verlag die werkstatt
Volker Backes | Andreas Beune | Christoph Ruf
Ohne Fußball
wär’n wir
gar nicht hier
Geschichten von Fans in der Midlife-Crisis
verlag die werkstatt
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Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt, Göttingen
ISBN 978-3-89533-856-4
[Vorwort]
Ohne Fußball wär’n wir gar nicht hier
[Christoph Ruf]
Ritual de lo habitual
[Andreas Beune]
Wie ich ein bemitleidenswerter Fan einer noch bemitleidenswerteren Fußballmannschaft wurde
[Volker Backes]
Zu viel E in Frankfurt
[Christoph Ruf]
Poldi pour Poldi
[Andreas Beune]
Wellenbewegungen im Kuchenblock
[Christoph Ruf]
Fanmeilenmenschen und echter Fußball
[Volker Backes]
Einen Bastard sich schön reden
[Christoph Ruf]
Das dumme Volk
[Andreas Beune]
Was der Fußballer uns lehrt
[Christoph Ruf]
Ultras
[Andreas Beune]
Vier Tage im August
[Volker Backes]
Sportabzeichen
[Andreas Beune]
Stecken lassen
[Christoph Ruf]
Perish like a fading horse
[Volker Backes]
Gott schütze Rot-Weiss Essen
[Andreas Beune]
Demais futebol
[Christoph Ruf]
Ich und der Ostfußball eine Abbitte
[Andreas Beune]
Absteigen in Altenbeken
[Volker Backes]
Wo bitte geht’s zum FC Agro?
[Andreas Beune]
Traumberuf Fußballmoderator
[Volker Backes]
Die Konstruktion von Wirklichkeit
[Andreas Beune]
Die Strafe ist vom Tierhalter gespeichert
[Andreas Beune]
Abschalten!
[Christoph Ruf]
Einstiegsdrogen ins Reich des Schwachsinns eine Abrechnung mit den Fußballfans
[Andreas Beune]
Eine Liebeserklärung an den Fußball
[Volker Backes]
Ohne Fußball wär’n wir gar nicht hier
Der Fußball hat uns geprägt. Geplante Weltrevolutionen und tatsächliche Familienfeiern mussten leider ohne uns auskommen, weil sie am Wochenende mit wichtigeren Dingen konkurrierten. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten haben wir Tausende Spiele verfolgt, in großen und kleinen Stadien, auf übergroßen und viel zu winzigen Fernsehern, am Radio und im Videotext. Von viel zu vielen dieser Spiele sind uns noch viel zu viele Bilder präsent, wichtige Tore und vergebene Großchancen, wunderbare Fangesänge und debile Kommentare, ehrliche und inhaltlose Aussagen von Spielern und Trainern. Obwohl wir selbst vom fußballerischen Talent weitgehend verschont wurden, hat uns dieser Ballsport mit all seinen Randerscheinungen gefesselt.
Jetzt, wo wir mittlerweile älter sind als alle Spieler auf dem Platz, zu denen man einst mit dem um Unterschriften bettelnden Sammelbildalbum in der vor Aufregung zitternden Hand hochblickte, sind wir mit einem Fußball konfrontiert, der in den vergangenen Jahren deutlich dynamischer, transparenter, präsenter und komfortabler geworden ist. Der Fußball ist mittlerweile nicht nur beim FC Barcelona schneller und taktisch variabler. Selbst von Zweitligaspielen gibt es ausführliche Statistiken über Laufwege und Zweikampfverhalten der Spieler. Fast täglich kann man eine Fußballpartie sehen, vor Ort oder im Fernsehen, im Internet sind die Ligen der Welt nur einen Mausklick entfernt. Man kann sich online über Taktiktrends in Südamerika informieren, aber auch über die Befindlichkeiten der Ultra-Szene eines handelsüblichen Drittligisten. Die High-Tech-Stadien präsentieren sich familienfreundlicher als die Stahlrohrkonstruktionen der achtziger Jahre.
