Lehr- und Studienbriefe
Kriminalistik / Kriminologie
Herausgegeben von
Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.
Klaus Neidhardt, Präsident der Deutschen Hochschule der Polizei
Band 8
Tatortarbeit
Von
Dr. Holger Roll
VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH
Buchvertrieb
Forststraße 3a • 40721 Hilden • Telefon 02 11 / 71 04-212 • Fax -270
E-Mail: vdp.buchvertrieb@VDPolizei.de • Internet: www.VDPolizei.de
1. Auflage 2008
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2008
E-Book
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2013
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden
ISBN 978-3-8011-0577-8 (Buch)
ISBN 978-3-8011-0690-4 (E-Book)
Besuchen Sie uns im Internet unter:
www.VDPolizei.de
Vorwort
Kriminalistische Tatortarbeit ist ein Thema, das bereits von mehreren Autoren in verschiedenen Formen in der Fachliteratur dargeboten wurde. So ist es eine große Herausforderung, neue Aspekte der Tatortarbeit aufzuzeigen, die bisher wenig oder gar nicht dargestellt worden sind und diese mit den bewährten kriminaltaktischen Vorgehensweisen der Tatortarbeit zu verbinden. Diesem Versuch widmet sich dieses Buch, um so auch seinem Anspruch als Lehr- und Studienbrief gerecht zu werden.
Gegenstand der Darstellung sind die theoretischen Grundlagen der Tatortarbeit, die in dieser Ausführlichkeit und Komplexität (bis auf einzelne Ausnahmen) kaum zu finden sind. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, die theoretische Kriminalistik, die als Teilgebiet der Kriminalistik eher ein Schattendasein führt, etwas in den Vordergrund zu rücken und zu „reanimieren“.
Ein zweiter Gesichtspunkt soll hervorgehoben werden: Mit der Darstellung der Tatortarbeit in der vorliegenden Art und Weise wird der interdisziplinäre Ansatz der Kriminalistik deutlich. Methoden und Verfahren der Erkenntnistheorie, der Psychologie, der Informationsverarbeitung, der Logik, der Einsatzlehre und spezifische kriminalistische Aspekte prägen die Tatortarbeit. Es wird der Bezug dieser Faktoren untereinander hergestellt und der Einfluss auf die kriminalistische Vorgehensweise am Tatort erläutert.
Ein drittes Themenfeld, das in diesem Buch abgehandelt wird, sind Fehlerbetrachtungen zur Tatortarbeit. Das Besondere daran ist die Verknüpfung und Darstellung von Fehlermöglichkeiten, die sowohl in der theoretischen oder gedanklichen Tätigkeit als auch in der praktischen Umsetzung der einzelnen Ermittlungshandlungen am Tatort auftreten können. Die Kenntnis über diese Fehler und Gefahren kann helfen, sie zu verhindern und situationsangepasst im Rahmen der Tatortarbeit tätig zu werden.
Im letzten Abschnitt sind spezifische Maßnahmen, die am Tatort realisiert werden, beschrieben und erläutert. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass damit deutlich wird, dass die Tätigkeit am Tatort im Ermittlungsverfahren (u.U. auch im Gerichtsverfahren) nicht nur auf den Ersten Angriff beschränkt bleiben muss, sondern auch im weiteren Verlauf der Ermittlungen wiederholte Bedeutung erlangen kann. Dieser Aspekt scheint bisher in der kriminalistischen Fachliteratur eher weniger Beachtung erfahren zu haben. Vielleicht bietet sich auch die Möglichkeit, dieses Themenfeld auszubauen und in entsprechender Fachliteratur weiter aufzuarbeiten.
Neben diesen Besonderheiten finden sich die wesentlichen, bewährten und bekannten Aspekte der taktisch – methodischen Vorgehensweise am Tatort in Verbindung mit den Rechtsgrundlagen der Tatortarbeit wieder. Ergänzt wird diese Darstellung durch Musterprotokolle, die einen Anhalt für eine beweiskräftige Dokumentation der Tatortarbeit liefern sollen.
Der vorliegende Band soll somit dem Praktiker Unterstützung und Nachschlagewerk sein und dem, sich mit dem Thema Tatortarbeit Beschäftigenden (z. B. Studenten, Dozenten), theoretische Grundlagen und Hintergründe liefern.
Abschließend sei mir noch ein ganz persönlicher Dank an meine Ehefrau Regina gestattet, die mich großartig unterstützt hat und sehr viel Geduld aufbringen musste.
