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DAVID WONSCHEWSKI: „Schwarzer Frost“
1. Auflage, November 2012, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2012 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
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Lektorat: Michael Tietz
Coverfoto: Marion Alexa Müller
Cover,Satz, Konvertierung: Thomas Manegold


E-Book-Version: 1.3
Ungekürzte digitale Version der Printausgabe.

print ISBN: 978-3-940767-97-4
epub ISBN: 978-3-943876-18-5

David Wonschewski

Schwarzer Frost

Roman



Periplaneta

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Erster Teil:
Vor Lohwald

Gleich kommt Lohwald. Um sich mit mir auszusprechen.

Das wäre doch mal gut, hat er gemeint. Wir hätten uns zu oft überworfen in letzter Zeit. Sehr ruhig hat er das gesagt, es klang fast nett. Aber geschaut hat er dabei, als wäre es allein meine Schuld. Ist es aber nicht, sondern nur eine logische Folge. Erst hat er bemerkt, dass er mit seinen cholerischen Anfällen nicht weiterkommt bei mir. Und dann, dass ich seine Arbeit als Radiomoderator nicht sonderlich schätze. Seitdem begegnen wir uns mit dieser falschen, fast süffisanten Liebenswürdigkeit. Einer zuckersüßen und spitzmündigen Freundlichkeit, wie sie konkurrierenden Frauen zu eigen ist. Leider sind wir keine Frauen und dementsprechend unbegabt für ein solches Verhalten. Seit wir uns nicht mehr gegenseitig anbrüllen, flirrt also die Luft zwischen uns. Und etwas Unheilvolles staut sich auf.

Ja, sich mit Lohwald auszusprechen, könnte eine gute Idee sein. Ich habe nur überhaupt keine Lust darauf. Und glaube auch nicht, dass unser Gespräch weit führen kann. Dafür sind wir zu verschieden. Und auch zu eingefahren. Er ist ein Kotzbrocken. Und ich, tja, ich höre anderen Leuten schon lange nicht mehr richtig zu. Schon gar nicht Arbeitskollegen.

Nein, ein solches Gespräch führt nirgendwohin.

Vollkommen klar, wie das gleich ablaufen wird: Er wird hier in meine Wohnung kommen und sich die ganze Zeit beschweren. Er wird wieder nicht laut werden, aber belehrend, von oben herab. Seine jahrzehntelange Berufserfahrung wird er ins Feld führen und mich als das lebensunerfahrene Bübchen hinstellen, als das er mich sieht. Er wird versuchen mich weichzukochen, mit zusammengekniffenen Augen und ausladenden Bewegungen. Über Musik wird er die ganze Zeit diskutieren wollen. Und über die Songs meckern, die ich ihm Tag für Tag in seiner morgendlichen Radiosendung vorsetze. Und er wird mir verbieten, Balladen einzuplanen, obwohl er genau weiß, dass er mir das nicht verbieten kann. Schließlich bin ich der Musikchef. Er moderiert, ich bestimme welche Lieder laufen, so steht es im Arbeitsvertrag. Aber Balladen am Morgen, findet Lohwald, verleiten die Hörer sich aufzuhängen. Oder freiwillig vor den nächsten Baum zu fahren. Vor der versammelten Mannschaft hat er das schon gesagt, mitten in der Redaktionskonferenz. Ist grinsend aufgestanden, hat mit dem Finger auf mich gezeigt und gesagt, dass ich eine Mitschuld daran trage, dass es in Berlin so viele Selbstmorde gibt. Weil ich ihn zwinge, jeden Morgen langsame Lieder von Phil Collins oder Elton John zu spielen. Dann hat er gelacht, so als hätte er einen Witz gemacht. Und natürlich haben alle anderen mitgelacht, wie sie immer mitlachen, wenn Lohwald lacht.

Dabei müssten sie doch wissen, dass es nirgendwo auf der Welt Selbstmorde gibt. Sondern immer nur Freitode. Aber einen Scheiß wissen sie. Lachen über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Aber woher sollten sie auch? Schließlich waren nicht sie es, die ihren besten Freund in den Freitod gedrängt haben.

Das war ich. Ich ganz allein.

