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Malte Herwig

Die Flakhelfer

Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern
Deutschlands führende Demokraten wurden

Deutsche Verlags-Anstalt

Stefan Heym, Eine wahre Geschichte, wird zitiert mit freundlicher Genehmigung von Inge Heym; © 1953 by Stefan Heym. Bertolt Brecht, »An die Nachgeborenen«, wird mit freundlicher Genehmigung zitiert aus Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12. Gedichte 2. © Bertolt Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1988.

1. Auflage

Copyright © 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Andreas Wirthensohn, München

Fotografie im Vorsatz: Marco Urban, Berlin

Typografie und Satz: Brigitte Müller/DVA

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-09116-3

www.dva.de

Inhalt

Prolog

Einleitung
Die Engagierten

Kapitel 1
Der Scheiterhaufen

Einstampfen, natürlich!

Der Müller von Freimann

Souvenirs, Souvenirs

Schwarzmarkt

Die Lebensläufe des Dr. No

Kapitel 2
Karteigenossen

»Ich habe mich doch selbst entnazifiziert«

Nur eine einzige Unterschrift

Kapitel 3
Jungen, die übrig blieben

Das doofe Dur der Angepassten: Hans Werner Henze

Vergessen, aber nicht vergangen: Iring Fetscher

»Fahnen kann ich bis heute nicht sehen«: Hilmar Hoffmann

»Ich frage mich selber: Warst du in der NSDAP?«: Walter Jens

Die Furie des Verstummens: Dieter Wellershoff

Kapitel 4
Das Vorleben der Anderen

Operativ bedeutsam: Wie die Stasi das Document Center auszuspionieren versuchte

»Recherchen müssten geführt werden«

Die Kartei hat immer recht

Der Aktentausch

Die Regierung kann sich ihr Volk nicht aussuchen

Kapitel 5
Im Safe von Mr Simon

»Vor Rückgabe vernichten«

Nur keine neue Entnazifizierung

»Eine Last, von der man sich nur schwierig wieder reinwaschen kann«

Hansen und die heiße Kartoffel

»Verbrenne es!«

Der Safe von Mr Simon

Schutz vor Schnüffelei

»Nationale Peinlichkeiten vermeiden«: der Fall Periot

»Stets um Rückgabe bemüht«: die Verzögerungstaktik der Mächtigen

Eine Viertelstunde Vergangenheitsbewältigung

Es ist nicht alles in den Akten

Kapitel 6
Letzte Tänze, letzte Tinte: Günter Grass

Die Vertreibung aus dem Paradies

Mitgetrommelt

Blessuren und juckende Narben

Kapitel 7
»Das Buchstabierenmüssen unserer Existenz«: Martin Walser

»Verbergungsroutinen«

Christoph und die Fremde

Es gilt das geschriebene Wort

»Jetzt, jetzt, jetzt, jetzt«

Kapitel 8
Das Ende der Geschichte

Anmerkungen

Editorische Notiz

27
FÜR
MEINEN
VATER
72

»Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.«

BERTOLT BRECHT, AN DIE NACHGEBORENEN

Prolog

Dies ist keine Familiengeschichte, aber es könnte eine sein. Unser aller Familiengeschichte, die wir in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind. Noch ist es nicht zu spät, Fragen zu stellen. Noch leben die letzten Angehörigen der Flakhelfer-Generation. Es sind unsere Väter und Großväter, und sie haben die Bundesrepublik geprägt: als Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, Juristen.

Beginnen wir also doch mit einer Familiengeschichte. Die Flakhelfer sind mir nah. Mein Vater, Jahrgang 1927, war einer. Heute ist er 86, so alt wie Günter Grass, Hans-Dietrich Genscher, Martin Walser. Mein Großvater Walter Herwig wurde 1880 in Kassel geboren, fast hundert Jahre vor mir. Lauter späte Väter. So haben die Herwigs eine Generation übersprungen, und ich wurde in Hörweite des 19. Jahrhunderts geboren.

Mein Vater kam in der Weimarer Republik zur Welt, aber sein Elternhaus war nicht nur politisch in den Koordinaten des Kaiserreichs verankert. Die großbürgerliche Siebenzimmerwohnung lag direkt am Kaiserplatz im Hohenzollernviertel der ehemaligen Residenzstadt Kassel. Mein Großvater konnte sich zwar nicht mehr »Kaiserlicher Hofspediteur« nennen, da es mit dem deutschen Kaiser – der früher gern auf Schloss Wilhelmshöhe und im Kasseler Staatstheater Hof gehalten hatte – zu seinem Bedauern längst vorbei war. Aber das Speditionsgeschäft florierte auch dank der Firmenbeziehungen nach Übersee, die Walter Herwig 1929 den Titel eines Honorarkonsuls von Peru eingebracht hatten. Bevor Hakenkreuzflaggen in Mode kamen, schmückte der Konsul seine Maybach-Limousine am peruanischen Nationalfeiertag mit den Standarten des südamerikanischen Landes und der Weimarer Republik.

Es war eine friedliche Zeit. Vom Fenster im dritten Stock konnte mein Vater als Kind den Klängen der ehemaligen Militärkapelle lauschen, die im Konzertpavillon vor dem Haus »heitere und leichte Tonschöpfungen« spielte.1

Sie spielte bis 1934. Dann zogen die neuen Machthaber andere Saiten auf. Die Nationalsozialisten rissen den Pavillon ab, um Platz für eine Tribüne zu schaffen. Fortan wurden dort am Reichskriegertag Paraden abgehalten. Es schien nur folgerichtig, dass die zukünftigen Kriegsherren den Kaiserplatz 1938 nach einer Schlacht benannten und ihn zum Skagerrakplatz umtauften.

