr aus Briefen an das Kolonialamt in London bestand, gegen die Rebellen zu führen, die sich in New South Wales schamlos bereicherten und eine von Korruption und Vetternwirtschaft bestimmte Regierung bildeten.
Colonel Johnston und John Macarthur waren jedoch keine Dummköpfe, was immer man ihnen auch sonst nachsagen mochte. Sie wussten, dass sie sich für ihre Tat früher oder später doch würden verantworten müssen. Sie entschieden sich für früher – und für die Devise, dass Angriff die beste Verteidigung sei. Am 31. März 1809 segelten die beiden Rädelsführer gen England, das sie im Oktober erreichten, während Bligh noch immer vor der Küste von Van Dieman’s Land schipperte und glaubte, von dort aus etwas ausrichten zu können.
Johnston und Macarthur waren nicht nur Männer, die sich der Kraft des Wortes wohl zu bedienen wussten, sondern auch ihrer einflussreichen Freunde und Gönner.
Colonel Johnston, Offizier des Königs, kam vor ein Kriegsgericht, verstand sich mit Macarthurs Unterstützung jedoch so gut zu verteidigen, dass das Urteil in Anbetracht seines Vergehens unglaublich milde ausfiel: Statt zum Tode verurteilt zu werden, wurde er am 2. Juli 1811 nur aus der Armee ausgestoßen. Damit hatte es sich.
Auch John Macarthur kam billig davon. Als Privatmann konnte man ihn in England nicht zur Rechenschaft ziehen, unterstand er dem englischen Recht nach doch der Gerichtsbarkeit von New South Wales. Lachlan Macquarie, den die Krone mit kampferprobten Truppen als neuen Gouverneur nach Australien geschickt hatte und der seit dem Neujahrstag des Jahres 1810 sein Amt in Sydney ausübte, hätte ihm den Prozess gemacht und ihn mit absoluter Sicherheit aufknüpfen lassen.
Doch Sydney war weit, und seine einflussreichen Freunde in greifbarer Nähe. Er blieb deshalb in England – und zwar in jeder Hinsicht ungeschoren. Seine einzige Strafe bestand darin, dass er seine Frau und Kinder lange Jahre nicht sehen konnte. 1816 gelang es ihm jedoch, die Zusicherung zu erlangen, dass man ihn bei seiner Rückkehr nach New South Wales weder verhaften noch vor Gericht stellen würde. So kehrte er zurück und vermehrte nicht nur seinen beachtlichen Reichtum, sondern spielte auch bald wieder eine gewichtige Rolle in der Politik der Kolonie.
Der große Verlierer dieser Rum-Rebellion war, neben dem einfachen Volk wie immer, William Bligh. Zwar wurde er von jeglicher Schuld an der Meuterei der Truppen freigesprochen und der Form halber noch einmal für einen Tag in sein Amt als Gouverneur von New South Wales eingesetzt. Doch diesen einen Amtstag, der seine Ehre wiederherstellen sollte, gönnte man ihm noch nicht einmal richtig auszukosten. Bligh befand sich noch auf dem Weg von Van Dieman’s Land nach Sydney, als dieser eine Tag begann und verstrich.
Unter den vielen Papieren, die der neue Gouverneur Macquarie durcharbeiten und neu bewerten musste, fand sich auch das Gnadengesuch für den Sträfling Abigail Lynn. Dem Gesuch wurde stattgegeben. Am 15. Februar 1810, nach fünf Jahren Verbannung, war Abby frei. Sie kehrte jedoch nie nach England zurück. New South Wales war ihre Heimat geworden – und die ihrer wachsenden Familie.
Die Deportation von Strafgefangenen nach Australien wurde erst 1867 eingestellt.
Ein eisiger Windstoß blies durch die Fensterfugen der Dachkammer. Die Kerze auf dem Küchentisch flackerte, beugte sich unter dem frostigen Hauch des Februarmorgens und erlosch. Ein dünner Rauchfaden kräuselte vom kohleschwarzen Docht, wurde von der Zugluft erfasst und verwirbelt, bevor er noch die niedrige Decke der armseligen Dachgeschosswohnung erreicht hatte.
Das dunkelblonde Mädchen mit dem blassen Gesicht saß gedankenverloren am Küchentisch und beobachtete, wie das flüssige Wachs um den Docht schnell erkaltete und sich auf der Oberfläche eine erste dünne Schicht bildete. Wie die Haut, die auf heißer Milch schwimmt.
Heiße Milch!
Abigail Lynn versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal heiße Milch getrunken hatte. Vergeblich. Es lag schon zu lange zurück. Viele Jahre. Seit ihr Vater auf der Fahrt von Indien zurück nach England mit dem Schiff untergegangen war. Er hatte sein ganzes Vermögen in die Schiffsladung gesteckt. Bis auf den letzten Penny, wie ihre Mutter immer wieder mit Verbitterung betonte, wenn sie von den Zeiten erzählte, als sie noch zu den angesehenen Kaufmannsfamilien in London gehört, in einem eigenen Haus gewohnt und mehrere Dienstboten gehabt hatten.
Nur ganz schwach konnte Abigail sich noch an das Haus mit den silbernen Kerzenleuchtern, den Teppichen und Bildern und dem herrschaftlichen Treppenaufgang erinnern. Gerade sechs war sie damals gewesen. Und acht Jahre in drückender Armut waren eine lange Zeit, in der Erinnerungen an eine längst vergangene, glückliche Kindheit ihre scharfen Konturen verlieren wie Zeichnungen auf Papier, die zu lange der Sonne ausgesetzt sind und immer mehr verblassen.
Abigail wünschte, sie könnte die Kerze wieder anzünden. Die kleine Flamme war das einzig Wärmende und Trostspendende an diesem kalten Februarmorgen gewesen. Doch es war schon hell über London, und die Kerze jetzt noch einmal in Brand zu setzen, wäre eine unverzeihliche Verschwendung von Wachs und Zündhölzern gewesen.
Ein anhaltender, trockener Husten aus der hinteren Ecke der Dachkammer riss Abigail aus ihren Gedanken. Ihre Mutter war aufgewacht.
»Abby?«
Abigail erhob sich vom Küchentisch und ging schnell zur Bettstelle hinüber. »Hast du Durst? Soll ich dir etwas Tee bringen?«, fragte sie besorgt und wünschte, sie hätten wirklich ein wenig frischen Tee. Das Gebräu, das sie seit über einer Woche tranken, war der ungezählte Aufguss einer einzigen Hand voll Teeblätter. Sie waren schon so ausgelaugt, dass sie kaum noch das Wasser färbten.