Ich stehe in meiner Wohnung und lasse den Blick schweifen. Wie verhält sich einer, der Besuch bekommt? Was ist da vorzubereiten? Ich habe es verlernt, über die Jahre vergessen. Kaum Besuche über einen längeren Zeitraum führen auch in einer Stadt wie Berlin zu einem Einsiedlerleben. Ich gehe in die Küche, greife mir zwei Gläser und bringe sie ins Wohnzimmer. Doch kaum habe ich sie auf den Beistelltisch neben der Couch gestellt, erscheinen sie mir falsch, ja geradezu lächerlich angeordnet. Ich schiebe ein wenig daran herum, stelle mir vor, wie Lohwald gleich hier sitzen, nach dem einen Glas greifen und trinken wird. Ungelenk drapiere ich zwei Papierservietten um die Gläser. Bis mir einfällt, dass ich weder Knabberzeug noch Gebäck habe. Also weg mit den Servietten. Und auch weg mit den Gläsern. Lohwald wird mit Bier vorlieb nehmen müssen, mehr gibt es hier nicht. Muss er halt aus der Flasche trinken. Ja, so könnte es gehen. Wir werden hier sitzen wie Zechbrüder und uns zuprosten. Erst erfreuen wir uns am Zischen entweichender Luft beim Öffnen der Bierflaschen, dann prosten wir uns zu und sehen uns dabei tief in die Augen, so wie es sich halt gehört. Und dann trinken wir, trinken bis uns die Blicke glasig werden. Eine schale Verbrüderung, natürlich. Aber doch ein emotionaler Meilenstein für zwei, die sich am liebsten gegenseitig einen Dolch zwischen die Rippen jagen würden.

Ich werfe die Papierservietten in den Müll und trage die Gläser zurück in die Küche. Als ich den Kühlschrank öffne, fällt mein Blick auf ein gutes Dutzend Bierflaschen. Die habe ich extra für meinen Gast gekauft, glaube ich. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht stehen sie immer da, weil ich selbst längst zu einem Säufer geworden bin. Ach, keine Ahnung. Ich habe aufgehört, mir dauernd zu merken, was ich wann und warum getan habe. Führt doch zu nichts.

Ein Bier werde ich Lohwald also sofort in die Hand drücken, wenn er hereinkommt. Was anderes ist eh nicht da, Leitungswasser allenfalls. Aber wenn wir das trinken, dann bleiben wir Lohwalds ganzen Besuch über vollkommen bei Sinnen. Keine gute Idee.

Und wie ich nun durch meine Wohnung streife und aufräume, denke ich an Lohwald und die nervigen Diskussionen mit ihm. Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren noch den Gedanken gehabt habe, dass es doch nur Radio sei, nur Musik. Und somit nichts, worüber Lohwald und ich dermaßen in Wallung geraten müssten. Ein guter, geradezu grundvernünftiger Gedanke. Der mir über die vielen verbalen Scharmützel mit Lohwald aber nach und nach abhanden gekommen ist. Na und ihm sowieso. Wegen ein paar blöder Pop-Songs würden Lohwald und ich uns also am liebsten gegenseitig den Schädel einschlagen. Wenn das nicht das Ende der Zivilisation ist, was dann?

„Langsame Lieder am Morgen führen zu Selbstmorden!“ – Wenn Lohwald es wagt diesen bescheuerten Satz sogar hier, in meiner eigenen Wohnung, auch nur ein einziges Mal auszusprechen, raste ich aus. Ich wohne hier, nicht er. Und ich bin es auch, der zwischen diesen Wänden von Leere und Ratlosigkeit belagert wird, seit Moritz freiwillig in den Tod gegangen ist. Kommt Lohwald mir also wieder mit seinem Unfug, kann ich für nichts garantieren. Hier gelten andere Benimm-Regeln als drüben im Sender.

Ja, aus unserem Arbeitsalltag kennt Lohwald mich nicht als aufbrausend. Dementsprechend überrascht wird er sein, sollte ich ihn nachher ungehemmt anbrüllen. Aber vielleicht will er genau das bezwecken mit seinem seltsamen Besuch: Dass ich ihm gegenüber endlich die Fassung verliere und meine Glitschigkeit ablege, die mich bisher unangreifbar macht.

