Titelbild

Henning Beck

Hirnrissig

Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn wirklich tickt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© 2014 Carl Hanser Verlag München

Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Thomas Gerhardy

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung einer Fotografie von © Sabine Lohmüller

Illustrationen: © Angela Kirschbaum

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

ISBN 978-3-446-44038-8

E-Book-ISBN 978-3-446-44066-1

Inhalt

Einleitung: Ein Grußwort ans Gehirn

Mythos n° 1

Hirnforscher können Gedanken lesen

Mythos n° 2

Wird es primitiv, denken wir mit dem Reptiliengehirn

Mythos n° 3

Das Gehirn besteht aus Modulen

Mythos n° 4

Links die Logik, rechts die Kunst: Unsere Gehirnhälften denken unterschiedlich

Mythos n° 5

Je größer ein Gehirn, desto besser

Mythos n° 6

Hirnzellen gehen durch Vollrausch und Kopfbälle unwiederbringlich verloren

Mythos n° 7

Weibliche und männliche Gehirne denken verschieden

Mythos n° 8

Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns

Mythos n° 9

Hirnjogging macht schlau

Mythos n° 10

Wir lernen in Lerntypen

Mythos n° 11

Die kleinen grauen Zellen machen die ganze Arbeit

Mythos n° 12

Endorphine machen high

Mythos n° 13

Im Schlaf macht das Gehirn mal Pause

Mythos n° 14

Mit Brainfood essen wir uns schlau

Mythos n° 15

Das Gehirn rechnet wie ein perfekter Computer

Mythos n° 15,5

Der Speicherplatz im Hirn ist praktisch unbegrenzt

Mythos n° 16

Wir können Multitasking

Mythos n° 17

Spiegelneuronen erklären unser Sozialverhalten

Mythos n° 18

Intelligenz ist angeboren

Mythos n° 19

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr

Mythos n° 20

Die Hirnforschung wird den menschlichen Geist erklären

Ein Selbstverteidigungskurs gegen Neuromythen

Quellenverzeichnis

Einleitung: Ein Grußwort ans Gehirn

Liebes Gehirn,

dieses Buch ist für dich. Denn du tust mir leid.

Was bist du doch für ein wundervolles Organ: Seltsam geformt und ein bisschen glitschig thronst du über den Dingen – und sagst unserem Körper, was zu tun ist. Seit wir denken können, kreisen unsere Gedanken um dich. Wir wissen, wie wichtig du für uns bist. Du erschaffst Ideengebäude, entwirfst die schönsten Bilder und Texte, komponierst und fantasierst.

Und dann das: Als wüssten wir es nicht besser, erzählen wir Unwahrheiten über dich, allerlei Märchen und Legenden. So kannst du mit Fug und Recht behaupten, das mit Abstand sagenumwobenste Organ von allen zu sein. Um keines ranken sich so viele Mythen und Gerüchte.

Du reizt uns einfach zum Spekulieren. Warum? Weil du über unser gesamtes Leben bestimmst: vom Heißhunger auf Vanillepudding bis zum Liebeskummer, vom Lesen der Sonntagszeitung bis zum Kick in der Achterbahn, für alles bist du verantwortlich. In dir wurzeln Empathie und die Fähigkeit zur Kooperation, du machst uns zu Kommunikationswundern, die gleichzeitig chatten, telefonieren und E-Mails schreiben – und zu kreativen Genies, die die dafür nötigen Smartphones erfinden. An dieser Stelle möchte ich daher einmal Danke sagen. Zu selten wird gewürdigt, was und wie du das alles für uns hinbekommst.

Doch gerade weil wir nicht so richtig verstehen, wie du funktionierst, erdreisten wir uns zu glauben, wir seien kurz davor, deine letzten Geheimnisse zu entschlüsseln – schließlich sind wir dir zuletzt mit diversen Apparaten auf den Leib gerückt und behaupten frech, dass wir dir beim Denken zuschauen und deine Gedanken lesen können. Und wir finden eingängige Vergleiche, mit denen wir deine Funktionsweise erklären. Denn was sollst du nicht alles sein!

