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Joseph Conrad

Nostromo

Joseph Conrad

Nostromo

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Ernst Wolfgang Freisler
EV: S. Fischer Verlag, Berlin, 1927
1. Auflage, ISBN 978-3-954185-43-6

null-papier.de/99

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Inhaltsverzeichnis

Über den Au­tor

Über die­ses Buch

Vor­be­mer­kung des Ver­fas­sers

Ers­ter Teil – Das Sil­ber der Mine

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Zwei­ter Teil – Die Isa­bel­len

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

Drit­ter Teil – Der Leucht­turm

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

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Über den Autor

Jo­seph Con­rad (1857 - 1924) war ein Schrift­stel­ler pol­ni­scher Her­kunft, der in eng­li­scher Spra­che schrieb.

Sein Va­ter, Apol­lo Kor­ze­niow­ski ist Schrift­stel­ler und pol­ni­scher Pa­tri­ot, der Sha­ke­s­pea­re und Hugo über­setzt und sei­nem Sohn die Li­te­ra­tur na­he­legt. Nach der Be­set­zung Po­lens durch Russ­land in der »zwei­ten Tei­lung« wird der Va­ter 1861 ver­haf­tet und spä­ter mit­samt Frau und dem erst 5-jäh­ri­gen Jo­seph in die Ver­ban­nung ins nor­drus­si­sche Wo­log­da ge­schickt. Dort stirbt die Mut­ter, Va­ter und Sohn keh­ren nach Straf­ver­bü­ßung 1865 ins pol­ni­sche Kra­kau zu­rück. Als auch der Va­ter 1869 stirbt, er­hält der On­kel Ta­deusz das Sor­ge­recht über ihn.

1886 er­langt Con­rad die bri­ti­sche Staats­bür­ger­schaft. 1888 wird er Ka­pi­tän. Sei­ne Er­leb­nis­se zur See bil­den meist den Hin­ter­grund der von ihm ge­schaf­fe­nen Er­zäh­lun­gen.

Etwa 1890 be­ginnt Jo­seph Con­rad zu schrei­ben. Zeit sei­nes Le­bens schafft er ein um­fang­rei­ches li­te­ra­ri­sches Werk. Lan­ge ist er auf Gön­ner an­ge­wie­sen, doch 1914 hat er end­lich den schrift­stel­le­ri­schen Durch­bruch mit »Spiel des Zu­falls«. Con­rads be­kann­tes­te Schöp­fun­gen sind die Ro­ma­ne »Lord Jim«, »Nostro­mo« und »Herz der Fins­ter­nis« (eben­falls er­schie­nen bei Null Pa­pier). Letz­te­res ist bis heu­te das meist­zi­tier­te und be­deu­tends­te Buch von ihm.

Über dieses Buch

Der fik­ti­ve Süd­ame­ri­ka-Staat Cos­ta­gua­na, seit Jahr­zehn­ten ge­prägt von Dik­ta­tu­ren, Bür­ger­krie­gen und blu­ti­gen Re­gi­me­wech­seln. Eine Sil­ber­mi­ne wird zum Ge­gen­stand macht­vol­ler In­ter­es­sen im In- und Aus­land. Durch eine neu­er­li­che Re­vo­lu­ti­on wird sie von den an­de­ren Lan­des­tei­len Cos­ta­gua­nas ge­trennt. Für die ein­ge­wan­der­ten Ita­lie­ner wird Cos­ta­gua­na nach dem Schei­tern der eu­ro­päi­schen Re­vo­lu­tio­nen von 1848 zum wich­ti­gen Exil.

Die Ti­tel­fi­gur, der See­mann Nostro­mo, ist ein ge­stran­de­ter Ita­lie­ner. Nostro­mo ar­bei­tet für Mit­chell, der die ört­li­che Nie­der­las­sung ei­ner eng­li­schen Schiffs­ge­sell­schaft, der O. S. N. Com­pa­ny, lei­tet. Der Ei­gen­tü­mer der Mie­ne be­auf­tragt Nostro­mo, die letz­te La­dung Sil­ber­bar­ren in Si­cher­heit zu brin­gen, da­bei kommt es zum Zu­sam­men­stoß mit den Put­schis­ten.

»Nostro­mo« gilt als ei­ner der wich­tigs­ten eng­lisch­spra­chi­gen Ro­ma­ne des 20. Jahr­hun­derts.

Vorbemerkung des Verfassers

Nostro­mo ist die am sorg­fäl­tigs­ten durch­dach­te der län­ge­ren Er­zäh­lun­gen aus der Zeit nach der Ver­öf­fent­li­chung des No­vel­len­ban­des Tai­fun.

Ich will nicht sa­gen, dass mir da­mals etwa ein Wech­sel in mei­ner Ein­stel­lung auf mei­ne künst­le­ri­sche Auf­ga­be zum Be­wusst­sein ge­kom­men wäre. Und viel­leicht hat es einen sol­chen Wech­sel auch gar nicht ge­ge­ben, au­ßer in je­nem ge­heim­nis­vol­len, un­ter­be­wuss­ten Punkt, der mit den Kunst­theo­ri­en nichts zu tun hat; einen kaum merk­li­chen Wech­sel in der Art der Ein­ge­bung; ein Phä­no­men, für das ich in kei­ner Wei­se ver­ant­wort­lich zu ma­chen bin. Was mich al­ler­dings et­was be­un­ru­hig­te, war der Um­stand, dass ich nach Been­di­gung der letz­ten No­vel­le von »Tai­fun« ir­gend­wie das Ge­fühl hat­te, es wäre über nichts in der Welt mehr zu schrei­ben.

Die­se ei­gen­ar­tig ver­nei­nen­de und be­un­ru­hi­gen­de Stim­mung hielt ge­rau­me Zeit an; und dann ent­stand in mir, wie bei vie­len mei­ner län­ge­ren Er­zäh­lun­gen, der ers­te Ge­dan­ke für »Nostro­mo« in Ge­stalt ei­ner flüch­ti­gen An­ek­do­te, ohne ver­wend­ba­re Ein­zel­hei­ten.

Tat­säch­lich hat­te ich im Jah­re 1875 oder 1876, als ganz jun­ger Mensch, in West­in­di­en oder viel­mehr im Golf von Me­xi­ko, denn mei­ne Berüh­run­gen mit dem Lan­de wa­ren kurz, sel­ten und flüch­tig, die Ge­schich­te ei­nes Man­nes ge­hört, von dem es hieß, er habe ganz al­lein eine Leich­ter­la­dung Sil­ber ge­stoh­len, ir­gend­wo an der Küs­te der Tier­ra Fir­me, wäh­rend der Wir­ren ei­ner Re­vo­lu­ti­on.

Auf den ers­ten Blick er­schi­en dies als et­was wie eine Tat. Aber ich hör­te kei­ne Ein­zel­hei­ten, und da mir das In­ter­es­se für das Ver­bre­chen als sol­ches fehlt, so war kaum an­zu­neh­men, dass mir dies eine im Ge­dächt­nis blei­ben soll­te. Und ich ver­gaß es auch, bis ich sechs- oder sie­ben­und­zwan­zig Jah­re spä­ter dar­auf stieß, in ei­nem schun­di­gen Büch­lein, das ich in der Aus­la­ge ei­nes Alt­händ­lers auf­ge­stö­bert hat­te. Es war die Le­bens­ge­schich­te ei­nes ame­ri­ka­ni­schen See­manns, von ihm selbst un­ter Bei­hil­fe ei­nes Jour­na­lis­ten ge­schrie­ben. Im Lau­fe sei­ner Wan­der­jah­re hat­te die­ser ame­ri­ka­ni­sche Ma­tro­se ei­ni­ge Mo­na­te lang an Bord des Scho­ners ge­dient, des­sen Eig­ner und Schif­fer der Dieb war, von dem ich in mei­nen jun­gen Ta­gen ge­hört hat­te. Dar­über habe ich nicht den ge­rings­ten Zwei­fel, denn es könn­te ja schwer­lich zwei Un­ter­neh­mun­gen der glei­chen be­son­de­ren Art, im glei­chen Teil der Welt ge­ben, bei­de in Ver­bin­dung mit ei­ner süd­ame­ri­ka­ni­schen Re­vo­lu­ti­on.