Zu Beginn, als Moritz noch lebte und Lohwald die ersten Male mit seiner kruden Balladen-Selbstmord-Theorie kam, habe ich ihn gekonnt auflaufen lassen und im Beisein unserer Chefs allerhand Gegenargumente geliefert, lässt sich anhand diverser Studien doch glasklar belegen, dass Lohwald einer groben Fehleinschätzung unterliegt. Ja, James Blunt und Bryan Adams mögen mit ihrem zahnlosen Geseiere viel Leid über die Welt gebracht haben – Freitode aber gehen nicht auf ihr Konto. Wie auch diese unselige Kuschelrock-Compilation bemerkenswert unangesagt unter suizidal veranlagten Menschen ist. Der Zusammenhang zwischen langsamen Songs im Radio und Selbsttötungsdelikten? Es gibt keinen, Ende.

Lohwald soll also endlich aufhören einen solchen Stuss zu labern, habe ich damals betont kühl zu meinen Vorgesetzten gesagt. Und sie haben genickt, wie sie immer nicken, wenn ich ihnen mit sauber recherchierten Zahlen und Grafiken komme. Und dann haben sie Lohwald einen Einlauf verpasst. Seitdem regiert zwischen uns der Hass.

Heute, mit dem Freitod von Moritz im Rücken, sage ich aber gar nichts mehr zu dem Thema. Ich bin komplett verstummt, ummantelt von Ratlosigkeit und Leere. Sein ahnungsloses Gemecker, das Lohwald selbstverständlich nicht eingestellt, sondern sogar noch vermehrt hat, bleibt ohne Reaktion meinerseits. Was soll ich auch zu einem solchen Mist sagen? Wenn Lohwald meint, sich und sein Radiogequatsche derart überhöhen zu müssen, dass es über Leben und Tod anderer entscheiden würde, bitte. Soll er gerne tun. Nur mit der Realität, wie ich sie kenne, hat das wenig zu tun. Denn Menschen, so wie Moritz, wollen manchmal sterben. Freiwillig. Ohne Zwang. Einfach nur sterben wollen sie, endlich nicht mehr auf dieser Welt sein. Mit Eigenmord hat das gar nichts zu tun. Mordopfer sind ja gerade deswegen Mordopfer, weil sie mit Gewalt in den Tod gezwungen werden. Bei Moritz aber war es die freie Entscheidung eines freien Menschen. Jahrelang hat er darüber geredet und genauso lange habe ich ihn darin unterstützt, ihn immer wieder ermuntert, doch endlich Hand an sich zu legen. Bis er es dann getan hat. Einfach so. Mit Lohwalds tumber Radiosendung hatte das nichts zu tun, natürlich nicht. Und mit Balladen schon gar nicht. Aber es zeigt, dass Lohwald einen Dreck über das Leben weiß. Und noch viel weniger über das Sterben. Wie sollte er auch, hockt den ganzen Tag allein in einem schalldichten Studio und labert in ein Mikro. Mehr Ahnungslosigkeit geht nicht. Wozu soll ich mich mit so einem noch herumärgern? Es gibt nichts zu bereden. Gar nichts. Alles was es einmal zu sagen gab, habe ich bereits mit Moritz besprochen. Und hat man den besten Freund erstmal in den Freitod gequatscht, erübrigen sich alle nachfolgenden Gespräche automatisch. Vor allem solche mit Lohwald. Und vor allem über seine dämliche Radiosendung.

Ich laufe zurück in mein Wohnzimmer und setze mich auf die Couch, auf exakt den Platz, auf dem auch Lohwald gleich sitzen wird. Von hier aus, denke ich, wird er also gleich meine Wohnung überblicken. Wird zum ersten Mal sehen, wie ich lebe. Er wird meine Einrichtung begutachten, die raumhohen Regale, den Parkettboden, die vielen Bücher und CDs. Und dann wird er von diesem Platz aus jede Nichtigkeit in das negative Bild einordnen, das er von mir hat. Er wird registrieren, dass ich kein einziges Deckenlicht habe, sondern nur Stehlampen. Und er wird denken: „War doch klar.“ Er wird in den Flur hinüberspähen und sehen, dass ich über keinen Schuhschrank, ja nicht einmal eine kleine Kommode verfüge. So dass sämtliche Schuhe offen an der Wand aufgereiht sind. Und er wird sich sagen: „Typisch.“ Und dann, wenn er alles begutachtet und zu meinen Ungunsten ausgelegt hat, dann wird sein Blick auch auf mich fallen. Und vielleicht wird er hier, von diesem Platz aus, exakt jene Unsagbarkeit erkennen, die ihm bei aller Geringschätzung für mich im Sender bisher verborgen geblieben ist. Er wird sehen, dass ich wahrhaftig in der Lage bin, Menschen in den Freitod zu drängen. Ohne Balladen.