Die perfekte Rechenmaschine, aufgebaut aus einem ganzen Arsenal an Modulen und Zentren. Geteilt in eine kreative rechte und eine logische linke Hirnhälfte. Bestehend aus Milliarden von kleinen grauen Zellen, die die ganze Arbeit machen. Praktisch unbegrenzt in deiner Speicherkapazität (dabei arbeitest du, angeblich, gerade mal mit 10 Prozent deiner Maximalleistung). Ein Muskel, den wir mit gesunder Ernährung und Hirnjogging leistungsfähiger machen können.

Du weißt es am besten, was von diesen Gerüchten stimmt: das Wenigste.

Wir erzählen Sachen über dich, die nicht der Wahrheit entsprechen. Und das fällt uns noch nicht mal schwer, denn je weniger wir über dich wissen, desto leichter können wir etwas ungestraft behaupten. Soll doch erst mal jemand beweisen, dass du mehr als 10 Prozent deiner Leistungsfähigkeit ausnutzt, oder dass nicht nur die rechte, sondern auch die linke Hirnhälfte kreativ ist, das geht gar nicht so leicht.

Das ist alles sehr schade, denn du bist deutlich spannender und interessanter als jede Legende über dich. Du hast diese ganzen Halbwahrheiten und Gerüchte nicht verdient, denn erstens gebietet es schon der Respekt vor dir, dich nicht mit allerlei Neuromythen zu überschütten. Und zweitens haben wir auch schon eine ganze Menge gesichertes Wissen über dich. Genug eigentlich, um es nicht nötig zu haben, irgendeinen Quatsch zu erzählen. Von wegen Brainfood, Multitasking und Glückshormone – euch geht’s gleich an den Kragen!

Alles muss heute „Neuro“ sein (sogar mein Buchtitel). Und es genügt uns nicht, zu erklären, wie du mit ein paar Hirnzellen ein kleines Netzwerk aufbaust oder wie du deine Impulse hin und her schickst (was wirklich faszinierend ist), denn wir wollen ans Eingemachte: deine Gedanken lesen, alle Krankheiten heilen, den „neuronalen Code“ knacken, wissen, wie aus Nervenimpulsen Bewusstsein entsteht und wie wir es verändern können.

Deswegen bauen wir superteure Maschinen, die dir „beim Denken zuschauen“ sollen. Und weil wir so stolz sind auf die Erkenntnisse der modernen und coolen Hirnforschung, schießen wir gleich mal deutlich über das Ziel hinaus, erklären alles, wirklich alles, mit ihrer Hilfe und nennen es dann Neuroethik, Neurokommunikation, Neuroökonomie oder sonstwie. Da geraten harte Fakten und populäre Übertreibung gerne durcheinander. Wir sind einfach so beeindruckt von unseren kleinen Fortschritten, dass wir die reißerischsten Schlagzeilen verwenden, um auch banale Forschungsergebnisse als „Durchbruch zum Verständnis unseres Bewusstseins“ zu feiern. Die verkaufen sich ja auch viel besser.

Ich gestehe: Auch ich bin Hirnforscher geworden, weil ich dich so wahnsinnig spannend finde. Auch ich dachte mir, dass du die Antwort auf die elementaren Fragen der Menschheit bereithältst. Wenn man herausfindet, wie du funktionierst, sollte man bitteschön auch irgendwann verstehen können, wie die Menschen generell denken und warum sie das tun. Glücklicherweise habe ich bald erkannt, dass es nicht ganz so einfach ist – und dass du zwar komplexer, aber auch noch viel faszinierender bist als alle Gerüchte über dich.

Hirnforschung ist nämlich ein mühsames Geschäft. Neue Erkenntnisse muss man sich oft langwierig erarbeiten, und Erklärungsmodelle für dein Tun sind manchmal ziemlich kompliziert. Genau hier beginnt das Problem, denn heute muss alles schnell und einfach gehen. Aus einem deiner vielen Nervenzell-Netzwerke, das an der Verarbeitung von positiven Emotionen beteiligt ist, machen wir kurzerhand ein „Glückszentrum“. Und weil wir nicht so genau wissen, was alles passieren muss, damit du einen Gedanken entwickelst, behaupten wir rasch, dass du funktionierst wie ein Computer mit Festplatte, Arbeitsspeicher und Prozessor – weil wir so was aus unserer eigenen Welt kennen.