Margaret Lynn nickte und Abby holte eine Blechtasse voll Tee. Ihre Mutter trank gierig und sank dann in die Kissen zurück. Die Krankheit, die sie nun schon gute sechs Wochen ans Bett fesselte, hatte deutliche Spuren hinterlassen. Abby kannte ihre Mutter nur als hagere Frau mit schmalen Lippen und einem verkniffenen Gesichtsausdruck, der ihre unversöhnliche Verbitterung über den tiefen Fall widerspiegelte. Doch nun war sie regelrecht abgemagert. Ihr Gesicht war eingefallen, die fahle Haut schien sich über den spitz hervortretenden Wangenknochen bis zum Zerreißen zu spannen, und in ihren Augen, die in tiefen Höhlen lagen, brannte das Fieber.
»In der Schüssel ist noch etwas kalte Grütze«, sagte Abby und hielt die Hand ihrer Mutter. »Eine halbe Tasse voll.«
»Brot! ... Du musst Brot kaufen, Abby!«
»Es ist längst kein Geld mehr da.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »In der Dose hinter der alten Kanne ist noch Geld. Nimm es und kauf einen Laib Brot!« Ihre Stimme war schwach.
Abby zögerte.
»In der Dose müssen ein paar Sixpence und Pennys liegen. Das Geld habe ich für Notzeiten weggelegt«, stieß Margaret Lynn unter schnellem, flachem Atem hervor. »Nimm es und kauf ein. In ein paar Tagen wird es mir schon wieder besser gehen und dann kann ich auch wieder arbeiten. Warum gehst du nicht?«
Abby brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, dass nicht ein einziger Penny mehr in der Dose lag und sie schon längst anschreiben ließ.
»Ja, ich werde das Geld aus der Dose nehmen und einen Laib Brot kaufen«, sagte sie und wandte sich schnell ab, weil sie Angst hatte, ihr Blick könnte verraten, wie hoffnungslos ihre Lage war.
Abby wickelte sich einen Schal um, hängte sich ihren abgewetzten Umhang um die Schultern und nahm den binsengeflochtenen Korb vom Wandhaken.
»Ich bin gleich wieder zurück, Mutter!«, rief sie von der Tür über die Schulter zurück. Sie konnte nicht ahnen, dass sie ihre Mutter nie wieder sehen würde.
Es war ein kalter Morgen und der Himmel über London war von seltener Klarheit. Die unzähligen roten und braunen Schornsteine, aus denen blauer Rauch in dicken Wolken quoll, hoben sich scharf von dem wolkenlosen Himmel ab.
Die vielen Rauchfahnen erinnerten Abby schmerzlich daran, dass sie keine Kohle und kein Brennholz mehr hatten. Sie fröstelte und zog den Umhang enger. Es fehlte ihnen an so vielem.
Es war Markttag in Haymarket und so herrschte an diesem frühen Morgen schon ein geschäftiges Leben und Treiben in den Straßen und Gassen. Kutschen, Wagen und Karren machten sich die Fahrbahn streitig. Das Schnauben nervöser Zugpferde, aus deren Nüstern der Atem wie Dampf kam, vermischte sich mit den Flüchen der Kutscher und dem scharfen Knall ihrer Peitschen.
Ohne Eile ging Abby an den Geschäften und Läden entlang, die die Straße zu beiden Seiten säumten. Sie sog die vielfältigen, bunten Eindrücke wie ein trockener Schwamm in sich auf. Wie sie das pulsierende Leben um sie herum genoss! Es gab ihr für eine kurze Zeit die Möglichkeit, die eigenen bedrückenden Sorgen zu vergessen. Die Luft war erfüllt von einem Gewirr aus vielen Stimmen, Geräuschen und Gerüchen. Schon jetzt drang aus den Tavernen das Lachen und Grölen jener Zecher, denen der Tag für ein Glas Branntwein, Port oder Ale nie zu jung oder zu alt war.
Wortreich priesen Straßenhändler mit Bauchläden ihre zweifelhaften Gesundheitswässerchen und Tinkturen an, und Dienstboten, von ihrer Herrschaft zum Einkauf geschickt, standen für ein paar Minuten in kleinen Gruppen zusammen und tauschten mit lachenden, geröteten Gesichtern den neusten Klatsch aus.
Doch beim Anblick der Straßenmädchen und der zerlumpten Bettler wurde Abby an ihre eigene, trostlose Situation erinnert. Das Hungergefühl stellte sich wieder ein. Und als sie die ersten Marktstände erreichte, krampfte sich ihr der Magen zusammen.
Sehnsüchtig blickte sie auf die andere Seite der Straße hinüber, wo zwischen einem schmalen Tabakladen und einer Schusterei die prächtige Bäckerei von Jonathan Walpole lag. Ihr war, als könnte sie schon über die Straße hinweg den herrlichen Duft frischer Brote und köstlicher Backwaren riechen.
Sie wartete sehnsüchtig eine günstige Gelegenheit ab und lief dann zwischen zwei schwer beladenen Pferdewagen über die Straße. Eine junge Frau, einen voll bepackten Einkaufskorb am Arm, verließ gerade die Bäckerei.
Abby warf einen ängstlichen Blick durch die Schaufenster in den Laden. Denn wenn Jonathan Walpole hinter der Theke stand, brauchte sie ihr Glück erst gar nicht zu versuchen. Sie wusste, dass er ihr keinen weiteren Kredit mehr einräumen würde. Bei Charlotte, seiner fülligen Frau mit den rosigen Pausbacken, lagen die Dinge anders. Ging das Geschäft gut und litt sie nicht gerade unter Kopfschmerzen, nahm sie es mit dem Anschreiben nicht ganz so genau. Doch verschenken tat auch sie nichts.
Hoffnung regte sich in ihr, als sie sah, dass Mrs Walpole allein im Laden war. Schnell lief sie die drei Stufen hoch und betrat die Bäckerei. Eine helle Glocke schlug an, als sie die Tür öffnete und hinter sich schloss. Die bullige Wärme der Bäckerei schlug ihr wie eine Woge entgegen und nahm ihr für einen Moment den Atem. Nach der klammen Kälte der Dachkammer und dem frostigen, schneidenden Wind der Straße fühlte sie sich von dem Wärmeschwall angenehm benommen.
Mit einem freundlichen Lächeln drehte sich die Bäckersfrau um. Sie trug ein blütenweißes Häubchen und eine ebenso weiße Schürze. Als sie anstelle zahlungskräftiger Kundschaft das dunkelblonde, ärmlich gekleidete Mädchen vor der Ladentheke stehen sah, verschwand das Lächeln von ihrem vollen Gesicht.
»Was willst du, Abby?«, fragte sie argwöhnisch, als wüsste sie, dass sie vor ihrer eigenen Weichherzigkeit auf der Hut sein musste.