Dr. Holger Roll
Karstorf, im Januar 2008
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 | Begriffe und Bedeutung der Tatortarbeit |
1.1 | Begriffe |
1.1.1 | Der juristische Tatortbegriff |
1.1.2 | Der kriminalistische Tatortbegriff |
1.1.3 | Tatortarbeit |
1.2 | Bedeutung des Tatortes |
2 | Theoretische Grundlagen der Tatortarbeit |
2.1 | Erkenntnistheoretische Aspekte |
2.1.1 | Kriterien des kriminalistisch relevanten Ereignisses |
2.1.2 | Der kriminalistische Erkenntnisprozess am Tatort |
2.1.2.1 | Einführung |
2.1.2.2 | Materielle Widerspiegelungen |
2.1.2.2.1 | Veränderungen am Tatort |
2.1.2.2.2 | Spuren |
2.1.2.3 | Die ideellen Widerspiegelungen des Ereignisses am Tatort |
2.2 | Psychologische und allgemein-methodische Grundlagen der Tatortarbeit |
2.2.1 | Allgemeines |
2.2.2 | Gedächtnisprozesse |
2.2.2.1 | Wahrnehmung |
2.2.2.2 | Einprägen/Speichern |
2.2.2.3 | Aktualisierung von Gedächtnisinhalten |
2.3 | Die gedankliche Tätigkeit am Tatort |
2.3.1 | Einführung |
2.3.2 | Analyse / Synthese |
2.3.3 | Vergleich |
2.3.4 | Logische Aspekte der gedanklichen Tätigkeit am Tatort |
2.3.4.1 | Einführung |
2.3.4.2 | Induktion |
2.3.4.3 | Deduktion |
2.3.4.4 | Analogieschluss |
2.3.5 | Die Modellbildung am Tatort |
2.3.6 | Versionsbildung am Tatort |
2.4 | Informationsverarbeitende Aspekte der Tatortarbeit |
2.4.1 | Einleitung |
2.4.2 | Informationssammlung |
2.4.3 | Informationserfassung / Informationsanalyse / Informationsbewertung |
2.4.4 | Informationsspeicherung |
2.4.5 | Systematisierung der Informationen |
2.4.6 | Weitere Arbeit mit den Informationen |
3 | Rechtliche Grundlagen der Tatortarbeit |
3.1 | Allgemeines |
3.2 | Ermittlungshandlungen am Tatort |
3.2.1 | Identitätsfeststellung |
3.2.2 | Informatorische Befragung und Vernehmung |
3.2.3 | Sicherung des Tatortbefundes zu Beweiszwecken |
3.2.4 | Einzuleitende Maßnahmen bei Störhandlungen |
4 | Einsatztaktische Aspekte der Tatortarbeit |
4.1 | Einführung |
4.2 | Sicherungsangriff |
4.2.1 | Definition und Phasen des Sicherungsangriffs |
4.2.2 | Einleitungsphase |
4.2.3 | Aufklärung |
4.2.4 | Erste Ermittlungshandlungen und einzuleitende Maßnahmen |
4.2.5 | Schutz und Sicherung des Tatortes |
4.3 | Auswertungsangriff |
4.3.1 | Definition und Phasen des Auswertungsangriffs |
4.3.2 | Einleitungsphase des Auswertungsangriffs |
4.3.3 | Aufklärung am Tatort |
4.3.4 | Aufnahme des Tatortbefundes |
4.3.5 | Einleitung von direkt vom Tatort ausgehenden Maßnahmen |
4.3.6 | Dokumentation der Ergebnisse der Tatortbefundaufnahme |
4.3.7 | Auswertung der Ergebnisse des Tatortbefundes |
4.4 | Abschluss des Ersten Angriffs |
5 | Kriminaltaktische und methodische Grundlagen der Tatortarbeit |
5.1 | Allgemeines |
5.2 | Methodisches Vorgehen am Tatort |
5.2.1 | Tatortsicherung |
5.2.1.1 | Begriff und Ziele der Tatortsicherung |
5.2.1.2 | Erste Situationsanalyse |
5.2.1.3 | Feststellen und Bestimmen der Tatortgrenzen |
5.2.1.4 | Absperren des Tatortes |
5.2.1.5 | Schutz des objektiven Tatortbefundes |
5.2.1.6 | Schutz des subjektiven Tatortbefundes |
5.2.2 | Tatortbesichtigung |
5.2.2.1 | Begriff und Ziele der Tatortbesichtigung |
5.2.2.2 | Eigene Wahrnehmungen des Ermittlungsbeamten |
5.2.2.3 | Entgegennahme des Berichtes des Leiters der Sicherung des Tatortes |
5.2.2.4 | Befragung / Vernehmung von Tatortberechtigten |
5.2.2.5 | Einsichtnahme in Unterlagen |
5.2.2.6 | Gedankliche Rekonstruktion des Sachverhalts |
5.2.3 | Die Tatortuntersuchung |
5.2.3.1 | Begriff und Ziele der Tatortuntersuchung |
5.2.3.2 | Die Beschreibung der Tatortsituation |
5.2.3.3 | Spurensuche |
5.2.3.4 | Die Spurensicherung |
5.2.3.5 | Operative Spurenauswertung |
5.2.4 | Ermittlungen im Wahrnehmbarkeitsbereich |
5.2.4.1 | Begriff und Ziele der Ermittlungen im Wahrnehmbarkeitsbereich |
5.2.4.2 | Analyse der Begehungsweise |
5.2.4.3 | Festlegen der Ermittlungsbereiche |
5.2.4.4 | Ermittlung und Befragung von Personen |
5.2.4.5 | Die Wertung der Aussage |
5.2.4.6 | Dokumentation des subjektiven Tatortbefundes |
5.2.5 | Informationsauswertung |
5.2.5.1 | Begriffe und Ziele der ersten Informationsauswertung |
5.2.5.2 | Bewertung objektiver und subjektiver Beweismittel |
5.2.5.3 | Vergleich der Erkenntnisse mit der Situation am Tatort |
5.2.6 | Einleitung erster vom Tatort ausgehender Maßnahmen |
5.2.7 | Dokumentation |
5.2.7.1 | Begriff und Ziele der Tatortdokumentation |
5.2.7.2 | Formen der Dokumentation |
5.3 | Typische Fehler und Mängel bei der Tatortarbeit |
5.3.1 | Einführung |
5.3.2 | Nichterkennen von relevanten Informationen |
5.3.3 | Falsche Zuordnung und Interpretation von Informationen |
5.3.4 | Falsche örtliche Eingrenzung des Tatortes |
5.3.5 | Nichterkennen der eigentlichen Charakters des Ortes |
5.3.6 | Subjektives Ausfüllen von Lücken im wahrgenommenen Material |
5.3.7 | Einseitige Versionsbildung und -festlegung |
5.3.8 | Zu zeitiges Festlegen auf den Charakter des Ereignisses |
5.3.9 | Beeinflussung durch soziale Faktoren und durch Mediendarstellungen |
5.3.10 | Selektive Informationsauswahl und -speicherung |