Der Bur­sche hat­te es tat­säch­lich fer­tig­ge­bracht, einen Leich­ter voll Sil­ber zu steh­len, und zwar, wie es scheint, ein­fach des­we­gen, weil ihm sei­ne Dienst­ge­ber blind ver­trau­ten, die auf­fal­lend schlech­te Men­schen­ken­ner ge­we­sen sein müs­sen. In der Le­bens­ge­schich­te des Ma­tro­sen er­scheint die­ser Mann als ein ruch­lo­ser Schur­ke, ein nied­ri­ger Be­trü­ger, sinn­los roh und übel­lau­nig, von ge­mei­nem Aus­se­hen und gänz­lich un­wür­dig der Grö­ße, zu der ihm der Zu­fall ver­hel­fen hat­te. Merk­wür­dig war es, dass er sich sei­ner Tat of­fen rühm­te.

Er pfleg­te zu sa­gen: »Die Leu­te glau­ben, dass ich mit mei­nem Scho­ner da eine Men­ge Geld ver­die­ne, aber das ist gar nichts. Ich sche­re mich nicht drum. Ab und zu gehe ich ru­hig hin und hole mir einen Sil­ber­bar­ren. Ich muss lang­sam reich wer­den – du ver­stehst.«

Der Mann wies noch einen an­de­ren merk­wür­di­gen We­sens­zug auf. Ein­mal, bei Ge­le­gen­heit ir­gend­ei­nes Strei­tes, droh­te ihm der Ma­tro­se: »Was soll­te mich ab­hal­ten, an Land wie­der­zu­er­zäh­len, was Sie mir von dem Sil­ber ge­sagt ha­ben?«

Der zy­ni­sche Gau­ner war nicht im Ge­rings­ten be­stürzt. Er lach­te so­gar: »Du Narr, wenn du es wagst, an Land so über mich zu spre­chen, so wirst du ein Mes­ser in den Rücken be­kom­men. Je­der, Mann, Weib und Kind, in dem Ha­fen ist mir freund. Und wer will be­wei­sen, dass der Leich­ter nicht ge­sun­ken ist? Ich habe dir nicht ge­zeigt, wo das Sil­ber ver­bor­gen ist, oder? So weißt du gar nichts. Und wenn ich ge­lo­gen hät­te? He?«

Schließ­lich brann­te der Ma­tro­se von dem Scho­ner durch, an­ge­wi­dert von der schmut­zi­gen Ge­mein­heit die­ses so gar nicht reu­mü­ti­gen Die­bes. Der gan­ze Vor­fall nimmt etwa drei Sei­ten sei­ner Le­bens­ge­schich­te ein. Kaum der Rede wert; als ich sie aber über­flog, da weck­te die merk­wür­di­ge Be­stä­ti­gung der we­ni­gen, zu­fäl­li­gen Wor­te, die ich in frü­he­s­ter Ju­gend ge­hört hat­te, die Erin­ne­rung an jene fer­ne Zeit, da al­les so frisch ge­we­sen war, so über­ra­schend, so aben­teu­er­lich und reiz­voll. Frem­de Küs­ten­stri­che un­ter den Ster­nen, Hü­gel­schat­ten im Son­nen­schein, mensch­li­che Lei­den­schaf­ten im Dun­keln, halb­ver­ges­se­ne Wor­te, ent­schwun­de­ne Ge­sich­ter … Vi­el­leicht, viel­leicht gab es doch noch et­was in der Welt, wor­über sich schrei­ben ließ. Den­noch sah ich zu­nächst nichts da­von in der blo­ßen Er­zäh­lung. Ein Gau­ner stiehlt eine große Men­ge ei­ner wert­vol­len Ware – so sa­gen die Leu­te. Es ist ent­we­der wahr oder un­wahr; und kei­nes­falls an sich wich­tig. Eine um­ständ­li­che Ge­schich­te die­ses Dieb­stahls zu er­fin­den, reiz­te mich nicht, denn da mei­ne Be­ga­bung nicht in die­ser Rich­tung liegt, so schi­en mir der Lohn nicht der Mühe wert. Erst als es mir auf­däm­mer­te, dass der Schatz­dieb nicht not­wen­dig ein über­zeug­ter Schuft ge­we­sen sein muss­te, dass er viel­leicht so­gar ein Mann von Cha­rak­ter sein konn­te, der wäh­rend der Wech­sel­fäl­le der Re­vo­lu­ti­on eine Rol­le ge­spielt hat­te, etwa auch ihr Op­fer ge­we­sen war: – da erst er­schi­en mir in däm­me­ri­gen Um­ris­sen das Land, das be­stimmt war, die Pro­vinz von Su­la­co zu wer­den, mit sei­ner ho­hen, schat­ti­gen Sier­ra und sei­nem neb­li­gen Cam­po, als stum­men Zeu­gen der Ge­scheh­nis­se, die sich aus den Lei­den­schaf­ten der im Gu­ten und im Bö­sen kurz­sich­ti­gen Men­schen er­ge­ben.

Dies sind tat­säch­lich die ers­ten An­sät­ze zu »Nostro­mo« – dem Buch. Von je­nem Au­gen­blick an, glau­be ich, muss­te es ent­ste­hen. Doch zö­ger­te ich selbst dann noch, als hät­te mich der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb ge­warnt, mich auf eine wei­te und müh­sa­me Rei­se zu wa­gen, in ein Land voll Un­ru­hen und Ge­fah­ren. Doch es muss­te sein.

Der größ­te Teil der Jah­re 1903 und 1904 ging dar­über hin, un­ter­bro­chen durch viel­fach wie­der­hol­tes Zö­gern, um mich nicht ganz in die un­ge­mes­se­nen Wei­ten zu ver­lie­ren, die sich mit der fort­schrei­ten­den Kennt­nis des Lan­des vor mir auf­ta­ten. Oft auch, wenn ich mich in den ver­wi­ckel­ten Ver­hält­nis­sen der Re­pu­blik fest­ge­rannt hat­te, pack­te ich, bild­lich ge­spro­chen, mei­nen Kof­fer, floh von Su­la­co, um Luft­wech­sel zu ha­ben, und schrieb ein paar Sei­ten an »Im Spie­gel der See«. Im Gan­zen ge­nom­men aber währ­te, wie schon ge­sagt, mein Auf­ent­halt in La­tei­nisch-Ame­ri­ka, das für sei­ne Gast­lich­keit be­rühmt ist, un­ge­fähr zwei Jah­re. Bei mei­ner Rück­kehr fand ich (um etwa mit Ka­pi­tän Gul­li­ver zu spre­chen) mei­ne Fa­mi­lie wohl­auf, mei­ne Frau herz­lich er­freut dar­über, dass der Tru­bel ein Ende hat­te, und mei­nen klei­nen Jun­gen wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit be­trächt­lich ge­wach­sen.

Mei­ne Haupt­quel­le für die Ge­schich­te von Cos­ta­gua­na ist na­tür­lich mein ver­ehr­ter Freund, der ver­stor­be­ne Don José Avel­la­nos, Ge­sand­ter an den Hö­fen von Eng­land, Spa­ni­en usw. usw., mit sei­ner un­par­tei­ischen und be­red­ten »Ge­schich­te von fünf­zig Jah­ren Miss­wirt­schaft«. Die­ses Werk wur­de nie ver­öf­fent­licht – der Le­ser wird ent­de­cken, warum –, und ich bin tat­säch­lich der ein­zi­ge Mensch in der Welt, der um sei­nen In­halt weiß. Ich habe mich in nicht we­nig Stun­den erns­ten Nach­den­kens da­mit ver­traut ge­macht und hof­fe, dass man mei­ner Gründ­lich­keit Glau­ben schen­ken wird. Um mir selbst Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren zu las­sen und die Be­fürch­tun­gen weit­sich­ti­ger Le­ser zu be­schwich­ti­gen, möch­te ich be­to­nen, dass die we­ni­gen his­to­ri­schen An­spie­lun­gen nie­mals nur zu dem Zwe­cke ge­macht sind, um mit mei­nem ein­zig­ar­ti­gen Wis­sen zu prun­ken, son­dern dass jede Ein­zel­ne da­von eng mit der Hand­lung ver­knüpft ist: in­dem sie ent­we­der ein Streif­licht auf lau­fen­de Vor­komm­nis­se wirft oder sich un­mit­tel­bar auf die Schick­sa­le der han­deln­den Per­so­nen be­zieht.