Abby schluckte. Der Geruch, der den mit Brotlaiben und Kuchen aller Art voll gestellten Regalen entströmte, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und machte sie zittrig auf den Beinen. Sie richtete den Blick zu Boden und umklammerte den Tragbügel ihres leeren Korbes. »Einen Laib Brot, Mrs. Walpole ... bitte«, brachte sie nur mühsam hervor.
»Du hast natürlich auch heute keinen Penny dabei und willst, dass ich es wieder anschreibe, nicht wahr?«
Abby nickte stumm.
»Warum kommst du immer wieder zu mir, Abby?«, fragte die Bäckersfrau vorwurfsvoll und rang die Hände, als hätte sie das Schicksal schwer gestraft. »Weißt du nicht ganz genau, dass ich deiner Mutter schon mehr Kredit eingeräumt habe, als ich verantworten kann? Wenn mein Mann erfährt, wie viel ihr uns schon schuldet, wird er mir Vorhaltungen machen. Jeder weiß, dass er ein guter Mann ist und kein Herz aus Stein hat. Aber er kennt das rechte Maß der Mildtätigkeit besser als ich. Ja, ja, ich bin es doch, die es letztlich auszubaden hat.«
»Aber zu wem soll ich denn sonst gehen? Bitte, Mrs. Walpole, nur noch einen einzigen Laib!«, flehte Abby und blickte ihr nun ins Gesicht. In ihren dunklen Augen lag mehr inständiges Flehen, als sie mit Worten hätte ausdrücken können.
Die Bäckersfrau zögerte sichtlich. Sie sah die Hilflosigkeit und Verzweiflung im Blick des Mädchens, sah ihr blasses Gesicht und ihren viel zu dünnen Umhang. Doch das allein reichte nicht. Täglich betraten Bettler ihren Laden, unter denen sich auch Jungen und Mädchen befanden, die Abby um ihre abgetragenen Kleider und um ihre Bettstelle in der Dachkammer beneidet hätten. Und so fragte sie scheinbar zusammenhanglos: »Wie geht es deiner Mutter?«
Abby verstand sofort, und sie zuckte nicht mit der Wimper, als sie log: »Viel besser, Mrs. Walpole. Sie ist über den schlimmen Husten hinweg. In ein paar Tagen kann sie wieder arbeiten und dann bekommen Sie jeden Penny zurück.« Sie war klug genug, um nicht eifrig und beteuernd zu klingen, sondern gab ihrer Stimme einen müden Klang. Was ihr nicht allzu schwer fiel. »Ich soll Ihnen und Mr. Walpole Grüße ausrichten und sagen, wie dankbar sie Ihnen dafür ist, dass Sie uns in den letzten Wochen ...«
»Schon gut, schon gut«, fiel Charlotte Walpole ihr mit einem Anflug von Verlegenheit ins Wort. »Wenn deine Mutter ihre Arbeit bald wieder aufnehmen kann, will ich nicht so sein. Du sollst dein Brot bekommen.«
Abby machte einen Knicks und dankte ihr vielmals. Sie fühlte sich ganz schwach und flau vor Erleichterung, der Bäckersfrau doch noch einen Laib abgeschwatzt zu haben. Dabei ging es ihrer Mutter keineswegs besser. Hätte sie jedoch die Wahrheit gesagt, hätte sich auch Mrs. Walpole nicht erweichen lassen.
Die Bäckersfrau wandte sich zum Brotregal und nahm nach kurzem Zögern einen Laib vom Lattenrost, der gut und gerne seine fünf Pfund auf die Waage brachte.
Im selben Augenblick wurde die Schwingtür, durch die man nach hinten in die Backstube gelangte, aufgestoßen, Jonathan Walpole brachte ein großes Blech mit ofenfrischen Backwaren in den Laden. Er war ein kräftiger, breitschultriger Mann mit einem buschigen Backenbart, der stellenweise mehlbestäubt war. Sein merkwürdig kantiges, jedoch nicht unsympathisches Gesicht war gerötet. Schweißperlen glitzerten auf der Stirn und an den Schläfen. Sein Hemd wies unter den Armen und auf der Brust dunkle Schwitzflecken auf. Schon lange vor Sonnenaufgang hatte er mit der Arbeit in der heißen Backstube begonnen. An Markttagen konnte er kaum so schnell mit frischen Backwaren nachkommen, wie sie von den Regalen verschwanden. Noch war es ruhig. Doch in ein, zwei Stunden würden sich die Kunden die Türklinke gegenseitig in die Hand geben. Und für diesen Ansturm musste mit vollen Regalen Vorsorge geschaffen werden.
»Schau an!«, sagte Jonathan Walpole grimmig und knallte das Blech auf die Ladentheke. »Die kleine Abby Lynn!«
Nicht nur Abby erschrak bei seinem Anblick, sondern auch die Bäckersfrau. Sie zuckte zusammen, als hätte er sie bei einer unrechten Handlung ertappt.
»Hat sie wieder so lange gebettelt und dich beredet, dass du nicht anders konntest, als ihr einen Brotlaib zu geben?«, fragte der Bäcker ärgerlich. »Hast du denn vergessen, was ich dir schon hundertmal gesagt habe, Frau?«
»Sie sagt, ihrer Mutter geht es schon viel besser und sie wird bald wieder arbeiten können«, führte sie zu ihrer Entschuldigung an.
»Das freut mich zu hören. Aber Geld hat sie keins dabei, nicht wahr?«
»Nein«, räumte die Bäckersfrau ein.
»Dann gibt es auch kein Brot!«, erklärte Jonathan Walpole streng, nahm ihr den Laib ab und legte ihn ins Regal zurück.
Abby hörte, wie die Glocke hell und melodisch hinter ihr anschlug. Zwei Frauen betraten den Laden. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, den Bäcker vielleicht doch noch umzustimmen.
»Bitte, nur noch dieses eine Brot!«, bat sie ihn inständig. »Sie werden Ihr Geld bestimmt wiederbekommen, das schwöre ich Ihnen. Und wenn ich betteln gehen müsste!«
Jonathan Walpole schaute sie an und für einen kurzen Augenblick trat so etwas wie Mitgefühl in seine Augen. Doch im nächsten Moment war dieser Ausdruck schon wieder verschwunden.