Doch trotz all dieser Veränderungen ist das Unbehagen darüber gewachsen, dass der Fußball in der jüngeren Vergangenheit einen Teil seiner Seele verloren hat. Oder weniger pathetisch formuliert: dass der Fußball mit seinen Begleiterscheinungen langweiliger und farbloser geworden ist. In Zeiten, in denen Retortenklubs sich zwar Erfolg, aber keinen Charme kaufen können. In denen in austauschbaren Wohlfühlarenen der inszenierte Stimmungsterror manchen Zuschauern schon vor dem Anpfiff den letzten Nerv raubt. In denen Spieler und Trainer ewig gleiche nichtssagende Antworten auf oft auch nicht unbedingt fantasievolle Fragen geben. In denen das öffentlich-rechtliche Fußballvermarktungsprogramm Berichte über die Schattenseiten des Spiels gepflegt ins nächtliche Niemandsland verlegt. In denen manche Vereine mehr Geld und Energie in Marketingkampagnen stecken als in die eigene Mannschaft.
Wir bekennen: Wir sind Fußballfans in der Midlife-Crisis. Sätze wie „Fußball ist unser Leben“ kommen uns einfach nicht mehr über die Lippen, weil im Alter die Selbstachtung mit den grauen Haaren um die Wette wächst. Der heilige Ernst, mit dem wir noch vor 15 Jahren abendelang über die Kleinkriege in unseren Fanszenen diskutierten, ist uns abhanden gekommen. Dennoch juckt es uns nach wie vor in den Füßen, wenn am abendlichen Horizont ein illuminierter Flutlichtmast zu sehen ist. Und weil so ein Kribbeln nur aufhört, wenn man dem Drang nachgibt, leben wir auch heute noch jeden Tag mit der überbewertetsten Nebensache der Welt.
In diesem Spannungsfeld zwischen Faszination, Abhängigkeit und Ermüdung haben wir Sach- und Lachgeschichten aus der Fußballwelt zusammengetragen. Es sind Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven. Es geht um Erweckungs- und Erschreckenserlebnisse, um Auswärtstouren in den Osten und Stadiondialoge in Ostwestfalen, um den verzweifelten Umgang mit Devotionalien und fußballsüchtigen Kindern, den Einfluss von Fernsehsendern und Ultras. Aber auch um sportliche Selbstertüchtigung, demente Stadionordner und die wichtigste Sendung der Welt. Nicht die „Sportschau“, sondern die „Simpsons“. Dabei gehen wir der ganz und gar ernsthaften Frage nach, ob man vielleicht gerade dann Fußballfan ist, wenn einen die banalen Aussagen der Stars und die künstlichen Aufregungen der Medien nur noch zu Tode langweilen.
Kurzum: Gründe genug, um ein Buch zu schreiben, das das Lebensgefühl derer widerspiegelt, die zu alt sind, um noch Ultra zu sein. Und zu jung, um nicht sofort zur Fernbedienung zu greifen, wenn uns Jessica Kastrop und Franz Beckenbauer eine Welt erklären, die wir besser kennen als sie.
Johann Wolfgang von Goethe muss für vieles herhalten, wogegen er sich aus rein biologischen Gründen nicht mehr wehren kann. Frackträger aus dem mittleren Management von Autoversicherern geben bei Weihnachtsfeiern Zitate aus seinen Werken zum besten, Studentenverbindungen besaufen sich in seinem Namen, und überhaupt gibt es hierzulande sicher weit mehr Goethe-straßen als Menschen, die den guten Mann mit „oe“ statt mit „ö“ schreiben. Kurzum: Der bedauernswerte Dichterfürst wird von den absonderlichsten Gestalten in Beschlag genommen.
Sogar von Fußballfans in der Midlife-Crisis, die im Stadion immer öfter an den armen Werther und dessen Leiden denken müssen. Der junge Mann seufzte ja bekanntlich bereits in den Siebzigern des 18. Jahrhunderts, es sei „ein einförmig Ding um das Menschengeschlecht“. Ritualisierte Vergnügungen („Eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit“), wohin das Auge reicht. Ein wenig Tanz, ein Humpen Bier. Zur Verwunderung Werthers waren seine Mitmenschen damit zufrieden.
Sie sind es auch heute noch, 240 Jahre später. Kein Wunder, schließlich gibt es heutzutage weit mehr Fernsehsender als kluge Moderatoren und mehr Chipsvariationen als demokratische Parteien. Und es gibt den Fußball, diese riesige Projektionsfläche, über die sich immerhin an Positivem feststellen lässt, dass jeder Stadionbesuch sinnvoller ist, als seine Kinder zu verprügeln oder „Wetten, dass..?“ zu schauen. Aber sonst? Wer wie wir Sportjournalisten das Privileg hat, jedes Wochenende mindestens zwei Spiele live im Stadion zu sehen und dabei nicht mit Taubheit geschlagen ist, muss gar nicht einmal so bewundernswert feinfühlig wie Herr Werther sein, um zu verzweifeln. Es genügt die Prise Ungeduld, die die Lebenden von den Toten unterscheidet, um zu verzweifeln: Allüberall der gleiche monotone Singsang, die gleichen Melodien, die gleichen pathetischen Treueschwüre. Von den Gegnerbeschimpfungen mal ganz zu schweigen. Der wird wahlweise mit „Scheiß Bayern München“ oder „Münchner Arschlöcher“ bedacht. Geht auch prima mit Kölnern, Hamburgern oder Dortmundern. Sprache, oh, du Quell steter Freuden.