So stand mein Vater mit einem Bein noch in der Kaiserzeit, während er mit dem anderen schon ins »Dritte Reich« marschieren musste. Ein Foto aus den 1930er Jahren zeigt den kleinen Günter Herwig auf der Straße, wie er brav in die Kamera lächelt und den rechten Arm zum Hitlergruß hebt. Darunter hatte meine Großmutter ins Album geschrieben: »Zum ersten Mal ›Heil Hitler‹«. Wusste er, was das bedeutet?

Am 1. Dezember 1937 wurde der Zehnjährige ins Jungvolk aufgenommen. Dort sollten aus kleinen Jungen Hitlers Helden gezüchtet werden. Aber mein Vater war kein Heldenmaterial. Er war zu faul und selbstgenügsam, um sich für das mit Marschieren und Indoktrinieren beschäftigte »Dritte Reich« zu begeistern. 1938 informierte das Gymnasium meine Großmutter in einem blauen Brief, ihr Sohn sei selbstzufrieden und träge, seine Anteilnahme lasse in jeder Hinsicht zu wünschen übrig: »Meist sitzt er rosig und satt in seiner Bank und scheint mit allem zufrieden. Ermahnungen erschüttern ihn nicht weiter.« Gezeichnet: »Heil Hitler! Der Klassenleiter«.2

Nicht, dass der junge Günter einen inneren Widerspruch zur herrschenden Ideologie spürte. Sie kümmerte ihn einfach nicht. Auch am Marschieren fand mein Vater keinen Gefallen und kam 1943 vor ein Gericht der Hitlerjugend, weil er sich beim Abmarsch nach einem Appell ohne Erlaubnis verdrückt hatte. Theater gefiel ihm, aber nicht das Theater der Braunhemden. Dem Strafbescheid der Hitlerjugend Kurhessen zufolge gab er als Entschuldigung an, sich bei einem Laienspiel den Fuß verstaucht und deshalb aus der Marschformation ausgeschert zu sein. Sein eigenmächtiger Abmarsch wurde glimpflich geahndet: Verwarnung »für die Dauer des Krieges«.

Dieser Krieg hätte ihn um ein Haar noch erwischt, wenn er länger gedauert hätte. Nach Reichsarbeitsdienst und Flakhelferzeit bekam mein Vater im Januar 1945 einen Brief, der ihn zur Aufnahmeprüfung als Reserveoffiziersbewerber der Kriegsmarine nach Wien beorderte. Der Untergang des Deutschen Reichs war nur noch eine Frage von wenigen Monaten, die deutschen Armeen zogen sich an allen Fronten zurück, und Wien lag nicht einmal an der Küste. Aber auf dem Marinekommando II, erzählte mir mein Vater, hätten die Offiziere noch im Frühjahr 1945 auf die Tischmanieren der jungen Rekruten geachtet, die das Reich retten sollten.

Als man ihm in Wien schließlich seinen Marschbefehl in die Hand drückte und befahl, sich damit auf der zuständigen Stelle zu melden, tat mein Vater das ihm einzig sinnvoll Erscheinende: Er zerknüllte den Zettel und verdrückte sich.

Trägheit ist eine starke physikalische Kraft, die gern unterschätzt wird. Auch von Diktaturen. Wären alle so gewesen wie mein Vater, der Volksstaat wäre vielleicht bald aus Mangel an Interesse der Beteiligten zusammengebrochen. Doch es kam anders, und das »Dritte Reich« hätte mehr Helden gebraucht als die wenigen Studenten, Arbeiter und Offiziere, die ihr Leben im mutigen Kampf gegen das Unrecht verloren und seitdem als Alibi für das »andere Deutschland« herhalten müssen. Brecht hat recht: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.«

Für die »geradezu lächerlich deutsche Sehnsucht nach Vorbildern«, von der Margarete Mitscherlich einmal sprach, taugt mein Vater nicht als Exempel – weder vor 1945 noch danach. Nein, mein Vater war kein Held und wollte keiner werden. Weder für Hitler noch für den Widerstand. Der Hitlerjunge Herwig war weder zäh wie ein Wiesel, noch flink wie ein Windhund, noch hart wie Kruppstahl. Stattdessen war er: rosig, satt und selbstzufrieden. So richtete sich mein Vater in einer gänzlich unheroischen Form des passiven Widerstands im »Dritten Reich« ein, der die Machthaber wenig entgegensetzen konnten. Offener Rebellion begegneten sie mit Repressalien, KZ und Todesurteilen. Aber mit lauter faulen Volksgenossen wie ihm war kein Staat zu machen, erst recht kein »Tausendjähriges Reich«.

Mit der Vergangenheit hat sich mein Vater ungern beschäftigt, aber sie beschäftigte ihn. Wenn im Fernsehen etwas über Hitler oder den Holocaust kam, wurde es »weggedreht«. Lieber Tierfilme. Den Krieg an der Front hat er nicht erleben müssen. Dafür die Zerstörung seiner Heimatstadt Kassel, die 1943 von alliierten Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde. Die Leichen auf der Straße vor dem Bunker am Weinberg. Die Sirenen. Den Feuersturm.

