Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Der kleine Ärger und die große Wut
Bibliothek der Gefühle, Band 6

Besuchen Sie uns im Internet: www.beltz.de
© 2009 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Lektorat: Lore Remke
Umschlaggestaltung: Schneider. Visuelle Kommunikation, Frankfurt
unter Verwendung eines Fotos von © Klaus Schneider
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22443-9
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
Wir danken Käthe Frick und Martin Lenz für ihre Rückmeldungen zu den Manuskripten, Susanne Wolters für ihre Schreibarbeiten, Cosima und Klaus Schneider für die grafische Gestaltung des Umschlags, Isabella Hemmann für das Lektorat und unseren Kindern, FreundInnen, SchülerInnen und KlientInnen.
Der kleine Ärger und die große Wut, der große Ärger und die kleine Wut, der gerechte Zorn und der Jähzorn, der Hass und die Rache – sie alle zählen zur Familie der aggressiven, d. h. der angreifenden Gefühle.
Aggressive Gefühle begegnen uns alltäglich in vielerlei Situationen und in vielerlei Gestalt. Der Nachrichtensprecher im Fernsehen berichtet über Kriegsdrohungen und Terroranschläge, was uns Zuschauer und Zuschauerinnen zutiefst erschreckt, bis es uns eventuell erkalten lässt oder mit Hass erfüllt. Der Sohn hat schon wieder seine schmutzige Wäsche einfach im Badezimmer liegen lassen, was beide Elternteile ärgert – wobei der eine schimpft und brummelt und die andere resigniert verstummt. Den Zorn darüber, dass die Freundin schon seit Wochen nicht anrief, wollte die Frau schon loswerden – das Greifen zum Telefonhörer hat sie aber gestoppt, weil sie Angst hatte, es sich mit ihr zu verderben. Die Nachbarin erzählt, dass sie, nachdem bei ihr eingebrochen wurde, voller Angst vor neuen Gewalttaten ist und nachts nicht mehr schlafen kann. Und wenn wir die Zeitung aufschlagen, macht uns die Nachricht fassungslos, dass schon wieder einem jungen Mädchen Gewalt angetan wurde. Dass Kinder und Jugendliche andere Kinder und Jugendliche erpressen und gemeinschaftlich foltern, lässt uns erstarren oder wüten oder wir schieben es ganz weit von uns weg. Im besten Fall fragen wir uns, welche Mitverantwortung wir Erwachsenen an dieser Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit tragen. Aggressive Gefühle und Taten in all ihren Extremen und Nuancen gehören zu unserem Leben und gleichzeitig fürchten sich die meisten Menschen vor ihnen, sehnen sich nach einem Leben in Frieden und Harmonie. Wie passen diese beiden Tatsachen zusammen, obwohl sie offensichtlich so unvereinbar erscheinen? Dies ist einer genaueren Untersuchung wert.
Auch in der Therapie begegnen uns die aggressiven Gefühle in unterschiedlicher Gestalt und mit sehr unterschiedlichen Wirkungen. Es gibt kaum ein Gefühl, das so oft unterdrückt ist und so intensiv mit Tabus belegt ist wie der Ärger oder der Zorn. Diese Gefühle lebendig werden zu lassen kann einerseits Gefühle der Befreiung und Vitalität hervorrufen, andererseits in große Ängste stürzen. Manche Menschen, die Opfer aggressiver Gefühle wurden, ihrer eigenen wie derer anderer Menschen, streben verständlicher- und achtenswerterweise danach, solche Gefühle irgendwie »einzudämmen«.
Wir wollen uns in diesem Band der Gruppe der aggressiven Gefühle genauer widmen und uns dabei, wie auch in den anderen Bänden der Bibliothek der Gefühle, auf unsere Erfahrungen aus Alltag und Therapie stützen. Es wird, wie oben schon anklang, notwendig sein, in diesem Zusammenhang auch auf Gewalt und Gewalttätigkeit einzugehen, da Aggression zu Gewalt führen kann und das Erleben und Erleiden von Aggressionen häufig Ängste vor Gewalttätigkeit und vor aggressiven Gefühlen hervorrufen.
