Lehr- und Studienbriefe
Kriminalistik / Kriminologie
Herausgegeben von
Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,
Klaus Neidhardt, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei
Band 12
Bearbeitung von
Jugendsachen
Von
Horst Clages
und
Prof. Dr. Reingard Nisse
VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH
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1. Auflage 2009
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E-Book
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ISBN 978-3-8011-0610-2 (Buch)
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Die Entwicklung der Kinder- und Jugenddelinquenz ist ein wichtiger Indikator dafür, inwieweit es gelingt, junge Menschen auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft vorzubereiten. Kinder und Jugendliche befinden sich in einem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und -reifung. Dieser wird im besonderen Maße im Verlauf der Sozialisierung durch die Einflüsse von Familie, Schule und Gesellschaft, immer mehr auch der Medien, gestaltet.
Für die Kriminologie war seit jeher die Jugendkriminalität von besonderem Interesse, da sich in der Lebensphase von der Fremd- zur Selbstbestimmung jene Faktoren besonders gut erforschen lassen, die normabweichendes Verhalten befördern bzw. verhindern.
Immer wieder rücken aktuelle Ereignisse, wie Amokläufe von Schülern, brutale Raubüberfälle durch jugendliche Gruppen oder fremdenfeindliche Gewaltstraftaten, Jugendkriminalität in den Fokus der Öffentlichkeit. Häufig kommt es zu verzerrten und überzogenen Schilderungen und es mangelt an einer sachlichen Darstellung.
Aber auch die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik wiesen in den letzten Jahren steigende Kriminalitätsbelastungen bei jungen Menschen und höhere Anteile von Gewaltstraftaten aus. In Deutschland sind Forscher darum bemüht, insbesondere durch Dunkelfeldforschungen ein wirklichkeitsnahes Abbild des delinquenten Verhaltens junger Menschen darstellen zu können.
Sowohl die Erkenntnisse aus diesen Forschungen als auch die Daten aus Kriminalstatistiken bilden eine wesentliche Grundlage für die Konzipierung von Prävention und Intervention auf dem Gebiet der Kinder- und Jugenddelinquenz.
Die Kriminalitätskontrolle in diesem Bereich, verstanden als die Gesamtheit aller Maßnahmen zur Verhinderung und Verfolgung von strafbewehrtem Verhalten junger Menschen, stellt an die Polizei spezifische Anforderungen. Sie ergeben sich aus der bereits erwähnten besonderen Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen, die von deren physischen und psychischen Reifeprozessen sowie vom Einfluss verschiedener Akteure geprägt ist.
Die Polizei nimmt im Rahmen der Kriminalitätskontrolle gegenüber delinquentem Verhalten von Kindern und Jugendlichen die ihr in Gesetzen übertragenen Aufgaben wahr, agiert aber auch unterstützend mit anderen Verantwortungsträgern zusammen.
Der Polizeibeamte kommt in seiner täglichen Dienstverrichtung ständig aus vielfältigen Anlässen mit jungen Menschen in Kontakt.
Das dabei notwendige Einfühlungsvermögen, das sichere rechtlich fundierte Einschreiten, die Einbeziehung der jeweils verantwortlichen Partner sowie die Durchführung der erforderlichen präventiven und repressiven Maßnahmen, setzen vertiefte Kenntnisse sowohl zu den Ursachen und der Entwicklung der Kinder- und Jugenddelinquenz als auch zu den spezifischen Bestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes und der entsprechenden Polizeidienstvorschrift (PDV 382) voraus. Darüber hinaus gilt es nicht nur, strafbares Verhalten von jungen Menschen zu verhindern bzw. zu verfolgen, sondern diese vor Übergriffen, wie z.B. Misshandlungen, Vernachlässigungen, sexuellen Missbräuchen, zu schützen.
Mit diesem Studienbrief bezwecken die Autoren, die wesentlichen Tätigkeitsfelder polizeilicher Jugendarbeit – Kriminalprävention, Jugendschutz durch Gefahrenabwehr, Strafverfolgung von Jugendkriminalität – darzustellen und Polizeibeamte mit dem dazu notwendigen kriminologischen, straf-, polizei-, strafprozessrechtlichen und kriminalistischen Grundwissen auszurüsten.