»Ich bin kein Unmensch, Abby. Und ich habe deiner Mutter vier Wochen lang Kredit eingeräumt, wie ich das bei all meinen Stammkunden zu tun pflege«, sagte er nun geschäftsmäßig. »Doch länger als vier Wochen schreibe ich nicht an. Und Ausnahmen gibt es bei mir nicht!«
Nicht dass er ein schlechter, hartherziger Mensch gewesen wäre. Doch er hatte nun einmal seine Prinzipien, von denen er nicht abrückte. Es waren harte Zeiten, gewiss, doch wer sich vom Elend zu sehr rühren ließ, lief Gefahr, über kurz oder lang auch zum großen Heer der Bedürftigen zu zählen, die London überschwemmten.
Abby spürte die ungehaltenen Blicke der beiden Frauen. Sie hielten sichtlichen Abstand, als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie mit einem bettelnden Mädchen nichts zu tun haben wollten. Armut war wie eine hässliche ansteckende Krankheit, der man am besten dadurch vorbeugte, dass man ihr aus dem Weg ging und sie dort ignorierte, wo man ihr wider Willen begegnete.
In ihrer Verzweiflung suchte Abby nach Worten, die Jonathan Walpole doch noch umstimmen könnten. Doch es wollte ihr nichts Überzeugendes in den Sinn kommen und so schaute sie ihn nur hilflos an.
»Steh hier nicht im Laden herum. Du hast gehört, was ich gesagt habe. Versuche dein Glück anderswo, Abby«, sagte der Bäcker unbeugsam und fuhr dann seine Frau vorwurfsvoll an: »Wir haben Kundschaft! Seit wann ist es unsere Art, zahlende Kunden warten zu lassen?«
Abby sah, wie der Bäckersfrau das Blut ins Gesicht schoss, wandte sich beschämt ab und stürzte aus dem Geschäft in die schneidende Kälte des Morgens. Sie hätte weinen mögen. Warum hatte der Bäckermeister das Kuchenblech auch gerade in dem Augenblick bringen müssen? Nur eine Minute später, und sie wäre mit dem schweren, knusprig-frischen Brotlaib schon auf dem Heimweg gewesen. Was nun?
Abby wusste sich keinen Rat und lief ziellos durch die belebten Straßen und Gassen. Sie konnte unmöglich mit leerem Korb nach Hause kommen. Doch wer würde ihr noch etwas geben? Ihre Mutter hatte weder Verwandte noch Freunde, die ihnen hätten beistehen können. Und in den anderen Geschäften des Viertels gab man ihr schon seit Wochen keine Lebensmittel mehr auf Kredit. Charlotte Walpole war ihre letzte Hoffnung gewesen.
Müde und hungrig setzte sie sich schließlich am Rande des Marktes neben einem Torbogen auf einen hüfthohen Steinsockel. Den Korb auf dem Schoß und die Arme darüber verschränkt. Der schneidende Wind hatte sich gelegt und eine blasse, kraftlose Sonne stand über der Stadt an der Themse. Ein Schwarm Tauben kreiste über den Häuserdächern und ließ sich dann mit lautem Flügelschlag auf einer Regenrinne nieder. Gurrend blickten sie auf das lärmende Treiben hinunter.
»Was bleibt mir anderes als das Betteln«, dachte Abby, während sie den einbeinigen Bettler mit dem von Pockennarben entstellten Gesicht beobachtete. Er saß ihr schräg gegenüber auf dem kalten Straßenpflaster vor der Taverne The Fox and Bull und bat die Vorübergehenden um eine milde Gabe. Seine Stimme drang nicht bis zu ihr herüber, doch sie sah die Bewegungen seiner Lippen. Aber nicht einer warf ihm etwas in die knöchrigen, ausgestreckten Hände.
Es bevölkerten einfach zu viele Bettler die Straßen von London. Zehntausende. Und um jeden guten Platz wurde erbittert gekämpft. Auch unter dem Abschaum der Straße gab es Könige, die das Leben in der Gosse und in den Elendsvierteln mit gnadenloser Härte bestimmten. Sie schickten Banden von Taschendieben auf Beutezug aus und kontrollierten mit eiserner Hand das abscheuliche Geschäft mit den Straßenmädchen, die oftmals noch im Kindesalter waren. Einige von diesen »Königen des Elends« herrschten über Armeen aus hunderten von Bettlern. Gehörte man nicht zu den großen, organisierten Bettlerbanden, hatte man kaum eine Chance, sich auf der Straße zu behaupten.
Tiefe Niedergeschlagenheit erfasste Abby. Arbeit gab es für sie keine. Und angenommen, sie würde sich zu den anderen Bettlern gesellen und von ihnen auch geduldet werden: Wer würde ihr schon etwas geben? Charlotte Walpole hatte Recht. Sie war noch längst nicht tief genug gesunken, um Mitleid zu erregen. Dafür zählte bittere Armut viel zu sehr zum normalen Straßenbild der Stadt: Männer, die sich selbst verstümmelten, um als Bettler ein wenig Mitgefühl zu erregen und so ihr Überleben zu sichern. Halbwüchsige, denen der baldige Tod durch Unterernährung und Krankheit im Gesicht geschrieben stand. Frauen, die in ihrer Not ihre Kinder schon mit sieben Jahren an die Besitzer von Bergwerken oder Spinnereien verkauften – wo sie zumeist auch starben. An Kälte, Hitze, ungenügender Ernährung, Peitschenschlägen und völliger Erschöpfung durch unmenschliche Schinderei.
Abby seufzte. Ihre Lage war bedrückend, doch noch längst nicht hoffnungslos. Sie konnten immer noch das eine oder andere Kleidungsstück versetzen und einige Gerätschaften zum Pfandleiher bringen. Das Beste war, sie fing schon gleich damit an, wie schwer es ihr auch ankommen mochte. Sie würde Schal und Umhang versetzen. Viel würden die abgetragenen Sachen ja nicht bringen, und sie würde in der ungeheizten Dachkammer frieren, doch von dem Erlös würde sie einkaufen können. Außerdem: blieb ihr überhaupt eine andere Wahl? Sie mussten essen, brauchten Brot, und vielleicht reichte es sogar noch für etwas Tee.
»Hoffentlich kommt der Frühling schnell«, dachte Abby. Sie wusste jedoch, dass die ersten warmen Tage noch lange auf sich warten lassen würden, und wünschte, sie hätte noch einen gewichtigen Grund, um den Gang zum Pfandleiher auf einen späteren Zeitpunkt verschieben zu können.
Es gab keinen. Die Straße begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Hastig und verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln und blinzelte mehrmals. Eine Lynn weint nicht. Niemals. Das hatte ihre Mutter ihr immer und immer wieder eingeschärft.
»Träume sind wie Wolken. Sie sind unnütz. Man lässt sie ziehen und hängt ihnen nicht nach. Und Weinen ist ein Zeichen von Schwäche«, pflegte sie voller Verachtung zu sagen, wenn sie Abby in einem Augenblick melancholischer Träumerei oder mit tränenschimmernden Augen überraschte. Und dann setzte sie gewöhnlich zu einer ihrer »erzieherischen Predigten« an. So nannte Margaret Lynn zumindest ihre Monologe, die sie mit kalter Unversöhnlichkeit vortrug.
