Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Vom Sich-fremd-Sein zum In-sich-Wohnen
Bibliothek der Gefühle, Band 3
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© 2008 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Isabella Hemmann
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ISBN 978-3-407-22446-0
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Wir alle kennen das Empfinden, dass wir mit uns einverstanden sind. Wir fühlen uns manchmal »so richtig in uns zu Hause«. »Ich bewohne meine Seele«, umschreibt der amerikanische Dichter Walt Weitman diesen Zustand. Dann wieder »stehen wir neben uns« oder sind uns fremd. »Ich komme mir vor, als sei ich gar nicht da« oder »als gehöre ich nicht dazu« – das sagen wir über uns oder hören wir von anderen. Oder wir spüren, dass ein Teil von uns »nicht zu uns gehört«, »uns fremd ist«, »ein Fremdkörper«. George Steiner schreibt: »Welche andere menschliche Gegenwart kann mir fremder sein, als ich selbst mir manchmal bin?« (Steiner 2002, S.77f.).
Die Menschen, mit denen wir arbeiten, benutzen verschiedene Worte für diese Gefühle. »Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut«, »Ich habe keinen Draht zu mir selber«, »Ich frage mich oft: Bin ich der?«, »Ich habe die Orientierung verloren«, oder eben: »Ich kann mich annehmen«, »Ich bin authentisch«, »Das bin ich«, »Ich fühle mich wohl in meiner Haut«, »Ich finde eine Oase in mir«, sind Umschreibungen. Wir suchten längere Zeit nach treffenden umfassenden Bezeichnungen. Uns fiel auf, dass viele Menschen, um das zu bezeichnen, was sie fühlen, Begriffe der nahen Umgebung verwenden. Dabei fielen oft Worte wie »heimisch«, »fremd«, »wohnen«, »zu Hause sein« usw., um diese inneren Zustände zu bezeichnen. Also haben wir die Begriffe ausgewählt, die den Titel dieses Buches ausmachen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie am ehesten auf Verständnis stoßen und bei den meisten Menschen starke Echos und Resonanz hervorrufen. Wenn wir eine Klientin oder einen Klienten fragen, ob sie das Gefühl kennen, sich fremd zu sein, wissen fast alle, was damit gemeint ist. Wenn wir uns erkundigen, ob sie das Gefühl haben, in sich zu wohnen, verneinen die meisten, betonen aber, wie sehr sie sich danach sehnen. Offensichtlich ermöglichen diese Begriffe, diesen Gefühlen oder Befinden näherzukommen.
Durch diese Erfahrungen sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass In-sich-Wohnen und Sich-fremd-Sein sowohl Gefühle des Alltags sind als auch eine grundlegende Bewegung des Erlebens bezeichnen: Fast alle Menschen, die wir kennen, streben danach, sich weniger und seltener fremd zu sein und häufiger und intensiver in sich zu wohnen. Wir wollen aber nicht vergessen, zu betonen, dass jeder Mensch für Überraschungen gut sein kann. So war für einen Klienten das In-sich-Wohnen ein Zustand, mit dem er verband, sich unangenehm selbstgefällig auszuruhen, während er als positiv für Veränderungen ansah, auch einmal neben sich zu stehen. Auch andere Menschen können mit den Begriffen In-sich-Wohnen und Sich-fremd-Sein nichts oder wenig anfangen. Falls Sie zu ihnen gehören (und trotzdem dieses Buch lesen), tauschen Sie bitte diese Worte aus und ersetzen Sie sie durch Bezeichnungen, die Ihnen eher zusagen.
Wir wollen in diesem Buch von dem Alltagsgefühl, sich fremd zu sein bzw. in sich zu wohnen, und von dem grundlegenden Sehnen und Streben erzählen, das sich mit diesem verbindet. Von Menschen werden wir berichten, die sich selbst fremd geworden sind. Manche nur ein wenig, nur gelegentlich, nur in mancher Hinsicht. Andere hat das Sich-fremd-Sein bis in den Grund ihres Daseins ergriffen und bestimmt ihr Leben. Von Menschen werden wir berichten, die uns begegnet sind, von Menschen, deren Leben in Romanen beschrieben wurden, und von prominenten Persönlichkeiten wie Romy Schneider und Karl May, die ihr Leben lang vom Sich-fremd-Sein bestimmt wurden und einen Weg suchten, in sich zu wohnen.