5.3.11 | Unvollständige Speicherung und Aussonderung von relevanten Daten |
5.3.12 | Fehler bei der Anwendung logischer Verfahren |
5.3.13 | Fehler bei der kriminaltaktischen Vorgehensweise am Tatort |
5.3.14 | Fehler bei der Anwendung kriminaltechnischer Verfahren |
5.3.15 | Fehler bei der Dokumentation |
6 | Besondere Ermittlungshandlungen am Tatort |
6.1 | Allgemeines |
6.2 | Einsatz eines Fährtenhundes |
6.3 | Kriminalistische Rekonstruktion |
6.4 | Untersuchungsexperimente |
6.5 | Wiederholtes Aufsuchen des Tatortes im Rahmen der Ermittlungen |
Anlagen
Zum Autor
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
AFIS |
Automatisches Fingerabdruckidentifizierungssystem |
AZ |
Aktenzeichen |
Bd. |
Band |
BGB |
Bürgerliches Gesetzbuch |
BGBl. |
Bundesgesetzblatt |
BGH |
Bundesgerichtshof |
BKA |
Bundeskriminalamt |
bzw. |
beziehungsweise |
ca. |
zirka |
d.h. |
das heißt |
DNA |
Desoxyribinukleinsäure |
ED |
Erkennungsdienst |
etc. |
et cetera |
e.V. |
Eingetragener Verein |
evtl. |
eventuell |
ff. |
fortfolgende |
FH |
Fachhochschule |
geb. |
geboren |
gem. |
gemäß |
GG |
Grundgesetz |
ggf. |
gegebenenfalls |
GmbH |
Gesellschaft mit beschränkter Haftung |
GVG |
Gerichtsverfassungsgesetz |
Hrsg. |
Herausgeber |
i.d.F. |
in der Fassung |
i.V. |
in Verbindung |
i.V.m. |
in Verbindung mit |
i.S. |
im Sinne |
Jur. |
juristisch |
Kfz |
Kraftfahrzeug |
LF |
Leitfaden |
lfd. |
laufend |
LKA |
Landeskriminalamt |
LKÄ |
Landeskriminalämter |
Nr. |
Nummer |
o.g. |
oben genannt |
OWiG |
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten |
PDV |
Polizeidienstvorschrift |
Pkt. |
Punkt |
Rdnr. |
Randnummer |
RiStBV |
Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren |
RiVASt |
Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten |
S. |
Seite |
sog. |
sogenannt |
StGB |
Strafgesetzbuch |
StPO |
Strafprozessordnung |
Tel.−Nr. |
Telefonnummer |
Tgb.−Nr. |
Tagebuchnummer |
u. |
und |
u.a. |
und andere |
u.ä. |
und ähnlichen |
u.U. |
unter Umständen |
usw. |
und so weiter |
Vgl. |
vergleiche |
ViCLAS |
Violent crime linkage system |
whft. |
wohnhaft |
z.B. |
zum Beispiel |
z.T. |
zum Teil |
1 Begriffe und Bedeutung der Tatortarbeit
1.1 Begriffe
1.1.1 Der juristische Tatortbegriff
Voraussetzung für die Beschreibung der Tatortarbeit ist die Definition des Tatortes.
Der Tatort kann begrifflich nach juristischen und kriminalistischen Gesichtspunkten unterschieden werden.
§ 9 Absatz 1 StGB beschreibt den Tatort im juristischen Sinn. Demnach sind folgende Orte zu unterscheiden:
– Orte, an denen der Täter durch aktives Tun den Tatbestand verwirklicht hat oder bei Unterlassungsdelikten hätte handeln müssen (Tätigkeitstheorie),
– Orte, an denen der Erfolg einer Straftat durch aktives Tun oder durch Unterlassen eingetreten ist (Erfolgstheorie),
– Orte, an denen nach Vorstellung des Täters der Erfolg einer Straftat hätte eintreten sollen (Distanztheorie)1).
Diese Tatortbestimmung gilt auch für Teilnehmer2) einer Straftat (gem. § 9 Absatz 2 StGB). Für Anstifter oder Gehilfen ist neben dem Ort der Handlung des Haupttäters auch der Ort ihrer eigenen Handlungen als Tatort zu bezeichnen.
Sind Versuchs- oder Vorbereitungshandlungen vom Tatbestand mit erfasst, so fallen auch die Orte, an denen gehandelt oder Handlungen unterlassen wurden, unter den juristischen Tatortbegriff.
Eine territoriale Eingrenzung des juristischen Tatorts lässt sich aus dem Geltungsbereich des StGB ableiten. Es gehören dazu:
– Straftaten im Inland (§ 3 StGB),
– Straftaten auf Schiffen und in Luftfahrzeugen (§ 4 StGB),
– Straftaten im Ausland
– Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter (§ 5 StGB),
– Auslandstaten gegen internationale Rechtsgüter (§ 6 StGB),
– Auslandstaten allgemein (§ 7 StGB).
Für kriminalistische Zwecke ist jedoch der juristische Tatortbegriff nicht ausreichend. Deutlich wird dies, wenn Vorbereitungs- bzw. Versuchshandlungen nicht dem Tatbestand zugeordnet werden. Die Orte dieser Handlungen fallen nicht unter den juristischen Tatortbegriff. Aus kriminalistischer Sicht sind diese Orte jedoch in die Ermittlungen einzubeziehen.
1.1.2 Der kriminalistische Tatortbegriff
Der kriminalistische Tatortbegriff wird nicht einheitlich gebraucht.
Nach Trenschel3) umfasst der kriminalistische Tatortbegriff neben der eigentlichen Tatphase auch die Orte der Vor- und Nachbereitungsphase.
Clages4) unterscheidet den Tatort im „engeren“ (Ort an dem sich die Tat unmittelbar ereignet hat) und „weiteren Sinn“ (Örtlichkeiten, die mit den Ereignissen im Zusammenhang stehen).
Es ist problematisch, „den Tatort so weit zu fassen, dass jeder Ort, an dem kriminalistisch gehandelt wird, als kriminalistischer Tatort stilisiert wird. Da jede Tätigkeit eines kriminalistisch Arbeitenden (wie jede andere Tätigkeit auch) orts- und zeitbezogen erfolgt, wäre er außerhalb der Diensträume nur noch an Tatorten anzutreffen. Es ist ersichtlich, dass dadurch der originäre Tatortbegriff verwässert und die strenge Methodik der Tatortarbeit ad absurdem geführt wird“5).
