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THOMAS BRASCH

Vor den Vätern sterben die Söhne

THOMAS BRASCH

Vor den Vätern

sterben die Söhne

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eISBN 978-3-86789-551-4

1. Auflage dieser Ausgabe

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

www.rotbuch.de

Inhalt

1

Fliegen im Gesicht

Der Zweikampf

Und über uns schließt sich ein Himmel aus Stahl

2

Der Schlag gegen den Kopf des Ochsen

Nichts passiert

Wer redet schon gern von einem Untergang

Die Besuchszeit darf nicht überschritten werden

Mit sozialistischem Gruß

3

Fastnacht

Ausschuß

Eulenspiegel

Zuerst spürte ich seinen Kopf, der stark auf meine Blase drückte, und einige Minuten später den Schwanz, der in meinem Mund wedelte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie der Wolf in mich hineingekommen war und warum er verkehrt lag. Ich stieg in die Straßenbahn 63 und fuhr zum Krankenhaus Friedrichshain. Die blonde Pförtnerin wies mir sofort den Weg in den Operationssaal. Ich legte mich auf ein Holzbrett und wartete auf den Arzt. Der Arzt schnitt mir den Bauch bis zum Hals hin auf und sah auf den Wolf. Der Wolf lag sehr ruhig.

Wenn wir den Wolf aus Ihnen herausnehmen, werden Sie sterben, sagte der Arzt.

Ich stand auf und verließ den Operationsraum. Ich ging auf die Straße, und die Leute starrten auf meinen Bauch. Ich war nackt, und der Wolf begann wieder mit seinem Schwanz zwischen meinen Zähnen zu wedeln. Ich stieg den Berg herunter, an der Straßenbahnhaltestelle vorbei. Der Schriftsteller S. trat auf mich zu und teilte mir mit, daß das Bild des Malers M. »Der Schlüssel« aus der Ausstellung in Dresden entfernt und beschlagnahmt worden sei. Ich ging weiter den Berg hinunter, nachdem der Schriftsteller S. sich mit erhobener geballter Faust verabschiedet hatte. Ich bog gleich in die Wilhelm-Pieck-Straße ein und ging auf das Haus Nr. 68 zu, in dem ich wohne.

1

Fliegen im Gesicht

Die Schicht ist um 5 zuende. Um viertel sechs werde ich am Tor sein. Holst du mich ab?

Was sonst, sagte er, ich bin um fünf am Tor.

Er streichelte ihr über die Wange, beugte sich herunter und küßte sie auf den Hals. Dann drehte er sich um und ging.

Ich hätte es ihr sagen sollen. Morgen kommt sie von der Schicht, und ich bin nicht da. Sie wird denken, ich hätte es vergessen. Bis halb sechs wird sie warten und dann wird sie weinen. Sie wird denken, ich wäre bei irgendeiner gewesen. Als ich mit Harry unterwegs war, hat sie dreimal bei ihm angerufen. Ich hätte es ihr sagen müssen. Oder irgendeine Geschichte, daß ich wegfahre, dann müßte sie morgen nicht warten. Irgendwann erfährt sie es sowieso. Entweder schreibe ich ihr von drüben oder ich bin tot. Vielleicht bin ich morgen um fünf tot. Wie das klingt: Vielleicht bin ich morgen tot. Heute sage ich, daß ich morgen um fünf am Tor bin und morgen um fünf liege ich im Leichenschauhaus. Oder ich sitze vor einem Polizisten. Einer von hier oder einer von drüben? Ich hätte es ihr sagen sollen. Erzähl deine Märchen jemand anders, du denkst doch nicht, daß ich das glaube, was willst du drüben, hätte sie gesagt, mich angesehen und sich umgedreht. Dann wäre ich trotzdem zu der Stelle gegangen und hätte es versucht. Aber es wäre anders gewesen als jetzt.

Robert ging über die Straße zur Haltestelle und stieg in die Bahn.

Ich werde irgendwohin fahren. Noch über sechs Stunden. Irgendwo werde ich aussteigen und mich auf eine Bank setzen. Vielleicht trink ich noch einen und gehe dann zu der Stelle. Ich muß jetzt an etwas anderes denken. Ich werde drüben studieren und irgendwann werde ich sie holen, und wir leben zusammen. Wenn es sicher ist, wird sie kommen. Ich werde alles vorbereiten. Oder ich bin tot.

Entschuldigen Sie, die Hiddenseer Straße, können Sie mir sagen, wo ich aussteigen muß. Ich bin hier fremd. Der kleine Mann lächelte Robert an.