Oft habe ich ihn nach seinen Erinnerungen an die damalige Zeit gefragt. Wusste er als Jugendlicher, was mit den Juden geschah? »Die wohnten in einem anderen Viertel«, lautete die Antwort. Aber er erzählte auch, wie er sich wunderte, als sein jüdischer Kinderarzt von einem Tag auf den anderen verschwand.

Heute scheint es mir, als hätte ich mitunter die falschen Fragen gestellt – oder die richtigen nicht gestellt. Ich war skeptisch, als mir mein Vater erzählte, der Großvater habe einen jüdischen Mitarbeiter in der Spedition geschützt. Zu oft hatte man solche Erzählungen in der Schule als Schutzbehauptungen entlarvt. Also suchte ich den Mann, und er bestätigte mir, dass mein Großvater ihn durch die Beschäftigung im Familienbetrieb tatsächlich gerettet habe. Der Konsul sei ein wirklich feiner Mensch gewesen, sagte mir der Mann kurz vor seinem Tod, und er denke bis heute mit Dankbarkeit und Achtung an ihn.

Falsche Frage, richtige Antwort? Denn was wusste ich wirklich über meinen Großvater? Von »den Nazis« habe man im Hause Herwig keine hohe Meinung gehabt, die Eltern seien bürgerlich-nationalkonservativ gewesen, hatte mir mein Vater immer erzählt. Ich war 37, als ich ihn zum ersten Mal fragte, ob der Großvater denn in der NSDAP gewesen sei. Es war eine Frage, die ich so direkt nie gestellt hatte (auch wenn sie in unseren Gesprächen oft gemeint war) und die mir mein Vater umstandslos beantwortete: Ja, der Großvater sei in der NSDAP gewesen, denn er leitete mit seinem Bruder das Familienunternehmen. Der Bruder aber war Freimaurer, und »einer musste doch in die Partei«.

Richtige Frage, falsche Antwort? Meinen Großvater konnte ich nicht mehr fragen. Er war im August 1944 an einem Herzanfall zu Hause in Kassel gestorben. So lernte ich spät, dass die alten Geschichten noch lange nicht vorbei sind. Dass alles, was wir in der Schule über die Verdrängung in der Adenauerzeit erfahren hatten, uns Geschichtsbewältigte noch viel unmittelbarer betraf, als wir glaubten.

Vier Wochen nach dem plötzlichen Tod meines Großvaters im August 1944 heulten über Kassel wieder die Sirenen. Mein Vater und seine Schwester mussten meine Großmutter in den Luftschutzkeller zerren, so untröstlich war sie über den Tod ihres Mannes. »Sie wollte sterben, und sie wäre gestorben, wenn wir sie nicht mitgenommen hätten«, erzählte mir mein Vater. Eine Bombe fiel in sein Kinderzimmer und zerstörte die ganze Wohnung. Mutter, Schwester und Sohn krochen durch einen Durchbruch in den Nachbarkeller und überlebten.

»Auch wenn das seltsam klingt: Es war ein Gottesglück für deine Großmutter, dass wir ausgebombt wurden«, sagte mein Vater: »Mit dem Haus waren auch alle Erinnerungen an das Leben davor zerstört.« Tagelang noch suchte meine Großmutter in den Trümmern.

Dann geschah etwas, das mein Vater noch heute als Wunder bezeichnet. Unter Schutt und Asche hatte ausgerechnet ein Stück Papier die Zerstörung überdauert. Es war der letzte Brief, den Walter Herwig seinem Sohn geschrieben hatte: »Nochmals alles Gute, mein lieber Günter, für Dein neues Lebensjahr und viele herzliche Grüße. In Liebe, Dein Vater«.

1 »Im Westen viel Neues«, Hessisch Niedersächsische Allgemeine, 21. Juni 2006.

2 Brief des Staatlichen Wilhelmsgymnasiums Kassel vom 3.3.1938 an Frau Konsul Walter Herwig, Kassel, Skagerrakplatz 30.

Einleitung
48052.jpgDie Engagierten

Wäre die Erinnerung ein Konzert – so könnte es klingen, das Jüngste Gericht über die deutsche Vergangenheit: »Ein In- und Aufeinander von Schreckensgetön aus der Kindheit, Erinnerungen an Marschlieder und Hymnen, Gassenhauer und Gemeinheiten, Suff. Blitzlichtklänge aus dem Riefenstahl’schen Nazi-Nürnberg beleidigen uns, den Fanfarenzügen entfährt grelle Ignoranz, das doofe Dur der Angepassten und Mitlaufenden.«

Mit seinem 1993 uraufgeführten Requiem wollte der Komponist Hans Werner Henze ein Zeichen gegen das »doofe Dur der Angepassten« setzen. Er selbst hatte sich in seinen Memoiren als Gegner des NS-Regimes dargestellt, dem er als 18-jähriger Wehrmachtssoldat gedient hatte. 2009 entdeckte ich bei Recherchen im Bundesarchiv, dass die Wahrheit nicht ganz so einfach war: Der Mann, der nach 1945 als Modernisierer zum Übervater der Neuen Musik wurde, war noch 1944 in die NSDAP eingetreten. Die Entdeckung seiner Mitgliedskarte sorgte für Furore, aber Henze wiegelte ab. Es müsse sich um eine »Finte« der Nazis handeln, eine Fälschung. Er sei ohne eigenes Wissen als »Geburtstagsgeschenk der Gauleitung« an Hitler in die Partei aufgenommen worden, behauptete Henze. Viele deutsche Medien übernahmen diese Schutzbehauptung unkritisch, ignorierten die Karteikarte oder verwarfen seine NSDAP-Mitgliedschaft als »unbewiesene Behauptung«. Als der berühmte Komponist 2012 verstarb, beschränkten sich die Nachrufe auf die Wiedergabe seiner offiziellen Biografie. Schließlich galt Henze längst als »eine jeder Kritik enthobene künstlerische Autorität«.3 Dass ausgerechnet er, der sich immer kritisch mit den Gräueln der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte, selbst in Hitlers Partei gewesen sein sollte, passte einfach nichts ins Bild.