Was nun die Ein­zel­schick­sa­le an­geht, so habe ich mich be­müht, sie alle – Ari­sto­kra­ten und Volk, Män­ner und Frau­en, Ro­ma­nen und An­gel­sach­sen, Ban­di­ten und Po­li­ti­ker – mit so küh­ler Hand zu zeich­nen, wie es in der Hit­ze und im Drang mei­ner ei­ge­nen wi­der­strei­ten­den Ge­füh­le nur mög­lich war. Und schließ­lich ist ja dies auch die Ge­schich­te ih­res ei­ge­nen Wi­der­streits. An dem Le­ser wird es lie­gen, zu ent­schei­den, in­wie­weit sie An­teil­nah­me ver­die­nen, für ihre Ta­ten und ihre ge­hei­men Zie­le, wie sie sich un­ter dem bit­te­ren Zwang der Zeit ent­hül­len. Ich ge­ste­he, dass für mich jene Zeit die Zeit treu­er Freund­schaft und un­ver­ges­se­ner Gast­lich­keit ist. Und hier muss ich dank­bar der Frau Gould ge­den­ken, der »ers­ten Dame von Su­la­co«, die wir mit gu­tem Ge­wis­sen der stil­len Ver­eh­rung des Dr. Mony­g­ham über­las­sen dür­fen, und ih­res Man­nes Charles Gould, des idea­lis­ti­schen Schöp­fers ma­te­ri­el­ler In­ter­es­sen, den wir sei­ner Mine über­las­sen müs­sen – von der es in die­ser Welt kein Ent­rin­nen gibt.

Über Nostro­mo, den zwei­ten der bei­den nach Ras­se und Ge­sell­schafts­schicht so ver­schie­de­nen Män­ner, die bei­de im Bann des Sil­bers aus der San-Tomé-Mine ste­hen, muss ich noch ein paar Wor­te mehr sa­gen.

Ich hat­te kei­ne Be­den­ken, die­se Haupt­fi­gur zum Ita­lie­ner zu ma­chen. Es ist vor al­lem durch­aus glaub­haft: Die west­li­che Pro­vinz wim­mel­te da­mals von Ita­li­e­nern, wie je­der beim Wei­ter­le­sen se­hen wird; und zwei­tens pass­te kein an­de­rer so gut an die Sei­te Gior­gio Vio­las, des Ga­ri­bal­di­ners, des Idea­lis­ten aus der Zeit der al­ten men­schen­freund­li­chen Re­vo­lu­tio­nen. Ich brauch­te da­für einen Mann aus dem Vol­ke, so frei wie mög­lich von ge­sell­schaft­li­chem Her­kom­men und je­der fest­ge­leg­ten Denk­wei­se. Das soll kein Sei­ten­hieb auf das Her­kom­men sein. Mei­ne Grün­de wa­ren nicht mo­ra­li­scher, son­dern künst­le­ri­scher Art. Wäre der Held ein An­gel­sach­se ge­we­sen, so hät­te er ver­sucht, in die Lo­kal­po­li­tik hin­ein­zu­kom­men. Nostro­mo aber zeigt kei­nen Ehr­geiz nach ei­ner Füh­rer­rol­le. Er wünscht sich nicht über die Mas­se zu er­he­ben, ist zu­frie­den, sich als eine Macht zu füh­len – in­mit­ten des Volks.

Haupt­säch­lich aber ist Nostro­mo, was er ist, weil mir die ers­te Idee zu sei­ner Ge­stalt in frü­he­ren Ta­gen von ei­nem mit­tel­län­di­schen Ma­tro­sen kam. Alle, die be­stimm­te mei­ner Wer­ke ge­le­sen ha­ben, wer­den so­fort ver­ste­hen, was ich mei­ne, wenn ich sage, dass Do­mi­nic, der Schif­fer der Tre­mo­li­no, un­ter ge­wis­sen Um­stän­den hät­te Nostro­mo sein kön­nen. Auf je­den Fall hät­te Do­mi­nic den jün­ge­ren Mann vollauf, wenn auch mit Ge­ring­schät­zung, ver­stan­den. Er und ich wa­ren zu­sam­men in ein ziem­lich tö­rich­tes Aben­teu­er ver­wi­ckelt; aber die Tor­heit tut ja nichts zur Sa­che. Es ist mir eine ehr­li­che Ge­nug­tu­ung, zu den­ken, dass in mei­nen ganz jun­gen Ta­gen doch et­was in mir ge­we­sen sein muss, wert­voll ge­nug, um mir je­nes Man­nes halb­bit­te­re Treue zu si­chern, sei­ne halb spöt­ti­sche Er­ge­ben­heit. Vie­le Auss­prü­che Nostro­mos habe ich zu­erst von Do­mi­nics Lip­pen ge­hört. Die Hand auf der Ru­der­pin­ne und mit furcht­lo­sen Au­gen den Ho­ri­zont ab­su­chend, un­ter der mön­chi­schen Ka­pu­ze her­vor, die sein Ge­sicht be­schat­te­te, pfleg­te er sei­ner bit­te­ren Weis­heit letz­ten Schluss zu mur­meln: »Vous au­tres gen­til­hom­mes!« in ei­nem bei­ßen­den Ton, der mir noch im Ohre klingt. Wie Nostro­mo! »Ihr bom­bres fi­nos!« Ganz wie Nostro­mo. Doch Do­mi­nic, der Kor­se, hat­te einen ge­wis­sen Ah­nen­stolz, von dem mein Nostro­mo frei ist – denn Nostro­mos Ab­stam­mung muss­te noch äl­ter sein. Er ist ein Mann mit dem Ge­wicht zahl­lo­ser Ge­schlech­ter hin­ter sich und ohne Ver­wandt­schaft, de­ren er sich rüh­men könn­te … wie das Volk.

In sei­nem fes­ten Griff nach der Erde, die sein Erb­teil ist, in sei­ner schran­ken­lo­sen Groß­mut, sei­ner ver­schwen­de­ri­schen Frei­ge­big­keit, sei­ner männ­li­chen Ei­tel­keit; im dunklen Ge­fühl sei­ner Grö­ße, wie in sei­ner treu­en Hin­ga­be und dem Et­was in sei­nen Trie­ben, das Verzweif­lung weckt und aus Verzweif­lung stammt, – in all dem ist er ein Mann des Volks, ein Sinn­bild neid­lo­ser Kraft, die es ab­lehnt, zu füh­ren, doch von in­nen her­aus herrscht. Auch in spä­te­ren Jah­ren, als der be­rühm­te Ka­pi­tän Fi­dan­za, dem Wohl des Lan­des ver­bun­den und auf al­len sei­nen vie­len We­gen in den neu­zeit­lich um­ge­stal­te­ten Stra­ßen von Su­la­co von ehr­fürch­ti­gen Bli­cken ver­folgt; wenn er die Wit­we des Ha­fen­ar­bei­ters be­sucht, der Loge bei­wohnt, in un­be­weg­tem Schwei­gen bei ei­ner Volks­ver­samm­lung an­ar­chis­ti­schen Re­den zu­hört; als das ge­hei­me Haupt der neu­re­vo­lu­tio­nären Be­we­gung, als der wohl­ha­ben­de Ge­nos­se Fi­dan­za, dem alle ver­trau­en und der das Ge­heim­nis sei­nes sitt­li­chen Nie­der­bruchs in sei­ner Brust ver­schlos­sen trägt: – im­mer bleibt er im We­sen ein Mann des Volks. In sei­nem Ge­misch aus Le­bens­lust und Ver­ach­tung des Le­bens, in der bren­nen­den Über­zeu­gung, ver­ra­ten wor­den zu sein, ver­ra­ten zu ster­ben, ohne zu wis­sen von wem oder von was: in all dem ist er im­mer wie­der ein Mann des Volks, der über je­den Zwei­fel große Mann – mit sei­ner ei­ge­nen Pri­vat­ge­schich­te.