Sich-fremd-Sein und In-sich-Wohnen sind nicht nur kurzzeitige Gefühle, sondern langfristige Prozesse des Erlebens. Wir werden deshalb besonderen Wert darauf legen, zu untersuchen und zu beschreiben, wie sich diese Prozesse in längerfristigen Entwicklungen des Lebens einzelner Menschen ausgedrückt haben. Wir werden dabei in einigen Passagen unseres Buches aus Fremd- und Selbstzeugnissen dieser Menschen zitieren. Wir haben sie so ausgewählt und zusammengestellt, wie sie unserer Meinung nach dem beschriebenen Menschen und dem Thema des Sich-fremd-Seins und In-sich-Wohnens gerecht werden.
Sie werden in diesem Buch verschiedenen Qualitäten, sich fremd zu sein, begegnen. Und Sie werden entdecken, dass in jedem Menschen, von dessen Sich-fremd-Sein wir berichten, auch eine Erzählung darüber steckt, wie dieser Mensch, beharrlich und manchmal verzweifelt, darum kämpft, sich wohnlich in sich einzurichten.
Ihr Erleben und Fühlen beschreiben Menschen zumeist mit ähnlichen Begriffen. Das Gefühl oder die Vorstellung, in sich zu wohnen, wird oft verbunden mit dem Erleben von Glück, Gelassenheit, Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein, Zufriedenheit, Klarheit und Ausgeglichensein. Sich fremd zu fühlen ist oft verknüpft mit Unsicherheit, Unausgeglichenheit, Orientierungslosigkeit, Verständnislosigkeit für sich selbst und Einsamkeit.
Das Verlorensein und das Sich-fremd-Sein werden ähnlich erlebt und überlappen sich häufig. Wir haben erfahren und überprüft, dass KlientInnen genau zu unterscheiden wissen, ob sie ihr Gefühl als Verlorensein oder als Sich-fremd-Sein bezeichnen. Es fühlt sich für die meisten unterschiedlich an. Ähnliches gilt für In-sich-Wohnen und Geborgenheit. Wir werden deshalb irgendwann diesem Band einen Band über das Verlorensein und die Geborgenheit folgen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass sich manche Aspekte überschneiden.
Sich fremd sein, in sich wohnen – sind das überhaupt Gefühle? Wir meinen: Ja. Menschen können sich fremd oder heimisch fühlen. Andererseits gehen diese Erfahrungen über ein Gefühl hinaus, können unbestimmter als ein Gefühl wahrgenommen werden, sind Empfindungen, die den ganzen »Leib«, den ganzen sich erlebenden Menschen ergreifen. In der Fachsprache der Leibphilosophie und der Kreativen Leibtherapie sagen wir zu einem solchen Zustand eigentlich eher Befinden. Aber diese Unterscheidung soll uns im Weiteren nicht interessieren. Denn wichtiger als diese Frage scheint uns zu sein, dass viele Menschen darunter leiden, sich fremd zu sein, dass sie sich danach sehnen, mehr in sich zu wohnen. Den damit verbundenen Gefühlen begegnen wir in unserer therapeutischen Praxis häufig. Deswegen widmen wir diesen beiden »Auch-Gefühlen« einen Band in der Reihe der Bibliothek der Gefühle.
Im Schlusskapitel dieses Buches werden wir zusammenfassen, was Menschen auf dem Weg zum In-sich-Wohnen hilft. Wir haben, wie Sie lesen werden, unterschiedliche Menschen befragt, die das Gefühl des Sich-fremd-Seins und die Sehnsucht nach dem In-sich-Wohnen miteinander teilen. Wir haben viele nach den Gemeinsamkeiten und Besonderheiten dieser Gefühle befragt und uns erkundigt, was ihnen geholfen hat und was ihnen hilft, sich in sich wohnlich einzurichten. Wir wollen Ihnen nun die Ergebnisse vorstellen. Wir wünschen uns, dass die Lektüre Ihnen Anregungen gibt, auf Ihrem Weg, in sich heimisch zu werden, fortzuschreiten.