Auch aus rechtlicher Sicht bedeutet dies, dass tatsächlich alle durchzuführenden Handlungen unter den Komplex Tatortarbeit fallen würden. Für einige Ermittlungshandlungen gibt es jedoch spezialgesetzliche, konkrete Regelungen (z. B. Durchsuchung/Beschlagnahme), die sich von denen der Tatortarbeit unterscheiden.
Aus praktischer Sicht ist eine solche theoretische Auseinandersetzung weniger relevant. Wichtig ist, dass die Zu- und Abgangswege oder auch Orte, an denen tatrelevante Gegenstände zu finden sind, in die Überlegungen zur Tatortarbeit einbezogen und in der Durchführung der Ermittlungshandlungen berücksichtigt werden.
Für die Darstellung der taktisch-methodischen Aspekte der Tatortarbeit empfiehlt sich die Definition nach Burghardt6):
Tatort ist der „Ort, an dem sich die kriminalistisch und strafrechtlich bedeutsame Handlung ereignet hat. Dabei wird unterschieden in T. im engeren Sinne, d. h. dem Ort, an dem sich die Tat unmittelbar ereignet hat und Veränderungen in der Außenwelt (Spuren) im Zusammenhang mit dem Geschehen erwartet werden können (z. B. Kampfspuren, Kontaktspuren, Anhaftungen bei Tätern und Opfern, Blut- oder Sekretspuren, Fingerabdrücke, Fußabdrücke, aber auch verschobene Teppiche, zerstörte/beschädigte Einrichtungen usw.); T. im weiteren Sinne, d. h. Zu- und Abgangsmöglichkeiten zum Geschehensort, zur näheren Umgebung (Vorbereitungs-, Fluchthinweise, verlorene Gegenstände, Fußspuren, biologische oder mineralische Ablagerungsmöglichkeiten usw.).“
Neben dem Tatort sind für die praktische kriminalistische Tätigkeit weitere Örtlichkeiten zu unterscheiden:
– Ereignisort,
– Fundort,
– Feststellungsort,
– Einsatzort,
– Brandort,
– Unfallort.
Unter dem Ereignisort ist ein Oberbegriff zur Kennzeichnung eines Raumes oder Ortes zu verstehen, in dem sich ein kriminalistisch relevanter oder ein die öffentliche Sicherheit beeinträchtigender Sachverhalt ereignete.
Der Begriff gibt seinem Wesen nach nur eine allgemeine inhaltliche Charakterisierung derartiger Räume bzw. Orte an und sollte deshalb verwendet werden, wenn die konkrete Situation, die Art oder der spezifische Charakter der Handlung bzw. des Geschehens noch nicht eindeutig bestimmt werden können.
Der Begriff des Ereignisortes hat den Vorteil, dass ein zunächst unklares Ereignis geprüft werden kann, um die strafrechtliche Relevanz festzustellen.
Beispiel: Bei einem Leichenfund ist von einem solchen unklaren Ereignis (es sei denn, die Spuren deuten eindeutig auf eine Gewalttat hin) auszugehen. Gem. § 159 StPO gilt es festzustellen, ob ein Suizid, ein Unfall, ein Tötungsdelikt oder ein natürlicher Tod vorliegt. Dies bedeutet, dass von vornherein noch nicht festgestellt werden kann, ob der Leichenfundort auch als Tatort einzuklassifizieren ist. Deshalb ist allgemein der Leichenfundort vor der Einleitung erster Ermittlungen als Ereignisort zu bezeichnen.
Der Fundort ist ein Ereignisort, an dem Gegenstände, Sachen oder Personen aufgefunden werden, die mit einer Straftat oder anderen kriminalistisch relevanten Handlungen in Verbindung stehen bzw. gebracht werden können.
Beispiel: Dies kann der o.g. Leichenfundort sein. Auch Orte, bei denen im Rahmen einer Durchsuchung Beweisgegenstände (z. B. Tatwerkzeuge, Tatmittel, Diebesgut) oder Spuren entdeckt werden, sind als Fundort zu bezeichnen.
Der Feststellungsort ist der Ort, an dem ein kriminalistisches Ereignis entdeckt wird.
Beispiel: Seine Bedeutung erlangt der Feststellungsort insbesondere bei Rechtsverletzungen unter Ausnutzung des Transportprozesses oder Transportweges (z. B. Ladungsdiebstahl, Ladegutbeschädigung). Dies wäre dann der Ort, an dem die Straftat entdeckt wird (z. B. Ort des Entdekkens des Fehlens von Teilen der Ladung). Den eigentlichen Tatort (Ort des Diebstahls der Ladung) gilt es im Verlauf der Untersuchung zu ermitteln.
Der Einsatzort kennzeichnet den Ort, der einen polizeilichen Einsatz (Gefahrenabwehr oder Ermittlungen im Rahmen des Verdachts einer Straftat) räumlich charakterisiert. Dieser Begriff ist abgeleitet aus der Einsatzlehre und rückt eher den Aspekt der Gefahrenabwehr in den Mittelpunkt.
Der Brandort ist der Ereignisort eines Brandes. Als Brandort wird sowohl das Brandobjekt als auch der Brandraum bezeichnet. Das Brandobjekt ist das gesamte vom Brand geschädigte Objekt (z. B. Gebäude, landwirtschaftliche Kulturen). Als Brandraum wird der räumlich begrenzte Teil eines Brandobjekts bezeichnet, in dem sich die Brandausbruchstelle befindet.
Bei einem Brandort ist im Regelfall zu Beginn der Ermittlungen nicht einschätzbar, ob es sich um einen Tatort handelt. Erst nach Aufklärung der Ursachen der Brandentstehung kann eine genauere Charakterisierung vorgenommen werden.
Der Unfallort kennzeichnet den örtlichen Bereich eines Unfalls (z. B. Verkehrs-, Arbeitsunfall). Bei der Untersuchung des Unfallortes im Rahmen der Straftatenverfolgung steht im Mittelpunkt die Frage, ob ursächlich für das Schadensereignis eine Pflichtverletzung war, die wiederum strafrechtliche Verantwortlichkeiten nach sich ziehen kann.