Der Schwerpunkt der nachfolgenden Darlegungen liegt in der Bereitstellung von Handlungsanleitungen für die im operativen Dienst und im Ermittlungsdienst der Polizei tätigen Beamten.
Horst Clages, Prof. Dr. Reingard Nisse |
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Overath und Bernau, im August 2009 |
Vorwort
1 | Jugendkriminalität – Definitionen und Begriffsbestimmungen |
1.1 | Jugend – eine demografische, soziale und rechtliche Kategorie |
1.2 | Jugendkriminalität – Definition und Beschreibung |
1.2.1 | Definition |
1.2.2 | Struktur und Bewegung der Jugendkriminalität |
1.2.3 | Charakterisierung der Jugendkriminalität |
2 | Täter- und Opferstrukturen, jugendtypische Deliktsfelder |
2.1 | Täterstrukturen |
2.1.1 | Intensivtäter |
2.1.2 | Jugendgruppen und Kriminalität |
2.2 | Minderjährige als Opfer |
2.3 | Jugendspezifische Deliktsfelder |
2.3.1 | Jugend und Gewalt |
2.3.2 | Jugend und Drogen |
2.3.3 | Jugend und Eigentumsdelikte |
2.3.4 | Jugend und politisch motivierte Kriminalität |
3 | Ursachen von Jugendkriminalität, ausgewählte präventive Ansätze |
3.1 | Ursachen von Jugendkriminalität |
3.2 | Präventionsstrategien |
4 | Jugendstrafverfahren |
4.1 | Allgemeine Rechtsgrundlagen |
4.1.1 | Rechtstellung von Minderjährigen und Heranwachsenden |
4.1.1.1 | Besonderheiten im Strafermittlungsverfahren |
4.1.1.2 | Besonderheiten im Bürgerlichen Recht |
4.2 | Grundlagen des Jugendstrafverfahrens |
4.3 | Institutionen im Jugendstrafverfahren |
4.3.1 | Jugendgericht, Jugendstaatsanwalt, Jugendrichter |
4.3.2 | Jugendgerichtshilfe, Jugendhilfe |
4.4 | Verfahrensabschnitte |
4.4.1 | Vorverfahren |
4.4.2 | Hauptverfahren |
4.4.3 | Diversionsverfahren im Jugendrecht |
4.4.4 | Diversionsverfahren nach § 45 JGG |
4.5 | Rechtsfolgen nach dem Jugendgerichtsgesetz |
5 | Polizeiliche Jugendarbeit |
5.1 | Polizeiliche Tätigkeitsfelder |
5.2 | Konzepte polizeilicher Jugendarbeit |
5.2.1 | Organisation der polizeilichen Jugendarbeit |
5.2.1.1 | Grundsatzentscheidungen |
5.2.1.2 | Bildung von Jugendkommissariaten |
5.2.1.3 | Dezentraler Einsatz von Jugendsachbearbeitern |
5.2.1.4 | Einsatz von Jugendbeauftragten |
5.2.1.5 | Flankierende Maßnahmen |
5.3 | Zusammenarbeit mit anderen Behörden und Institutionen |
5.3.1 | Jugendämter |
5.3.2 | Jugendgerichtshilfe |
5.3.3 | Ordnungsbehörden |
5.3.4 | Bewährungshilfe |
5.3.5 | Gesundheitsbehörden/Drogenberatung |
5.3.6 | Schule |
5.4 | Jugendschutz durch Gefahrenabwehr |
5.4.1 | Gefahrenkatalog |
5.4.2 | Polizeiliche Maßnahmen bei Gefährdung Minderjähriger |
5.4.3 | Inobhutnahme nach dem SGB VIII |
5.4.4 | Gefahrenabwehr nach den Jugendschutzgesetzen |
6 | Polizeiliche Ermittlungen in Jugendsachen |
6.1 | Umfang und Ziel der Ermittlungen in Jugendsachen |
6.1.1 | Anforderungen an die Jugendsachbearbeitung |
6.1.1.1 | Allgemeine Grundsätze |
6.1.1.2 | Verfahrensvorschriften |
6.2 | Ermittlungsmaßnahmen |
6.2.1 | Einleitung der Ermittlungen |
6.2.2 | Behandlung von Strafanzeigen in Jugendsachen |
6.2.2.1 | Aufnahme von Strafanzeigen gegen Kinder |
6.2.2.2 | Aufnahme von Antragsdelikten |