Wie oft haben uns KlientInnen erzählt: »Ich war mir sicher, dass ich nicht in diese Familie gehörte. Ich wusste, ich bin bei der Geburt vertauscht worden.« Dieses Gefühl, fremd in seiner Familie zu sein, ist weiter verbreitet, als wir früher glaubten. »Ich habe als Kind immer gedacht, ich wäre adoptiert und nur bei Pflegeeltern. Ich meinte, die wollten mir meine wahre Herkunft verschleiern.« Oder: »Ich kam mir immer als Exotin vor. Es war mir immer klar, dass ich nicht zu meinem Bruder und meinen Eltern gehöre. Egal, was ich jetzt tue oder lasse – ich fühle mich als Exotin.« Solche Äußerungen kennen wir zuhauf. Sicher ist es normal, zumindest geschieht es häufig, dass sich Kinder und Jugendliche zeitweilig einem Elternteil oder beiden entfremden. Hier jedoch beschreiben Menschen, dass sie kontinuierlich ihre gesamte familiäre Umgebung als fremd erleben. Dieses Gefühl, fremd zu sein, wird für sie zur Wirklichkeit.
Wir wollen damit beginnen, das Erleben und die Gefühle der Menschen zu untersuchen, die real in eine fremde Umgebung verpflanzt wurden und sich in dieser entsprechend fremd gefühlt haben. Ob man wirklich fremd in einer Familie, in einer sozialen Welt ist oder dies »nur« eine Vorstellung ist, mit der man sich seine Gefühle erklärt – das Erleben ist anscheinend das gleiche.
Ein Klient erzählte: »Immer war ich mir sicher, dass meine Eltern nicht meine Eltern waren, aber das war nur so ein vages Gefühl, das ich nie richtig greifen konnte. Als ich 14 Jahre alt war, haben sie es mir dann gesagt: Ich bin adoptiert worden. Einerseits konnte ich es nicht glauben und war wie vor den Kopf geschlagen, andererseits war es eine Erleichterung für mich, nun zu wissen, dass an meinen Vermutungen etwas dran war. Schrecklich und erleichternd.« Die Vorgeschichte, die Wirkung und die Folgen, die einer solchen Erfahrung innewohnen können, beschreibt W. G. Sebald in seinem meisterhaften Roman »Austerlitz«.
Der historische Hintergrund zu diesem Roman ist die Rettungsaktion jüdischer Kinder von Ende des Jahres 1938 an bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Auf Initiative jüdischer und anderer Hilfsorganisationen gelang es mit Unterstützung und Duldung der britischen Regierung, etwa 10.000 Kinder aus Deutschland, Österreich und dem von den Nazis besetzten Teil der Tschechoslowakei zu retten und in England aufzunehmen. In dieser Zeit herrschten in England große Arbeitslosigkeit und öffentliche Armut, so dass Unterkunft, Verpflegung, Nahrung und alle sonstigen Versorgungen durch Spenden und die Hilfsbereitschaft vieler tausend EngländerInnen gewährleistet werden mussten. Viele jüdische Familien ahnten, dass es für sie unter dem nationalsozialistischen Regime nur noch schlimmer, ja ausweglos werden würde. Sie rangen sich zu der Entscheidung durch, ihre Kinder zu retten, indem sie den schrecklichen Preis bezahlten, diese Kinder allein nach England fahren zu lassen. An bestimmten Sammelstellen auf Bahnsteigen verabschiedeten sich die Kinder. Eine ehemalige Teilnehmerin des Kindertransportes erzählt: »Meine Mutter weinte sehr, aber mein Vater biss die Zähne zusammen. Mir erschien alles sehr verwirrend. Ich finde es schwer, meine damaligen Gefühle zu beschreiben. Ich war niedergeschlagen, aber nicht vollkommen trostlos; ich begriff, dass das alles zu meinem Besten geschah. Es war mir klar, dass man mir eine große Wohltat erwiesen hatte. Auf keinen Fall ahnte ich, dass ich nicht wieder zurückkehren und meine Familie umkommen würde.« (Turner 2001, S.51) Andere Kinder wussten kaum, was ihnen geschah, waren traurig, fühlten sich verlassen und schuldig. Für die meisten war es ein zutiefst schmerzhaftes, traumatisches Ereignis: der Abschied am Bahnhof, die lange Bahnfahrt, die Kontrolle an der Grenze nach Holland, die Schiffsfahrt von Holland nach England und schließlich dort die Ankunft in einem fremden Land mit fremder Sprache bei fremden Menschen. Manche Kinder oder Jugendliche wuchsen in Waisenhäusern auf. Die meisten Kinder wurden von Familien aufgenommen, viele trafen es gut, manche schlecht, wie Sebalds Romanheld Jacques Austerlitz.