Noch eine Ge­stalt aus die­sen be­weg­ten Zei­ten möch­te ich er­wäh­nen, und das ist An­to­nia Avel­la­nos, »die wun­der­schö­ne An­to­nia«. Ob sie eine denk­ba­re Ver­tre­te­rin des süd­ame­ri­ka­ni­schen Mäd­chens ist, möch­te ich nicht zu ent­schei­den wa­gen. Für mich aber ist sie es. Wenn sie auch ne­ben ih­rem Va­ter (mei­nem ver­ehr­ten Freund) im­mer ein we­nig im Hin­ter­grund bleibt, so ist sie doch, hof­fe ich, ge­nü­gend her­aus­ge­ar­bei­tet, um das, was ich sa­gen will, ver­ständ­lich zu ma­chen. Von all den Leu­ten, die mit mir die Ge­burt der West­li­chen Re­pu­blik mit an­ge­se­hen ha­ben, ist sie die Ein­zi­ge, die sich in mei­nem Ge­dächt­nis ein Wei­ter­le­ben ge­si­chert hat. An­to­nia, die Ari­sto­kra­tin, und Nostro­mo, der Mann aus dem Vol­ke, sind die Wer­kleu­te der neu­en Zeit, die wah­ren Schöp­fer des neu­en Staa­tes; er durch sei­ne sa­gen­haf­te, küh­ne Tat, sie als Frau, ein­fach durch die Macht ih­res Da­seins: das ein­zi­ge We­sen, das fä­hig war, eine wah­re Lei­den­schaft im Her­zen ei­nes Schwät­zers zu we­cken.

Wenn et­was mich ver­lei­ten könn­te, Su­la­co noch­mals zu be­su­chen (es wäre mir ver­hasst, all die Ver­än­de­run­gen se­hen zu müs­sen), dann wäre es An­to­nia. Und der wah­re Grund da­für – warum es nicht of­fen zu­ge­ben? –, der wah­re Grund ist, dass ich sie nach dem Bild mei­ner ers­ten Lie­be ge­formt habe. Wie blick­ten doch wir alle, auf­ge­schos­se­ne Schul­jun­gen, die Ka­me­ra­den ih­rer Brü­der, wir alle, zu dem Mäd­chen auf, das selbst die Schu­le kaum ver­las­sen hat­te. Sie er­schi­en uns als die Ver­kör­pe­rung ei­nes Glau­bens, zu dem wir alle ge­bo­ren wa­ren, den aber sie al­lein mit un­beug­sa­mer Hoff­nung hoch­zu­hal­ten wuss­te. Sie hat­te viel­leicht mehr Glut und we­ni­ger See­len­ru­he in sich als An­to­nia, doch war sie eine un­er­bitt­li­che Pu­ri­ta­ne­rin der Va­ter­lands­lie­be, ohne den lei­ses­ten Ma­kel von Welt­lich­keit in ih­ren Ge­dan­ken. Ich war da­mals nicht der Ein­zi­ge, der sie lieb­te, doch war ich es, der am Öf­tes­ten (ganz wie der arme De­coud) ihre schar­fe Kri­tik an mei­ner Leicht­fer­tig­keit an­zu­hö­ren oder dem An­sturm ih­rer er­ha­be­nen, un­wi­der­leg­ba­ren An­grif­fe stand­zu­hal­ten hat­te. Sie ver­stand mich nicht ganz – doch was tat das! An ei­nem Nach­mit­tag, als ich zu ihr kam, ein furcht­sa­mer und doch trot­zi­ger Sün­der, um ihr ein letz­tes Le­be­wohl zu sa­gen, da emp­fing ich einen Hän­de­druck, der mein Herz auf­po­chen ließ, und sah eine Trä­ne, die mir den Atem nahm. Schließ­lich wur­de sie mil­der, als hät­te sie plötz­lich be­grif­fen (wir wa­ren noch sol­che Kin­der!), dass ich wirk­lich und wahr­haf­tig weg­ging, weit weg – nach Su­la­co so­gar, das un­be­kannt, un­se­ren Au­gen ver­bor­gen, im Dun­kel des stil­len Golfs lag.

Da­rum seh­ne ich mich mit­un­ter, noch­mals die »wun­der­schö­ne An­to­nia« (oder soll­te es die an­de­re sein?) zu se­hen, wie sie sich im Düs­ter der großen Ka­the­dra­le be­wegt, ein kur­z­es Ge­bet am Grab des ers­ten und letz­ten Kar­di­na­lerz­bi­schofs von Su­la­co spricht, in töch­ter­li­che Hin­ga­be ver­lo­ren vor dem Denk­mal des Don José Avel­la­nos ver­weilt und mit ei­nem lan­gen, in­ni­gen, treu­en Blick auf die Ge­denk­ta­fel für Mar­tin De­coud ab­ge­klärt in den Son­nen­schein der Pla­za hin­austritt, mit ih­rer auf­rech­ten Hal­tung und dem wei­ßen Haupt; ein Über­bleib­sel aus der Ver­gan­gen­heit, un­be­ach­tet von den Men­schen, die un­ge­dul­dig das Mor­gen­rot ei­ner an­de­ren Neu­en Ära er­war­ten, das Kom­men im­mer neu­er Re­vo­lu­tio­nen.

Doch dies ist der tö­richts­te al­ler Träu­me; denn ich habe voll­kom­men be­grif­fen, dass von dem Au­gen­blick an, wo der Atem dem Kör­per des Gro­ßen Ca­pa­taz, des Man­nes aus dem Vol­ke, ent­flo­hen war, end­lich er­löst von der Last der Lie­be und des Reich­tums – dass von die­sem Au­gen­blick an für mich in Su­la­co nichts mehr zu tun blieb.

J.C.

Erster Teil – Das Silber der Mine

I.

Zur­zeit der spa­ni­schen Herr­schaft, und noch vie­le Jah­re nach­her, hat­te die Stadt Su­la­co – von ih­rem Al­ter zeugt die üp­pi­ge Pracht der Oran­gen­gär­ten – in ge­schäft­li­cher Hin­sicht höchs­tens als ein Küs­ten­ha­fen mit be­trächt­li­chem Lo­kal­ver­kehr in Och­sen­häu­ten und In­di­go ei­ni­ge Be­deu­tung ge­habt. Für die klo­bi­gen Hoch­see­ga­lio­nen der Ero­be­rer hat­te sich der Ha­fen von Su­la­co we­gen der in dem wei­ten Golf vor­herr­schen­den Wind­stil­len ver­bo­ten; denn die brauch­ten eine schar­fe Bri­se, um über­haupt vom Fleck zu kom­men, wo ei­ner der mo­der­nen Schnell­seg­ler beim blo­ßen Flat­tern der Lein­wand noch Fahrt macht. Ei­ni­ge Hä­fen in der Welt sind schwer zu er­rei­chen in­fol­ge heim­tücki­scher Un­ter­was­ser­klip­pen und der Stür­me an ih­ren Küs­ten. Su­la­co lag wie in ei­nem un­ver­letz­li­chen Hei­lig­tum ge­bor­gen vor den Ver­su­chen der Han­dels­welt, in der fei­er­li­chen Stil­le des tie­fen Gol­fo Pla­ci­do, wie in ei­nem un­ge­heu­ren, halb­kreis­för­mi­gen Tem­pel ohne Dach, zur See zu of­fen, die Wän­de aus ho­hen Ber­gen mit den Trau­er­tü­chern der Wol­ken ver­han­gen.

Auf der einen Sei­te die­ser brei­ten Ein­buch­tung in der ge­ra­den Küs­ten­li­nie der Re­pu­blik Cos­ta­gua­na läuft das Land in eine un­be­deu­ten­de Spit­ze aus, die Pun­ta Mala heißt. Von der Mit­te des Golfs aus ist die­se Land­spit­ze über­haupt nicht sicht­bar; nur der Kamm ei­nes stei­len Hü­gels, der sich dar­auf er­hebt, ist un­deut­lich aus­zu­neh­men, wie ein Schat­ten am Him­mel.