6.2.2.3 | Verfolgung von Privatklagedelikten |
6.2.3 | Ermittlungsumfang bei jugendlichen Tatverdächtigen |
6.2.4 | Ermittlungsumfang bei verdächtigen Kindern |
6.3 | Eingriffsmaßnahmen gegenüber Minderjährigen |
6.3.1 | Maßnahmen im ersten Zugriff |
6.3.1.1 | Freiheitsentziehung bei Minderjährigen |
6.3.1.2 | Vorläufige Festnahme, Untersuchungshaft |
6.3.1.3 | Besonderheiten bei Freiheitsentziehung |
6.3.2 | Erkennungsdienstliche Behandlung von Minderjährigen |
6.3.3 | Durchsuchung bei Kindern und Jugendlichen |
6.3.4 | Benachrichtigungspflichten |
6.4 | Vernehmung in Jugendsachen |
6.4.1 | Allgemeine Grundsätze und Hinweise |
6.4.2 | Vernehmungstaktische Grundsätze und Verfahrensregeln |
6.4.3 | Belehrung |
6.4.3.1 | Grundsätze |
6.4.3.2 | Besonderheiten der Belehrung minderjähriger Tatverdächtiger |
6.4.3.3 | Besonderheiten der Belehrung minderjähriger Zeugen |
6.4.4 | Durchführung der Vernehmung |
6.4.4.1 | Vernehmungsatmosphäre |
6.4.4.2 | Vorgespräch |
6.4.4.3 | Vernehmung zur Person |
6.4.4.4 | Vernehmung zur Sache |
6.4.4.5 | Dokumentation der Vernehmung |
6.5 | Gegenüberstellung/Wiedererkennungsverfahren |
6.5.1 | Arten von Gegenüberstellungen |
6.5.2 | Rechtsgrundlagen |
6.5.3 | Verfahrensweisen |
7 | Abschluss der Ermittlungen |
7.1 | Zuführung in die Obhut der Erziehungsberechtigten |
7.2 | Auswertung der Ermittlungsergebnisse |
7.3 | Bearbeitungshinweise nach Abschluss der Ermittlungen |
7.3.1 | Kennzeichnung |
7.3.2 | Schlussbericht |
8 | Minderjährige als Vermisste |
8.1 | Vermisstenstatus |
8.2 | Schutzzweck der Bestimmung |
8.3 | Aufnahme der Vermisstenanzeige |
8.4 | Beurteilung von Vermisstensachen |
8.5 | Ausreißen, Streunen, Vagabundieren |
8.6 | Fahndung nach vermissten Minderjährigen |
8.6.1 | Fahndungsausschreibung |
8.6.2 | Öffentlichkeitsfahndung |
8.7 | Erledigung des Vermisstenfalles |
Literatur
Die Autorin/Der Autor
Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik verdeutlicht es eindringlich: Junge Menschen unter 21 Jahren bestimmen wesentlich die Struktur und Bewegung der Kriminalität im Hellfeld. Sie bilden jahrzehntelang ca. ein Drittel der Tatverdächtigen. Sie sind es, mit denen sich Polizeibeamte bei der Prävention und Repression der Massenkriminalität in erster Linie auseinandersetzen müssen. Polizeibeamte sind in ihrer täglichen Arbeit demzufolge in einem hohen Maße mit der Delinquenz junger Menschen befasst.
Bereits im 19. Jahrhundert entdeckte der Franzose Andre-Michel Guerry de Champneuf (1802-1866), Justizstaatssekretär, die Grundzüge der altersmäßigen Verteilung der Kriminalität. Er stellte fest, dass die Kriminalität ihren Gipfel im Altersbereich von 25 bis 30 Jahren erreicht.1
Diese Aussage trifft auch für die gegenwärtigen Kriminalstatistiken zu. „Dies kann in allen westlichen Ländern seit der Einführung von Kriminalstatistiken, mithin seit mehr als hundert Jahren beobachtet werden.“2 Jugendkriminalität wird heute ganz selbstverständlich sowohl in Rechtsverordnungen, in den Kriminalstatistiken wie auch in sozialwissenschaftlichen Betrachtungen als separater Teil der Gesamtkriminalität angesehen.