»Wer seine Schwäche preisgibt«, fuhr sie dann gewöhnlich fort, »wird in dieser Welt über kurz oder lang daran zugrunde gehen. Nur Härte zählt und hindert deine Mitmenschen daran, dir an die Kehle zu gehen. Zeig keinem, was du denkst oder fühlst, und vertraue niemand! Wenn du dich daran hältst, wird dir das Leben so manch bittere Erfahrung ersparen. Hältst du dich jedoch nicht daran, wird es dir ergehen wie mir. Du wirst mehr verlieren, als du jemals zu besitzen geglaubt hast.
Ja, höre mir nur gut zu, Abby! Das Leben ist grausam und nimmt auf die Schwachen, die Zaghaften und Glücklosen keine Rücksicht. Es geht über sie hinweg, drückt sie in den Dreck und vernichtet sie. So wie eine Feuersbrunst in einer Nacht ganze Städte in Schutt und Asche legt, so gnadenlos rafft das Leben die Schwächlinge dahin und die Verblendeten, denen die Gunst der Stunde einmal hold gewesen ist und die von nun an dem selbstzerstörerischen Wahn verfallen, das Glück für sich gepachtet zu haben.
Nein, mein Kind. Die wirklich Glücklichen haben ihr Glück mit Härte, eiserner Willensstärke, Gerissenheit und zäher Ausdauer erkämpft – und sich niemals eine Blöße gegeben. Sie haben sich der Schwachen, der Zaghaften und der Glücklosen bedient. Ihre eigenen Schwächen haben sie so geschickt vor der Welt verborgen, wie man einen bösen Fluch aus seinem Leben zu verbannen sucht! Hast du mich verstanden, Abby? Statt Schwäche zu zeigen, musst du härter sein als die anderen!«
Abby versuchte zu verstehen. Doch manches klang so fremd, so kalt und voller Argwohn, als wären sie allein und nur von Feinden umgeben. Sie wusste nicht, ob es richtig war, härter als die anderen zu sein und niemals zu weinen. Ihre Mutter lebte zumindest nach ihrer Überzeugung. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sie auch nur einmal mit tränenfeuchten Augen, geschweige denn weinen gesehen zu haben.
Deshalb schämte sie sich, wenn ihr manchmal nachts die Tränen kamen und sie nicht zu sagen vermochte, weshalb sie weinte, nur dass sie sich hinterher leichter und irgendwie befreit fühlte. Sie hatte jedoch Angst, von ihrer Mutter dabei ertappt zu werden.
Abby zwang sich, diesen trüben Gedanken nicht weiter nachzuhängen, und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das rege, lärmende Treiben. Das Gedränge war jetzt so groß, als wäre halb London nach Haymarket geströmt.
Ein schlaksiger, schwarzhaariger Junge in einer Flickenjoppe tauchte eben in diesem Moment drüben auf dem Gehsteig vor der Taverne auf. Er lungerte vor dem Eingang herum, nicht weit von der Stelle, wo der Bettler am Boden kauerte. Er mochte siebzehn sein, also drei Jahre älter als sie.
Abby kannte ihn ganz flüchtig, eigentlich mehr vom Sehen her. Er trieb sich gelegentlich in dieser Gegend herum. Sie glaubte, ihm schon mehrfach im Gedränge des Marktes begegnet zu sein und gehört zu haben, wie ihn jemand Edmund oder Edward gerufen hatte. Aber das war auch schon alles, was sie über ihn wusste. Ihre Mutter ließ ihr nicht viel Zeit für Nichtstun. Sie musste ihr bei der Arbeit zur Hand gehen und ihren Teil zum Lebensunterhalt beitragen.
Sie vermochte nicht zu sagen, was sie veranlasste, dem Jungen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht ahnte sie, dass es ihm nicht viel besser erging als ihr. Was auch immer der Grund sein mochte, sie ließ ihn auf jeden Fall eine geraume Zeit lang nicht aus den Augen.
Sie verlor jedoch bald das Interesse an ihm, denn viel zu beobachten gab es da nicht. Er tat nichts. Weder bettelte er noch schien er auf irgendjemanden zu warten. Er lehnte einfach nur an der Hauswand neben der Taverne und beobachtete scheinbar völlig teilnahmslos den dichten Verkehr auf der Straße und den scheinbar endlosen Strom vorbeiziehender Passanten.
Abby seufzte. Es wurde Zeit, dass sie weiterging. Die Kälte zog schon vom Steinsockel durch die Kleider. Und ihr stand ja noch der schwere Gang zum Pfandleiher bevor. Gerade wollte sie von ihrem harten Sitz herunterrutschen, als etwas passierte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Eine Mietkutsche hatte ein Stück oberhalb des Wirtshauses gehalten. Ein gut gekleideter Herr von gedrungener Statur und beachtlicher Leibesfülle stieg aus, strich seinen weinroten Gehrock glatt und drückte dem Kutscher ein paar Münzen in die Hand.
Dann geschah auf einmal so unglaublich viel in so kurzer Zeit!
Abby sah nicht den Hagel kleiner, spitzer Steine, der das Pferd der Droschke traf. Sie sah nur, wie der schon betagte Grauschimmel mit einem erschrockenen, schrillen Wiehern aufstieg, die Oberlippe weit über die dunklen Zähne hochzog und das Weiße im Auge zeigte. Wild warf er den Kopf hin und her, dass seine zottelige Mähne flog.
Die Kutsche rollte zurück, und der stämmige Mann auf dem Kutschbock stemmte sich nach Halt suchend gegen das Trittbrett, zerrte an den Zügeln, rief dem Grauschimmel einen scharfen Befehl zu und ließ die Peitsche knallen.
Der korpulente Mann sprang erschrocken zurück und stieß gegen den Jungen in der Flickenjacke, der plötzlich nur einen Schritt hinter dem Dicken stand.
Und Abby sah es, obwohl der Junge bewundernswert schnell und geschickt war: Ein blitzschneller Griff, und er hatte dem Mann die Geldbörse aus der Rocktasche gezogen.
Sie saß wie erstarrt und hielt unwillkürlich den Atem an. Ihr Herz schlug plötzlich wie wild, als hätte sie eine unvorstellbare Entdeckung gemacht ... oder als wäre sie selbst an diesem frechen Taschendiebstahl beteiligt. Würde er mit seiner Beute entkommen? Es wurde ihr gar nicht bewusst, dass sie bangte, das Verbrechen könnte noch von anderen bemerkt worden sein.