Wäre so etwas möglich? In der richtigen Konstellation und in der passenden Situation, wenn das Licht in einem ganz bestimmten Winkel durch die Fenster fällt – könnte sich dann jede Scham und jede Schande wie von selbst offenbaren? Und jedes heuchlerische Versteckspiel endlich sein Ende finden? Lohwald könnte hier sitzen, an seinem Bier nippen und mich ansehen. Und mit einem Mal alles klar vor Augen haben. Alles. Wie oft Moritz und ich über seinen Freitod geredet haben. In aller Ruhe. Wie oft wir uns überlegt haben, wie er eines Tages so daliegen könnte, in seinen letzten Sekunden. Wie er ganz widerlich röcheln und schwitzen wird – und wie er diesen einen hellen Tunnel entlangschlurft, langsam und schleppend. Ganz vernarrt sind wir beide in solche Gedanken gewesen. Und ja, ich habe mir wahrlich die Zunge fusselig geredet, um ihm den Freitod schön schmackhaft zu machen. Gut möglich, dass Lohwald das alles sehen wird, von diesem Platz aus.

„Man muss auch was zu Ende bringen können!“, habe ich oft lachend zu Moritz gesagt. Naja, was man halt so herauströtet, wenn man einen provozieren will, der keinen Sinn im Leben sieht. Und Moritz? Hat immer mitgelacht. Und zurückgekeilt. Und es schließlich wirklich zu Ende gebracht.

Ich weiß, ich sollte traurig sein. Aber das bin ich nicht.

Eher ratlos. Ich sitze hier in meiner Wohnung, warte auf Lohwald und weiß, dass ich meinen besten Freund in den Freitod getrieben habe. Doch ich fühle gar nichts. Ich habe ihn doch nicht aus purer Langeweile immer wieder mit Tipps versorgt. Wo man sich am besten aufhängt, ohne gleich nach zehn Minuten gefunden zu werden. Wie man sich den Schädel durchschrotet, ohne dabei einen Mucks von sich zu geben. Und was in einen formgerechten Abschiedsbrief hineingehört. Das habe ich getan, weil ich sein Freund bin. Oder war. Und als Freund habe ich am allerbesten gewusst, dass Moritz und der Freitod eine beneidenswerte Einheit bilden. Moritz und Freitod – das ist wie Topf und Deckel, wie Arsch und Eimer. Oft sagte ich ihm: „Wenn du dich umbringst, Moritz, kann das ganz großes Kino werden. Vergeig’ das bitte nicht!“ Der Freitod des besten Freundes als Event.

Und Moritz? Der hat stets begeistert mitdiskutiert und permanent eigene Vorschläge und Ideen eingebracht. Dabei sind wir nie sonderlich morbide Gestalten gewesen. Wir haben weder den Tod noch den Freitod glorifiziert und auch die Nähe von Grabmalen, düsteren Satanszeremonien oder gar Gothics haben wir nie gesucht. Nein, für derlei Auswüchse sind wir beide viel zu bürgerlich und viel zu angepasst gewesen. Wir haben lediglich ausgiebig diskutiert, existentialistische Texte ausgetauscht und Argumente gewälzt. Um am Ende dann das festzustellen, wofür es gar kein Philosophie-Studium braucht: Dass wir eines Tages sterben werden.