Da im Gegensatz zur Bezeichnung gegenstandsbezogener Kriminalität, wie Eigentums-, Wirtschafts- und Umweltkriminalität, sich der Begriff Jugendkriminalität am Alter der Täter orientiert, lässt sich diese Kategorie nur hinreichend erörtern, wenn das Verständnis für die Besonderheiten des Jugendalters Beachtung findet.
Welche Besonderheiten sind es, die letztlich in den rechtlichen Bestimmungen ihre Entsprechung finden und die Arbeit der Polizei mit delinquenten jungen Menschen taktisch und inhaltlich bestimmen?
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Begriff der Jugenddelinquenz, der auf Ergebnissen soziologischer Forschungen zum abweichenden Verhalten von Kindern und Jugendlichen fußte und Straftaten Jugendlicher als ein soziokulturelles Phänomen erfasste.
Jugendstrafrecht basiert auf der Erkenntnis der Entwicklungsphase junger Menschen, die insbesondere durch Identitätsfindung in einem gesellschaftlich normierten Zeitraum geprägt ist.
In der Literatur herrscht weitgehend Einigkeit bezüglich der Auffassung, das Jugendalter sei durch ein Spannungsfeld widersprüchlicher, zumindest vielfältiger Erwartungen, Anforderungen und Angebote gekennzeichnet.3
Jugend ist gemeinhin als Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsensein zu verstehen. Eine eher simple, dennoch allgemeine Beschreibung einer Bevölkerungspopulation, die sich aus sehr unterschiedlichen Individuen mit den vielfältigsten Bindungen und Milieus zusammensetzt.
„Bekanntlich ist die Jugend die Zeit des Übergangs zu neuen Bezugsgruppen, eine Phase der gesteigerten Aktivität und des Kräftezuwachses sowie der Selbstfindung, der Überprüfung überlieferter Werte, der Lebensplanung und Integration.“4 So werden im Wesentlichen folgende jugendtypische Momente als Zeichen für die Unreife und damit mögliche Basisfaktoren für abweichendes Verhalten angesehen: Fehlen von Zielstrebigkeit, planloses impulsives Handeln, Nachahmungstrieb, Geltungsbedürfnis, Leichtsinn, Unbekümmertheit, Anlehnungsbedürftigkeit, naiv-vertrauensseliges Verhalten, spielerische Einstellung zur Arbeit, Erlebnishunger und Geschwindigkeitsrausch.
Die besonderen Merkmale, die junge Menschen in ihrem Selbstfindungsprozess kennzeichnen, bilden die Anknüpfungsmöglichkeiten für kriminalpolitische Strategien. Das spiegelt sich insbesondere in der Intention des Jugendstrafrechts wider, das Erziehung statt Strafe postuliert.
Die Jugend als demografische Gruppe ist vorrangig abhängig davon, inwieweit ihr von der Gesellschaft ein eigenständiger Status zugestanden wird. Diese Eigenständigkeit der Jugend hat sich historisch entwickelt. Erwachsen wurde man in der Geschichte auf immer andere Art und Weise – in Lehr- und Wanderjahren, in Lehrausbildung unterschiedlicher Zünfte, als Student, als Wehrdienstleistender u.a.5
Gegenwärtig wird deutlich, wie sich die Größenordnung dieser Bevölkerungsgruppe in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bewegt. Wirtschaftliche Umbruchsituationen, aber auch das Streben nach ungetrübtem Wohlstand haben in Deutschland zu einer rückläufigen Geburtenentwicklung und Überalterung der Bevölkerung geführt.
Soziologisch betrachtet geht es um die vorrangige Charakterisierung der Jugend hinsichtlich Ihres Platzes in der Gesellschaft.
Dieser lässt sich wie folgt beschreiben:
Jugendliche sind noch nicht völlig sozialisiert. Trotz psychischer und materieller Abhängigkeit von der Familie vollzieht sich ein Wechsel der Bezugsgruppen, der Prozess des Ablösens aus der Ursprungsfamilie.
„Die Jugendphase ist in dieser Sicht ein Lebensabschnitt, der durch ein Nebeneinander von noch unselbständigen, quasi kindheitsgemäßen, und selbständigen, quasi schon erwachsenengemäßen Handlungsanforderungen charakterisiert ist.“6
Widersprüche erwachsen in diesem Prozess insbesondere aus dem Bestreben nach mehr Selbstständigkeit und der weiteren Notwendigkeit des Erziehungseinflusses der Eltern. Letztere werden, wie insgesamt die Erwachsenen, durch die Jugendlichen kritischer bewertet.