Nicht, dass ich etwas gegen Gegnerbeschimpfungen hätte. Aber ganz im Gegenteil! Die gehören zum Fußball unbedingt dazu und lassen sich mit Shakespeare- oder Werther-Zitaten eben nicht besonders glaubwürdig artikulieren. Aber eben auch nicht mit Drei-Wort-Tourette-Syndrom-Stakkatos, die jeder Profi in seinem Leben schon 4.837-mal gehört hat. Es ist eben nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Bastian Schweinsteiger tief getroffen zeigt, nur weil ein paar Tausend Zuschauer der Meinung sind, sein Verein sei „Scheiße“. Wer jemanden treffen will, muss gut zielen. Und verdammt noch mal, es gibt doch sicher in jeder Fankurve ein paar Sadisten oder Charakterschweine, die sich vor einem Spiel einige originellere Tiraden überlegen könnten, oder? Manchmal reicht doch schon ein Blick auf das Mannschaftsfoto des Gegners!
Das gleiche Elend beim angeblichen „Support“ der eigenen Mannschaft. Die Seite www.fangesaenge.de listet bei manchen Vereinen (Spitzenreiter ist derzeit Schalke 04) weit über 150 verschiedene Songs und Slogans auf, die da angeblich aus dem Fanblock zu hören seien. Selbst wenn man weiß, dass der Shanty mit dem Titel „Lalalala Schalke“, der mit dem Text „Lalalalala lalala Schalke“, der namens „Lalalalala Gelsenkirchen Schalke“, der namens „Lalalalala ich liebe S 04“ sowie die beiden Preziosen „Lalalala Schalke 04“ und „Lalalalala Hey“ schon sechs der 168 aufgezählten sind, spricht das doch für eine erstaunliche Kreativität bei der Variation der beiden Buchstaben „l“ und „A“. Aber wir wollen nicht zu streng sein. Auch der Buchstabe „O“ und das Wort „super“ erfreuen sich einer gehörigen Beliebtheit. Deshalb gibt es in allen Fanszenen zu mindestens zehn verschiedenen Melodien die Lobpreisung des jeweiligen Vereinsnamens in Kombination mit den Worten „Super“, „Olé“ oder „Schalala“. Es gibt Krabbelgruppen, in denen die Einjährigen sich differenzierter ausdrücken.
Blieben noch die Ultras, die Chefs in den Fankurven, deren Protagonisten noch nachts um drei Uhr unwiderlegbar begründen könnten, warum sie sich so grundsätzlich von der unfassbar dämlichen Szene in der Nachbarstadt unterscheiden. Das tun sie sicher auch nur nicht in ihren Gesängen. Auch die Ultras finden „Lala“, „Oléolé“ und Co. super, lassen ansonsten aber immerhin mit liebevollen Choreografien das Auge jubilieren. Zuweilen dichten sie auch eigene Lieder, teilweise extra auf einen bestimmten Spieltag abgestimmt und überhaupt. Aber nur allzu oft sind sie dennoch auf verlorenem Posten, weil wieder 90 Prozent der Leute den Text nicht kennen und es auf Dauer doch reichlich dämlich aussieht, wenn man wie einst die Wiener Sängerknaben mit einem Zettel vor der Nase den Bariton erklingen lässt, während unten die Mannschaft den dritten Platzverweis kassiert. Wahrscheinlich vertonen deswegen auch so viele Ultras aus lauter Frust 90 Minuten lang Reime von der Güteklasse „Auf geht’s, Name der Heimmannschaft, schieß ein Tor, schieß ein Tor für uns …“.
Es ist ein einförmig … aber das hatten wir ja schon.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ligen geht es in Deutschlands Stadien wenigstens laut zu, Fußball ist allermeistens noch wirklich ein Live-Erlebnis, das der bedauernswerte Fernseh-Fußball-Fan (ein Widerspruch in sich) nie kennenlernen wird. Alles wäre bestens, wenn, ja wenn es nur hin und wieder mal ein klein bisschen überraschender zugehen würde.