Ich weiß nicht, Hiddenseer. Ich weiß nicht. Ich bin auch fremd hier. Vielleicht fragen Sie den Fahrer.

Schönen Dank, sagte der Kleine und lächelte wieder.

Der Mann begann sich zum Fahrer durchzudrängen, und Robert stieg aus.

Morgen wird sie warten, und übermorgen wird sie ein Ferngespräch anmelden. Meine Mutter wird Angst haben. Das erste, woran sie denken wird, ist der Krach, den sie im Betrieb kriegt. Oder sie denkt an Vater: Wenn der noch leben würde, wäre das nicht passiert. Und ich bin vielleicht tot. Aber wenn ich es schaffe, wird alles anders. Ich rufe an. Das ist gut. Mutter, werde ich sagen. Nein, zuerst rufe ich im Betrieb an. Hallo, sage ich. Ja, Robert, wo bist du? Warum warst du nicht am Tor. Du kannst mich doch nicht. Dann werde ich sie unterbrechen und sagen, ganz ruhig, so, als ob nichts passiert wäre: Ich bin im Westen. Und dann nichts mehr. Ich werde warten, daß sie etwas sagt. Ganz einfach warten.

Hallo, Sie, hallo. Bleiben Sie doch mal stehen. Ja, Sie meine ich.

Aus. Sie haben mich die ganze Zeit beobachtet. Sie wußten von Anfang an alles.

Robert spürte, wie der Schweiß unter seinen Achselhöhlen herausschoß. Er drehte sich um. Aus dem Fenster des Neubaublocks sah ein Mann heraus und streckte den Arm nach unten.

Da unten liegt mein Kissen. Es ist herausgefallen. Der Fahrstuhl ist kaputt. Ich bin nicht mehr gut auf den Beinen. Kannst du es mir heraufbringen? Vierter Stock rechts: Werner. Die Tür ist angelehnt.

Schon gut, sagte Robert, hob das Kissen auf und ging auf das Haus zu. Vor der Fahrstuhltür standen zwei Jungen, und Robert ging hinter ihnen in die Kabine. Sie stießen einander an. Zu Werner, sagte der eine und beide lachten. Im vierten Stock stieg Robert aus, ging den Flur hinunter, öffnete die Tür am Ende des Ganges und trat in die Wohnung. Der Geruch von altem Fett schlug ihm entgegen.

Lassen Sie die Tür offen, hörte er.

Robert ging an der Kochnische vorbei ins Zimmer. Auf dem zerwühlten Bett saß der Alte, nur mit einer Pyjamahose und einem Unterhemd bekleidet.

Bist du geflogen? Vier Stockwerke in einer halben Minute. Nicht schlecht.

Der Fahrstuhl funktioniert, sagte Robert und legte das Kissen auf den Sessel.

Das hätte ich wissen müssen, aber sie sagen einem ja nicht Bescheid, wenn der Hase wieder läuft.

Der Alte schob seine Beine über die Bettkante und sah Robert an.

Willst du einen Tee? Du kannst ein Glas kriegen. Ich setze gleich Wasser auf.

Danke. Ich muß weiter. Machen Sie sich keine Umstände. Umstände.

Der Alte lachte. Mir macht nichts mehr Umstände.

Ich hab was zu erledigen, sagte Robert.

Ich verstehe schon. Du denkst: Der hat einen ganz schönen Vogel. Erst läßt er mich das Kissen hochbringen, und jetzt soll ich mich noch in seine dreckige Wohnung setzen.

Zwischen jedem Wort holte er tief Luft, und Robert schien, als hörte er ein Pfeifen in der Stimme des Mannes.

So eilig wird es nicht sein, daß du einem alten Mann nicht zehn Minuten Gesellschaft leisten kannst.

Robert setzte sich in den Sessel und sah sich um. Der Alte suchte seine Schuhe, fand einen und ging schließlich barfuß in die Kochnische.

Er hat gewußt, daß der Fahrstuhl funktioniert. Was soll ich mit ihm reden? Es ist auch egal. Sechs Stunden. Besser hier sitzen als auf der Straße vor jeder Uniform zittern.

Der Alte begann zu husten. Er stand am Spülbecken und ließ das Wasser in den Kessel laufen. Der Husten wurde stärker, und plötzlich ließ der Alte den Kessel fallen und erbrach sich ins Becken.

Jetzt kotzt der auch noch.

Robert ging in die Kochnische.

Es geht gleich wieder, flüsterte der Alte, und sein Körper zitterte.

Dann erbrach er sich wieder, und Robert sah die roten Klumpen im Becken. Der Alte drückte den Kopf gegen die Wand. Tränen rannen über sein Gesicht. Seine Hose rutschte herunter. Er griff nach ihr, aber er bekam sie nicht mehr zu fassen. Robert bückte sich und zog sie wieder hoch. Das Zittern des Körpers wurde stärker.