Nun habe ich dich, liebes Gehirn, durchaus studiert, untersucht und erforscht, weil ich dich besonders mag. Ich fühle mit dir, wenn man Un- oder Halbwahrheiten über dich verbreitet. Damit soll nun Schluss sein. Ich will an dieser Stelle also zwar ebenfalls auf den „Neurozug“ aufspringen – aber nicht, um mithilfe der Hirnforschung neue Legenden zu verkünden. Können andere gerne machen. Ich finde vielmehr, dass erst mal aufgeräumt werden muss, und sage den populärsten Gerüchten und Mythen über dich den Kampf an. Natürlich mithilfe der Neurowissenschaften, denn an vielen Stellen liefert sie doch ganz hilfreiche Erkenntnisse.

Um dir einen Gefallen zu tun, fange ich im Kleinen an: Ich knüpfe mir eine Hirnlegende nach der anderen vor und zeige, was davon stimmt und was nicht. Manche Gerüchte sind einfach nur grottenfalsch und dreist gelogen, andere bewegen sich mit viel gutem Willen sogar schon ein Stück in Richtung Wahrheit. Denn oftmals steckt in einem Märchen ja ein wahrer Kern, der dann allerdings übertrieben ausgeschmückt wird (das kennst du ja selbst: Wie oft hast du dir schon einen Riesenspaß daraus gemacht, unsere Erinnerungen aufzuhübschen, zu verfremden und sie besser zu machen, als es tatsächlich gewesen ist?).

Das Tolle ist: Man muss nicht selbst kompliziert und unverständlich werden, wenn man erklären will, wie komplex du bist. Klar, Hirnforschung ist nichts für Anfänger. Trotzdem hilft es, wenn man komplizierte Vorgänge so erklärt, dass sie jeder versteht. Bringt ja nichts, wenn ich hier wissenschaftliche Abhandlungen aneinanderreihe. Denn ich möchte die Mythen über dich mit ihren eigenen Waffen schlagen: plakativ, provokant, eingängig – aber wissenschaftlich korrekt. Das, liebes Gehirn, bin ich dir einfach schuldig.

Und jetzt schnallt euch an, ihr Neuromythen, die Hirnforschung schlägt zurück.

Mythos n° 1

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Hirnforscher können Gedanken lesen

Aufgepasst, verehrte Leserin, lieber Leser! Mein Name ist Henning Beck und ich kann Ihre Gedanken lesen! Schließlich bin ich Hirnforscher. Und die verfügen bekanntermaßen über ultramoderne technische Verfahren, die Ihr Gehirn beobachten, während es gerade denkt: Wir schieben Menschen einfach in einen „Hirnscanner“ (z. B. eine Kernspin-Röhre), und schon können wir auslesen, was im Gehirn so los ist.

Wenn ich mich auf diese unbescheidene Weise vorstelle, ist mir Ihre Aufmerksamkeit gewiss. Doch allzu überrascht werden Sie wohl auch nicht sein. Schließlich prangt die Aussage, die Wissenschaft könne Gedanken lesen, regelmäßig auf Zeitschriftencovern. Das PM-Magazin titelte etwa Anfang 2013:1 „Ich weiß was du denkst – Die Kunst des Gedankenlesens hat sich vom Zirkusspektakel zum Topthema der Hirnforschung entwickelt“. Das Handelsblatt bediente schon 2011 Zukunftsvisionen: „Gehirnscan – Fortschritte beim Gedankenlesen“.2

Die Faszination, unsere Gedanken lesen zu können, ist riesig, einer der ältesten Menschheitsträume. Wer würde nicht gerne wissen, was sein Gegenüber beim Frühstücken denkt, wenn es sich sein Brötchen mit Marmelade bestreicht?

Damit man Gedanken lesen kann, braucht man zwei Dinge: ein Gehirn, das denkt, und etwas, das seine Gedanken „liest“. Zumindest an denkenden Gehirnen herrscht schon mal kein Mangel. Denn (das wird vielleicht manchen überraschen): Gehirne denken immer. Ohne Pause. So wirr uns zum Beispiel Boris Beckers Tweets manchmal erscheinen, auch sein Gehirn ist immer aktiv. Vielleicht nicht immer im sinnstiftendsten Sinn. Aber Nervenzellen sind ständig bei der Arbeit, sie tauschen permanent Impulse untereinander aus. Tatsächlich ist Denken, also die Aktivität des Gehirns, notwendige Bedingung für unser Leben. Wir haben die Wahl: denken – oder hirntot sein.