Wir werden uns mit den Menschen beschäftigen, denen der Zorn und andere aggressive Gefühle abhandengekommen sind, aus welchen Gründen auch immer. Wir werden der Beobachtung nachgehen, dass aggressive Gefühle häufig von einem Subtext, wie einer Unterzeile in einem fremdsprachigen Film, begleitet werden. Wir werden die verschiedenen Subtexte untersuchen und unsere Schlussfolgerungen für den Umgang mit aggressiven Gefühlen vorstellen. Wir werden uns auch mit den unterschiedlichen Qualitäten aggressiver Gefühle beschäftigen, vom kindlichen Trotz über den Hass und die stille Gewalt bis hin zum gerechten Zorn. In all diesen Kapiteln begeben wir uns nicht nur beschreibend durch die Gefühlslandschaft der Wut, des Zorns, des Ärgers, sondern wir berichten gleichzeitig von Wegen der Veränderung, wie wir sie vor allem in unserer therapeutischen Praxis erfahren haben. Dabei führen die Wege bei der Wanderung durch unser kleines Buch der aggressiven Gefühle nicht durch eine klar strukturierte Landschaft – z. B. immer am Fluss lang, auf einen Berg zu –, vielmehr zweigen sie fast wie zufällig in teils vielleicht bekannte, teils vielleicht neu zu entdeckende Gegenden mit unterschiedlichem Charakter ab. Wichtig ist uns nicht ein festgelegtes Ziel, sondern das Erleben, das Verweilen und das Lauschen auf den inneren Nachklang an dem jeweiligen Ort. In einem letzten Kapitel wollen wir über diese Wege der Veränderung noch einmal den Blick schweifen lassen und einige grundsätzlichere Gedanken und (auch theoretischen) Modelle zur Orientierung in dieser Landschaft vorstellen.
Dieses Buch eignet sich nicht als »Ratgeber« im Sinne eines »Rezeptbuchs«. Das emotionale Erleben jedes Menschen ist so einzigartig, dass es sich verbietet, verallgemeinernde Ratschläge zu erteilen. Wir wollen die Landschaft aggressiver Gefühle ausbreiten und erkunden sowie von unseren Erfahrungen erzählen. Was Sie als Leserin oder Leser davon für sich herausnehmen und hoffentlich für sich gebrauchen können, wird unterschiedlich sein. Da Sie sich selbst am besten kennen, werden Sie beim Lesen sicher herausfinden, was Ihnen helfen könnte.
Sollten Sie eine »klassische« Abhandlung zur Unterscheidung der Begriffe Ärger, Wut und Zorn erwarten, so werden wir Sie enttäuschen. Wir werden darauf keinen großen Wert legen. Denn im alltäglichen Sprachgebrauch werden diese Begriffe unserer Beobachtung nach im Wesentlichen austauschbar benutzt. Oft bezeichnet Ärger eine schwächere Intensität als Wut oder Zorn, manchmal werden mit Zorn eher gerichtete aggressive Gefühle und mit Wut eher ungerichtete benannt – zumeist werden die Begriffe eher nach unterschiedlichen Gewohnheiten benutzt als nach qualitativ verschiedenen Definitionen. Manchmal allerdings ist eine, nicht unbedingt diese, Nuancierung in der Therapie wichtig, damit KlientInnen das passende Wort für ihr Gefühl bzw. für die Veränderungen ihres Erlebens finden. Für eine Klientin z. B. war es eine entscheidende Entwicklung, zuerst ihre ihr grenzenlos erscheinende hilflose Wut zu malen, um dann im therapeutischen Dialog und Prozess festzustellen, dass ihre Wut eine klare Richtung bekam, woraufhin sie ihr Gefühl in Zorn umbenannte. Sie gab ihrem Bild den Titel: »Anna und der Engel des Zorns«. Anders verhält es sich mit »Spezialbegriffen« bestimmter aggressiver Gefühle wie Jähzorn, Bitterkeit, Hass, Rachegefühle usw. Hier sind genaue Unterscheidungen angemessen.
Wir danken unseren KlientInnen, dass wir von ihnen lernen durften und von ihnen erzählen dürfen. Wir danken Käthe Frick und Andreas Baer für ihre Rückmeldungen und Anregungen zum Text sowie Susanne Wolters und Lore Remke fürs Schreiben und Lektorieren, Cosima und Klaus Schneider für die grafische Gestaltung. Herzlichen Dank!