Am dringlichsten erscheint dieser Wunsch all denen, die das Pech haben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Stadien ihrer Wahl ruckeln zu müssen. Jenen metallenen Seuchenvögeln, die sich mal Bus, mal Straßenbahn, mal U-, mal S-Bahn nennen. Im „Guinness“-Buch der Rekorde heißt es, dass bis zu 52 Menschen in einen Mittelklassewagen passen. Angeblich haben die 52 Menschen das sogar ausprobiert. Chapeau!
Fußballfans können darüber nur lachen. Sie wissen, dass man längst nicht ersticken muss, wenn sich ein Dutzend Menschen 20 Minuten lang zwei, drei Kubikmeter Luft teilen müssen, der nach wenigen Sekunden nach einer perfiden Mixtur aus eingeschweißten Frikadellen, schalem Bier und frischem Furz riecht. Doch das ist nicht das Schlimmste, nicht einmal in Köln, wo das dauereuphorisierte Fanvolk die ewig lange Fahrt raus zum Stadion auch noch durchgehend mit Karnevalsliedern ausfüllt eine Praxis, vor der selbst die hartgesottensten Folterknechte in Guantanamo bislang zurückschreckten.
Nein, das Schlimmste ist, dass öffentliche Verkehrsmittel offenbar besonders gern von Fußballfreunden heimgesucht werden, die das komplette Fehlen von Humor durch Lautstärke und Wiederholung auszugleichen versuchen. Es sind genau jene Menschen, bei denen man erst dann merkt, dass sie soeben einen Witz gerissen haben, wenn sie am Schluss „Spaß muss sein“ sagen und triumphierend um sich schauen. Bei der Fahrt zum Stadion das ist das Murphy’sche Gesetz des Fußballfreundes findet sich immer mindestens einer davon in exakt dem Abteil, in dem man selbst steht. Immer dann, wenn es richtig voll geworden ist, die Türen trotzdem irgendwie noch zugehen und das Fahrzeug losruckelt, wertet er das als Signal, seine Arbeit als Witzbold aufzunehmen. Er stellt dann auch pflichtbewusst nach wenigen Sekunden fest, dass so ein voll besetztes Abteil doch auch sein Gutes habe: „So kann man wenigstens nicht umfallen.“ Und dann zieht er den Joker … Es mag Gottesdienste geben, in denen das Wort „Amen“ nicht mehr vorkommt, Metzger, die auf der Fleischermesse vegane Ernährung propagieren. Und vielleicht gibt es sogar einmal einen Beckenbauer-Sermon, der ohne ein kräftiges „Ja gut“ beginnt. Aber glauben Sie mir: Es wird in den nächsten hundert Jahren nie passieren, dass sich eine vollbesetzte U-Bahn in Fahrt setzt, ohne dass kurz darauf jemand „Fahrscheinkontrolle“ brüllt. Vollkommen ausgeschlossen. Und was noch erstaunlicher ist: Es gibt immer wieder Leute, die daraufhin schallend zu lachen anfangen. Sie merken: Es ist ja so was von einförmig um das Menschengeschlecht …
Ich bin ein wenig ratlos. Vielleicht sollte ich einfach wieder öfter mit dem Auto ins Stadion fahren. Oder zu Fuß gehen. Städte wie Osnabrück, Dresden oder Hannover haben in meiner Wertschätzung jedenfalls ungeheuer gewonnen, seit ich weiß, dass man ihre Stadien vom Bahnhof aus bequem zu Fuß erreichen kann.
Eines aber ist klar. Wenn es nach mir ginge, würden drei von vier Stadionverboten wieder aufgehoben, da bin ich ganz Ultra. Aber mit U-Bahn-Verboten würde ich nur so um mich werfen!
Mein Vater war kein Fußballfan. Er ging nicht wie viele andere seiner Generation ins Stadion und schmetterte nach zwei gespielten Minuten dem Linienrichter ein „Boaaah, du Sauuu“ entgegen, weil der eine vermeintlich falsche Einwurfentscheidung getroffen hatte. Mein Vater verfolgte nur die Spiele der deutschen Nationalmannschaft vor dem Fernseher. „Und, wie haben sie gespielt?“, fragte nachher meine Mutter. „4:0 gewonnen“, knurrte mein Vater, „aber das, was die sich in den letzten drei Minuten zusammengespielt haben, war einfach nur schlecht. Die können gar nix. Das nächste Mal schaue ich mir das Elend nicht mehr an.“ Überflüssig zu erwähnen, dass er es natürlich trotzdem tat.