Austerlitz ist der Name eines Mannes, der uns in dem Roman zuerst als erwachsener Mann begegnet, der sich in ausführlichen Beschreibungen eines Bahnhofs und einer Festung ergeht. Das wirkt befremdlich und könnte langweilen, wenn nicht in der Beschreibung schon eine Ahnung mitschwingen würde, welch schwerwiegende Bedeutung ein anderer Bahnhof und eine andere Festung dem Leben dieses Mannes zukommen würde. Fremd, unnahbar, ohne jede persönliche Regung erscheint dieser Austerlitz. Doch dann fallen Nebenbemerkungen, wie die, dass sein Rucksack »das einzig wahrhaft Zuverlässige in seinem Leben gewesen sei« (Sebald 2001, S.59), die Persönliches durchscheinen lassen, das Fremde durchdringen und neugierig machen.
Einige Seiten später erfahren wir, dass der seltsame und seltene Name Austerlitz ihm bis in sein 15.Lebensjahr vorenthalten geblieben war. Und dann erzählt er von seiner Kindheit – und allmählich bekommen wir über geschilderte Geschichten, Erlebnisse und Atmosphären einen Einblick in die Entwicklung und das Erleben dieses merkwürdigen, »fremdelnden« Menschen Austerlitz. Er wuchs in einem kleinen Landstädtchen in Wales auf, in einem »unglücklichen Haus« (a.a.O., S.65) eines strengen calvinistischen Predigers und seiner angstvollen englischen Frau. Die vielen Vorhänge, die es in diesem Haus gab, waren immer zugezogen, manche Zimmer dauerhaft versperrt. Das Halbdunkel beherrschte seine Kindheit: »So ist mir aus meiner frühesten Zeit in Bala fast nichts mehr erinnerlich, außer, wie sehr es mich schmerzt, auf einmal mit einem anderen Namen angeredet zu werden, und wie schrecklich es war, nach dem Verschwinden meiner eigenen Sachen, herumgehen zu müssen in diesen kurzen englischen Hosen, mit den ewig herunterrutschenden Kniesocken, einem fischnetzartigen Leibchen und einem mausgrauen, viel zu leichten Hemd.« (a.a.O., S.65f.) »Und so, wie in dem Haus in Bala die Kälte herrschte, so herrschte in ihm auch das Schweigen.« (a.a.O., S.67) Und wie so oft, wenn Menschen sich als Fremde in einer fremden Umgebung fühlen, wenn sie an dieser Fremdheit zu ersticken oder wie Austerlitz zu erfrieren drohen, sucht sich die menschliche Lebendigkeit einen Ausweg. Austerlitz’ Rettung war die Schule, vor allen Dingen die Privatschule, die er ab seinem 12.Lebensjahr in Internatsform besuchte. Despotisch und hart war sie, aber für ihn ein Lichtblick. Die anderen Schüler stöhnten – für ihn waren das Studieren und Lesen nie eine Last. »Ganz im Gegenteil, eingesperrt, wie ich bis dahin gewesen war, in die walisische Bibel und Homiletik, schien es mir nun, als öffnete sich mit jeder umgewendeten Seite eine weitere Tür. Ich las alles, was die vollkommen willkürlich zusammengestellte Schulbibliothek hergab und was ich von meinen Lehrern leihweise erhielt, Geografie und Geschichtsbücher, Reisebeschreibungen, Romane und Lebensschilderungen, und saß bis in die Abende hinein über Nachschlagewerken und Atlanten.« (a.a.O., S.89) KlientInnen haben uns oft erzählt, dass sie sich aus ihren Fremdheitsgefühlen retteten, zumindest zeitweilig, indem sie sich in andere Welten versetzten. So auch Austerlitz: »Da ich mich zu jedem beliebigen Zeitpunkt, in der Lateinstunde ebenso wie während des Gottesdienstes oder an den uferlosen Wochenenden, in diese Welt hineinversetzen konnte, bin ich nie in die Niedergeschlagenheit verfallen, an der so viele in Stower Grange litten. Mich erfasste das Elend erst, wenn ich in den Ferien wieder nach Hause musste.« (a.a.O., S.89) Er schuf sich in seinen inneren Bildern, seinen Imaginationen seine eigene Welt, in die er sich nach Belieben hineinversetzen konnte. So konnte er psychisch überleben, während die Menschen, die er damals für seine Eltern hielt, an der Kälte und dem Schweigen starben. Zuerst starb die Frau, dann starben die Reste der Lebendigkeit des Predigers, der schließlich in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht wurde.