Die Fähigkeit, zu fühlen, macht Sinn. Die Strukturen des Gehirns, die diese Gefühle produzieren, sind bei Menschen und zahlreichen Tieren in einer frühen Phase der Evolution entstanden und zu einer »Dauereinrichtung« geworden, weil sie geholfen haben, die Überlebenschancen der fühlenden Lebewesen zu erhöhen. In konkreten Situationen können Menschen mit ihrer Angst, ihrer Eifersucht, ihrer Scham hadern, generell helfen Gefühle, in der Welt zurechtzukommen. Dies gilt auch für die aggressiven Gefühle, also den Ärger, die Wut, den Zorn und ähnliche mehr.
Wie helfen Gefühle? Wodurch verbessern sie die Möglichkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden und in ihr zu leben? Die Antwort ist einfach: weil Gefühle vor allem das spontane Handeln bestimmen. Wenn uns jemand bedroht, werden wir ärgerlich und wehren uns. Oder wir bekommen Angst und fliehen. Wenn wir lieben, gehen wir auf jemanden zu. Aus Gefühlen entstehen spontane Impulse des Handelns. Im langfristigen Handeln kann und muss oft die Vernunft wirken. Eine Brücke dauerhaft haltbar zu konstruieren ist keine Sache der Gefühle, sondern vernünftiger Berechnungen. Aber der Impuls, eine Brücke zu bauen, kann der Sehnsucht entspringen, trockenen Fußes das andere Flussufer zu erreichen … Die moderne Gehirnforschung zeigt, dass Emotionen darüber hinaus vielfältige und vielschichtige weitere Funktionen für unser Denken und Handeln haben. Die Beeinflussung spontanen Handelns ist die offenkundigste Funktion.
Welchen Sinn in Hinblick auf spontanes Handeln haben nun aggressive Gefühle? Aggressive Gefühle zielen darauf ab, etwas »weghaben« zu wollen, im weitesten Sinne: etwas verändern zu wollen. Unsere Vorfahren mussten kämpfen, um sich zu ernähren. Ihre Wut half ihnen, sich gegen menschliche und tierische Feinde zur Wehr zu setzen. Auch in unserer heutigen Zeit werden wir Menschen ärgerlich und manchmal gar zu Löwen, Tigern oder Hyänen, wenn wir oder unsere Angehörigen bedroht werden. Wir wollen diese Bedrohung »weghaben«. Wir werden zornig, wenn wir bei der Arbeit ungerecht behandelt werden, und wollen diese Ungerechtigkeit »weghaben«. Wir sind wütend darauf, dass der Nachbar schon wieder unseren Parkplatz zugestellt hat, und wollen dessen Auto und dieses Handeln »weghaben«. Wir sind sauer über die falsche Schiedsrichterentscheidung im Fußball und wollen den Schiedsrichter »weghaben«. Wir ärgern uns, dass die Kinder wieder ihre Brote im Schulranzen verschimmeln lassen, und wollen dieses Verhalten verändern und unseren Ekel weghaben. Solche und ähnliche Beispiele kennen wir alle in großer Zahl. Aggressive Gefühle zielen auf Veränderung. Sie beabsichtigen, dass etwas verschwindet oder anders wird.
Wenn Kinder wütend sind, ist ihre Wut häufig so tief, so rein und so konsequent, dass wir sie als »archaische Wut« bezeichnen. Ein Mädchen ist zornig darüber, dass es das Spielzeug des anderen Kindes nicht bekommt, und trampelt auf den Boden und tobt und weint und schreit dabei – für vernünftige Argumente nicht ansprechbar. Ein Junge, dessen Opa im Sterben liegt und dessen Meerschweinchen vor kurzem gestorben ist, sagt wütend: »Immer müssen alle sterben!« Diese Wut will »einfach« etwas weghaben: hier das Sterben, dort das spielzeugbesitzende Kind.
Wenn Kinder älter werden, wächst auch ihr emotionales Gedächtnis. Bei aggressiven und anderen Gefühlen steigt zwar weiterhin das allgemeine Erregungsniveau im Nervensystem und Körpervorgänge werden darüber automatisch gesteuert. Aber die Kinder sind nun mit zunehmendem Alter eher in der Lage, ihre Gefühle zu identifizieren und mit Hilfe des emotionalen Gedächtnisses frühere Situationen, in denen sie sich geärgert haben oder wütend waren, zum Vergleich heranzuziehen. So werden allmählich aggressive Gefühle »zivilisiert«, manchmal auch »domestiziert« und in Bahnen gelenkt, die ein Zusammenleben mit anderen Menschen vereinfachen.