Henze war nicht der einzige Angehörige der sogenannten Flakhelfer-Generation, deren Jugend im »Dritten Reich« heute in neuem Licht erscheint. Seit 1994 die NSDAP-Mitgliederkartei von den USA an das Bundesarchiv übergeben wurde, tauchen immer mehr bekannte Namen auf. Es sind Politiker und Künstler, Wissenschaftler und Journalisten, Linksliberale und Konservative. Nur eines haben sie alle gemeinsam: Sie haben ihre Jugend im »Dritten Reich« verbracht und sind nach dem Krieg zu prominenten Intellektuellen und Wortführern der jungen Bundesrepublik aufgestiegen. Man braucht nur die Namen aufzuzählen, und schon hat man ein politisch-kulturelles Pantheon der deutschen Nachkriegszeit vor Augen: Martin Walser, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Hermann Lübbe, Niklas Luhmann, Tankred Dorst, Erich Loest, Peter Boenisch, Wolfgang Iser – eine ganze Generation von Übervätern geriet in den letzten Jahren trotz tadelloser Nachkriegslebensläufe ins Zwielicht, weil sie vor 1945 im Nationalsozialismus mitgemacht hatte. Allerdings: Mit Ausnahme von Eppler wollte sich keiner der noch lebenden Betroffenen erinnern können, jemals einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben. Die NSDAP – ein Verein von Zufallsmitgliedern? Die Öffentlichkeit war verwirrt, die Betroffenen mauerten und fühlten sich missverstanden.

Doch je mehr Namen auftauchen, desto fragwürdiger werden die Versuche, die Parteimitgliedschaft als zufällig oder unwissentlich darzustellen. Angesichts der »im Ganzen wenig belastbaren Quellen- und Faktenlage«, hoffte die FAZ im Fall Hans Werner Henze, würden die »bösen Geister« bald wieder in der Versenkung verschwinden.4 Der Komponist habe es einfach nicht verdient, fand auch die Süddeutsche Zeitung, dass sein lebenslanges künstlerisches und politisches Engagement »wegen einer unbewiesenen Behauptung«5 zur Bußübung degradiert werde.

Es ist eine neue Schlussstrich-Debatte, mit der hier von einer jüngeren Generation auch nur der leiseste Zweifel an der biografischen Geradlinigkeit ihrer Vorbilder vom Tisch gewischt werden soll. Eine Schwarz-Weiß-Welt, in der es die bösen Nazis gab und die guten Bundesrepublikaner, die mit ihnen aufräumten. Dass auch gebrochene Biografien lehrreich und vorbildlich sein können, passt nicht ins Dogma dieser nachgeborenen Hohepriester bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung.

Was sich da auf der großen Bühne der bundesdeutschen Intelligenzia abspielte, setzte sich in ganz normalen deutschen Familien fort: Glaubte man den Erzählungen, dann kam Hitler 1933 so plötzlich über die Deutschen, wie er 1945 wieder verschwand, ohne dass die eigenen Verwandten irgendetwas damit zu tun gehabt hätten. Das »Dritte Reich«, das waren Hitler und Himmler, Goebbels und Göring. Aber Opa war kein Nazi, und dass Oma mit ihren Freundinnen beim BDM den Führer anschmachtete, hat sie im Lichte späterer Erkenntnisse natürlich nie so erzählt.

Oder haben wir einfach nicht gut genug hingehört, wir Kinder und Enkel der Flakhelfer – jener heute 85-jährigen letzten Zeitzeugen des »Dritten Reichs«, die in der NS-Diktatur aufwuchsen, mit 17 Jahren in den Krieg geschickt wurden und nach dem Zusammenbruch 1945 die Bundesrepublik mit aufbauten und bis heute prägen? Liegt es vielleicht auch an uns, wenn wir über sechzig Jahre nach Kriegsende immer noch erstaunt sind zu erfahren, wie weit die Verstrickungen im totalitären Herrschaftssystem des »Dritten Reichs« gingen?

Die große öffentliche Aufregung, die die Studien über die institutionelle Beteiligung des Auswärtigen Amts am Holocaust oder die alliierten Abhörprotokolle deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft auslösten, macht deutlich, wie tief der Graben geworden ist, der die Lebenserfahrungen der letzten Zeitzeugen vom sanktionierten Geschichtsverständnis der heutigen Gesellschaft trennt. Nur so ist auch zu erklären, warum die NSDAP-Mitgliedschaft prominenter Bundesbürger wie Martin Walser oder Hans-Dietrich Genscher nicht nur von den Betroffenen gerne verdrängt wird und solche Enthüllungen immer wieder für Kontroversen sorgen.