Die Vermessung der Gedanken

Außer einem denkenden Gehirn braucht man dann noch Messverfahren. Diese sind meist recht kompliziert und teuer. Damit ihre Komplexität auch jedem bewusst wird, hat man ihnen schwer auszusprechende Namen wie „funktionelle Magnetresonanztomographie“ oder „Elektroenzephalographie“ gegeben. Klingt wichtig. Und dann sehen die dafür verwendeten Geräte auch noch futuristisch aus. So verschafft sich die Hirnforschung eine coole Aura.

Die Frage aller Fragen lautet nun: Können wir Helden der neuzeitlichen Wissenschaft, wir Hirnforscher, mit diesem beeindruckenden High-Tech-Equipment tatsächlich „messen“, was das Gehirn gerade denkt?

Die Antwort lautet ------. Gemach, lassen Sie mich bitte etwas ausholen: Wenn man Gedanken lesen will, hat man nämlich ein Problem: Sie gehen schnell vorbei. Denn Gedanken sind letztendlich elektrische Impulse, die zwischen den Nervenzellen ausgetauscht werden. Für sich genommen sind sie sehr schwach. Eine einzelne Nervenzelle ist nun mal sehr filigran. Und die elektrischen Felder, die sie erzeugt und an ihren Nervenfasern entlangschickt, sind schwer zu messen. Die direkteste Möglichkeit besteht darin, Elektroden unmittelbar an der Zellwand der Nervenzelle zu platzieren und die Nervenimpulse auf diese Weise abzuleiten. Das ist prima, denn so ist man quasi online, in Echtzeit, bei allem dabei, was eine Nervenzelle so mitzuteilen hat. Als hätte man sich in ein fremdes Telefongespräch eingeklinkt (und wie wir heute wissen, ist das gar nicht so schwer). Bei einigen wenigen Nervenzellen mag das noch gehen, doch wie allgemein bekannt, gibt es im Gehirn eine stattliche Anzahl, nämlich etwa 80 Milliarden. Das macht diese Methode unübersichtlich. Natürlich könnte man sich auf einige wenige Zellen (oder Zellgruppen) konzentrieren, aber auch dann müsste man den Schädel und das Gehirn aufschneiden, um seine Messelektroden zu platzieren. Es hat sich herausgestellt, dass sich nur wenige Freiwillige für eine solche Untersuchung finden lassen (allerdings sei angemerkt, dass dieses Verfahren tatsächlich bei Hirnoperationen angewendet werden kann).

Den Fangesängen des Gehirns lauschen

Etwas cleverer und weniger umständlich ist es, ganze Nervenzellverbünde gleichzeitig zu belauschen. Das Verfahren dazu nennt sich „Elektroenzephalographie“ (EEG) und bedeutet so viel wie elektrisches (elektro) Gehirn- (enzephalo) Aufschreiben (graphie). Der Trick ist folgender: Wenn Nervenzellen einen Impuls erzeugen, entsteht dabei ein schwaches elektrisches Feld. Liegen viele Tausend oder Millionen Nervenzellen dicht nebeneinander, so kann dieses Feld so stark werden, dass man es von außen durch die Schädeldecke hindurch messen kann. Das geht sogar recht gut. Man platziert dafür eine Vielzahl von kleinen Elektroden auf dem Kopf. Vorteil: Der Forscher ist immer noch live dabei, wenn die Zellen ihre Impulse aussenden. Problem: Er weiß nicht so genau, wo das Ganze stattfindet. Das ist vergleichbar mit der Situation in einem Fußballstadion. Man hört die verschiedenen Fangesänge, kann vielleicht auch grob sagen, aus welcher Richtung sie kommen. Aber wer wo genau welchen Schlachtengesang anstimmt, ist unklar (und auch der Informationsgehalt der Gesänge ist üblicherweise recht begrenzt). Zum Gedankenlesen muss man also nicht nur wissen, was, sondern auch wo gerade gedacht wird! Erst wenn der Ort der elektrischen Impulse identifiziert ist, können verschiedene Gedankenmuster voneinander abgegrenzt werden.