Auf der an­de­ren Sei­te zeich­net sich ge­gen die duns­ti­ge Glut des Ho­ri­zonts et­was wie ein schwe­ben­der bläu­li­cher Ne­bel­fleck ab. Das ist die Halb­in­sel Azu­e­ra, ein wil­des Ge­wirr schar­fer Fel­sen und stei­ni­ger Gleich­stre­cken, von senk­rech­ten Schluch­ten zer­ris­sen. Sie ragt weit in die See hin­aus, als streck­te die grü­ne Küs­te an dün­nem Hals aus Sand, von Dorn­ge­büsch um­wu­chert, ein rau­es Haupt aus Stein vor. Gänz­lich was­ser­los – denn die Re­gen lau­fen so­fort nach al­len Sei­ten ins Meer ab –, hat die Halb­in­sel, so heißt es, nicht Hu­mus ge­nug, um auch nur einen Gras­halm sprie­ßen zu las­sen, als las­te­te ein Fluch auf ihr. Die Ar­men, die aus ei­nem dunklen Be­dürf­nis nach Trost die Be­grif­fe von Böse und Reich ver­qui­cken, er­zäh­len, die In­sel wäre so tot we­gen ih­rer ver­wun­sche­nen Schät­ze. Das ge­mei­ne Volk aus der Nach­bar­schaft, Pe­ons von den Estan­zi­as, Vaque­r­os von den Ebe­nen längs der Küs­te, un­ter­wor­fe­ne In­dia­ner, die mei­len­weit zu Markt kom­men, mit ei­nem Bün­del Zucker­rohr oder ei­nem Korb Mais im Wer­te von ein paar Pfen­ni­gen – sie alle glau­ben fest, dass Hau­fen glän­zen­den Gol­des im Düs­ter der tie­fen Schluch­ten lie­gen, die die stei­ni­ge Hoch­flä­che von Azu­e­ra durch­schnei­den. Die Über­lie­fe­rung will wis­sen, dass vie­le Aben­teu­rer frü­he­rer Zei­ten bei der Su­che um­ge­kom­men sind. Es geht auch die Rede, dass noch zu Ge­denk­zei­ten der Le­ben­den zwei wan­dern­de See­leu­te – Ame­ri­ca­nos viel­leicht, je­den­falls aber Grin­gos ir­gend­wel­cher Art – einen ver­spiel­ten, nichts­nut­zi­gen Mozo über­re­det und zu dritt einen Esel ge­stoh­len hat­ten, der ih­nen ein we­nig Dürr­holz, einen Was­ser­schlauch und Pro­vi­ant für ein paar Tage tra­gen soll­te. So be­glei­tet, mit Re­vol­vern im Gür­tel, hat­ten sie sich auf­ge­macht, um sich mit Busch­mes­sern einen Weg durch das Dorn­dickicht am Hal­se der Halb­in­sel zu bah­nen.

Am zwei­ten Abend war seit Men­schen­ge­den­ken zum ers­ten Mal eine ge­ra­de Rauch­säu­le zu se­hen (sie konn­te nur von dem La­ger­feu­er der Drei her­rüh­ren), die sich von ei­nem mes­ser­schar­fen Grat auf dem fel­si­gen Haupt schwach ge­gen den Abend­him­mel ab­hob. Die Mann­schaft ei­nes Küs­ten­scho­ners, der in to­ter Flau­te drei Mei­len von der Küs­te weg still­lag, starr­te ver­blüfft bis zum Dun­kel­wer­den dar­auf hin. Ein schwar­zer Fi­scher, der ein­sam in ei­ner klei­nen Bucht na­he­bei leb­te, hat­te den Auf­bruch mit an­ge­se­hen und auf ein Zei­chen ge­lau­ert. Er rief sei­ne Frau hin­zu, als die Son­ne eben im Un­ter­ge­hen war. Sie hat­ten das selt­sa­me Wahr­zei­chen mit Neid, Ungläu­big­keit und Schau­dern be­ob­ach­tet.

Die gott­lo­sen Aben­teu­rer ga­ben kein andres Zei­chen mehr. Die Ma­tro­sen, der In­dia­ner und der ge­stoh­le­ne Esel wur­den nie wie­der ge­se­hen. Dem Mozo, ei­nem Mann von Su­la­co – sein Weib hat­te ein paar Mes­sen be­zahlt – und dem ar­men Vier­füß­ler, ih­nen war es wohl ver­gönnt, zu ster­ben; die zwei Grin­gos aber sol­len ge­spens­ter­haft le­bend noch bis zu die­sem Tage zwi­schen den Fel­sen hau­sen, im Bann ih­res Er­fol­ges. Ihre See­len kön­nen sich nicht von den Lei­bern los­rei­ßen, die über dem ent­deck­ten Schatz Wa­che hal­ten. Sie sind nun reich und hung­rig und durs­tig – eine selt­sa­me Vor­stel­lung von hart­nä­cki­gen Gringo­ge­spens­tern, die in ih­rem ver­dorr­ten, ver­seng­ten Fleisch lei­den, wo ein Chris­ten­mensch ver­zich­tet hät­te und er­löst wor­den wäre.

Dies also sind die sa­gen­haf­ten Be­woh­ner von Azu­e­ra, die die ver­wun­sche­nen Schät­ze hü­ten; und der Schat­ten am Him­mel auf der einen Sei­te, der schwim­men­de bläu­li­che Ne­bel­fleck auf der an­de­ren kenn­zeich­nen die äu­ßers­ten Punk­te der tie­fen Ein­buch­tung, die den Na­men Gol­fo Pla­ci­do trägt, weil nie seit Men­schen­ge­den­ken ein star­ker Wind ihre Was­ser auf­ge­rührt hat.

Beim Pas­sie­ren der ge­dach­ten Li­nie zwi­schen Pun­ta Mala und Azu­e­ra ver­lie­ren die Schif­fe, die von Eu­ro­pa nach Su­la­co ge­hen, mit ein­mal die schar­fen Bri­sen des Ozeans und wer­den zur Beu­te lau­ni­scher Luft­strö­mun­gen, die oft vol­le drei­ßig Stun­den lang mit ih­nen ihr Spiel trei­ben. Vor den Schif­fen liegt das In­ne­re des stil­len Golfs an den meis­ten Ta­gen des Jah­res un­ter ei­ner reg­lo­sen Schicht opal­far­be­ner Wol­ken. An den sel­te­nen kla­ren Mor­gen liegt ein an­de­rer Schat­ten über der Was­ser­flä­che. Die Mor­gen­däm­me­rung bricht hoch hin­ter dem auf­ge­türm­ten, ra­gen­den Wall der Kor­dil­le­re an. Dunkle Gip­fel schnei­den scharf in den Him­mel; ihre Steil­hän­ge wach­sen aus ei­nem luf­ti­gen Un­ter­bau von Ur­wald, der un­mit­tel­bar von der Küs­te aus an­steigt. Weit über den an­de­ren ragt das wei­ße Haupt des Hi­gue­r­o­ta ma­je­stä­tisch ins Blau. Un­ge­heu­re Grup­pen nack­ter Fel­sen spren­keln die eben­mä­ßi­ge Schnee­flä­che mit schwar­zen Tup­fen.

Dann, wäh­rend die Mit­tags­son­ne den Schat­ten der Ber­ge aus dem Golf zu­rück­zieht, be­gin­nen die Wol­ken aus den nied­ri­gen Tä­lern her­vor­zu­quel­len. Sie ver­wi­schen in dunklem Wal­len die kan­ti­gen Rän­der der Schluch­ten über den be­wal­de­ten Hän­gen, ver­hül­len die Gip­fel, trei­ben in wind­ge­jag­ten Fet­zen quer über die Schnee­fel­der des Hi­gue­r­o­ta. Die Kor­dil­le­re ist dem Blick des Be­trach­ters ent­rückt, als hät­te sie sich in mäch­ti­ge Schwa­den grau­en und schwar­zen Duns­tes auf­ge­löst, die nun lang­sam der See zu­trei­ben und in der Ta­ges­glut in nichts zer­ge­hen. Die Kan­te der Ne­bel­wand giert im­mer nach der Mit­te des Golfs, er­reicht sie aber nur sel­ten. Die Son­ne isst sie auf, wie die See­leu­te sa­gen. Au­ßer etwa, es löst sich eine dunkle Ge­wit­ter­wol­ke von der Haupt­mas­se, jagt quer über den Golf und er­reicht die of­fe­ne See jen­seits Azu­e­ra, wo sie dann plötz­lich kra­chend Feu­er speit wie ein un­ge­heu­res luf­ti­ges Pi­ra­ten­schiff, das, hoch über dem Ho­ri­zont bei­ge­dreht, die See an­grif­fe.