Eine Differenzierung durch die konkrete Bezeichnung des jeweiligen Ortes ist deshalb von Bedeutung, da der spezifische Charakter des Ereignisses von vornherein sichtbar wird. Dies ermöglicht von Beginn an die Durchführung zielgerichteter Ermittlungshandlungen. Eine Effektivitätssteigerung der Untersuchungshandlungen (z. B. Einleitung von Maßnahmen aufgrund von Standardversionen7) zum Auffinden von Leichen, zur Brandentstehungsursache) kann erreicht werden. Jedoch ist nicht in jedem Fall von vornherein eine konkrete Kennzeichnung des Ortes möglich. Im nachfolgenden Text wird auf eine Unterscheidung des Ortes nach dem jeweils zugrunde liegenden Ereignis verzichtet, da umgangssprachlich meist der Begriff des Tatortes genutzt wird.
1.1.3 Tatortarbeit
Als Tatortarbeit8) ist die Gesamtheit der polizeilichen Maßnahmen am Tatort zu kennzeichnen. Dabei sollen Anhaltspunkte über zeitliche und örtliche Faktoren, Motive, Begehungsweisen, Folgen und Auswirkungen einer strafbaren Handlung gewonnen, festgelegt und ausgewertet werden.
Ziel ist es, die Handlungsweise der Beteiligten als gedankliches Modell zu rekonstruieren, Tatverdächtige zu ermitteln und Unverdächtige zu entlasten.
Die Tatortarbeit ist von Bedeutung für die
– Suche und Sicherung von Spuren und Beweisen,
– Feststellung von Zeugen,
– Rekonstruktion des Tatgeschehens und
– Vorbereitung und Planung weiterer Ermittlungshandlungen.
Mit dieser Begriffsbestimmung wird deutlich, dass es sich bei der Tatortarbeit nicht um eng begrenzte Ermittlungshandlungen von Spezialkräften handelt, sondern „um ein komplexes, in sich strukturiertes Handlungsgefüge, das sich in spezifischer Weise in den typischen Ermittlungsablauf einordnet“9).
Dies bedeutet, die kriminalistische Tatortarbeit umfasst nicht ausschließlich kriminalistische Aspekte, sondern wird geprägt von
– rechtlichen Grundlagen,
– einsatztaktischen Aspekten,
– psychologischen Aspekten,
– Aspekten der Informationsverarbeitung.
Diese Faktoren in einer Einheit zu betrachten und zu berücksichtigen muss Aufgabe des am Tatort tätigen Ermittlungsbeamten sein. Die Tatortarbeit stellt somit hohe Anforderungen an die intellektuellen Fähigkeiten und ist eine schwierige „Erkenntnisaufgabe, weil die eigentliche Zielgröße, Art, Menge und Umfang der relevanten Daten zunächst unbekannt sind und aus einem großen Datenpotenzial, das wesentlich mehr Irrelevantes beinhaltet, herausfiltriert werden müssen. Wie bei keiner anderen Untersuchungshandlung stehen gedankliche Schritte und praktische Handlungen in einem engen Wechselverhältnis“10).
Diese Charakterisierung der Tatortarbeit macht zugleich ihre Bedeutung für die kriminalistische Untersuchungsführung aus, deren Kernaufgabe in der beweisrelevanten Wahrheitsforschung liegt, um Straftaten aufzudecken, aufzuklären und präventiv wirksam zu werden.
1.2 Bedeutung des Tatortes
Der Tatort ist bei vielen Sachverhalten Grundlage und Ausgangspunkt für den kriminalistischen Erkenntnis- und Beweisführungsprozess. In Abhängigkeit vom konkreten Delikt unterscheidet man Grundkategorien der Tatorte11):
– Straftaten, bei denen die Tatorte keine oder nur geringe kriminalistische Relevanz aufweisen. Beispiel: Dazu zählen Sachverhalte aus den Bereichen der Rauschgiftkriminalität, der Unterschlagung, der Beleidigung, des Meineids, des Betrugs, der Amtsdelikte usw.
– Straftaten, bei denen die Tatorte eine hohe kriminalistische Relevanz aufweisen. Beispiel: Dazu zählen Sachverhalte aus den Bereichen der Tötungsdelikte, der Branddelikte, der Einbruchsdelikte, Sprengstoffanschläge oder strafrechtlich relevante Unfälle.
Die Bedeutung ist weiterhin abhängig vom Spurenaufkommen des jeweiligen Sachverhalts und von der Auswertbarkeit der Spuren. Dies heißt, der Wert des Tatortes ergibt sich aus der Durchführung einer qualitativ hochwertigen Tatortarbeit.
Abbildung 1: Kriminalistische Bedeutung des Tatortes12)
Die Begründung der örtlichen Zuständigkeit13) der Polizei ist abhängig von der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft nach § 143 GVG. Die staatsanwaltschaftliche Zuständigkeit bestimmt sich nach der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts (Gerichtsstand im ersten Rechtszug). Diese wiederum ist festgelegt in den §§ 7 bis 9 StPO.
Die fallbezogenen Informationen des Tatortes ermöglichen eine erste rechtliche Klassifizierung des Sachverhaltes. Ist der Verdacht einer Straftat (Anfangsverdacht) gegeben, so begründen die §§ 161,163 StPO auch die sachliche Zuständigkeit der Polizei.
Das Gewinnen der fallspezifischen Hinweise beschreibt die gedankliche Tätigkeit14), die insbesondere durch Versionsbildung15) und logische Schlussweisen gekennzeichnet ist.
Durch das Feststellen von Spuren und anderen materiellen Wirkungen des Ereignisses ergeben sich Informationen zu verschiedenen Aspekten der Handlungen, z. B.:
– dem zugrunde liegenden Delikt,
– der Begehungsweise,
– den Tatbeteiligten und ihren jeweiligen Tatbeiträgen,
– dem Täter, (z. B. durch Identifizierungsmerkmale, wie daktyloskopische Spuren oder DNA-haltiges Material),
– den zeitlichen Abläufen der Tat,
– den verwendeten Tatmitteln und Tatwerkzeugen,
– dem Motiv des Tatverdächtigen,
– den örtlichen Komponenten, wie z. B. genutzte Zu- und Abgangswege, der Ausdehnung des Tatortes, Hinweise auf Orte der Vor- und Nachbereitung der Handlung,
– dem Erkennen von Zusammenhängen mit anderen Straftaten (z. B. bei Seriendelikten).