Bunte Bilder von dir

Das populärste Verfahren dafür ist sicherlich die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Man stellt sich das gerne so vor, dass man dabei in eine „Kernspinröhre“ geschoben wird und das Gerät die Hirnaktivität einfach abliest. Heißt ja schließlich „Hirnscanner“. Tatsächlich, wie könnte es anders sein, ist die fMRT etwas komplizierter – obwohl ein solches Gerät im Kern nur aus zwei einfachen Komponenten besteht: einem Radio und einem Magneten. Legen Sie Ihre Rolex also unbedingt ab, sobald Sie sich einem Kernspintomographen nähern. Die verwendeten Magnete sind so stark – mehr als 100 000 Mal stärker als das Erdmagnetfeld –, dass sich Ihre Armbanduhr in ein kostspieliges Projektil verwandeln und unachtsame Laborassistenten erschlagen würde. Ein so gewaltiges Magnetfeld ist nötig, um den Aufnahmen die entsprechende Qualität zu verleihen. Es ist übrigens auch der Grund, weshalb dieses Gerät solchen Krach macht. Wie erzeugt der Tomograph aber nun die schönen bunten Bilder, die Sie aus der Tagespresse kennen?

Mithilfe der fMRT untersucht man das, was in unserem Gehirn am häufigsten vorkommt: Nein, keine Gedanken, ich muss Sie enttäuschen, sondern Wasser. Genauer gesagt, die Atome in den Wassermolekülen. Die haben nämlich selbst magnetische Eigenschaften, man könnte sagen, sie verhalten sich wie kleine Magnete. Wenn man nun ein sehr starkes Magnetfeld anlegt, so richten sich die Wasserstoffatome nach diesem aus. Dazu muss man wissen: Wasserstoffatome sind ziemlich faule Gesellen. Nur eines von 1 Million Atomen macht bei diesem Ausrichten überhaupt mit. Da sich aber schon in einem würfelgroßen Stück Hirngewebe etwa 40 Trilliarden Wasserstoffatome in Wassermolekülen befinden, reicht das allemal.

Der Witz ist nun: Je nachdem, wo sich die Wasserstoffatome befinden, wechselwirken sie auf verschiedene Weise mit Radiowellen, die man auf sie richtet. Dieser Radioimpuls ist sehr kurz, man kriegt ihn gar nicht mit, aber die Wasserstoffatome reagieren im Magnetfeld darauf, sie geraten in Resonanz, daher der Name der Messmethode. In diesem Resonanzzustand bleiben die Atome aber nicht lange. Sie richten sich schnell wieder nach dem Magnetfeld aus. Dabei entsenden sie selbst ein elektrisches Signal, und genau dieses Signal sieht anders aus, je nachdem, ob die Wasserstoffatome in weichem, fettreichem oder zähem Gewebe sitzen. Diese Unterschiede kann man verwenden, um Hirnstrukturen sichtbar zu machen. Man misst dabei das Gehirn schichtweise durch und setzt die Einzelbilder anschließend zu einem Gesamtbild zusammen. Deswegen nennt man das Gerät auch Tomograph, also „Scheibchen-Schreiber“.

Das ist alles schön und gut, sagt aber noch nichts darüber aus, wo das Gehirn gerade aktiv ist. Dazu bedient man sich eines weiteren Tricks: Je nachdem, wie gut eine Hirnregion durchblutet wird, ändert sich auch das Signal, das man aufzeichnet. Wenn man nun mehrere Aufnahmen hintereinander macht, kann man erkennen, welche Hirnregionen besser (oder schlechter) durchblutet werden und somit aktiver (oder inaktiver) sind. Man erhält ein indirektes Aktivitätsmuster des Gehirns und kann bestimmen, wo gerade besonders viel los ist: wo also gedacht wird.

Hierfür wird gerne der Begriff „bildgebendes Verfahren“ verwendet – er passt auch sehr gut, erklärt er doch schön, was tatsächlich passiert: Es wird ein künstliches Bild hergestellt. Das ist anders als beispielsweise bei einer Röntgenaufnahme. Die bildet ab, was sich wo befindet (also wo ein Knochen im Weichteilgewebe wirklich sitzt). Im Falle der bildgebenden Verfahren ist das anders. Hier wird erst mal ganz viel gemessen. Die Messdaten werden anschließend aufbereitet, gefiltert und sortiert – bis man irgendwann ein fertiges Bild von der aktuellen Durchblutung des Gehirns am Computer künstlich erzeugt hat.