„Jugendzeiten werden durch die jeweilige Dauer der Schuljahre, des Wehrdienstes, durch längere oder kürzere Ausbildungszeiten, die Zuerkennung von Wahlrechten u. a. m. gesellschaftlich festgelegt.“7
Jugendliche orientieren sich wesentlich auch außerhalb des Elternhauses, vor allem an Gleichaltrigen, in der Peergroup. Neue Verhaltensstile werden entwickelt.
Zunehmend ist die Jugend Zielgruppe ganzer Industriezweige geworden, die jugendspezifische Interessen ansprechen oder auch wecken wollen.
Jugendliche überprüfen überlieferte Werte der Erwachsenenwelt, sie entwerfen ihre Lebensplanung und besetzen eigenständige Interessenfelder, streben nach eigenständiger Verantwortungswahrnahme. Dieser Prozess verläuft nicht konfliktfrei, da Jugendliche aus der Sicht der Erwachsenen beurteilt und an deren Maßstäben gemessen werden. Vor allem in der Familie fällt es den Eltern oft schwer, Fürsorge zurückzunehmen und das „Kind“ als gleichberechtigt anzuerkennen.
In Betrachtung der körperlich-biologischen Merkmale wird das Jugendalter als Adoleszenz bezeichnet. Ein Begriff, der Jugend aus entwicklungsphysiologischer Sicht charakterisiert.
Die Adoleszenz wird durch die körperliche Geschlechtsreifung (Pubertät) geprägt, die bei der Mehrzahl der Menschen im Altersbereich zwischen 11 und 20 Jahren stattfindet, wobei erhebliche Unterschiede des Verlaufs, zum einen zwischen Jungen und Mädchen zum anderen zwischen den einzelnen Personen, auftreten. Oft entsteht eine Diskrepanz zwischen dem äußeren, oft schon erwachsen wirkenden Erscheinungsbild und der Persönlichkeitsreife.
Das in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende höhere Körperwachstum, wird mit dem Begriff Akzeleration (Beschleunigung) gekennzeichnet.
Neben den bereits erwähnten soziologischen Bezügen ergeben sich aus diesen biologischen Abläufen gleichsam zum Teil erhebliche seelische Konflikte.8
Eine neue Beziehung zum anderen Geschlecht, eine andere Rolle in der Familie, höhere Sensibilität gegenüber der Annahme durch andere Bezugspersonen begleiten diese Phase der körperlichen und geistigen Umgestaltung, die in der Jugendzeit beschleunigt abläuft.
Während in der Kindheit emotionales Grundvertrauen aufgebaut wird, Intelligenz, motorische und sprachliche Fähigkeiten sowie grundlegende soziale Kompetenz entwickelt werden, entstehen im Jugendalter Fähigkeiten zur selbstständigen Leistungserbringung und Gestaltung der Sozialkontakte, wie intellektuelle und soziale Kompetenz, eigene Geschlechtsrolle sowie Partnerfähigkeit und Entwicklung eines Norm- und Wertesystems, auch Selbstkonzept genannt.9
Trotz dieser, das Jugendalter kennzeichnenden Merkmale darf nicht übersehen werden, dass der Begriff „Jugend“ nur ein vager Sammelbegriff für eine bestimmte Lebensphase darstellen kann. Die Jugendlichen und Heranwachsenden „sind keine einheitlichen Gruppen, die für alle Zeiten gleich bleiben. Es gibt keine festen, klar erkennbaren Entwicklungsetappen, sondern nur eine alles andere als gleichmäßige fortlaufende Entwicklung jedes einzelnen Menschen.“10 Insofern ist eine altersmäßige Eingrenzung fußend auf biologischen Prozessen oder bezüglich der Sozialisation als „Erwachsener“ nur im Einzelfall feststellbar.