Die Analyse des Tatortes und seiner räumlichen Ausdehnung schafft die Voraussetzungen, um im unmittelbaren Umfeld, d. h. im Wahrnehmbarkeitsbereich Zeugen und ggf. Tatverdächtige zu ermitteln.
Ebenso ist es möglich, im Zusammenhang mit anderen Beweismitteln (z. B. Zeugenaussagen), den „Tatablauf zu bestimmen und damit ein solches Modell von dem Ereignis zu gewinnen, das in beweisrechtlicher Hinsicht alle wesentlichen Aspekte richtig widerspiegelt“16).
Die Tatortanalyse dient dazu, Informationen zu gewinnen, die für die Überprüfung von Versionen oder anderen vorliegenden Beweismitteln (z. B. Aussagen von Zeugen oder Beschuldigten) notwendig sind.
Für die Einleitung erster Maßnahmen (z. B. Fahndung, Nacheile, vorläufige Festnahme) kann der Tatort die notwendigen territorialen Anhaltspunkte geben und ist Grundlage für die kriminalistische Beurteilung der Lage.
Aus der beschriebenen Bedeutung des Tatortes widerspiegelt sich, dass die Tätigkeit am Tatort eine herausragende Position erhält. Zum einen sind es die materiellen Beweismittel (i. S. von Spuren der Tat), die es dort zu finden gilt, zum anderen sind es auch erste ermittlungsweisende Informationen, die für die Untersuchungsführung abgeleitet werden können. Die Tatortarbeit stellt häufig den Beginn der Ermittlungshandlungen in einer Sache dar. Deshalb sind Versäumnisse der Tatortarbeit im weiteren Verlauf der Sachverhaltsbearbeitung kaum auszugleichen.
Die Tatortarbeit wird neben der kriminalistischen Tätigkeit auch durch einsatztaktische Aspekte geprägt. Diese sind einzuordnen in den Ersten Angriff17) insbesondere in den Auswertungsangriff.
Die Ziele der Tatortarbeit sind somit Bestandteile der Ziele des Ersten Angriffs. Unter spezifisch kriminalistischen Gesichtspunkten sind hervorzuheben:
– die Aufnahme des objektiven und subjektiven Tatbefundes,
– die Sicherung der für das weitere Verfahren notwendigen Beweismittel (einschließlich der Beweisführung),
– die Dokumentation von Beweismitteln für das weitere Verfahren,
– die gedankliche Rekonstruktion (Modell, Version) des Tatgeschehens auf der Grundlage der vorgefundenen Situation am Ereignisort,
– das Gewinnen von Anhaltspunkten für die Täterermittlung vom Ereignisort aus (z. B. Erlangen von Hinweisen zur Einleitung von Fahndungsmaßnahmen).
1) Vgl. Trenschel, 2000, KR 6, S. 3.
2) Vgl. Leonhardt, Roll, Schurich 1995, S. 1.
3) 2000, KR.6.1.1, S. 4.
4) 2002, S. 216.
5) Leonhardt, Roll, Schurich 1995, S. 5/6.
6) 1996, S. 316.
7) Vgl. Abschnitt 2.3.6.
8) Vgl. Burghardt u. a. 1996, S. 316.
9) Vgl. Leonhardt, Roll, Schurich, 1995, S. 8.
10) Leonhardt, Roll, Schurich, 1995, S. 8.
11) Vgl. Ackermann, Clages, Roll 2000, S. 47.
12) Vgl. Roll, 2004, S. 81.
13) Vgl. Trenschel, KR 6.1.2, S. 5.
14) Vgl. auch Clages: „Erschließen des Tatgeschehens durch den Tatort“, 1997, S. 101.
15) Version und Hypothese sind ihrem Wesen nach gleich. Sie werden in der Kriminalistik vielfach synonym gebraucht. Zum Begriff der kriminalistischen Version in Abgrenzung zur kriminalistischen Hypothese siehe die weitergehenden Ausführungen unter der Gliederungsnr. 2.3.6 Versionsbildung am Tatort. Im Folgenden wird der Begriff: „Version“gebraucht.
16) Leonhardt, Schurich, Roll, 1995, S. 8.
17) Vgl. PDV 100, Punkt 2.2.3.
2 Theoretische Grundlagen der Tatortarbeit
2.1 Erkenntnistheoretische Aspekte
2.1.1 Kriterien des kriminalistisch relevanten Ereignisses
Ausgangspunkt jeder kriminalistischen Tätigkeit ist ein kriminalistisch relevantes Ereignis1) (Verdacht einer Straftat).
Das kriminalistische Ereignis weist als Untersuchungsgegenstand Besonderheiten auf, die bestimmend für die methodische Vorgehensweise der Untersuchung sind.
Diese Besonderheiten unterscheidet die kriminalistische Ermittlungsführung von anderen Erkenntnisprozessen.
Das zu untersuchende Ereignis ist einmalig.
Bei der der Tatortarbeit zugrunde liegenden Situation handelt es sich um ein Individualereignis, d. h. es ist nicht wiederholbar. Diese Besonderheit stellt hohe Anforderungen an die Methoden und die taktische Vorgehensweise der Tatortarbeit. Werden Fehler gemacht, können wichtige Beweismittel beschädigt oder vernichtet werden, was wiederum zur Folge haben kann, dass der Sachverhalt nicht aufgeklärt wird. Erkenntnisse, die nicht aufgenommen werden, sind unwiederbringlich.
Das Ereignis liegt in der Vergangenheit.