Edmund, oder wie auch immer er heißen mochte, handelte kaltblütig, eben nach den Regeln seines verbrecherischen Gewerbes. Er drehte sich um und entfernte sich ganz ohne Eile, die Verdacht hätte erregen können. Der Kutscher war noch immer mit seinem Grauschimmel beschäftigt, der sich noch nicht beruhigt hatte.
»Mein Gott, es ist ihm wirklich gelungen!«, dachte Abby schon. Zu früh, wie sich im nächsten Moment zeigte.
Der Dieb hatte vielleicht ein Dutzend Schritte zwischen sich und sein Opfer gebracht, als der Bestohlene plötzlich in seine Rocktasche fasste. »Man hat mich bestohlen!«, rief er mit unmännlich schriller, erregter Stimme, fuhr herum und suchte nach dem Dieb. Sein Blick fiel auf den Jungen in der Flickenjacke. Er erkannte ihn, erinnerte sich an die flüchtige Rempelei und setzte ihm nach. »Das ist der Dieb! Haltet ihn! ... Haltet den Lump! Er hat mich bestohlen!«, schrie er und deutete auf den Jungen, der nun sein Heil in der Flucht suchte.
Der Dicke wusste, dass er es mit dem jungen Burschen nicht aufnehmen konnte und ihn allein nie zu fassen kriegen würde. Und so brüllte er, so laut er konnte: »Haltet den Verbrecher! Drei Shilling für den, der ihn fängt!«
Der Ruf »Haltet den Dieb!« wurde nun von den Umstehenden aufgenommen und erhielt ein gellendes, vielstimmiges Echo. Überall blieben die Leute stehen, irritiert erst und dann voller Neugier und Sensationslust. Der Verkehr auf der Straße geriet ins Stocken. Verwirrung machte sich breit. Es war alles so schnell gegangen, dass nur ganz wenige mitbekommen hatten, wer nun der Bestohlene war und wer der Dieb.
Zwei, drei Beherzte versuchten sich die Belohnung zu verdienen. Sie stellten sich dem flüchtenden Taschendieb in den Weg und einer von ihnen bekam ihn sogar am linken Jackenärmel zu fassen. Doch er riss sich los, schlug einen Haken und rannte zwischen den Fuhrwerken hindurch über die Straße.
Abby, die längst aufgesprungen war, erschrak. Der Junge lief direkt auf sie zu! Ganz deutlich sah sie sein schmales, verzerrtes Gesicht mit den angsterfüllten Augen und seinen dampfenden, stoßhaften Atem.
Vier, fünf Sätze war er noch von ihr entfernt, als sich ihre Blicke begegneten. Und dann hörte sie seine Stimme, während er keuchend auf sie zulief. »Wir teilen! ... Später! ... Hau ab damit!«
Etwas fiel in ihren Korb.
Dann war er auch schon an ihr vorbei.
Fassungslos blickte Abby in den Korb und sah eine pralle, mit Goldfäden durchwirkte Geldbörse. Sie allein war schon viel wert. Wie viel Geld wohl in der Börse steckte? Sicherlich ein kleines Vermögen. Warum hatte er das nur getan?
Sie hatte das Gefühl, etwas völlig Unwirkliches zu erleben. Einen schrecklichen und zugleich doch faszinierenden Tagtraum. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Es waren Gedankenbruchstücke, die sich in wirrer Folge hinter ihrer Stirn jagten.
Abby wusste überhaupt nicht, was sie tat, als sie zwei zögernde Schritte machte, weg vom Steinsockel, in Richtung Torbogen, durch den man in eine schmale Gasse gelangte. Sie war wie in Trance.
»Die Geldbörse! ... Sie ist Diebesgut! ... Ich muss sie zurückgeben!«, schoss es ihr durch den Kopf.
Fast im selben Augenblick schallte der empörte, anklagende Ruf einer Marktfrau vom Sitz eines mit Kartoffeln beladenen Fuhrwerkes über die Straße: »Sie hat die Geldbörse! Das Mädchen da! Das im braunen Umhang!«, geiferte sie vom Kutschbock. »Ich habe gesehen, wie er sie ihr zugesteckt hat! Das ist seine Komplizin! Dieses verdorbene Flittchen da drüben hat die Börse!«
Die Bezichtigung traf Abby wie ein unerwarteter Peitschenhieb. Entsetzt blickte sie auf und sah, wie die Marktfrau mit einem knorrigen Stock in ihre Richtung fuchtelte.
Bevor Abby wusste, was sie tat, rannte sie auch schon wie von Furien gehetzt durch den Torbogen die Gasse hoch. Es kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, den Korb mit der gestohlenen Geldbörse von sich zu schleudern, so verstört war sie. Nur ein einziger Gedanke beherrschte sie: Weg von hier! Weg von dem schreienden Mob, der ihr auf den Fersen war!
Das laute Klappern vieler Schuhe über Kopfsteinpflaster begleitete das wilde Geschrei der Verfolger, die ihr nachhasteten. Die schrillen Stimmen schmerzten ihr in den Ohren. Was wollten sie von ihr? Sie hatte doch nichts getan. Warum rannte sie überhaupt?
Sie sah vor sich eine Gestalt, die aus einem Hauseingang trat, und wollte ihr ausweichen. Doch ein kräftiger Arm schoss wie ein Riegel vor und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte und stürzte der Länge nach auf das harte Kopfsteinpflaster. Der Korb entglitt ihrer Hand, Stoff riss, und eine scharfe Steinkante zog eine lange, blutige Linie über ihren rechten Unterarm.
Benommen blieb Abby liegen.
Doch nicht lange.
Kaum hatten ihre Verfolger sie erreicht, da packten auch schon derbe Hände nach ihr und zerrten sie unsanft hoch, begleitet von einer Mischung aus triumphierenden und bösartigen Zurufen.
»Wir haben sie!«
»Sie haben das Verbrecherflittchen erwischt!«
»Sie hat die Geldbörse wirklich im Korb gehabt! Hier ist sie! ... Die drei Shilling gehören mir!«
»Auspeitschen sollte man diese elende Brut! ... Man ist sich heute noch nicht einmal am helllichten Tag seines Lebens sicher!«
»Verbrecherpack!«
»Hurengesindel!«
Ein Meer von hassverzerrten Gesichtern umschloss Abby. Sie wollte zurückweichen, doch man hielt sie fest. Speichel traf sie ins Gesicht. Entsetzen und Ekel erfassten sie.
»Ein Konstabler! ... Da kommt ein Konstabler!«, rief jemand in der Menge.