Manchmal geht der ursprüngliche Sinn aggressiver Gefühle, etwas weghaben und damit verändern zu wollen, auf diesem Weg verloren. Menschen werden bedroht und finden ihren Ärger nicht mehr. Oder sie werden angegriffen und spüren ihren Ärger, können aber nicht mehr ihm entsprechend handeln. Bei wieder anderen verselbstständigen sich gleichsam die aggressiven Gefühle. Sie kämpfen vorbeugend gegen dieses und jenes, unabhängig davon, ob die Situationen oder Gegebenheiten des Lebens, die sie weghaben wollen, konkret sind. Bei den meisten Menschen entwickeln sich aus der archaischen Wut: »Da ist etwas, was ich weghaben will, also bin ich wütend – auf Teufel komm raus«, im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte ein differenziertes Fühlen und ein differenziertes Verhalten. Es entsteht eine komplexe Gefühlslandschaft aggressiver Gefühle.
Mit dieser Gefühlslandschaft wollen wir uns genauer beschäftigen und werden mit den Menschen beginnen, die ihre Wut »verloren« oder »umgetauscht« haben.
Eine Büroangestellte erzählt, wie ihr Vorgesetzter sie ausnutzt. Sie muss regelmäßig unbezahlte Überstunden leisten, erhält nie ein Lob, nur Kritik, wird für Fehler, die der Chef verschuldet hat, verantwortlich gemacht und bei Gehaltserhöhungen oder Beförderungen übergangen. Wer ihren Erzählungen zuhört, wird zornig auf diesen Vorgesetzten – die betroffene Frau aber nicht. Als die Therapeutin sie fragt, ob sie sich nicht über die Behandlung ärgert, antwortet sie: »Manchmal schon. Aber nur ein wenig. Ich kann ja auch verstehen, warum mein Chef so ist. Der hat so viel Druck in der Firma und zu Hause stimmt es auch nicht. Damit kommt der nicht klar.« Von starkem Zorn keine Spur. Selbst wenn ihr Ärger leise aufflackert, wird er durch das Verständnis für den Chef erstickt.
Wie diese Klientin bremsen oder ersticken zahlreiche Menschen ihre aggressiven Gefühle. Auf welche Art und Weise dies geschieht, ist unterschiedlich. War es bei der erwähnten Frau ihr Verständnis, so ist es bei einem anderen Klienten sein Streben nach Gerechtigkeit. Immer wenn in ihm Ärger oder gar stärkere aggressive Gefühle anklangen, begann er zu überlegen, ob sein Ärger, sein Zorn, seine Wut denn gerecht wären. Er sann lange darüber nach, überlegte das Für und Wider, inszenierte eine innere Gerichtsverhandlung mit Anklage- und Verteidigungsschriften, Pro und Kontra – so lange, bis er schließlich zu einem Ergebnis kam, das sein Gefühl in nichts auflöste.
Bei beiden Menschen hat das Zorn und Ärger bremsende Verhalten Wurzeln in ihrer Geschichte. Dem Mann war Gerechtigkeit ein äußerst hoher Wert. Er fühlte sich als jüngstes von fünf Kindern oft ungerecht behandelt und lernte, Gerechtigkeit in seinem Leben einen hohen Stellenwert zuzumessen. Die Frau mit dem übergroßen Verständnis für ihren Chef sehnte sich ihr Leben lang danach, dass jemand sie verstand. Irgendwie wollte sie vorbildlich sein und suchte das Verständnis für andere, verlor dabei aber das Verständnis für sich. Und vor allem verlor sie ihre Gefühle. Damit hier kein Missverständnis auftritt: Verständnis und Gerechtigkeit sind ein hohes Gut, sind wertvoll, lebens- und erstrebenswert. Bekommen sie aber einen so hohen Stellenwert, dass sie sich gegen die eigenen, hier die aggressiven Gefühle, richten, dann wird die verständnisvolle Frau ignorant sich selbst gegenüber und der gerechte Mann ungerecht sich selbst gegenüber.