Als Austerlitz 16 Jahre alt war, erfuhr er vom Schulleiter, dass das Ehepaar, bei dem er aufgewachsen war, ihn als kleinen Jungen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aufgenommen hatte und dass er Jacques Austerlitz hieß. Später hören wir von vielen Reisen, von einem ruhelos wirkenden Leben. Wir hören von Freundschaften, in denen Austerlitz begann, sich nicht nur in seine fantasierte Welt hinein zu öffnen, sondern auch gegenüber anderen Menschen. Er beobachtete, nahm auf, saugte auf, was er sah, war aber nur sehr begrenzt in der Lage, mit anderen mitzuschwingen. Diese Beobachtung haben wir bei vielen Menschen gemacht, die zumindest eine Zeit lang ihres Lebens fremd in einer fremden Welt waren und sich selbst fremd fühlten: Wer so wenig in sich zu Hause ist, kann sich offenkundig nicht leisten, sich anderen Menschen zu öffnen. Er würde sonst die mühsam aufrechterhaltene Stabilität gefährden. Oder er ist zu unerfahren und angstvoll darin, mit anderen gemeinsame Schwingungen entstehen zu lassen. Bei Austerlitz kam tragischerweise hinzu, dass sein bester Freund bei einem Flug in den Bergen tödlich verunglückte. »Es war ein schlimmer Tag, als ich von dem Absturz in den Savoyer Alpen erfuhr, und vielleicht der Beginn meines eigenen Niedergangs, meiner im Laufe der Zeit immer krankhafter werdenden Verschließung in mich selber.« (a.a.O., S.168f.)
Als er Marie kennenlernte und mit ihr bei einem Ausflug in Marienbad eine Nacht verbrachte, wuchs in ihm die »Hoffnung, ich stünde nun am Beginn meiner Genesung« (a.a.O., S.300). Doch Marie verzweifelte an seiner Unnahbarkeit. »Warum«, fragt Marie ihn, »sehe ich, wie deine Lippen sich öffnen, wie du etwas sagen, vielleicht sogar ausrufen willst, und dann höre ich nichts?« (a.a.O., S.308) Wer sich selbst so weitgehend fremd ist, auch seiner Wurzeln, seiner Herkunft, bleibt auch anderen Menschen fremd. Marie sagte Austerlitz, er wirke auf sie wie »eine Maschine, deren Mechanismus man nicht kennt« oder wie »ein zugefrorener Teich« (a.a.O., S.307). Austerlitz konnte sich ihr nicht ganz zuwenden. Er packte seinen Rucksack nie aus, wie konnte er da sein Herz öffnen. Seine Unnahbarkeit schien ihm die Rettung zu sein und gleichzeitig verzweifelte er an sich. Erst viel später gestand er sich ein: »Ich wähnte mich in diesem Mich-Abwenden gerettet und kam mir zugleich vor wie ein zum Fürchten hässlicher, unberührbarer Mann.« (a.a.O., S.308)
Wie Austerlitz ergeht es vielen Menschen, die sich weitgehend fremd sind. Wenn andere ihnen nahekommen, flüchten sie. Diese Flucht verschafft ihnen Erleichterung, weil sie ihnen Schutz bietet, und gleichzeitig fühlen sie sich elendig, ja manche hassen sich dafür.