„Der Prozess des Erwachsenwerdens hat je nach der sozialen Stellung des Jugendlichen und der seiner Eltern … den psycho-sozialen Bedingungen und Belastungen und je nach der gesamten örtlichen und zeitgeschichtlichen Situation eine sehr unterschiedliche Gestalt.“11 Im Wechsel von Bezugsgruppen und Lebensfeldern erfolgt die Suche nach Halt und Orientierung. In diesem Prozess nehmen die bereits erwähnten Gleichaltrigengruppen (Peergroups) eine zentrale Rolle ein, von denen durchaus positive Wirkungen ausgehen.
Labile Entwicklungen während der Adoleszenzphase brauchen nicht unbedingt zu einer Adoleszenzkrise zu führen. Die meisten Jugendlichen sind mit ihrem Status sehr zufrieden.12
Das persönliche Leistungsvermögen, der familiäre Rückhalt und die sozialstrukturellen Bedingungen sind beim Einzelnen höchst unterschiedlich. Er muss jedoch einen sozial akzeptablen Weg suchen, gesetzeskonform seine individuellen psychischen, physiologischen und intellektuellen Fähigkeiten seinem Leistungsvermögen entsprechend auf dem Weg in das Erwachsensein einzusetzen.
Das Ende der Jugendphase ist somit offen, kann mit Einstieg in das Beschäftigungssystem und Aufbau einer stabilen Partnerbeziehung bis zum Alter von 21 oder sogar bis zu 30 Jahren dauern.13
Der Begriff „Kriminalität“ umfasst die Summe aller mit Strafe bedrohten Handlungen in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Gebiet.
Das deutsche Strafrecht kennt keine Straftatbestände, die besonders auf Jugendliche ausgerichtet sind. Zwar werden einige Delikte, wie Graffiti-Sprayen, Vandalismus, „Abziehen“, Konsum von Drogen insbesondere von jungen Menschen begangen, finden ihre strafrechtliche Entsprechung aber in den Normen Sachbeschädigung, Raub bzw. räuberische Erpressung und Verstöße gegen des Betäubungsmittelgesetz.
Der Begriff Jugendkriminalität setzt zunächst voraus, dass das abweichende Verhalten junger Menschen unter einen allgemeinen Straftatbestand subsumiert werden kann und letztlich zur Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden gelangt.
Die Unterscheidung findet in der Sanktionierung statt. Das Jugendstrafrecht verfügt über ein geschlossenes eigenes Sanktionssystem, das bevorzugt auf erzieherische Maßnahmen ausgerichtet ist.
„Wegen der – teilweisen – Abkoppelung von Strafen, jedoch der gleichzeitigen Anbindung an die strafrechtlichen Deliktstatbestände spricht man auch von dem Jugendkriminalrecht.“14
Es weist dadurch eine enge Verknüpfung mit dem Jugendhilferecht, dem Sozialrecht und teilweise mit dem Ausländerrecht auf.
Da die Bezeichnung „Jugend“ von der Beschreibung spezifischer Persönlichkeitsmerkmale ausgeht, müssen diese in die Definition der Jugendkriminalität einfließen. Kerner beschreibt in dem Lehr- und Studienbrief „Jugendkriminalität“15, wesentliche historische Eckpfeiler der Entwicklung des Jugendkriminalrechts. Hier wird das Bemühen deutlich, in die jugendstrafrechtliche Betrachtung die Besonderheiten des jugendlichen Rechtsbrechers einfließen zu lassen und neben der Tat vor allem die Täterpersönlichkeit zu berücksichtigen.
Kreuzer führt dazu aus: „Gerade in dieser Altersstufe (14 bis 21, der Verf.) muss es darum gehen, junge Menschen behutsam an die Strafrechtsordnung für Erwachsene heranzuführen, den Übergang in die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit gleitend zu gestalten, Erziehung an die Stelle des Strafens treten zu lassen oder mit diesem bestmöglich zu verbinden. Die Verquickung vorrangig jugendhilferechtlicher mit strafenden Bestandteilen in Verfahren und Rechtsfolgen hat sich bewährt.“16
Die Definition des Jugendalters durch Altersgrenzen ist rechtlich geboten, aber sie gibt nicht ausreichend Antwort auf die Frage nach der Entwicklungsreife der Person.
So kann zum Beispiel das „Alter der Person“ vom eigentlichen „Lebensalter“ erheblich abweichen, da der Prozess der biologischen Entwicklung des Menschen individuell verschieden abläuft.