Seit der Goldhagen-Debatte in den 1990er Jahren ist in Deutschland kaum ein historisches Thema so erregt in der Öffentlichkeit diskutiert worden wie die Frage, ob man ohne eigenes Zutun und Wissen Mitglied in der NSDAP werden konnte. Sie rüttelt am klaren Verhältnis von Gut und Böse, das heute unser »aufgeklärtes« Geschichtsbild vom »Dritten Reich« prägt: Weiße Rose und Schwarzer Orden, Stauffenberg und Hitler, Widerstand und Mittäter.

Auch mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Verbot der NSDAP ranken sich in Deutschland immer noch allerlei Mythen um die Hitlerpartei, die ihren Ursprung in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben. Tatsächlich waren nur etwa 15 Prozent der Deutschen Mitglieder der NSDAP. Angesichts dessen klingt es wie blanker Hohn, wenn heute immer wieder kolportiert wird, beim Entschluss zum Parteieintritt habe allein Zwang, nie Opportunismus die entscheidende Rolle gespielt. Überhaupt: Warum sollte eine Partei Interesse daran haben, Leute ohne deren Wissen als Mitglieder zu führen, wenn sie zeitweise sogar Aufnahmestopps verhängen musste? In Wirklichkeit war die NSDAP weit populärer, als heute zugegeben wird. Einerseits wollte kein Deutscher nach 1945 etwas mit der Partei zu tun gehabt haben, andererseits wird noch heute die Legende gepflegt, dass der Parteieintritt halber Jahrgänge ohne deren Wissen heimlich vollzogen wurde. Die amerikanischen Besatzer wussten es besser: Durch pures Glück war ihnen im Herbst 1945 ein riesiger Datenschatz in die Hände gefallen. Eigentlich hätten die mehr als zehn Millionen Karteikarten in den letzten Tagen des »Dritten Reichs« noch schnell vernichtet werden sollen. Ein SS-Kommando hatte die 50 Tonnen Naziakten im April 1945 bei einer Papiermühle in München abgeliefert. Doch der Besitzer weigerte sich, den Papierberg zu vernichten, und übergab den braunen Sondermüll an die amerikanischen Militärbehörden, die das Berlin Document Center einrichteten. Schon 1947 stellten die Amerikaner mit Hilfe der Kartei fest, niemals sei eine NS-Organisation komplett in die NSDAP überführt worden, auch HJ und BDM nicht.

2003 stellte Michael Buddrus, der beste Kenner der Geschichte der Hitlerjugend, in einem Gutachten fest, dass es keine automatischen korporativen Parteiaufnahmen von Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge oder NS-Verbände gegeben hat. Alles andere seien »Legenden, die ihren Ausgangspunkt in Entlastungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten und durch häufige Kolportage zu einem gern bemühten ›Allgemeingut‹ avancierten, das mit der historischen Wirklichkeit allerdings nichts zu tun hat«.6

Auch der Historiker Armin Nolzen, ein ausgewiesener Kenner der NSDAP-Geschichte, wundert sich über die Diskussion: »Kennen Sie überhaupt eine historische Partei, die Kollektivaufnahmen vornimmt?« Das Argument von Kollektivaufnahmen sei eine Schutzbehauptung der Nachkriegszeit, um die Kollektivschuldthese abzuwehren. Für eigenmächtige Anmeldungen durch HJ-Führer gebe es, so resümiert Nolzen in dem Sammelband Wie wurde man Parteigenosse? den Stand der Forschung, »bislang keinen einzigen empirischen Beweis«. Auch sei bis heute aus keiner einzigen zeitgenössischen Quelle eine gefälschte Unterschrift eines HJ-Führers bekannt. Voraussetzung war in jedem Fall »die eigenhändig unterschriebenen Aufnahmeanträge derjenigen 18-jährigen Jugendlichen, die sie für den Parteieintritt als ›würdig‹ erachteten« – und das war bis zuletzt immer noch eine Minderheit aller Hitlerjungen.7 Dass die Verstrickung in Hitlers Partei bis heute bei vielen Deutschen zu einer kollektiven Selbstverleugnung führt, bleibt ebenso erstaunlich wie die Naivität mancher Historiker und Feuilletonisten, die einen Schlussstrich unter die unliebsame Debatte setzen wollen.

Ich habe über Jahre immer wieder in den zehn Millionen Karteikarten der NSDAP-Mitgliederkartei geforscht und zahlreiche Zeitzeugen getroffen. Ich habe mit Hans-Dietrich Genscher über Naziakten, mit Günter Grass über die Waffen-SS und mit Martin Walser über die Nazis in Wasserburg gesprochen. Der Dramatiker Tankred Dorst hat mir von den todessüchtigen Jugendlichen im Jungvolklager berichtet und Iring Fetscher davon, wie er am Volksempfänger der verführerischen Demagogie eines Goebbels erlag. Helmut Schmidt sagte mir, er habe nicht gewusst, dass die Amerikaner noch 1980 ihn und sein gesamtes Kabinett (in dem zwei ehemalige NSDAP-Mitglieder Minister waren) auf ihre NS-Vergangenheit überprüften. Allerdings würde er »den Amerikanern jeden geheimdienstlichen Blödsinn zutrauen«.8

Die führenden Demokraten, um die es in diesem Buch geht, waren nicht alle Flakhelfer im engeren Sinne, also Angehörige der Jahrgänge 1926 bis 1928, die zum Dienst als Luftwaffenhelfer eingezogen wurden. Der erweiterte Generationenbegriff soll hier alle nach 1919 geborenen Deutschen einschließen, deren Jugend durch das »Dritte Reich« geprägt wurde. Dass die NS-Vergangenheit dieser Jahrgänge erst in den letzten Jahren kritischer thematisiert wurde, ist auf den ersten Blick nicht überraschend. Nach 1945 erließen alle vier Besatzungsmächte Jugendamnestien für die Jahrgänge ab 1919. Doch dann kam zur Amnestie die Amnesie: Die jugendlichen Verirrungen waren vergeben und – vergessen.