Dieses macht den kriminalistischen Erkenntnisprozess insofern schwierig, als dass der zu untersuchende Sachverhalt nicht der direkten Beobachtung durch den Ermittlungsbeamten zugänglich ist. Das Ausgangsmaterial der kriminalistischen Arbeit sind Veränderungen, die durch die handelnden Personen (z. B. Täter, Opfer, tatortberechtigte Personen, Unbeteiligte) am Tatort verursacht wurden. Diese Veränderungen können sich in „Spuren“ abbilden. Für den Kriminalisten gilt es, diese Spuren der Handlungen wahrzunehmen, zu speichern und so aufzuarbeiten, dass sie für die Beweisführung geeignet sind. Fehlerhafte Wahrnehmungen oder Anwendungen von Spurensicherungsverfahren haben negative Auswirkungen auf die Wahrheitsermittlung.
Ein weiterer Fakt ist zu berücksichtigen: Es gibt eine Zeitdifferenz zwischen dem Ereignis und der Untersuchung. Das bedeutet: was der Ermittlungsbeamte zu Beginn der Tatortarbeit wahrnimmt, muss nicht die Situation sein, die der Täter nach der Tat hinterlassen hat. Diese Veränderungen, die zwischen Tat und Untersuchungsbeginn am Tatort liegen, muss sich der Ermittlungsbeamte bewusst machen und feststellen, auf welche Einflüsse sie zurückzuführen sind.
Beispiel: Am Tatort können sich nach dem Ereignis Veränderungen vollzogen haben:
– durch Witterung,
– durch tatortberechtigte Personen,
– durch natürliche Prozesse.
Das Handeln erfolgt unter regelmäßigem Informationsdefizit.
Die Besonderheit kriminalistischer Ermittlungen besteht darin, dass zu Bearbeitungsbeginn nur sehr wenige Informationen zum Sachverhalt vorliegen. Im Rahmen der Tatortarbeit werden Daten erhoben, durch weitere Untersuchungsergebnisse werden die Kenntnisse später vervollständigt. Geht man von der Ausgangssituation am Tatort aus, so ist festzustellen, dass die kriminalistische Ermittlungsführung durch selektive Kenntnisse bestimmt wird. Man nimmt die Situation wahr, man hört die Aussage des Geschädigten und leitet gedanklich über die Versionsbildung einen oder mehrere Geschehnisabläufe ab. Diese wiederum prüft man in der Realität und verifiziert oder falsifiziert sie.
Das Handeln unter Informationsdefizit besitzt noch einen weiteren Aspekt. Dieser bezieht sich auf die am Tatort einzuleitenden Ermittlungshandlungen, die meist ohne vollständige Kenntnisse über das Ereignis und die Tatverdächtigen durchgeführt werden.
Beispiel: Aufgrund erster, während der Tatortarbeit gewonnener Erkenntnisse, wird die Fahndung nach dem flüchtigen Täter eingeleitet. Grundlage der Fahndungsmaßnahmen ist eine unvollständige Personenbeschreibung. Die im Einsatz befindlichen Kräfte werden dennoch über die gesuchte Person informiert und nun ist es ihre Aufgabe, den Tatverdächtigen anhand dieser unvollständigen Personenbeschreibung festzustellen.
Die Informationen können vielfach differenziert interpretiert werden.
Durch das Handeln der an der Tat beteiligten Personen (z. B. Täter, Opfer) wurden Veränderungen (i. S. von Spuren) hervorgerufen. Nun steht für die Ermittlungsbeamten die Frage, wem die Spur zuzuordnen ist, dem Täter oder dem Opfer? Beide Interpretationsmöglichkeiten sind denkbar. Die Frage könnte aber auch lauten: Ist die gesicherte Spur überhaupt dem Sachverhalt zuzuordnen oder handelt es sich um eine Trugspur? Bei Informationsdefizit kann keine dieser Varianten von vornherein ausgeschlossen werden. Die Beantwortung der Frage in die eine oder andere Richtung lässt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offen.
Diese, das kriminalistisch relevante Ereignis kennzeichnenden Faktoren, wirken sich auf die methodische Vorgehensweise der Erkenntnisgewinnung am Tatort aus. Die anzuwendenden Methoden müssen geeignet sein, die o.g. Besonderheiten zu berücksichtigen, aber auch Fakten und Tatsachen zur Wahrheitsfeststellung hervorzubringen und auf rechtlicher Grundlage beruhen.
Neben Besonderheiten der kriminalistischen Untersuchung wird das Ereignis durch verschiedene Komponenten gekennzeichnet, die einen entscheidenden Einfluss auf die Tatortarbeit ausüben können.
Abbildung 2: Kriterien des kriminalistisch relevanten Ereignisses
Lokale Komponenten
Die lokalen Komponenten beschreiben den Tatortbereich, die Zu- und Abgangswege oder auch besondere Orte (z. B. bei Sexualdelikten den Kontaktaufnahmeort). Mitunter sind auch mehrere örtliche Komponenten des Ereignisses (Tatort, Fundort, Ort des Versteckens von Diebesgut) festzustellen. Für die Tatortarbeit gilt es, diese örtlichen Bereiche festzustellen und sie in die Untersuchungen einzubeziehen. Durch die lokalen Komponenten wird die Ausdehnung des Tatortes bestimmt, die wiederum für die Einleitung der Tatortsicherung aber auch für die Festlegung der spurentragenden Bereiche und damit dem Festlegen der Orte der Spurensuche von enormer Wichtigkeit sind.
Temporale Komponenten
Die temporalen Komponenten eines Ereignisses beziehen sich auf den Ereigniseintritt (Tatzeit) und auf die Reihenfolge der Handlungen einzelner Tatabschnitte. Diese zeitlichen Komponenten können sich in der Spurenlage am Tatort widerspiegeln. Sie geben Auskunft über die Abfolge der Handlungen u.U. über die Reihenfolge der Spurenentstehung.
Die temporalen Aspekte sind nicht nur von Bedeutung für die Spurenentstehung, sie geben auch Hinweise darauf, wie groß der Tätervorsprung ist und wie lange das Ereignis zurückliegt. Insbesondere dieser zweite Fakt ist für die Tatortarbeit hervorzuheben, da es einzuschätzen gilt, welche Veränderungen sich im Zeitraum zwischen Ereigniseintritt und Entdeckung des Ereignisses bzw. der Durchführung der Tatortarbeit vollzogen haben können.