Der Gehirnlügendetektor

Die fMRT ist also sehr aufwendig, ihre Erfolge sind dafür aber wirklich verblüffend. Es ist auf diese Weise möglich, mit 80-prozentiger Genauigkeit zu ermitteln, an welchen von zwei Gedanken ein Proband gerade denkt – sofern er dabei brav im Tomographen liegt. Indem man das Analyseverfahren der fMRT noch weiter aufmotzt, kann man sogar bestimmen, welches von 1000 verschiedenen Bildern ein Proband gerade betrachtet.3 Auch als noch unausgereiften Lügendetektor kann man die Methode verwenden.4 Dazu misst man die Hirnaktivität (genauer: die „Durchblutungsaktivität“) von Probanden, die einmal die Wahrheit sagen und einmal offensichtlich lügen. Aus dem Unterschied dieser beiden Messungen erkennt man, welche zusätzliche Hirnaktivität für eine Lüge nötig ist (im Augenblick geht die Wissenschaft davon aus, dass es einen zusätzlichen Gedankenaufwand erfordert, um die Wahrheit zu unterdrücken). Indem man diese zusätzliche Hirnaktivität beobachtet, kann mit fast 100-prozentiger Sicherheit gesagt werden, ob die Teilnehmer anschließend bei einer beliebigen Aussage bei der Wahrheit bleiben oder schwindeln. Um jedoch um sich greifender Panik bei notorischen Flunkerern vorzugreifen: Das geht nur, wenn die Teilnehmer auch bei der Kalibrierung der Messung mitmachen. Außerdem ist die gesamte Messung so aufwendig, dass schon kleinste Störungen genügen, um sämtliche „Hirnscans“ unbrauchbar zu machen, ein Fingerschnippen des Probanden im Tomographen reicht dafür aus.

Die Gedanken sind frei

„Hurra“, mag man da rufen, „nur noch ein kurzer Weg, bis wir Träume, Erinnerungen, ganze Gedankengänge auslesen können!“ Doch davon sind wir leider (oder zum Glück) noch weit entfernt. Denn selbst die ausgefeiltesten Hirnscans können nicht die wahren Vorgänge im Gehirn aufzeichnen. Das wird schon dadurch klar, dass man eigentlich gar keine Gedanken direkt misst. Tatsächlich sind Gedanken nämlich die Art und Weise, wie ein Netzwerk aus Nervenzellen aktiviert wird. Ein Gedanke ist sozusagen das Gesamtkunstwerk aller Kommunikationen, das Aktivitätsmuster von vielen Millionen Nervenzellen. Dieses Muster ändert sich sehr schnell, denn Nervenzellen können 500 Mal pro Sekunde ein neues Signal erzeugen. Da kommt die fMRT nicht mit, denn mit ihr misst man lediglich das „Durchblutungsmuster“, also welche Hirnareale besser oder schlechter mit Blut versorgt werden. Die zugrunde liegende Annahme ist zwar logisch: Wo viel nachgedacht wird, wird auch viel Energie umgesetzt, also steigt dort der Blutfluss an. Doch dieses Verfahren hat zwei gewaltige Nachteile.

Erstens: Es ist indirekt. In unserem Fußballstadion-Vergleich ist das in etwa so, als würde man anhand des Getränke- und Bratwurstverkaufs in den Fanblöcken ablesen wollen, wo die Stimmung auf den Rängen am grandiosesten war. Wo zum Schluss am meisten Müll rumliegt, ging’s wahrscheinlich auch hoch her. Das mag im Einzelfall sogar stimmen, doch welcher Fußballfan wie genau zur lautstarken Unterstützung seines Teams beigetragen hat, ist immer noch nicht klar. Lediglich der Ort des Geschehens lässt sich eingrenzen.

Zweitens ist dieses Messverfahren langsam. Viel zu langsam für die rasend schnellen Nervenimpulse. Denn im Gehirn hat ein gewöhnlicher Impuls gut und gerne eine Geschwindigkeit von knapp 400 km/h. Um eine fMRT-Aufnahme zu machen, braucht man aber knapp zwei Sekunden. Und in denen kann eine ganze Menge passieren. Gesichter und Bilder erkennt ein Gehirn z. B. schon nach wenigen Tausendstel Sekunden. Gedanken mit einer derart lahmen Methode auszulesen, ist daher, vorsichtig ausgedrückt: ambitioniert. Genauso gut könnte man sich an eine Formel-1-Strecke stellen und alle zwei Sekunden ein Foto machen. So knipst man vielleicht kunstvoll verschwommene Bilder, viel von den Rennwagen sieht man auf ihnen allerdings nicht.