Ich verstand davon nichts. Nur so viel: Fußballgucken macht unglücklich. Eines Tages sollte ich meine Einstellung ändern. Es geschah im Spätsommer 1981. Samstags fuhren wir mit der Familie zum Schwimmen ins Hallenbad nach Halle/Westfalen. Planschen im Wasser war kein Quell des Vergnügens. Das Chlorwasser war nicht nur nass, sondern schmeckte fürchterlich. Zudem hatte ich Höhenangst, wenn ich auf einem 1-Meter-Brett stand. Andere Kinder, die auch samstags mit der Familie schwimmen mussten, protestierten auf ihre Art: Sie pinkelten ins Becken, und ein ganz Mutiger hat einmal sogar im Schwimmerbecken sein großes Geschäft verrichtet. So was traute ich mich nicht. Also bemühte ich mich und zog langsam wie eine pensionsberechtigte Schildkröte meine Bahnen.
An diesem Samstag aber lenkte mich etwas ab. Am Ende der Schwimmbahn war ein Café, in dem Männer mit prächtigen Wänsten saßen. Wahrscheinlich Väter, die ihre Kinder in der Umkleidekabine eingeschlossen hatten, um endlich einmal in Ruhe hier zu sitzen und schweigsam dem Radio zu lauschen. Bis plötzlich eine Stimme aus dem Gerät brüllte: „Elfmeter in Bielefeld! Sackewitz läuft an und Tor! Das 1:1 gegen den 1. FC Köln!“ Die Männer jubelten. Nickten sich gütig und verschwörerisch zu. Rieben sich die Bäuche. Sie sahen anders aus als mein Vater vorm Fernseher. Irgendwie glücklich und mit sich im Reinen. Und etwas, das Arminia Bielefeld hieß und offenbar eine Fußballmannschaft war, hatte sie dazu animiert. Ich beschloss, dass genau so was meinem Leben fehlte. Eine Ausrede, nicht mehr zum Schwimmen zu fahren. Und ein Spender von Glückseligkeit und Frohsinn.
Ich hätte es besser wissen können. Meine neue Freundin entpuppte sich bereits auf dem Heimweg als überaus zickig und unfähig. Als die Schlusskonferenz im Radio beendet war, hatte Arminia das Heimspiel 2:5 verloren. Vielleicht war das eine Warnung. Eine Warnung vor einer falschen Gefährtin, deren größtes Hobby das Bereiten von Enttäuschungen ist. Existieren Fußballmannschaften nicht eigentlich aus dem Grund, Titel und Trophäen zu sammeln oder zumindest in ihre Nähe zu kommen? Sollten Fußballmannschaften nicht im Laufe eines über 100-jährigen Bestehens mehr erreicht haben, als Rekorde im Auf- und Absteigen aufzustellen? Arminia Bielefeld ist eine Schlange. Nur dass sie sich samt Apfelbaum niemals im Paradies aufgehalten hat.
Arminia trug ihre Heimspiele auf der „Alm“ aus. Für mich ein mythischer, geheimnisvoller Ort. Bis zu jenem Kindergeburtstag eines Freundes, der durch den Besuch des Bundesligaspiels Arminia Bielefeld gegen Eintracht Braunschweig seine eigentliche Würze verliehen bekommen sollte. Die Eltern des Geburtstagskindes meinten es gut mit uns. Aber wie das so oft ist: Zwischen gut gemeint und gut gemacht prangt mitunter eine große Lücke. Die Karten waren für den Gästeblock. Das merkten wir aber erst, als die Erwachsenen uns im Stadion mit den Worten ablieferten: „Wir holen euch hier nach dem Spiel wieder ab.“ Da standen wir nun. Mit Schals und Pulsarmbändern, die uns eindeutig als Bielefelder Fans identifizierten. Ich trug ein viel zu enges Trikot, das einen Bauch umspannte, der schon in jungen Jahren beeindruckende Ausmaße angenommen hatte, um der Fußballfankost der kommenden Jahre Bier und Bratwurst ein kuscheliges Zuhause zu bereiten. Dadurch war allerdings auch der Schriftzug „Seidensticker“ noch besser zu lesen. Als die Braunschweiger Fans erkannten, dass direkt neben ihnen acht einsame kleine Bielefelder standen, leiteten sie umgehend pädagogische Maßnahmen ein. Mich ließen sie in Ruhe, weil eine Person mit XL-Maßen und Kleidung in XS-Größe sogar bei zahnlosen Rowdies Mitleid hervorruft. Auch raubten sie weder unsere Fan-Devotionalien, noch überschütteten sie uns mit Getränken, nein, sie schnappten sich einen von uns, zogen ihm einen Schuh aus und warfen diesen aufs Spielfeld. Kein Ordner, kein Polizist weit und breit, der hätte eingreifen können.