Bei Nacht schiebt sich die Wol­ken­mas­se wei­ter am Him­mel vor und hüllt den ru­hi­gen Golf dar­un­ter in un­durch­dring­li­che Fins­ter­nis, in der man bald da, bald dort plötz­lich Re­gen­schau­er pras­seln hört. Tat­säch­lich sind die­se um­wölk­ten Näch­te sprich­wört­lich un­ter den See­leu­ten längs der gan­zen West­küs­te ei­nes großen Erd­teils. Him­mel, Land und See schwin­den zu­gleich aus der Welt, wenn der Pla­ci­do, wie die Leu­te es aus­drücken, sich un­ter sei­nem schwar­zen Pon­cho zur Ruhe legt. Die we­ni­gen Ster­ne, die ge­gen die See zu, un­ter­halb der Kan­te der Wol­ken­bank, üb­rig­blei­ben, leuch­ten schwach wie vor dem Sch­lund ei­ner schwar­zen Höh­le. Un­ter der las­ten­den De­cke treibt dein Schiff un­sicht­bar un­ter dei­nen Fü­ßen, die Se­gel flat­tern un­sicht­bar über dei­nem Kopf, so­gar das Auge Got­tes, fü­gen sie läs­ter­lich hin­zu, könn­te nicht ent­de­cken, wel­che Ar­beit ei­nes Man­nes Hand da un­ten tut; und es stün­de dir straf­los frei, den Teu­fel zur Hil­fe zu ru­fen, wür­de nicht auch sei­ne List an die­ser blin­den Fins­ter­nis zu­schan­den.

Die Ufer rings um den Golf sind durch­aus steil; drei un­be­wohn­te In­sel­chen wär­men sich im Son­nen­schein, ge­ra­de au­ßer­halb des Wol­ken­vor­hangs, ge­gen­über der Ein­fahrt zum Ha­fen von Su­la­co; es sind die »Isa­bel­len«.

Da ist die Gro­ße Isa­bel­le; die Klei­ne Isa­bel­le, ganz rund, und Her­mo­sa, die kleins­te.

Die­se letz­te­re ist kaum einen Fuß hoch und etwa sie­ben Schritt breit, nur eine graue Fels­flä­che, die nach ei­nem Re­gen wie ein Aschen­hau­fen raucht und die nie­mand vor Son­nen­un­ter­gang bloß­fü­ßig be­tre­ten wür­de. Aus der Klei­nen Isa­bel­le lässt eine alte, zer­zaus­te Pal­me mit star­kem, sta­che­li­gem Stamm, eine wah­re Hexe un­ter Pal­men, trüb­se­lig ihre dür­ren Blät­ter über den spär­li­chen Sand ra­scheln. Auf der Gro­ßen Isa­bel­le ent­springt eine Süß­was­ser­quel­le in dem be­wach­se­nen Hang ei­ner Schlucht. Das Ei­land äh­nelt ei­nem sma­ragd­grü­nen, etwa mei­len­lan­gen Keil und trägt zwei Wald­bäu­me, die eng zu­sam­men­ste­hen und eine wei­te Schat­ten­flä­che zu Fü­ßen ih­rer schlan­ken Stäm­me brei­ten. Eine Schlucht, die sich durch die gan­ze Län­ge der In­sel zieht, ist dicht mit Bü­schen be­stan­den; der Kamm fällt auf der einen Sei­te als stei­le Klip­pe zum Mee­re ab und ver­läuft auf der än­dern all­mäh­lich in einen schma­len Strei­fen san­di­gen Ufers.

Von die­sem nie­de­ren Ende der Gro­ßen Isa­bel­le dringt das Auge durch eine Lücke, etwa zwei Mei­len weit weg, die wie mit der Axt aus dem re­gel­mä­ßi­gen Schwung der Küs­te aus­ge­hau­en ist und ge­ra­de in den Ha­fen von Su­la­co führt. Auf der einen Sei­te kom­men die kur­z­en, wal­di­gen Aus­läu­fer und Tä­ler der Kor­dil­le­re bis hart an das Ufer her­un­ter, auf der an­de­ren Sei­te ver­liert sich die große Su­la­co-Ebe­ne in das opal­far­be­ne Ge­heim­nis end­lo­ser Wei­te, von tro­ckenem Dunst ver­hängt. Die Stadt Su­la­co selbst – Mau­er­käm­me, große Kup­peln, der Schim­mer wei­ßer Bal­ko­ne in­mit­ten wei­ter Oran­gen­hai­ne –, die Stadt liegt zwi­schen den Ber­gen und der Ebe­ne, et­was ent­fernt von ih­rem Ha­fen und nicht in der Seh­li­nie vom Mee­re aus.

II.

Als ein­zi­ges An­zei­chen ge­schäft­li­cher Be­trieb­sam­keit in­ner­halb des Ha­fens ist von der Gro­ßen Isa­bel­le aus der wuch­ti­ge Kopf der höl­zer­nen Lan­dungs­brücke zu er­ken­nen, den die Ocea­nic Steam Na­vi­ga­ti­on Com­pa­ny (die O. S. N., wie sie ge­nannt wird) über den seich­ten Teil der Bucht hat schla­gen las­sen, bald nach­dem sie sich ent­schlos­sen hat­te, aus Su­la­co einen ih­rer An­le­ge­hä­fen in der Re­pu­blik Cos­ta­gua­na zu ma­chen. Der Staat weist an sei­ner lan­gen Küs­te meh­re­re Hä­fen auf, die aber alle – Cay­ta, einen be­deu­ten­den Platz, aus­ge­nom­men – ent­we­der nur klei­ne, un­zu­gäng­li­che Ein­las­se in ei­nem Ei­sen­wall dar­stel­len – wie Es­me­ral­da zum Bei­spiel, sech­zig Mei­len süd­lich – oder nur of­fe­ne Ree­den, den Win­den aus­ge­setzt und von der Bran­dung ge­peitscht.

Vi­el­leicht hat­ten die at­mo­sphä­ri­schen Be­din­gun­gen, die die Kauf­fah­rer ver­gan­ge­ner Zei­ten fern­hiel­ten, die O. S. N. Kom­pa­gnie be­wo­gen, in den hei­li­gen Frie­den ein­zu­bre­chen, in dem Su­la­co sein ge­bor­ge­nes Da­sein führ­te. Die um­sprin­gen­den Bri­sen, die auf dem wei­ten Halb­kreis der Ge­wäs­ser in­ner­halb der Spit­ze von Azu­e­ra ihr Spiel trie­ben, konn­ten der Dampf­kraft der aus­ge­zeich­ne­ten Flot­te der Ge­sell­schaft nichts an­ha­ben. Jahr um Jahr wa­ren die schwar­zen Lei­ber ih­rer Schif­fe die Küs­te hin­auf und hin­un­ter ge­zo­gen, hin­ein und her­aus, über Azu­e­ra hin­aus, über die Isa­bel­len, über die Pun­ta Mala, ohne Rück­sicht auf ir­gen­det­was, au­ßer auf die Ty­ran­nei der Zeit. Ihre Na­men, alle aus der My­tho­lo­gie ent­lehnt, wur­den ver­trau­te Wor­te längs ei­ner Küs­te, die nie von den Göt­tern des Olym­ps be­herrscht wor­den war. Die Ju­no war le­dig­lich we­gen ih­rer be­que­men Mit­schiff­ka­jü­ten be­kannt, der Sa­turn we­gen der gu­ten Lau­ne sei­nes Ka­pi­täns und der präch­ti­gen Ver­gol­dung und Ma­le­rei des Sa­lons, wäh­rend der Ga­ny­me­d haupt­säch­lich für Viehtrans­port ein­ge­rich­tet war und von Küs­ten­pas­sa­gie­ren bes­ser ge­mie­den wur­de. Noch dem letz­ten In­dia­ner im ver­las­sens­ten Küs­ten­dorf war der Zer­be­rus ver­traut, ein klei­ner schwar­zer Rat­ter­kas­ten ohne nen­nens­wer­te Ein­rich­tung für Pas­sa­gie­re, des­sen Auf­ga­be dar­in be­stand, längs der wal­di­gen Küs­te un­ter den schau­er­li­chen Fel­sen hin­zu­krie­chen und ver­bind­lich vor je­der kleins­ten Grup­pe von Hüt­ten an­zu­hal­ten, um Lan­des­pro­duk­te ein­zu­neh­men, bis hin­un­ter zu Dreip­fund­pa­ke­ten von Roh­gum­mi, in dür­re Blät­ter ver­packt.