Jetzt kippt er weg.

Robert faßte ihn an den Schultern und in den Kniekehlen, hob ihn hoch und trug ihn zum Bett. Der Alte hatte die Augen geschlossen.

Wie leicht er ist.

Robert schob ihm das Kissen unter den Kopf und deckte ihn zu. Dann ging er zur Tür.

Ich kann ihm auch nicht helfen. Warum sollte ich dableiben. Irgendwo muß dieser verdammte Fahrstuhl gewesen sein.

Suchen Sie jemand, hörte Robert hinter sich eine Stimme.

Die grauhaarige Frau stand in der Wohnungstür und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.

Ich wollte zu Herrn Werner.

Von dort kommen Sie doch gerade, oder?

Ich habe vielleicht das Schild übersehen. Vielleicht habe ich den Namen falsch gelesen.

Die Frau schob das Geschirrtuch unter ihre Schürze.

Was wollen Sie denn von Herrn Werner.

Ich soll ihm was bringen, von seiner Schwester.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu.

Was denn, eine Schwester hat der? Das kann doch nicht wahr sein. Das ist der Gipfel. Die sollte lieber mal selber kommen, statt jemanden herzuschicken. Ihr Bruder machts nicht mehr lange, das können Sie ihr sagen. Der ist schon jetzt nicht mehr ganz bei sich. Hier oben, meine ich. Den ganzen Tag marschiert er im Stechschritt durchs Zimmer. Oder er holt fremde Leute in die Wohnung. Jetzt hat er auch noch angefangen, nachts zu singen. Singen, was sage ich. Er krächzt. Und plötzlich stellt sich heraus, er hat eine Schwester. Sagen Sie ihr mal, sie soll …

Robert drehte sich um und ging zurück.

Sagen Sie es ihr. Ihr Bruder verreckt hier, und sie schickt irgendwelche Leute. Sie sollte sich was schämen.

Der Alte schlief. Robert deckte ihn zu und sah ihn an. Das Gesicht war faltig, von Bartstoppeln bedeckt, vom Ohr zum Kinn lief eine tiefe Narbe. Die Fingernägel waren lang und schmutzig. Jetzt bewegte er sich und stöhnte. Er schob die Decke zurück, und Robert sah die schmale behaarte Brust, die sich in unregelmäßigen Abständen hob und senkte. Das Turnhemd war fleckig und an einer Stelle ausgerissen. Robert schob dem Alten die Decke bis unters Kinn und setzte sich wieder in den Sessel. Er zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an.

Und wenn er stirbt. Ein Arzt? Die Polizei: Was wollen Sie in dieser Gegend. Woher kennen Sie den Mann. Sie werden kein Wort glauben. Ein Kissen. Haha. Das sagen Sie doch nicht im Ernst. Wohin wollten Sie. Was arbeiten Sie. Im Augenblick gar nicht. Das ist interessant. Folgen Sie uns. Klärung eines Sachverhalts.

Robert warf die Zigarette in eine leere Vase, stand auf, ging zum Bücherschrank neben der Tür, nahm ein Buch heraus und las:

Fern von Moskau.

Er schlug das Buch in der Mitte auf:

Sie werden es selbst hinbringen, Genosse Sjatkow, werden mit dem Genossen Umara und Batmatew zusammen dieses kostbare Geschenk Genossen Stalin persönlich überreichen, antwortete Pissarew. Wieder dröhnte Beifall, wie ihn der Adun und die uralte Taiga noch niemals gehört hatten.

Robert schloß das Buch und stellte es zurück.

Auch das noch. So einer. Das klassische Paar: Junger Bürger vor der Flucht trifft auf Veteran der Arbeiterbewegung.

Robert nahm den Bilderrahmen aus dem Regal. Von einem Zeitungsfoto sahen ihn Männer in Lederjacken mit geschulterten Gewehren und Sternen auf den Mützen an. Rot Front, sagte Robert.

Da war ich dabei, hörte Robert und drehte sich um.

Der Alte hatte seinen Rücken gegen das Kopfende geschoben und sah ihn an.

Da war ich vor 38 Jahren. In Spanien. Gib mal her.

Robert ging zum Bett und gab ihm das Bild.

Ich habs aus der Berliner Zeitung ausgeschnitten.

Der Alte legte sich auf den Rücken und hielt das Foto mit beiden Händen vor seine Augen.

Vor 38 Jahren, flüsterte er, und ich war dabei.

Schon gut. Soll ich Ihnen Tee machen.