Zum Glück hatte die Partie noch nicht begonnen. Die Braunschweiger Mannschaft lief sich vor unseren Augen warm und die Spieler staunten nicht schlecht, als ein fliegender Schuh auf sie niederging. Der Torhüter der damalige Nationalspieler Bernd Franke begutachtete das Fluggeschoss, blickte etwas überrascht in den Fanblock und erspähte einen kleinen Jungen mit hochrotem Kopf, der schüchtern winkte. Franke schlurfte zum Zaun und unser Freund humpelte unbeholfen die Stufen hinunter. Der Torhüter gab den Schuh zurück.
Wir überlegten uns in der Zwischenzeit, ob man durch das Ausschneiden und das geschickte Vertauschen von Buchstaben, die auf unseren Trikots und Hemden klebten, nicht aus dem Wort „Bielefeld“ das Wort „Braunschweig“ bilden könnte. Wir konnten es nicht. Folglich blieb uns nichts anderes übrig, als uns so weit wie möglich von diesen Hünen mit ihren Jeansjacken und den Aufnähern mit nackten Frauen zu entfernen. Zuhause hatten meine Eltern eine Langspielplatte von Franz Josef Degenhardt. Die hieß: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern.“ Das hier waren Schmuddelkinder. Und sie wollten mit uns spielen. In den folgenden Stunden achteten wir vor allem auf unsere Stehplatznachbarn, die komische Lieder von „brennenden Reichsbahnen“ sangen und lauthals einen kollektiven Besuch eines einschlägigen Etablissements in Barcelona ankündigten. Erfreulicherweise schienen die Arminen-Spieler von unserer Gefahrensituation unterrichtet worden zu sein, auf jeden Fall weigerten sie sich standhaft, den Strafraum des Gegners aufzusuchen. Und da die Braunschweiger offensichtlich Angst hatten, bei einem Torversuch ihrerseits von den Bielefelder Fans mit Schuhen beworfen zu werden, stand es nach 90 trostlosen Minuten 0:0.
Als uns die Eltern des Geburtstagskindes abholten und fragten: „Na wie war’s?“, antworteten wir ebenso bleich wie glücklich, mit dem Leben davongekommen zu sein: „Super!“ Das war natürlich gelogen. Und diese Lüge, dieses coole Mackertum und das Nicht-Eingestehen-Wollen von Angst und Schwäche hat sich bitter gerächt. Den größten Speianfall meines Lebens bekam ich an jenem Tag, als ich Knäckebrot mit Teewurst und einer remouladenartigen Soße aß und meine Mutter fragte, was das denn Leckeres sei. Doch sie antwortete nur: „Das ist Braunschweiger mit …“ Den Rest bekam ich nicht mehr mit, dafür aber der Küchenfußboden. Noch heute, wenn mich meine Frau nach einem Alptraum weckt, beruhigt sie mich mit den Worten: „Ruhig, Andreas, die Braunschweiger sind nicht einmarschiert.“
Keine Frage: So konnte es nicht weitergehen. Ich musste etwas tun. Irgendetwas Psychologisches. Und wie alle Väter kam ich zu dem Schluss, dass es das Beste sei, wenn ich meine Träume und Alpträume auf meinen Sohn übertrage.
Als der drei Jahre alt war, versuchte ich ihm behutsam die elementaren Dinge des Fußballspiels zu vermitteln. Irgendwas musste ich dabei falsch gemacht haben. Denn immer, wenn er damals eine Fußballpartie im Fernsehen verfolgte, brüllte er „Foul“, wenn der Reporter „Foul“ rief, und riss danach jubelnd die Arme hoch. Fiel aber irgendwo ein Tor, interessierte ihn das so sehr wie der abendliche Zahnputz-Appell.