Es geht in diesem Buch nicht um Schuld und Anklage, nicht um Jugendsünden verdienter Persönlichkeiten, die nach 1945 entscheidend zum Aufbau einer zivilen Nachkriegsgesellschaft und zum Gelingen der bundesdeutschen Demokratie beitrugen. Dieses Buch erzählt die unbekannte Geschichte der jüngsten NSDAP-Mitglieder vom »Dritten Reich« über die Entnazifizierung bis in die Gegenwart. Dabei geht es nicht um die Kriegsverbrecher, Judenmörder und glühenden Nationalsozialisten, deren Untaten in Deutschland zwar spät, aber spätestens seit den 1960er Jahren mit nachholender Gründlichkeit aufgearbeitet wurden. Stattdessen stehen die Flakhelfer im Mittelpunkt, die aufgrund ihres Alters mitunter als »Hitlers letzte Helden« bezeichnet wurden und zugleich als Jugendliche auch Opfer der Nazipropaganda waren. Diktatur, Krieg, Mitläufertum, gefühlter oder tatsächlicher Widerspruch gegenüber dem System und schließlich der totale Zusammenbruch hatten bei dieser Generation für eine existentielle Verunsicherung gesorgt, die viele ihrer Angehörigen nach 1945 durch verdoppeltes Engagement für die neue Demokratie zu verdrängen suchten. Als 17- oder 18-Jährige waren sie in Hitlers Partei eingetreten – zu jung, um Täter zu werden, aber zu alt, um dem Schuldzusammenhang des »Dritten Reichs« zu entkommen: Hoffnungslos dazwischen, eine Generation junger Menschen, die sich zugleich als »bindungslos und verstrickt« empfanden, wie der Soziologe Heinz Bude schreibt: »Als Kinder verführt, als Jugendliche verraten, enttäuscht und verunsichert, aber funktionstüchtig zogen sie sich ins Private, Konkrete zurück und widmeten sich geräuschlos und wirkungsvoll dem Aufbau Deutschlands.«9 Vaterlos, sprachlos und geschichtslos, kompensierten die »anpassungsgeschickten, aber mit verbissenem Willen ausgestatteten jungen Männer« der Flakhelfer-Generation ihre existentielle Unsicherheit und wurden so aus Budes Sicht »die faktische, wenn auch nicht die normative Trägergeneration des westdeutschen Wiederaufstiegs«.10

Doch diesem Bild einer fleißigen Flakhelfer-Funktionselite im Nachkriegsdeutschland muss ein entscheidender Aspekt hinzugefügt werden. Das besondere Engagement dieser Generation erschöpfte sich nicht in der stillen ökonomischen Betriebsamkeit, die Bude in seinem Generationsporträt Deutsche Karrieren anhand der Aufsteiger-Biografien einzelner Manager im Wirtschaftswunderland nachzeichnet. Auch zahlreiche engagierte Demokraten gehören dazu, die Wege aus der Sprach- und Geschichtslosigkeit ihrer Generation suchten, sich am moralischen Makel der deutschen Vergangenheit abarbeiteten und den gesellschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik bis heute entscheidend prägen. Die 1927 geborenen Schriftsteller Günter Grass und Martin Walser zählen noch immer zu den wichtigsten und lautesten Stimmen der deutschen Literatur. Ihr Zeitgenosse Hans-Dietrich Genscher war nicht nur jahrzehntelang Bundesminister und maßgeblich an den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung beteiligt, sondern verfügt noch heute über beträchtlichen politischen Einfluss. Es gab aber auch andere Karrieren, die zwar über die Hitlerjugend, aber nicht in die NSDAP führten. Der einstige Luftwaffenhelfer Joseph Ratzinger wurde zu einem der mächtigsten katholischen Theologen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und 2005 als Benedikt XVI. zum Papst gewählt.

Sie sind die Repräsentanten der alten Bundesrepublik, mit der sie in die Jahre kamen. Aus den Vaterlosen wurden Überväter, die Sprachlosen schufen eine neue Sprache, die Geschichtslosen machten selbst Geschichte. Durch ihr Engagement trugen diese Flakhelfer dazu bei, dass die Bundesrepublik eine neue historische Identität gewann, deren moralischer Kern im Gedenken an die historische Schuld Deutschlands wurzelte.

Dieser Neuanfang allerdings hatte seinen Preis: Um sich dem demokratischen Aufbau der Bundesrepublik widmen zu können, verleugneten und verdrängten viele ehemalige Flakhelfer das sinnfälligste Stigma ihrer eigenen Verstrickung im »Dritten Reich«: die Mitgliedschaft in Hitlers Partei. Sie distanzierten sich nicht nur entschieden vom Nationalsozialismus, sondern entnazifizierten sich selbst auch formal, indem sie ihre NSDAP-Mitgliedschaft bis heute als »phantomatisch« oder als Geburtstagsgeschenk an Hitler abtun. Es sollte klingen, als ob die Engagierten ohne ihr Wissen in der NSDAP engagiert worden waren.