Du glaubst es wohl nicht. Aber es ist so. Ich war dabei und immer, wenn ich das Bild sehe, fühle ich mich wie damals. Es war eine große Zeit. Andere haben in ihrem Leben nichts geschafft als zwei Kinder und drei Tage Treueurlaub. Bei mir ist das anders.

Ich mache Tee. Robert ging in die Kochnische.

Habe ich lange geschlafen, fragte der Alte.

Nicht lange, sagte Robert und ließ das Wasser in den Kessel laufen. Ein paar Minuten bloß.

Er suchte die Streichhölzer.

Tut mir leid wegen vorhin.

Robert stellte den Kessel auf die Flamme:

Wo ist der Tee.

Der Alte hatte sich zur Wand gedreht und sah noch immer auf das Bild.

Unten im Schrank.

Robert füllte Tee in die Kanne. Dann setzte er sich auf einen Hocker in der Kochnische und wartete.

Immer wenn ich das Bild sehe, denke ich daran. Ich sehe die Sterne an den Mützen und gleich höre ich auch die Schüsse und sehe die Fliegen in den toten Gesichtern.

Ja, ja, sagte Robert.

Er sah den Alten sprechen, aber er hörte ihm nicht mehr zu. Nach einigen Minuten stand er auf und goß das kochende Wasser in die Kanne. Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank, ging ins Zimmer und setzte sich wieder in den Sessel.

Sowas kann man nicht vergessen, sagte der Alte und drehte sich zu Robert.

Hör auf. Ich kenn das Lied. Ich habe es schon im Kindergarten vorgespielt bekommen.

Der Alte sah ihn gerade an.

Was ist los mit dir.

Nichts. Mit mir ist nichts los. Ich weiß nur, was jetzt kommt, und will es nicht zum tausendsten Mal hören.

Ach so, du willst es nicht hören, sagte der Alte. Aber deine Schlabbermusik, dein Dabidubidai auf elektrisch, das willst du hören.

Laß gut sein. Ich kenn das Spiel auswendig. Gleich wirst du sagen, daß wir alles besser wissen. Daß wir hinten alles reingestopft bekommen und vorn das Maul aufreißen.

So ist es, sagte der Alte.

Es hat euch keiner drum gebeten. Das ist doch die Antwort, die du hören wolltest, oder.

Geh zum Fenster. Los.

Was soll das schon wieder.

Das wirst du sehen.

Robert ging zum Fenster.

Was siehst du. Sag mir nur was du siehst. Vor dreißig Jahren hättest du nichts gesehen als Trümmer und Dreck. Und was siehst du jetzt?

Kästen, sagte Robert, Riesenknast mit Grünanlagen.

Ach so, schrie der Alte, Ruinen sind wohl schöner, Frieren ist wohl besser.

Hör auf. Schon gut. Ich habe dir gesagt, daß ich das Spiel kenne. Ich gehe, brüll du deine schönen neuen Wände an.

Robert ging zur Tür.

Warte, rief der Alte. Es ist meine Schuld. Ich wollte dir etwas anderes sagen. Ich war in Spanien. Wir haben gekämpft und wir wußten wofür. Ich habe die Fliegen auf den Gesichtern der Toten gesehen. Ich war ein junger Mann. Aber sie haben uns fertiggemacht. Als es keinen Sinn mehr hatte, sind wir über die Grenze gegangen. Es war nicht einfach, doch als es nicht weiterging, mußten wir über die Grenze.

Gut, sagte Robert und setzte sich wieder in den Sessel, spielen wir es zuende. Ihr mußtet also über die Grenze und ihr seid gegangen. Über welche Grenze kann ich gehen, wenn es keinen Sinn mehr hat?

Wie meinst du das.

Stell dich nicht dümmer als du bist, sagte Robert und sah den Alten gerade an. Das gehört doch zu diesem Gesellschaftsspiel. Du hattest deinen Text, jetzt habe ich meinen, und der heißt: Ich kann nicht machen, was du konntest. Schließlich habt ihr um die schönen Häuser auch noch eine Mauer gebaut.

Wenn wir sie nicht gebaut hätten, wärt ihr jetzt alle drüben, wo es glitzert und funkelt. Der Alte lehnt sich zurück.

Oder gerade nicht, sagte Robert.

Was willst du denn drüben. Was willst du denn von denen.

Gar nichts. Von denen will ich gar nichts. Aber besser da, als hier fern von Moskau. So, und jetzt kannst du zur Telefonzelle gehen. Polizeiruf 110.

Der Alte sah ihn an.

Was ist mit dir los. Wer hat dir was getan. Was willst du denn.