„Die Welt ist voller alberner Tode. Menschenunwürdiges Sterben, wohin man auch schaut!“, hat Moritz mir damals, nach meinem Sturz vom Rad, auf meinen Gipsarm geschrieben. Ich erinnere mich wie lustig ich das gefunden habe, immerhin hatte es mich bei jenem Sturz kopfüber über das Lenkrad gezogen, mit einem lauten „Uaaaah!“ auf den Lippen. Und wäre ich seinerzeit mit dem Kopf auf dem Betonpfeiler aufgeschlagen und nicht nur mit dem Arm, es wäre in der Tat ein ganz miserabler und unwürdiger Tod gewesen. Mit Stolz und mit Stil muss also gestorben werden, darin sind wir uns immer einig gewesen. Denn auf die hundsgewöhnliche Tour plötzlich wegsterben, das kann schließlich jeder. „Nieder mit dem Standardsterben!“ – Ach, wie oft haben wir beide das skandiert? Ich bekomme noch jetzt eine Gänsehaut, denke ich daran zurück, wie inbrünstig wir uns unsere selbstzerstörerischen Thesen und Parolen zugerufen haben. Wie beim Ping Pong. Ein Todeswort hat das nächste ergeben. Super war das.

Deswegen hat ihn nicht der Krebs zerlegt oder die Cholera oder Frau AIDS. Er ist auch aus keinem Flugzeug gefallen, ihm ist kein Kran auf den Kopf gestürzt, kein Geisterfahrer hat ihn auf einer Autobahn abgegriffen und nichts und niemand ist in seiner unmittelbaren Nähe explodiert. Eben weil wir uns frühzeitig genug und sehr intensiv Gedanken gemacht haben. Und weil wir es schöner wollten. Heroischer. Und vor allem etwas mehr, nun, täterbasiert.

Nein, Opfer kann jeder und so haben wir uns ausgiebig die Köpfe darüber zerbrochen, wie wir dem Tod zuvorkommen und uns unsere Autonomie bewahren können. Und unsere Würde. Doch gerade das ist Moritz nicht gelungen. Denn auch ein Freitod ist bekanntlich nicht immer gleich ein Freitod. Vom Ergebnis her vielleicht schon, aber als Kür betrachtet, gibt es in dem Bereich horrende Qualitätsunterschiede. Und Moritz, tja, der hat seinen eigenen Freitod irgendwie – vermurkst. Und genau deswegen schafft es sein Abgang nun nicht in jene Kategorie von Freitoden, die einen nostalgisch werden lassen.

Dabei kann das doch nicht so schwer sein, denn bekanntermaßen ist nichts einfacher zu haben, als der eigene Tod – und gerade einer wie Moritz hätte das alles dramaturgisch wesentlich stilvoller haben können. Schneller. Entspannter. Sogar günstiger! Aber Effektivität, nein, das ist nie seine Sache gewesen. Und so musste er sich erst ein sündhaft teures Flugticket leisten, quer über den Globus bis nach China jagen, da noch eine Weile vor sich hin öden – um sich erst dann, nach all dem Zinnober, doch noch wie besprochen, ans aktive Sterben zu machen. Unter einem von Dauer-Smog verhangenen Himmel, inmitten von lauter Gelbgesichtern und mit dem Geruch von angebrannten Hund in der Nase.

So leid es mir auch tut: Schön sterben geht anders.

Und ausgerechnet jetzt, wo alles zu spät ist, kommt mich Lohwald besuchen. Um mit mir über seinen Radio-Blödsinn zu labern. Nicht einmal in meiner eigenen Wohnung bin ich noch vor ihm sicher. Er wird mir wieder weismachen wollen, bei seiner Radiosendung ginge es um das Wohlgefühl einer ganzen Stadt. Er wird mir wieder erzählen, dass er es ist, der ganz Berlin frühmorgens mit seinen Moderationen aus dem Bett holt und sie gutgelaunt in den Tag bringt. Und ich werde wieder dasitzen und denken, dass sich kein einziger Berliner für sein dämliches Gequatsche interessiert, wie sich auch kein einziger Berliner dafür interessiert, welche Songs ich ihm in die Sendung gebe. Wir sind nur dazu da, einen watteweichen Klangteppich aus Sprache und Musik zu erzeugen, auf dem sich hervorragend Werbebotschaften platzieren lassen, das ist alles und genau das werde ich wieder denken. Aber sagen werde ich es ihm nicht. Ich habe bereits Moritz mit meiner Kälte provoziert, das reicht.