Denken Sie an Florian Silbereisen!

Ein weiteres prinzipielles Problem der fMRT: Man kann zwar ziemlich gut bestimmen, welche Gebiete im Gehirn bei bestimmten Gedankenvorgängen besonders viel Energie umsetzen. Aber der Gedankeninhalt bleibt weitgehend verborgen. Um trotzdem in etwa abschätzen zu können, woran ein Proband im Tomographen gerade denkt, muss man das Gerät kalibrieren. Und dafür nutzt man einen Trick: Man misst gar nicht, was jemand denkt, sondern nur die Unterschiede zu einem anderen Gedanken. Klingt kompliziert, macht die Messung aber einfacher. Stellen Sie sich vor, Sie möchten wissen, ob jemand gerade an Florian Silbereisen denkt. Warum Sie das tun sollten? Eine berechtigte Frage, aber wir stellen es uns nun einfach mal vor. Sie schieben also Ihren Probanden in den Tomographen, zeigen ihm zunächst ein Kontrollbild (ohne sinnhaften Inhalt, z. B. eine weiße Fläche) und messen die „Aktivität“, also das Blutfluss-Muster im Gehirn. Jetzt zeigen Sie Ihrem Probanden ein Bild des beliebten Jodelgipfel-Moderators. Während sich der Proband von dem Schock erholt, messen Sie wiederum den Blutfluss. Der Unterschied zwischen diesen zwei Messungen, den definieren Sie nun als die spezifische „Florian-Silbereisen-Aktivität“ im Gehirn der Versuchsperson. An diesem Beispiel sieht man aber schon: Richtiges Gedankenlesen ist das nicht. Ob der Proband im Tomographen wirklich an Florian Silbereisen gedacht hat (und ihm nicht etwa irgendein fesches Volksmusiklied in den Kopf gekommen ist), können Sie nicht mit Sicherheit sagen.

Mit dieser Methode kann man zwar Gedanken im Gehirn voneinander abgrenzen, doch Obacht: Diese Unterschiede sind äußerst gering. Hier mal ein bisschen mehr Blut, dort ein bisschen weniger, das fällt kaum auf. Was macht man also, wenn man so kleine Unterschiede zeigen will, die man eigentlich kaum bemerkt? Man macht sie bunt, dann sieht man sie besser! Deswegen sehen „Hirnscans“ in den Zeitungen auch so hübsch aus. Man könnte fast meinen, es handle sich um Schnappschüsse von einem grauen Gehirn bei der Arbeit, in dem es überall dort rot „aufleuchtet“, wo es gerade aktiv ist. Doch: In Wirklichkeit leuchtet da gar nichts. Es ist eine künstliche Einfärbung der Messdaten, die den Eindruck erweckt, dass plötzlich eine bestimmte Hirnregion anspringt, während direkt daneben in Sachen Hirnaktivität nichts los ist. Das ist vollkommener Quatsch, denn tatsächlich arbeitet das Gehirn auch überall dort, wo es auf den Bildern grau erscheint. Doch wenn man keinen so krassen Kontrast ins Bild einfügte, würde man eben gar nichts sehen.

Das Durchschnittsgehirn

Erschwerend kommt hinzu: Auch menschliche Gehirne unterliegen den bei Naturprodukten üblichen biologischen Schwankungen. Tatsächlich arbeiten sie äußerst dynamisch. So sehr, dass man häufig dasselbe Gehirn mehrmals nacheinander vermessen muss, bis man das „Hintergrundrauschen“ (die laufende Denkarbeit des Gehirns) rausfiltern kann. Damit nicht genug, manchmal kombinieren Neurowissenschaftler sogar Hirnscans von verschiedenen Gehirnen miteinander, damit man überhaupt ein vorzeigbares Messsignal erhält. Wenn Sie also das nächste Mal einen vielfarbigen „Hirnscan“ sehen, machen Sie sich klar, was er in Wirklichkeit ist: ein am Computer künstlich erzeugtes Bild. Und nicht das Gehirn von irgendjemandem, sondern eine statistische Mittelung von vielen Gehirnen, mit hübschen Farben künstlich aufgepeppt, damit man überhaupt irgendwas erkennen kann.