Sehr häufig begegnen wir in der therapeutischen Praxis Klientinnen und Klienten, die selbst unter zum Teil massiver Aggressivität und Gewalt gelitten haben. Irgendwann haben sie sich geschworen: »So will ich nie werden!« Nie so zu werden wie der schlagende Vater, nie so zu werden wie die aggressive und betrunkene Mutter, nie so zu werden wie der zynische und verachtende Lehrer usw. Solche Vorsätze sind eine Alternative dazu, selbst in den Spuren der aggressiven Täter und Täterinnen zu wandeln. Denn viele, allzu viele Menschen geben das, was sie an Aggressivität als Kind oder Jugendliche erfahren haben, an eigene und andere Kinder weiter. Dagegen den Satz zu setzen: »So will ich nie werden!«, bedeutet, nach Alternativen zu suchen und einen anderen Weg einzuschlagen. Diese Lebensleitlinie verdient unseren tiefsten Respekt und ehrliche Würdigung.
Doch diese Menschen leiden häufig unter den Folgen. Wer nie aggressiv sein will, um nicht den Tätern nachzufolgen, wird auch nicht aggressiv gegen TäterInnen. Wer, weil aggressiv Macht gegen die eigene Person ausgeübt wurde, auf Macht verzichtet, bleibt ohnmächtig. Viele dieser zornfreien Menschen leiden später unter ihrer Machtlosigkeit. Für sie ist Macht schlecht und erniedrigend, sie wollen nie »Leute fertigmachen«, wie eine Frau sagte. Die Folge war, dass sie ihren Ärger, gepaart mit Verzweiflung, hinunterschluckte und sprachlos und bewegungslos wurde, wenn ihr Sohn ihr Geld aus dem Portemonnaie stahl, und dass sie mit einem Gefühl der Leere statt mit Zorn reagierte, wenn ihr Mann sie betrog. Ihre Hilflosigkeit führte sie schließlich in die Therapie. Dort merkte sie, dass sie mit ihrem »Ich will nicht so werden wie mein Vater, ich will niemanden fertigmachen« zwar eine absolut achtenswerte Absicht verfolgt hatte, ihr aber auf diesem Weg jegliche aggressiven Gefühle abhandengekommen waren. Und schließlich fühlte sie sich in ihrer Familie genauso machtlos wie als Kind gegenüber den aggressiven Zornesausbrüchen des Vaters. So wollte sie sich nicht länger erleben und gab sich die Erlaubnis, sich zu ärgern. Sie entdeckte, dass zornig zu werden ein Mittel sein kann, sich zu behaupten und die eigene Würde zu verteidigen. Hilfreich war für sie, zu unterscheiden, wofür Macht eingesetzt wird: für die Wahrung der Würde eines Menschen, hier ihrer eigenen Person (worum sie sich nun bemühte), oder um die Würde eines Menschen in den Dreck zu treten (wie sie es als Kind erfahren hatte).
Sich den Zorn und andere aggressive Gefühle zu verbieten wurzelt oft in Tabus, die als Antwort auf leidvolle Erfahrungen mit Zorn, Wut, Gewalt, Demütigungen usw. entstanden sind. Eine Klientin war beruflich sehr erfolgreich, aber ständig überarbeitet. In der Supervision versuchte sie zu klären, wie es ihr gelingen könne, mehr Tätigkeiten an Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu delegieren. Am Beispiel einer konkreten Situation wurde deutlich, wie chronisch das Aggressions-Tabu sie bremste. Sie hatte mit einem Mitarbeiterteam vereinbart, dass bis zu einem bestimmten Termin ein Verwendungsnachweis für öffentliche Mittel erstellt werden musste. Dies war Voraussetzung dafür, eine Fortführung der Projektfinanzierung und damit der Stellen der betreffenden MitarbeiterInnen beantragen zu können. An dem vereinbarten Termin war der Verwendungsnachweis nicht fertig, sie war ärgerlich. Statt die zuständigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anzurufen und zu kritisieren und zu verlangen, dass das Versäumte sofort nachgeholt werde, setzte sie sich hin und erstellte den Verwendungsnachweis an ihrem freien Wochenende, welches sie dringend benötigte und zu dem sie sich eigentlich mit ihrer Freundin verabredet hatte.