Moritz wird jung sterben, das hatten wir miteinander verabredet. Wir hatten es sogar schriftlich festgehalten, mitsamt Ortsangabe, Datum und Unterschrift. „Der Moritz“, so stand es in diesem Vertrag, „verpflichtet sich hiermit, unter keinen Umständen das dreißigste Lebensjahr zu erreichen.“ Geworden ist er dreiunddreißig, genau wie Jesus. Dusseliger Moritz. Vertragsbrüchiger Moritz. Was zum Teufel sollte das? Warum hat er gewartet? Hat er dort hinten in China Argumente gefunden, die er mir nicht mitgeteilt hat? Einsichten, die ihn haben zögern lassen?

Himmel, wie lange ich nicht mehr an das alles gedacht habe! Über Wochen und Monate habe ich weder Moritz noch seinen blödsinnigen Tod im Kopf gehabt. Und nun kommt einmal der Lohwald zu Besuch und plötzlich denke ich nur noch daran. Offiziell habe ich ja auch erst am Telefon davon erfahren, dass Moritz doch noch gestorben ist. Was es am Telefon auch zu quasseln gegeben haben mag zwischen irgendwem und mir – am Ende stand jener beiläufige Satz, schnell eingeschoben zwischen „Ciao“ und Auflegen: „Ach, schon gehört, dass Moritz tot ist?“ Ich weiß noch, wie ich lediglich „Ja, schon gehört – schrecklich“ gesagt und auch aufgelegt habe. Eine glatte Lüge, natürlich, ist doch so gar nichts schrecklich an seinem Tod. Denn wenn es eine Todesart gibt, die durch ihre glasklare Gewollt- und Geplantheit nun wahrlich frei von Unglück und Tragik ist, dann den Freitod. Zu analysieren, wie lange es dauert, bis sich jemand endlich selbst vernichtet, ist demnach auch niemals schrecklich, niemals entsetzlich. Und schon gar nicht pietätlos. Sondern so amüsant wie die Beobachtung einer Fliege, die am Klebeband verreckt. Wissenschaft und Sadismus bezeichnen schließlich dieselbe menschliche Grundbestrebung. Nur dass die eine Bezeichnung etwas verschleiert, wozu die andere sich bekennt. Und ich, ich habe eben den Moritz und seinen Weg zum Freitod studiert, na und?

Alles in allem ein rein menschliches Verhalten.

Aber es stimmt schon, ist jemand erst an diesen Punkt gelangt, so kann ihm definitiv nicht mehr geholfen werden. Nein, nicht Moritz meine ich, dem ist eh nicht mehr zu helfen, der ist doch längst in Vermoderung und Verschimmelung begriffen, in irgendeiner Kiste, irgendwo in China. Aber mir, mir ist nicht mehr zu helfen. Schließlich weiß ich am besten, dass ich Schwarzen Frost angesetzt habe. Und das schon zu einer Zeit, als ich Moritz noch gar nicht gekannt habe. Schlimm ist daran überhaupt nichts. Denn es bedeutet auch, dass ich mich im Gegensatz zu Moritz niemals umbringen werde, mich gar nicht umbringen kann.

Ist doch toll.

Nur unweigerlich kentern werde ich, über die vielen Jahre eines schrecklich langen Lebens ganz elendig auf Grund laufen. Aber eint mich das nicht eher mit allen anderen Menschen, als dass es mich von ihnen trennt?

Ja, so wie es bei Moritz vollkommen klar war, dass er ein Mensch ist, der sich umbringen wird, so ist auch vollkommen klar, wie es bei mir kommen wird. Meine Existenz wird lange dauern und zäh sein, und partiell wohl auch ziemlich qualvoll. Daran ändern kann ich nichts. „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ ist schließlich ein Spruch, der von Blinden für Blinde erfunden worden ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Gerade weil ich so genau weiß, wie es kommen wird – wird es auch so kommen. Self-fulfilling prophecy.

Das war bei Moritz so. Und das wird auch bei mir so sein.

Nein, Hilfe ist nicht zu erwarten, Schwarzer Frost, das ist wie die Krätze, den kriegt man nicht mehr abgeschabt. Auch abducken bringt da wenig. Allein der Gedanke an ein Ausweichmanöver ist schon absurd. Moritz ist, nach seinem verbockten Freitod, doch das beste Beispiel. Wie dämlich zu glauben, dass er in China angesichts von Schlitzaugen und Reisfeldern seinem Freitod-Schicksal entgehen könnte. Da frage ich doch: Wie hätte er? Wobei, dieses Nach-China-rennen bei Moritz schon nicht mehr viel mit Verzweiflung oder gar Überlebenskampf zu tun gehabt hat. Das war einfach nur Blödheit. Wie er mir gegen Ende überhaupt sehr unterzuckert und blutarm vorkam. Vor allem im Schädel.