Und da sie sel­ten auch nur das kleins­te Pa­ket in Ver­lust ge­hen ließ, äu­ßerst sel­ten etwa einen Och­sen ein­büß­te und nie einen ein­zi­gen Pas­sa­gier er­tränkt hat­te, so stand der Name der O. S. N. in mäch­ti­gem An­se­hen. Die Leu­te er­kann­ten an, dass un­ter der Ob­hut der Ge­sell­schaft ihr Le­ben und ihr Ei­gen­tum auf dem Was­ser si­che­rer wä­ren als in ih­ren ei­ge­nen Häu­sern an Land.

Der In­spek­tor der O. S. N. in Su­la­co für den ge­sam­ten Dienstzweig Cos­ta­gua­na war über­aus stolz auf die Stel­lung sei­ner Ge­sell­schaft. Er fass­te das in einen Auss­pruch zu­sam­men, den er oft im Mun­de führ­te: »Wir ma­chen nie­mals Feh­ler.« Den Of­fi­zie­ren der Ge­sell­schaft ge­gen­über wur­de es zur ein­dring­li­chen Mah­nung: »Wir dür­fen kei­ne Feh­ler ma­chen. Ich will hier kei­ne Feh­ler ha­ben, ganz gleich, was Smith dort drü­ben auf sei­ner Sei­te tut!«

Smith, den er zeit sei­nes Le­bens nie mit Au­gen ge­se­hen hat­te, war der an­de­re In­spek­tor der Ge­sell­schaft, mit dem Dienst­sitz etwa fünf­zehn­hun­dert Mei­len weg von Su­la­co. »Re­den Sie mir nicht von Ihrem Smith.«

Dann pfleg­te er sich plötz­lich zu be­ru­hi­gen und den Ge­gen­stand mit ge­spiel­ter Nach­läs­sig­keit fal­len zu las­sen.

»Smith weiß von die­sem Land nicht mehr als ein Säug­ling.«

»Un­ser aus­ge­zeich­ne­ter Señor Mit­chell« für die Han­dels- und Be­am­ten­welt von Su­la­co; »der ge­schwät­zi­ge Joe« für die Ka­pi­tä­ne der Ge­sell­schaft, brüs­te­te sich Ka­pi­tän Jo­seph Mit­chell mit sei­ner tie­fen Kennt­nis von Men­schen und Din­gen im Lan­de – den »co­sas de Cos­ta­gua­na«. Un­ter die­sen Letz­te­ren hob er als äu­ßerst un­güns­tig für den ge­ord­ne­ten Dienst sei­ner Ge­sell­schaft die häu­fi­gen Re­gie­rungs­wech­sel her­vor, die durch Mi­li­tär­re­vol­ten im­mer wie­der her­bei­ge­führt wur­den.

Die po­li­ti­sche At­mo­sphä­re der Re­pu­blik war in je­nen Ta­gen durch­aus stür­misch. Die flüch­ti­gen Pa­trio­ten der un­ter­le­ge­nen Par­tei hat­ten die üble Ge­wohn­heit, im­mer wie­der längs der Küs­te auf­zu­rau­chen, mit ei­ner hal­b­en Schiffs­la­dung von Hand­feu­er­waf­fen und Mu­ni­ti­on. Die­se Be­trieb­sam­keit er­schi­en Ka­pi­tän Mit­chell ge­ra­de­zu wun­der­bar, im Hin­blick auf den Zu­stand völ­li­ger Ent­blö­ßung, in dem die Leu­te ge­flo­hen wa­ren. Er hat­te be­ob­ach­tet, dass sie »nie­mals ge­nug Klein­geld bei sich zu ha­ben schie­nen, um die Fahr­kar­te aus dem Lan­de hin­aus zah­len zu kön­nen«, und er konn­te aus Er­fah­rung spre­chen; denn bei ei­ner denk­wür­di­gen Ge­le­gen­heit war er be­ru­fen ge­we­sen, dem Dik­ta­tor zu­gleich mit ein paar ho­hen Be­am­ten von Su­la­co (dem Re­gie­rungs­prä­si­den­ten, dem Di­rek­tor des Zoll­amts und dem Po­li­zei­chef) das Le­ben zu ret­ten; die Her­ren hat­ten sämt­lich ei­ner ge­stürz­ten Re­gie­rung an­ge­hört. Der arme Senñor Ri­bie­ra (dies der Name des Dik­ta­tors) war arm­se­lig acht­zig Mei­len weit über Berg­pfa­de ge­kom­men, nach der ver­lo­re­nen Schlacht von So­cor­ro, in der Hoff­nung, der üb­len Kun­de den Weg ab­zu­lau­fen – was er na­tür­lich auf ei­nem lah­men Maul­tier nicht fer­tig­ge­bracht hat­te, über­dies ver­en­de­te das Tier un­ter ihm, ge­ra­de am Aus­gang der Ala­me­da, wo an den Aben­den zwi­schen den Re­vo­lu­tio­nen mit­un­ter die Mi­li­tär­mu­sik spiel­te. »Herr«, pfleg­te Ka­pi­tän Mit­chell mit wür­di­gem Ernst fort­zu­fah­ren, »das un­zei­ti­ge Ende des Mu­los1 lenk­te die Auf­merk­sam­keit auf den un­glück­li­chen Rei­ter. Sei­ne Züge wur­den von ei­ni­gen De­ser­teu­ren er­kannt, die von der Ar­mee des Dik­ta­tors ent­flö­hen und mit der Pö­bel­men­ge eben da­bei wa­ren, die Fens­ter­schei­ben der In­ten­dan­cia ein­zu­schla­gen.«

Am frü­hen Mor­gen je­nes Ta­ges hat­ten die Lo­kal­be­hör­den von Su­la­co in den Amts­räu­men der O. S. N. Zuf­lucht ge­sucht, ei­nem wuch­ti­gen Bau nächst dem Be­ginn der Lan­dungs­brücke, und hat­ten die Stadt auf Gna­de oder Un­gna­de den Auf­rüh­rern über­las­sen; und da der Dik­ta­tor beim Vol­ke ver­hasst war, we­gen der stren­gen Aus­he­bun­gen, zu der sei­ne Not­la­ge ihn ge­zwun­gen hat­te, so hat­te er die bes­te Aus­sicht, in Stücke ge­ris­sen zu wer­den. Durch eine Fü­gung war Nostro­mo – un­schätz­ba­rer Bur­sche – mit ein paar ita­lie­ni­schen Ar­bei­tern von der Na­tio­na­len Zen­tral­bahn zur Hand und brach­te es fer­tig, ihn her­aus­zu­hau­en, für den Au­gen­blick we­nigs­tens. Schließ­lich ge­lang es Ka­pi­tän Mit­chell, die gan­ze Ge­sell­schaft in sei­nem ei­ge­nen Gig auf einen der Damp­fer der Ge­sell­schaft zu brin­gen – es war die ›Mi­ner­va‹–, der zu gu­tem Glück eben in den Ha­fen ein­lief.

Er hat­te die Her­ren an ei­nem Tau durch ein Loch in der Rück­wand hin­un­ter­las­sen müs­sen, wäh­rend der Pö­bel, der aus der Stadt her­un­ter­ge­flu­tet war, sich längs des gan­zen Ufers sam­mel­te und vor der Haupt­front des Ge­bäu­des heul­te und tob­te. Da­nach muss­te Ka­pi­tän Mit­chell mit den Her­ren im Sturm­schritt die Lan­dungs­brücke hin­un­ter­ren­nen – ein ver­zwei­fel­tes Ren­nen ums lie­be Le­ben; und wie­der war es Nostro­mo, ein Bur­sche un­ter tau­send, der, dies­mal an der Spit­ze der La­de­ar­bei­ter der Ge­sell­schaft, die Lan­dungs­brücke ge­gen den An­sturm des Pö­bels hielt, und so den Flücht­lin­gen Zeit gab, das Gig zu er­rei­chen, das am an­de­ren Ende be­reit­lag, die Flag­ge der Ge­sell­schaft im Stern. Stö­cke, Stei­ne, Schüs­se schwirr­ten, auch Mes­ser wur­den ge­wor­fen. Ka­pi­tän Mit­chell zeig­te gern die lan­ge Schnitt­nar­be von sei­nem lin­ken Ohr zur Schlä­fe, die von ei­ner an einen Stock ge­bun­de­nen Ra­sier­klin­ge her­rühr­te – ei­ner Waf­fe, »bei dem übels­ten schwar­zen Ge­sin­del hier drau­ßen sehr be­liebt«, wie er er­klär­te.