Sie dürfen also ruhig skeptisch sein, wenn Ihnen die ARD in einem Wissensmagazin erzählt: „Neuromarketing: Der Blick ins Gehirn des Kunden“.5 Eine ganze Industrie baut sich gerade um dieses Gedankenlesen auf. Hollywoodfilme werden optimiert, indem man Probanden Testvideos vorspielt und per fMRT ihre Hirnaktivität untersucht (überraschenderweise stellt sich dabei heraus, dass 3D-Filme das Gehirn anders aktivieren als 2D-Filme, wer hätte das gedacht!?).6 Per Hirnscans versucht man zu erklären, warum Coca-Cola besser ankommt als Pepsi, obwohl beide nahezu gleich schmecken,7 oder warum Männer mehr auf Sportwagen als auf Kombis stehen.8 Passen Sie jedoch auf, wenn Ihnen Experten erzählen, was alles in Ihrem Kopf passiert, wenn Sie gerade durch einen Laden schlendern und bestimmte Markenlogos betrachten. Denn die Untersuchungen der Gehirne, die für solche gewagten Aussagen durchgeführt wurden, fanden in einer ziemlich künstlichen Umgebung statt: Die Probanden lagen in einem Millionen Euro teuren Gerät, den Kopf in einer Spule fixiert, mit Gehörschutz auf und der Anweisung, sich nicht zu bewegen. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, aber mein alltägliches Einkaufserlebnis sieht anders aus.

Voxel populi

Auch noch aus einem anderen Grund kann dieses Verfahren keine Gedanken auslesen: Es ist zu grob. Bei einer fMRT-Messung fallen ungeheure Datenmengen an, die sich gar nicht alle auf die Schnelle in einem Bild darstellen lassen. Deswegen muss man eine Entscheidung treffen, wie groß die Gebiete sind, die man untersuchen möchte. In der Regel beobachtet man nämlich den Blutfluss in kleinen Volumeneinheiten, den sogenannten Voxeln (eine lustige Kombination aus „Volumen“ und „Pixel“). Ein solches Voxel hat vielleicht die Größe eines Stecknadelkopfes. Man misst die Veränderung des Blutflusses in einigen Tausend dieser Voxel und konstruiert daraus das „Aktivitätsbild“ des Gehirns. Nun ist Hirngewebe recht dicht besetzt mit Nervenzellen, und in einem solchen Voxel können gerne mal 500 000 Nervenzellen sitzen, die 5 Milliarden Kontakte ausbilden. Wenn 1000 Voxel für die Bilderzeugung kombiniert werden, befinden sich darin somit 5 Billionen Verknüpfungen, die alle unterschiedlich stark oder schwach sind, 5 Billionen Verknüpfungen, die mit Botenstoffen moduliert und verändert werden können.

Und jetzt misst man alle zwei Sekunden noch nicht mal direkt die elektrischen Impulse der Nervenzellen untereinander, sondern lediglich, wo das Blut gerade langfließt! Die zig Billionen unterschiedlichen Möglichkeiten, wie die Nervenzellen im untersuchten Gebiet miteinander wechselwirken, werden überhaupt nicht berücksichtigt. Ich wünsche viel Spaß dabei, mit diesen Messungen Gedanken zu lesen.

Was wir Hirnforscher wirklich tun

Und damit wären wir auch beim Fazit. Nein, wir Hirnforscher können keine Gedanken lesen. Was wir wirklich machen, wenn wir „dem Gehirn beim Denken zuschauen“, ist aber auch schon eine tolle Sache: Wir messen, wo sich der Blutfluss und damit der Energieumsatz im Gehirn ändert. Tatsächlich kann man so erkennen, wo das Gehirn gerade besonders intensiv denkt, und dadurch erfahren, wie sich das Gehirn die Gedankenarbeit aufteilt. Das hilft uns schon enorm weiter beim Verstehen dessen, wie das Gehirn funktioniert, wie wir in den nächsten Kapiteln noch sehen werden. Der Gedankeninhalt bleibt jedoch verborgen. Womöglich für immer.