Nein, Ausweichmanöver funktionieren nicht, sie sind vor diesem Hintergrund absurd und bieten dementsprechend immer Anlass für Gelächter, natürlich. Und so stehe ich jetzt hier in meiner Wohnung und gebe keinen Laut von mir – aber stelle ich mir Moritz vor, wie er so im Flugzeug nach China gesessen hat, auf der Flucht vor seinem eigenen Freitod, dann ist da ein großes und wieherndes Lachen in mir. Denn so schnell fliegt nun wirklich kein Jet.

Was für überflüssige Gedanken. Wir wussten nicht nur, dass Moritz sich umbringen wird, wir wollten es sogar. Wir haben oft gelacht, zynische Witze gerissen und uns selbst vorgemacht, dass wir über einen tiefgründigen schwarzen Humor verfügen. Aber das war nur Fassade. Moritz wollte sich unbedingt umbringen. Und ich wollte unbedingt erleben wie er es tut. Also hat er es gemacht. Fertig. Da gibt es nichts zu überlegen, nichts zu sinnieren. Da ist auch kein Rätsel, das es zu lösen gilt. Und etwas zu entdecken, das mir bisher verborgen geblieben ist, gibt es auch nicht. Dass Moritz sich umgebracht hat, ist weder tragisch noch traurig noch erschütternd – sondern logisch.

Wie ekelhaft von mir. Schlichtweg widerwärtig. Dieser plötzlich, mit fast schon perverser Lust, verfolgte Ansatz, Moritz’ Freitod doch noch irgendwie gewinnbringend auszuschlachten, es überzieht mich auch mit Selbstekel. Sich diesen Freitod zu greifen und ihn aus einer Laune heraus auszuschlachten, ihm also einen Sinn zu geben, den er niemals gehabt hat und den er auch niemals haben wird, das ist nicht nur grotesk, sondern auch überaus respektlos. Und ja, es widert mich an. Ich widere mich selbst an. Denn der, der ich heute bin, der wollte ich niemals sein. Und treffe ich auf Typen wie mich, dann packt mich das blanke Würgen.

Moritz widmete sich dem Freitod und ich, gerade ich, der es doch nun wirklich besser wissen müsste, es auch besser weiß, lasse mich zu der Geschmacklosigkeit hinreißen, mir hellen Gedankens und klar bei Sinnen einzureden, dass da vielleicht noch etwas zu holen wäre für mich. Nicht genug, dass ich mich selbst damit der Lächerlichkeit preisgebe, auch Moritz, meinen nun tatsächlich toten und etwas dämlichen Moritz, trete ich durch dieses amoralische und unplausible Nachdenken mit Füßen. Und das hat er nicht verdient. Als hätte es überhaupt zur Debatte gestanden, seinem Freitod in der Retrospektive einen tieferen Sinn zu geben, eine Moral der Geschichte oder ihm auch nur einen lumpigen guten Zweck zu unterstellen. Dabei ist gerade das nicht der Sinn eines guten Freitods. Gute Freitode werden gerade deswegen begangen, damit danach schön sauber der Deckel zugemacht werden kann. Klappe zu, Affe tot –, das ist ein guter Freitod, und das ist auch der Sinn eines guten Freitods. Aber ich kaue hier auf ein paar billigen Gedanken herum, als ginge es darum, nun doch noch zu beweisen, dass jemand wie Moritz nicht umsonst gestorben ist. Doch genau das ist er, natürlich ist er das. Denn Märtyrertum ist nie seine Sache gewesen, so ehrlich muss ich ihm, aber auch mir gegenüber sein. Im Gegenteil, hätte es nur einen Tropfen Märtyrerblut in ihm gegeben, so hätte gerade dieser Tropfen ihn länger am Leben erhalten, als ich es mir jemals hätte denken können. Aber er war kein Märtyrer, der Moritz, und so ist er ebenso umsonst in den Freitod gegangen, wie er auch umsonst gelebt hat.