So wurden Walser, Hildebrandt und Co. zu Experten für deutsche Vergangenheitsbewältigung, sie wurden zum Gewissen der Nation. Dass sich dabei in ihren Reden mitunter auch eine gewisse Rechthaberei bemerkbar machte, wussten sie selbst. Doch auch sie übten sich im Verdrängen gewisser, nicht ganz unbedeutender Details der eigenen Vita im »Dritten Reich«. Damals 18-Jährigen kann man kaum einen Vorwurf daraus machen, mehr oder weniger freiwillig Mitglied einer verbrecherischen Organisation wie der SS geworden oder der NSDAP beigetreten zu sein.

Es geht denn auch nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Verständnis. Es geht darum, die historischen Zeugnisse mit den Erzählungen der Zeitzeugen in Einklang zu bringen. Das eine lässt sich ohne das andere nicht verstehen. Die Erinnerung ist kein Wunschkonzert, das gilt für Überlebende wie Nachgeborene gleichermaßen. Dass die Flakhelfer als vaterlose Generation aufwuchsen, weil ihre Väter entweder tot oder durch ihre Mittun im »Dritten Reich« kompromittiert waren, macht die Sache nicht leichter. Vielleicht kann erst die Enkelgeneration mit zeitlicher und emotionaler Distanz den Großeltern wieder näher kommen und sie zu verstehen versuchen – was den Kindern nicht möglich war, durch deren Verhältnis zu ihren Eltern ein tiefer Riss ging.

Die Geschichte der Flakhelfer ist auch die eines großen, für viele peinlichen Geheimnisses. In ihr spiegelt sich die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik mit ihren vielen Kompromissen, Halbwahrheiten, Zugeständnissen und rituellen Beschwörungen, aber auch dem echten Willen zur Umkehr.

Tatsächlich pflegt die Bundesrepublik bis heute eine staatsoffizielle Doktrin, nach der keine institutionelle Kontinuität zu den Behörden und Institutionen des »Dritten Reichs« besteht. Noch 2011 beantwortete die Bundesregierung eine parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE mit der Feststellung, eine NS-Vergangenheit von Institutionen des Bundes könne es nicht geben, da solche Institutionen erst seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland 1949 existierten: »Die Ressorts und anderen Institutionen des Bundes stehen nicht in Kontinuität zu Institutionen der NS-Diktatur.«11 Die formaljuristisch korrekte Antwort unterschlägt, dass es in zahlreichen Ministerien und Behörden sehr wohl eine beträchtliche personelle Kontinuität zwischen dem »Dritten Reich« und der Bundesrepublik gab, wie jüngere Studien zum Bundeskriminalamt, dem Auswärtigen Amt und zahlreichen anderen Behörden eindrucksvoll belegen.

Die staatlich verordneten Gedenktage und -feiern, mit denen des Widerstands gegen Hitler, der deutschen Kriegsverbrechen und des Holocaust gedacht wird, dienen ebenso als Signal moralischer Verantwortung wie die Entschädigungszahlungen an KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter. Doch 65 Jahre nach Kriegsende drohen diese Gesten zu einem kollektiven symbolischen Ablasshandel zu werden, wenn er uns heutige Deutsche davon entbindet, kritische Fragen zu stellen.

Denn nicht nur viele Flakhelfer verschwiegen ihre Verstrickung in Hitlers Partei. Auch die Bundesregierung verhinderte durch geschicktes Taktieren jahrzehntelang die Rückgabe der unter amerikanischer Verwaltung stehenden NSDAP-Mitgliederkartei an Deutschland. Tatsächlich wollten die USA die längst ausgewerteten archivalischen Altlasten schon in den 1960er Jahren an den deutschen Bündnispartner zurückgeben. Doch in Bonn fürchtete man, nach einer Rückgabe auf öffentlichen Druck hin die Büchse der Pandora öffnen zu müssen, da dort die Namen zahlreicher führender Politiker Nachkriegsdeutschlands verzeichnet waren.

Noch Anfang der 1990er Jahre saß mit Hans-Dietrich Genscher ein Regierungsmitglied am Kabinettstisch, das in der Kartei als Mitglied geführt wurde. Der FDP-Spitzenpolitiker war als Außenminister fast zwei Jahrzehnte lang Chef des Ressorts, das für die Rückgabeverhandlungen mit den Amerikanern zuständig war. Diese kamen Bonn entgegen, indem sie die Namen deutscher Spitzenpolitiker sicherheitshalber aus der Hauptkartei aussortierten, um dem Bündnispartner im Kalten Krieg peinliche Enthüllungen zu ersparen. Auf diesem Weg verschwanden zwischen den 1960er und 1990er Jahren die NSDAP-Akten von mehr als siebzig prominenten deutschen Politikern im Panzerschrank des amerikanischen Direktors des Berliner Document Center – darunter auch die von Genscher. Vor der Rückgabe der Naziakten sortierten die Amerikaner die Karteikarten zwar wieder säuberlich in die Hauptkartei ein. Doch die Namen der Politiker, deren braune Altlasten einst im Safe versteckt worden waren, sollten auf immer geheim bleiben: Das US State Department verfügte, dass alle Akten zur Überprüfung einzelner Personen vor der Rückgabe vernichtet werden sollten. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass sich die Liste der betroffenen Politiker heute rekonstruieren lässt.