Diese Betrachtungsweise führte zu abgestuften juristischen Reaktionsmöglichkeiten auf Kinder- und Jugenddelinquenz.
Eine untere Altersbegrenzung findet die Jugendkriminalität mit der Regelung des § 19 Strafgesetzbuch (StGB): „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“
Des Weiteren verweist das StGB mit § 10 auf Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende. Diese Sondervorschriften sind im Jugendgerichtsgesetz (JGG) als Spezialgesetz hinsichtlich der Rechtsfolgen und einiger Voraussetzungen bezüglich der Schuldfähigkeit verankert.
Gemäß den §§ 1, 3 und 105 JGG sind strafrechtlich folgende Altersgruppen zu unterscheiden:
14 bis unter 18 Jahre: Jugendliche,
18 bis unter 21 Jahre: Heranwachsende.
(Siehe auch die Ausführungen zu Kapitel IV, Jugendstrafverfahren.)
Streng genommen dürfte sich der Begriff Jugendkriminalität nur auf die Gesamtheit der jungen Menschen im Altersbereich zwischen 14 bis unter 18 Jahren beziehen. Das Jugendgerichtsgesetz lässt durch § 105 aber die Anwendung des Jugendstrafrechts unter bestimmten Voraussetzungen auch für Heranwachsende zu. Jugendkriminalität im engeren Sinne bezieht sich somit auf alle strafbaren Handlungen der 14- bis unter 18-Jährigen. In Statistiken und Analysen zur Jugendkriminalität werden die Heranwachsenden mit einbezogen, da deren Straftaten häufig als Jugendverfehlungen bewertet werden.
Kinder und Jugendliche bis unter 18 Jahre gelten als Minderjährige. Ab dem vollendeten 18. Lebensjahr gilt die Volljährigkeit, Deliktsfähigkeit und volle Geschäftsfähigkeit (§§ 2, 828 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), § 3 JGG).
Bei der Bearbeitung von Jugendsachen ist die strafrechtliche Verantwortungsreife (§ 3 JGG) der Jugendlichen zu prüfen und festzustellen, ob in der Tat schädliche Neigungen hervorgetreten sind (§ 17 JGG).
Bei Heranwachsenden findet das Jugendstrafrecht gem. § 105 JGG Anwendung, wenn
„1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleich stand oder
2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.“
(Weitergehende Ausführungen enthält Kapitel IV, Jugendstrafverfahren, Ziff. 4.1.1.1, Besonderheiten im Strafermittlungsverfahren).
Obwohl Kinder nicht strafmündig sind, ist es aufgrund der unterschiedlichen Persönlichkeitsentwicklungen junger Menschen erforderlich, die Begehung von Straftaten durch Kinder, soweit sie überhaupt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erscheinen können, mit zu analysieren. Zweckmäßigerweise beziehen sich polizeiliche Analysen immer komplex auf Kinder- und Jugenddelinquenz.
Wirksame Kontrolle der Jugendkriminalität bedarf der Kenntnis ihrer Quantität und Qualität.
Aussagen zur Kinder- und Jugenddelinquenz sind jedoch insofern problematisch, als einerseits gerade in diesem Bereich das Dunkelfeld sehr hoch ist.
Andererseits begehen Kinder und Jugendliche bevorzugt Straftaten, die der Straßenkriminalität angehören, d.h. in einem für die Polizei leicht zugänglichen öffentlichen Raum. Junge Menschen sind, soweit sie erstmalig Straftaten begehen, eher geständig und einfacher zu überführen. Steigende Aufklärung kann demzufolge einen Anstieg gerade im Bereich der registrierten Kinder- und Jugenddelinquenz bewirken, zumal höhere Aufklärungsquoten insbesondere bei Ladendiebstahl und gefährlichen sowie schweren Körperverletzungen zu verzeichnen sind, Straftaten, die durch Täter aus diesem Altersbereich dominiert werden.
Die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren von einem deutlichen Anstieg der durch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende begangenen Straftaten gekennzeichnet.
Während die Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) bei den Erwachsenen seit 1984 fast konstant geblieben sind, stiegen die der jungen Menschen in allen drei Altersbereichen seit 1990 stark an.