»Die sind nie zur Stelle, wenn man sie braucht«, schimpfte ein anderer. »Sie tauchen immer erst dann auf, wenn schon alles vorbei ist.«
»Lasst mich durch! Zum Teufel noch mal, lasst mich durch!«, rief der Dicke, dem die Geldbörse gestohlen worden war. Mühsam bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge, die im Handumdrehen die schmale Gasse verstopft hatte.
Abby sah sich umringt von vielen Gesichtern, die von reiner Neugier über Schadenfreude bis hin zum Hass alles zeigten – nur kein Mitgefühl. Die Angst legte sich wie eine eiskalte Klaue um ihre Kehle und drückte ihr die Luft ab. Sie wollte vor diesen Augenpaaren, die das Urteil über sie schon gesprochen hatten, zurückweichen. Doch die beiden Kerle, die sie hochgezerrt hatten, hielten sie fest. Die schwieligen Männerhände umschlossen ihre Arme und umklammerten schmerzhaft ihre Schultern. Einer von ihnen stank entsetzlich nach Fisch.
Der schwergewichtige Mann im weinroten Gehrock hatte sich indessen durch die Menschenmenge zu ihr vorgedrängt. »Meine Geldbörse!«, war das Erste, was ihm über die Lippen kam. »Wo ist meine Geldbörse?«
Der sehnige, nach Fisch stinkende Mann hielt ihm den prallen, goldbestickten Beutel hin. »Hier, mein Herr«, sagte er eifrig und mit unterwürfigem Tonfall. »Und wenn Sie gütigst an die versprochenen drei Shilling denken würden ...«
Mit einem Seufzer großer Erleichterung nahm der Dicke seine Geldbörse entgegen. »Du sollst die drei Shilling haben.« Sein Blick richtete sich nun auf Abby. Zorn und Abscheu traten auf sein Gesicht. Wie ein Hahn, der nach etwas Lebendigem pickt, stieß er seinen runden, fleischigen Schädel vor, spuckte sie an und zog den Kopf schnell wieder zurück. »Hurenbrut! ... Elendes Miststück!«, beschimpfte er sie. »Das hast du dir mit deinem Komplizen ja klug ausgedacht! Aber jetzt wird euch das Handwerk gelegt. Wie heißt es doch: ›Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis der Henkel bricht.‹ Und dir wird der Strick den Hals brechen!«
»Ich ... bin nicht seine Komplizin ... und ich habe nichts damit zu tun«, brachte Abby nun mühsam hervor.
Die Umstehenden quittierten ihre Worte mit höhnischem Gelächter.
»Was geht hier vor?«, fragte eine scharfe, Respekt heischende Stimme. Es war der Konstabler. Die Leute traten unwillkürlich zurück und bildeten eine Gasse.
Der Konstabler, ein kräftig gebauter Mann mit buschigen Augenbrauen und irgendwie groben Gesichtszügen, ging forschen Schrittes durch die Gasse. Er hatte die aufrechte Haltung eines uniformierten Mannes, der sich seiner Stellung und Macht bewusst war.
Mit leicht gespreizten Beinen, die hohe Stirn gefurcht, stellte er sich neben den Bestohlenen. Die stechenden Augen auf Abby gerichtet, fragte er knapp: »Also, was ist mit ihr?«
»Galsworthy ist mein Name, Konstabler, Samuel Galsworthy aus Bristol. Ex- und Import von Weinen. Ich halte mich geschäftlich in London auf«, stellte sich der dickliche Kaufmann aufgeregt vor und begann umständlich den Hergang des Diebstahls zu berichten.
»Aber das stimmt nicht!«, fiel Abby ihm in die Rede, als er sie erneut als Komplizin des Taschendiebes bezichtigte. »Ich bin unschuldig, Konstabler!«
»Und ich bin die Jungfrau von Kastilien!«, grölte eine Stimme in ihrem Rücken, gefolgt von bösartigem Gelächter.
»Meine Mutter liegt krank zu Bett ... Ich wollte Brot kaufen ... nur einen Laib Brot ... und dann zum Pfandleiher ... und ich habe mich dort am Torbogen nur einen Moment ausgeruht, als es geschah«, beteuerte Abby und verhaspelte sich. Panik wallte in ihr auf.
»Sicher wolltest du Brot kaufen – von meinem Geld!«, fuhr Samuel Galsworthy sie an.
»Vergessen Sie nicht, mir die zugesagten drei Shilling Belohnung auszuzahlen, mein Herr«, erinnerte ihn der Fischverkäufer, besorgt darüber, er könnte in der allgemeinen Aufregung um die ihm zustehende Belohnung geprellt werden.
»Ja, ja, alles zu seiner Zeit«, erwiderte der Kaufmann, ohne ihn dabei anzusehen.
»Nein! ... So ist es nicht gewesen! Ich kenne den Dieb überhaupt nicht! Habe nie mit ihm gesprochen. Es war Zufall, dass er mir die Geldbörse in den Korb geworfen hat. Er wollte sie los sein und ich stand nun mal da«, sprudelte sie überhastet hervor und hatte das entsetzliche Gefühl, sich im nächsten Augenblick übergeben zu müssen. »Konstabler, Sie müssen mir glauben! Ich ...«
Der Polizist brachte sie mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. »Warum bist du dann mit dem Diebesgut weggerannt, statt stehen zu bleiben und Mr. Galsworthy seine Börse zurückzugeben?«, fragte er scharf.
»Eine treffliche Frage, Konstabler!«, kommentierte der Kaufmann wichtigtuerisch.
»Weil ich Angst hatte«, sagte Abby mit zitternder Stimme. »Diese Frau auf dem Fuhrwerk ... sie zeigte auf mich, als hätte ich etwas verbrochen. Und dann zeigten auch die anderen auf mich und schrien und liefen auf mich zu ... und da bekam ich es mit der Angst zu tun und bin gerannt ... ohne zu denken ... ich wollte nicht mit der Geldbörse flüchten ... daran dachte ich in dem Augenblick überhaupt nicht mehr. Ich ... ich habe einfach nicht gewusst, was ich tat ...«
»Was du da sagst, ist dummes Zeug!«, fuhr der Konstabler sie an. »Ausflüchte. Nichts als Ausflüchte. Wer ein reines Gewissen hat, braucht keine Angst zu haben! Und wer nichts verbrochen hat, hat auch keinen Grund zum Weglaufen! Ich glaube dir kein Wort! Du steckst mit dem Schurken unter einer Decke. Dafür gibt es Zeugen! Also lüge mich nicht weiter an.«
»Aber ...«
»Schweig!«, donnerte der Konstabler. »Ich will von dir keine Unschuldsbeteuerungen mehr hören! Du verschlimmerst deine Lage damit nur noch mehr. Wenn du klug bist, gibst du den Namen deines Komplizen preis und sagst uns, wo er sich mit dir treffen will. Ihr habt doch sicher ein Versteck, wo ihr zusammenkommt, um eure Diebesbeute aufzuteilen!«
»Nein! Es gibt kein Versteck! Und ich bin auch nicht seine Komplizin! Ich weiß nur, dass er Edmund heißt! Das ist alles!«, entfuhr es Abby in ihrer Erregung unbedacht. Und kaum hatte sie die inhaltsschweren Worte ausgesprochen, da traf sie auch schon die schockartige Erkenntnis, welch einen verhängnisvollen Fehler sie begangen hatte.