Modale Komponenten
Die modalen Komponenten beschreiben die Art und Weise des Verlaufs des Ereignisses, insbesondere die Aspekte der Begehungsweise. Diese festzustellen, ist Aufgabe der gedanklichen Rekonstruktion des Sachverhalts. Daraus ableitend werden im Rahmen der Tatortarbeit die spurentragenden Bereiche bestimmt und die Durchführung der Tatortuntersuchung organisiert.
Personale Komponenten
Jedes kriminalistisch relevante Ereignis wird durch die Personen (Zeugen, Beschuldigte, Opfer, Geschädigte), die am Ereignis beteiligt sind, bestimmt. Eine Aufgabe der Tatortarbeit ist es festzustellen, wer am Tatort war, zu welchem Zeitpunkt die Person am Tatort war, wie sie gehandelt hat und wie sich das Handeln in der Spurenlage zeigt.
Diese personalen Komponenten sind von Bedeutung für die Zuordnung im Rahmen der Tatortarbeit gefundener Spuren und können Hinweise auf Tatverdächtige oder tatortberechtigte Personen geben.
Motivbezogene Komponenten
Diese beschreiben die Ursachen, den Antrieb und die Auslösersituation des Ereignisses. Für die Tatortarbeit stellt sich bei der Analyse der motivorientierten Aspekte die Frage, welche Tatgelegenheitsstruktur ausschlaggebend für die Begehung der Tat war. Damit können u.U. die Fragen beantwortet werden, ob der Täter diesen Ort bewusst ausgewählt hat und eine Täter – Tatort – Beziehung gegeben ist. Auch für die Einschätzung von Präventivmaßnahmen ist die Analyse dieser Aspekte von Bedeutung.
Diese Faktoren sind die Basisbedingungen für die Tatortanalyse. Sie müssen festgestellt und bei der Tatortarbeit berücksichtigt werden. Sie zeigen deutlich, dass die Untersuchungshandlungen am Tatort nicht ausschließlich einsatz- oder kriminaltaktische Schwerpunkte beinhalten. Die Tatortarbeit ist ebenso gekennzeichnet von einer umfangreichen gedanklichen Tätigkeit des Ermittlungsbeamten.
Man kann feststellen, dass der kriminalistische Erkenntnisprozess auf einem in der Vergangenheit liegenden Ereignis beruht. Das Ereignis spiegelt sich materiell (durch Veränderungen am Tatort) oder ideell (im Bewusstsein der Tatbeteiligten und des Ermittlungsbeamten) wider. Diese Widerspiegelungen festzustellen, aufzunehmen, zu verarbeiten, zusammenzufassen, zu werten und die richtigen Schlüsse zu ziehen, dies ist die Aufgabe der Tatortarbeit und darüber hinaus der gesamten kriminalistischen Ermittlungstätigkeit.
Aus diesen Besonderheiten und den das Ereignis beeinflussenden Faktoren ergeben sich für die Kriminalistik spezifische Erkenntnis- und Informationsquellen, die insbesondere bei der Tatortarbeit eine hohe Relevanz aufweisen und die methodische Vorgehensweise stark bestimmen.
2.1.2 Der kriminalistische Erkenntnisprozess am Tatort
2.1.2.1 Einführung
Das Erlangen von Erkenntnissen zum kriminalistisch relevanten Ereignis ist in hohem Maße dynamisch, trägt Prozesscharakter und verläuft in verschiedenen Etappen. Sie verlaufen nicht schematisch nacheinander, sondern gehen ineinander über, wiederholen sich auf höherer Stufe oder verlaufen parallel.2)
Erster Abschnitt: Kriminalistisch relevantes Ereignis
Ausgangspunkt der Ermittlungen ist ein kriminalistisch relevantes Ereignis über das die Polizei Kenntnis erlangt. Aufgrund der Zuständigkeit gem. § 163 StPO ist die Polizei verpflichtet zu handeln.
Beispiel: Durch den Geschädigten wird telefonisch mitgeteilt, dass in sein Einfamilienhaus während seines Urlaubs eingebrochen wurde. Der Verdacht einer Straftat ist gegeben, somit handelt die Polizei.
Zweiter Abschnitt: Bewirken von Veränderungen durch das Ereignis im umgebenden Milieu (materieller und ideeller Natur)
Durch die Handlungen des Täters werden Veränderungen im umgebenen Milieu verursacht.
Beispiel: Es werden Beschädigungen am Ort des Eindringens, Substanzablagerungen von den Schuhen des Täters am Boden des Hauses, durchsuchte Schränke, umgestürzte Gegenstände im Haus festgestellt. Darüber hinaus hatte die Nachbarin eine Person beobachtet, die vor ca. einer Woche in den späten Abendstunden sich vom Einfamilienhaus entfernte. Da ihr dieser Vorgang eigenartig erschien, prägte sie sich das Aussehen der Person ein.
Dritter Abschnitt: Widerspiegelung der Veränderungen und gedankliche Verarbeitung
Die durch den Täter hervorgerufenen Veränderungen widerspiegeln sich in der Realität, das bedeutet, es entstehen Abbilder, Material-, Substanz- und Situationsveränderungen im Vergleich zur ursprünglichen Situation. Diese Handlungsfolgen muss der am Tatort ermittelnde Beamte gedanklich aufnehmen und verarbeiten.
Beispiel: Die beim Eindringen in das Gebäude verursachten Spuren müssen als Werkzeugspuren erkannt und im weiteren Verlauf der Untersuchung gesichert werden. Dies hat mit allen anderen Spuren ebenso zu erfolgen. Weiterhin ist der subjektive Tatortbefund, der in Form der Wahrnehmung der Nachbarin vorliegt, in Form einer Zeugenaussage festzuhalten.
Vierter Abschnitt: Aufstellen von Versionen3)