In die Supervision kam sie mit Selbstvorwürfen: »Ich habe es wieder nicht geschafft, mein Wochenende freizuhalten. Und es ist mir nicht gelungen, die Mitarbeiter dazu zu bewegen, den Verwendungsnachweis pünktlich fertig zu erstellen.« Der Supervisor fragte nach, ob die MitarbeiterInnen denn zu dieser Arbeit fachlich in der Lage gewesen seien und ob ihnen die Bedeutung des Abgabetermins klar gewesen sei. Ja, sie habe den vorherigen Verwendungsnachweis mit den MitarbeiterInnen gemeinsam erstellt, um sie darin zu unterweisen, und sie mehrmals auf die Notwendigkeit hingewiesen, »aber anscheinend nicht genug«. Als der Supervisor fragte, warum sie die betreffenden MitarbeiterInnen nicht angerufen habe und ihren – wenn auch nur leise anklingenden – Zorn losgeworden wäre, wurde sie blass und antwortete: »Dann hätte ich die ja abgewertet. Das mache ich nicht.«
Hier war das Tabu: Durch die Abwertung, die sie leidvoll am eigenen Leib erfahren hatte, wurde jedwedes Ausleben eines aggressiven Gefühls verhindert. Jemanden abzuwerten, das war für diese Frau verboten, und zwar so sehr verboten, dass sie sich lieber selbst abwertete, als das Handeln anderer zu bewerten, und lieber sich selbst Vorwürfe dahingehend machte, dass sie die MitarbeiterInnen zu wenig motiviert und eingewiesen hätte, als anderen Fehler oder Nachlässigkeiten vorzuwerfen. So erledigte sie die anfallende Arbeit lieber selbst, auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit und Lebensfreude.
Hier wird deutlich, was vielfach geschieht, wenn aggressive Gefühle dauerhaft nicht gelebt werden: Sie richten sich gegen die betreffende Person selbst. Selbstvorwürfe, schlechtes Gewissen, Schuldgefühle entspringen häufig (nicht immer) aggressiven Gefühlen, die gegen die innere Mauer eines Tabus oder anderen Verbots stoßen, ihre Richtung umkehren und sich gegen die eigene Person wenden. Dauererregung und Schlaflosigkeit, depressive Stimmungen und das Gefühl, »nicht wirklich zu leben«, erfassen dann die Menschen. In der Folge führt das Verbot aggressiver Gefühle bei vielen Menschen zu Erkrankungen, deren Art und Auswirkung von der Konstitution und Geschichte des einzelnen Menschen bestimmt werden.
Erstaunlich sind die Schleichwege, auf denen Menschen mit Zornverboten Nischen finden, ihre aggressiven Gefühle doch irgendwie in ihr Leben zu schmuggeln. Da spielt der pazifistisch lebende Büroangestellte fast jeden Abend am Computer die Panzerschlachten des Zweiten Weltkriegs nach oder erobert als großer Stratege die Welt. Da taucht die verschüchterte und hilflose Frau in die Romanwelten starker und kräftiger Frauengestalten ein. Und da kommandieren Menschen, die im Umgang mit anderen Erwachsenen »keiner Fliege etwas zuleide tun können«, ihre Hunde und, schlimmer noch, ihre Kinder. Und wer kennt nicht auch Menschen, denen der nicht gelebte Ärger, der nicht geduldete Zorn dauerhaft aufs Gemüt schlagen, die zwar nie wirklich zürnen, die aber eine Ausstrahlung haben, die andere veranlasst, tunlichst außer Reichweite zu bleiben. Die ihren Ärger nie zeigen, aber dauerhaft in einer »Grummelstimmung«, in einer Stimmung aggressiver Lebensunzufriedenheit gefangen sind.
Von gewaltiger Kraft sind die Träume der Menschen von einer Welt ohne Zorn bzw. einem Leben, in dem der Zorn zumindest domestiziert ist. Und alt ist dieser Traum, jahrtausendealt. Der römische Philosoph Seneca war zornig über den Zorn und wollte ihn eliminieren, da Zorn nirgendwo Nutzen stiften würde. Der altgriechische Philosoph Aristoteles erwies dem Zorn durchaus Respekt, da er Menschen zu großen und eifrigen Anstrengungen antreiben könne, forderte aber kluge Überlegungen »wie, wem, worüber und wie lange man zürnen soll« (zit. n. Schmid 1988, S.368). Plutarch dagegen mochte dem Zorn gar keinen Raum geben oder, wenn sich dies nicht vermeiden ließ, ihn in einem maßvollen Rahmen halten. Er empfahl tägliche Übungen, um im Zorn »mehr Fassung« zu erlangen, indem man monatlich einige »zornfreie« Tage einlege und deren Anzahl allmählich erweitere. In der europäischen Aufklärung wurde später dann die Fahne der Vernunft erhoben. Vernünftiges Denken sollte die Bedeutung der Gefühle und insbesondere der negativen Gefühle wie des Zorns vermindern.