In den kühlen Augen des Konstablers, denen der Anblick von Verbrechern aller Art so vertraut war wie Fischen die vielseitigen Gesichter der See, blitzte es triumphierend auf.
»Schau an, erst behauptest du, den Dieb nicht zu kennen, und jetzt weißt du auf einmal seinen Namen!«, hielt er ihr mit grimmiger Genugtuung vor. Seine Vorgesetzten würden mit ihm zufrieden sein, dass sein gestrenges Verhör eine entscheidende Lüge zutage gebracht hatte. Eine Lüge, die sie der verbrecherischen Komplizenschaft zweifellos überführte. »Edmund heißt dein Komplize also! Endlich kommst du der Wahrheit näher! Also, wo versteckt er sich jetzt? Heraus damit! Leugnen hilft dir jetzt nicht mehr! Du hast dich selbst verraten und alle haben es gehört!«
»Bei Gott, das kann ich bezeugen!«, bekräftigte Samuel Galsworthy.
»Meine drei Shilling«, beharrte der Mann an Abbys Seite. »Sie haben mir noch nicht die drei Shilling Belohnung gegeben!«
»Macht das unter euch aus!«, beschied der Konstabler ihn, ungehalten über die Unterbrechung seines Verhörs.
»Bei allem, was recht ist, Konstabler«, antwortete der Fischhändler höflich, jedoch mit einem aufbegehrenden Unterton in der Stimme, »aber drei Shilling demjenigen, der ihm die Geldbörse wieder beschafft, das waren die Worte des Herrn hier aus Bristol. Und ich kann nicht länger warten. Ich muss zu meinem Fuhrwerk zurück. Allein wird meine Frau nicht ...«
»Du bleibst und kommst mit auf die Wache!«, schnitt der Konstabler ihm die Rede ab. »Deine Aussage muss aufgenommen werden. Es sei denn, du legst ein Geständnis ab!« Scharf fasste er Abby dabei ins Auge, als wollte er sie kraft seines Blickes zwingen, ihre verbrecherische Schuld einzugestehen.
»Ich weiß nicht, ob er wirklich Edmund heißt oder Edward«, versuchte Abby den Schaden wieder gutzumachen, den sie angerichtet hatte. Tief im Innern wusste sie jedoch, dass es dafür längst zu spät war. »Und ich kenne ihn auch nicht. Auf dem Markt ist er mir mal begegnet, und ich glaube, jemand hat ihn Edmund oder Edward gerufen.«
Wachsende Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. Es war wie ein entsetzlicher Albtraum, dass sie hier vor dem Konstabler stand, bedrängt von böswilligen Menschen, die sich an ihrer unverhohlenen Angst weideten, und wie gefangen in einem Netz aus Verdächtigungen und beängstigenden Halbwahrheiten. Warum löste sich dieser grässliche Albtraum nicht auf, und sie erwachte aus einem kurzen unruhigen Schlaf, auf dem Steinsockel neben dem Torbogen sitzend? Doch der Konstabler und die höhnischen Gesichter verflüchtigten sich nicht. Und die Schmerzen, die die groben Männerhände ihr zufügten, waren ebenso Wirklichkeit wie das Blut, das aus ihrer langen Schnittwunde am Unterarm sickerte.
»Sobald sie den Mund aufmacht, kommt ihr ein Schwall Lügen über die Lippen! Ist doch immer das Gleiche mit diesem Verbrechergesindel. Man kann diese Brut auf frischer Tat ertappen, und sie versuchen dennoch, sich wie eine Natter aus der drohenden Schlinge zu winden!«, rief eine Frau mit aufgebrachter, sich überschlagender Stimme aus der Menge und erhielt lärmende Zustimmung. »Gleich wird sie noch behaupten, eine gottesfürchtige Klosterschülerin zu sein!«
»Warum macht man mit diesem Abschaum der Straße nicht kurzen Prozess? Man sollte ihr erst die Diebeshand abhacken und sie dann gleich aufhängen!«, forderte ein schmächtiger, abgehärmter Mann mit einer speckigen Lederschürze vor dem Bauch. Er stand in der vordersten Reihe und funkelte Abby so hasserfüllt an, als wäre nicht der dicke Kaufmann, sondern er bestohlen worden. Er machte den Eindruck, als wollte er seine blutrünstige Forderung am liebsten gleich selber in die Tat umsetzen. »Dann sind wir sie ein für alle Mal los. Es wächst ja auch so noch genug Verbrecherpack nach!«
»Ja, knüpft sie auf!«, schallte es aus der Menge wider. »An den Galgen mit dem Hurenmädchen!«
»Schluss damit!«, erhob der Konstabler seine befehlsgewohnte Stimme und das tumultartige Geschrei erstarb. »Wenn ihr jemand den Strick um den Hals legt, dann wird es der Henker sein. Das Gericht wird schon eine gerechte Strafe aussprechen.«
Ungläubig starrte Abby ihn an, von lähmendem Entsetzen gepackt. Dann löste sich der Bann des Schreckens. Heftig schüttelte sie den Kopf, dass ihre schulterlangen, sanft gewellten Haare flogen, und versuchte sich loszureißen. Doch gegen die rohe Kraft der beiden Männer vermochte sie nicht das Geringste auszurichten. Im Gegenteil. Sie packten nur noch schmerzhafter zu.
»Ich bin unschuldig!«, brach es in einem Schrei ohnmächtiger Verzweiflung aus ihr heraus. »Ich habe nichts mit dem Dieb zu schaffen! ... Mein Gott, warum glaubt mir denn niemand!? ... Ich war es nicht! ... Ich bin unschuldig!«
Eine schallende Ohrfeige riss ihren Kopf zur Seite. Ihre Wange brannte wie mit heißem Öl übergossen. »Schweig!«, fuhr der Konstabler sie an. »Du bist verhaftet! Was du zu deiner Verteidigung anzuführen hast, kannst du vor Gericht sagen! Im Gefängnis wirst du Zeit genug haben, dir deine Worte gut zu überlegen!«