So betrug die TVBZ im Jahr 1987 für die deutschen Kinder 1 185,8, erreichte im Jahr 1998 mit 2 416,9 ihren Höhepunkt und sank allmählich bis zum Jahr 2008 auf 1 878,5 ab. Bei den deutschen Jugendlichen lag die TVBZ 1987 bei 3 476,9, stieg abgesehen von leichten Schwankungen bis zum Jahr 2001 auf 7 416,3 an. Seit dem sinkt sie ungleichmäßig und erreichte im Jahr 2008 den Wert 6 972,8. Die deutschen Heranwachsenden verzeichneten im Jahr 1987 eine TVBZ von 4 227,9. Diese steigerte sich bis zum Jahr 2004 auf 7 921,2. Danach setzte eine Rückläufigkeit ein. Im Jahr 2008 betrug die TVBZ der Heranwachsenden 7 362,1.17 Für die Erwachsenen wurde im Jahr 2008 eine TVBZ von 2 159,7 registriert.
Der Verlauf der Tatverdächtigenbelastungszahlen Jugendlicher und Heranwachsender zeigt bei den Diebstahlsdelikten seit Ende der neunziger Jahre einen deutlich rückläufigen Trend. Bei den Drogendelikten ist für die Heranwachsenden eine starke Steigerung zu erkennen. Jugendliche und Heranwachsende weisen nach wie vor steigende Tendenzen bei Körperverletzungsdelikten, vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität (schwere und gefährliche Körperverletzungen) auf. Dunkelfeldforschungen hatten zum Ergebnis, dass die Statistik offensichtlich aufgrund erhöhter Anzeigenbereitschaft eine Zunahme der Gewaltkriminalität signalisiert, die eine stärkere Aufhellung des Dunkelfeldes darstellt und nicht einen tatsächlichen Anstieg von Gewalt beinhaltet.
Für langfristige Entwicklungen der Tatverdächtigenbelastungszahlen spielen unter anderem demografische Entwicklungen eine Rolle.
Kinder- und Jugenddelinquenz ist überwiegend männlich. Der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen ist bei den Kindern mit 28,7 % und den Jugendlichen mit 28,8 % im Jahre 2008 deutlich höher als bei den Heranwachsenden mit 21,2 % (bei den Erwachsenen liegt er bei 24,4 %).
Im Jahr 2008 betrug der Anteil der tatverdächtigen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden an der Gesamtzahl der Tatverdächtigen 26,8 %. Im Jahre 2001 bezifferte sich dieser Anteil noch auf 30 %, wobei sich die Gesamtzahl der Tatverdächtigen von 2007 zu 2008 um 1,7 % verringerte (2 255 693).
Abbildung 1: Tatverdächtige der Altersgruppen bei Tatverdächtigen insgesamt
Quelle: Bundesministerium des Innern: Polizeiliche Kriminalstatistik 2008, S. 32
Bei Betrachtung im mittelfristigen Vergleich ist in allen drei Altersgruppen in den letzten vier Jahren eine rückläufige Tendenz erkennbar.
Im Jahr 2008 betrug der Anteil der Kinder an den Tatverdächtigen 4,5 % (101 389). Bei Kindern dominiert eindeutig der Ladendiebstahl, der im Jahr 2008 einen Anteil von 40,6 % (deutsche Kinder) aufwies.
54,7 % der durch tatverdächtige Kinder begangenen Straftaten beziehen sich auf Diebstahlsdelikte.
An zweiter und dritter Stelle der Häufigkeit befinden sich laut Statistik bei tatverdächtigen Kindern Sachbeschädigungen und Körperverletzungsdelikte.
Abbildung 2: Entwicklung tatverdächtiger Kinder
Quelle: Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2007, S. 75 mit der Ergänzung aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2008 (Bundesministerium des Innern), S. 11
Der Anteil der Jugendlichen an den Tatverdächtigen insgesamt im Jahr 2008 betrug 11,8 % (265 771) und weist damit wie von 2006 zu 2007 eine sinkende Tendenz auf (- 4,2 % gegenüber dem Vorjahr).
Bei den Jugendlichen bilden 2008 die Eigentumsdelikte den höchsten Anteil (42,4 %), insbesondere Ladendiebstähle (22,9 %), und die Körperverletzungsdelikten (24,4 %).
Erfreulicherweise setzte sich der Anstieg der Gewaltkriminalität Jugendlicher im Jahre 2008 nicht fort (- 5,9 %).