Das Document Center war bereits in den 1970er Jahren ein brisantes Relikt aus der Besatzungszeit, für das sich auch die Spione der Staatssicherheit interessierten. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges konnten sich weder die Bundesregierung noch ihre US-Verbündeten entscheiden, was mit der braunen Erblast geschehen sollte. Immer wieder wurde die Rückgabe an die Bundesrepublik verschoben, die das Archiv längst finanzierte. Als die Bonner Regierung 1989 durch einen Beschluss des Bundestags unter Zugzwang geriet, baten Genschers Emissäre die Amerikaner, die Forderung der Bundesregierung nach sofortiger Rückgabe der NSDAP-Kartei nicht wörtlich zu nehmen und mit Verweis auf technische Hindernisse zurückzuweisen. Die Strategie ging auf – und die NSDAP-Kartei erst 1994 in den Besitz des deutschen Bundesarchivs über. Wenige Wochen später erfuhr die Öffentlichkeit auch von der Karteikarte Genschers. Warum so spät? Warum wird noch heute über das zwielichtige Aktenerbe der NSDAP gestritten?

Die Geschichte der Flakhelfer – und mit ihr die der Bundesrepublik – ist aufs Engste mit der abenteuerlichen Geschichte der NSDAP-Mitgliederkartei und des amerikanischen Document Center in Berlin verbunden, die hier ebenfalls erzählt wird.

Ich habe fünf Jahre lang in der NSDAP-Mitgliederkartei im Bundesarchiv Berlin geforscht und in Washington D. C. die Verwaltungsakten des ehemaligen Berlin Document Center (BDC) studiert, in deren Obhut sich die Kartei jahrzehntelang befand. Dabei konnte ich mich auf die Hilfe des letzten Leiters des BDC und ehemaliger amerikanischer Regierungsbeamter stützen, deren Aussagen ein brisantes Schlaglicht auf die Naziakten werfen. So erscheint die Entscheidung Hans-Dietrich Genschers, 1994 doch nicht als Bundespräsident zu kandidieren, auch als Resultat der Publikation seiner NS-Mitgliedskarte, von der ihn das Archiv vorab informierte.

Im Zentrum des Buches aber stehen neben der (Nach-)Geschichte der NSDAP-Kartei die Porträts der letzten NSDAP-Mitglieder, mit denen ich über ihre Zeit in Hitlers Partei gesprochen habe: Hans-Dietrich Genscher, Dieter Wellershoff, Tankred Dorst, Horst Ehmke, Erich Loest, Günter Grass (der Mitglied der Waffen-SS war), Hans Werner Henze, Hermann Lübbe, Iring Fetscher und viele mehr. Sie sind es, nicht die Eichmanns und Globkes, die nach dem Krieg die Bundesrepublik geprägt haben, obwohl sie von früh auf nationalsozialistisch indoktriniert waren. Doch bis heute wird die gesellschaftliche Debatte über Schuld und Verstrickung der Deutschen an Eichmann und Globke wie an Fetischen der Vergangenheitsbewältigung festgemacht.

In ihrer wegweisenden Schrift Die Unfähigkeit zu trauern konstatierten Alexander und Margarete Mitscherlich einst die undifferenzierte Sicht auf eigene Taten und fremdes Leid als Ursache eben jener deutschen Unfähigkeit, Opfer und Täter zu betrauern. Noch heute gibt es zwischen Verteufelung und Schuld-Kult kaum Zwischentöne. Dabei gibt es kaum ein lehrreicheres Beispiel für Verstrickung und Sühne als die Flakhelfer-Generation, die sich ihr Leben lang an Erlebnissen ihrer ersten 18 Lebensjahre abgearbeitet hat und dabei in Kunst, Politik und Wissenschaft die Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt hat. Aus ihren Stimmen entsteht eine Partitur der Erinnerungen, ein deutsches Requiem. Es ist ein Lehrstück über die Verführbarkeit und darüber, was wir heute von den einst Verführten lernen können.

3 Max Nyffeler, »Mit Schönheit den Schrecken gebannt«, Neue Zürcher Zeitung, 29. Oktober 2012.

4 Christian Wildhagen, »War Hans Werner Henze Mitglied der NSDAP?«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Februar 2009.

5 »Mehr vom selben«, Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2012.

6 Michael Buddrus, »War es möglich, ohne eigenes Zutun Mitglied der NSDAP zu werden?« Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin für das Internationale Germanistenlexikon 1800–1950, in: Zeitschrift für Geschichte der Germanistik 23 /24 (2003), 21–26.

7 Dem Historiker Armin Nolzen zufolge sind unter den 18 Millionen Jugendlichen, die seit dem 30. Januar 1933 die HJ bis zum 18. Lebensjahr durchliefen, insgesamt nur rund sieben bis acht Prozent in die Partei aufgenommen worden, wobei die Quoten der einzelnen Jahrgänge teilweise höher waren. Vgl. Armin Nolzen, »Vom ›Jugendgenossen‹ zum ›Parteigenossen‹. Die Aufnahme von Angehörigen der Hitler-Jugend in die NSDAP«, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009, 123–150; 149f.

8 Gespräch mit Helmut Schmidt, Hamburg, 17. Dezember 2012.

9 Heinz Bude, Deutsche Karrieren: Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt am Main 1987, 182. Schelsky zit. ebd., 69, 179.

10 Bude 1987, 182.

11 Antwort der Bundesregierung vom 14.12.2011 auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 17/8134.