Ka­pi­tän Mit­chell war ein star­ker, ält­li­cher Mann, der hohe, spit­ze Kra­gen und kur­z­en Ba­cken­bart trug, eine Vor­lie­be für wei­ße Wes­ten hat­te und trotz des An­scheins wür­di­ger Zu­rück­hal­tung äu­ßerst mit­teil­sam war.

»Die­se Her­ren«, pfleg­te er zu sa­gen und sah da­bei un­ge­mein fei­er­lich drein, »die­se Her­ren muss­ten ren­nen wie die Ka­nin­chen. Auch ich selbst bin wie ein Ka­nin­chen ge­rannt. Ge­wis­se To­des­ar­ten sind – äh – wi­der­wär­tig für einen – äh – acht­ba­ren Mann. Sie hät­ten mich auch zu Bo­den ge­tram­pelt; ein wil­der Pö­bel­hau­fe, Herr, kennt kei­nen Un­ter­schied. Nebst der Vor­se­hung dank­ten wir un­ser Le­ben mei­nem Ca­pa­taz de Car­ga­do­res, wie sie ihn in der Stadt nann­ten. Ei­nem Mann, der, als ich sei­nen Wert er­kann­te, ein­fa­cher Boots­mann auf ei­nem Ge­nue­ser Schiff war, ei­nem der we­ni­gen Schif­fe, das mit Stück­gut nach Su­la­co kam, be­vor der Aus­bau der Zen­tral­bahn be­gon­nen war. Der Mann ver­ließ sein Schiff, ei­ni­gen durch­aus acht­ba­ren Freun­den zu­lie­be, die er sich hier ge­macht hat­te, sei­nen ei­ge­nen Lands­leu­ten, doch wohl auch, um sich zu ver­bes­sern, neh­me ich an. Herr, ich bin ein ziem­lich gu­ter Men­schen­ken­ner. Ich stell­te ihn als Vor­mann der La­de­ar­bei­ter und Auf­se­her über die Lan­dungs­brücke an, das war al­les. Doch ohne ihn wäre Señor Ri­bie­ra ein to­ter Mann ge­we­sen. Die­ser Nostro­mo, Herr, ein Mann, der über je­den Vor­wurf er­ha­ben ist, wur­de zum Schre­cken al­ler Die­be in der Stadt. Wir wa­ren da­mals über­lau­fen, Herr, ja­wohl, ver­pes­tet ge­ra­de­zu von La­dro­nes und Ma­t­re­r­os, Die­ben und Mör­dern aus der gan­zen Pro­vinz. Bei je­ner Ge­le­gen­heit wa­ren sie vor­her eine Wo­che durch nach Su­la­co her­ein­ge­schneit. Sie hat­ten das Ende ge­wit­tert, Herr; fünf­zig Pro­zent des wil­den Pö­bel­hau­fens wa­ren Be­rufs­ban­di­ten aus dem Cam­po, aber nicht ei­ner war dar­un­ter, der nicht von Nostro­mo ge­hört ge­habt hät­te. Was nun die Le­pe­ros aus der Stadt an­geht, Herr, so war der blo­ße An­blick sei­nes schwar­zen Ba­cken­bar­tes und der wei­ßen Zäh­ne ge­nug für sie. Sie ver­kro­chen sich vor ihm, Herr. So viel ver­mag die Cha­rak­ter­stär­ke.«

Man konn­te sehr wohl sa­gen, dass Nostro­mo al­lein es war, der den Her­ren das Le­ben ret­te­te. Ka­pi­tän Mit­chell sei­ner­seits ver­ließ sie nicht eher, als bis er sie keu­chend, ent­setzt und ver­zwei­felt, doch in Si­cher­heit, auf den üp­pi­gen Samt­so­fas im Sa­lon ers­ter Klas­se der Mi­ner­va zu­sam­men­klap­pen ge­se­hen hat­te. Bis zu­letzt hat­te er es sich an­ge­le­gen sein las­sen, den Ex-Dik­ta­tor mit »Ew. Ex­zel­lenz« an­zu­re­den.

»Herr, ich konn­te nicht an­ders. Der Mann war ganz her­un­ter – grau­sig, to­ten­bleich, über und über zer­schun­den.«

Die Mi­ner­va warf da­mals gar nicht An­ker. Der In­spek­tor be­or­der­te sie un­ver­züg­lich aus dem Ha­fen hin­aus. Es konn­te kei­ne La­dung ge­löscht wer­den, und die Fahr­gäs­te für Su­la­co lehn­ten es na­tür­lich ab, an Land zu ge­hen. Sie konn­ten das Schie­ßen hö­ren und deut­lich ge­nug das Ge­fecht se­hen, das am Ufer im Gan­ge war. Der zu­rück­ge­schla­ge­ne Pö­bel­hau­fe wand­te sei­ne Ener­gie an einen An­griff auf das Zoll­amt, ein düs­te­res, un­fer­tig aus­se­hen­des Ge­bäu­de mit vie­len Fens­tern, zwei­hun­dert Me­ter weit von den Amts­räu­men der O. S. N. und das ein­zi­ge sons­ti­ge Ge­bäu­de am Ha­fen. Nach­dem Ka­pi­tän Mit­chell dem Kom­man­dan­ten der Mi­ner­va Auf­trag ge­ge­ben hat­te, »die­se Her­ren« im ers­ten An­le­ge­ha­fen au­ßer­halb Cos­ta­gua­nas an Land zu set­zen, fuhr er in sei­nem Gig zu­rück, um zu se­hen, was zum Schut­ze des Ei­gen­tums der Ge­sell­schaft zu tun wäre. Die­ses, wie auch das Ei­gen­tum der Bahn, wur­de von den an­säs­si­gen Eu­ro­pä­ern ver­tei­digt; das heißt, von Ka­pi­tän Mit­chell selbst und dem Stab von In­ge­nieu­ren, die die Bahn bau­ten, un­ter Bei­hil­fe der ita­lie­ni­schen und bas­ki­schen Ar­bei­ter, die sich treu um ihre eng­li­schen Füh­rer schar­ten. Auch die La­de­ar­bei­ter der Ge­sell­schaft, durch­weg Ein­hei­mi­sche, hiel­ten sich un­ter ih­rem Ca­pa­taz sehr gut. Ein zu­sam­men­ge­wür­fel­ter Hau­fen von sehr ge­misch­tem Blut, haupt­säch­lich Ne­ger, in ewi­ger Feh­de mit an­de­ren Stamm­gäs­ten der nie­de­ren Schnapss­chen­ken in der Stadt, nütz­ten sie mit Freu­den die Ge­le­gen­heit, un­ter so vor­teil­haf­ten Be­din­gun­gen ihre per­sön­li­chen Rech­nun­gen aus­zu­glei­chen. Nicht ei­ner war un­ter ih­nen, der nicht dann und wann ent­setzt in die Mün­dung von Nostro­mos Re­vol­ver ge­stiert hät­te, die ihm un­ter die Nase ge­hal­ten wur­de, oder sonst wie durch Nostro­mos Ent­schlos­sen­heit ge­bän­digt wor­den wäre. Er hat­te »viel von ei­nem Mann«, ihr Ca­pa­taz, ja­wohl, so sag­ten sie; war zu sehr von Ver­ach­tung durch­drun­gen, als dass er nur hät­te schimp­fen mö­gen. Ein un­er­bitt­li­cher Auf­se­her, dop­pelt zu fürch­ten we­gen sei­ner Ent­schlos­sen­heit. Und be­denkt! Da war er an die­sem Tage un­ter ih­nen, an ih­rer Spit­ze, und ließ sich zu Scherz­wor­ten an den oder je­nen Mann her­bei.

Eine sol­che Füh­rer­schaft war be­geis­ternd, und tat­säch­lich be­schränk­te sich der gan­ze Scha­de, den der Pö­bel an­zu­rich­ten ver­moch­te, dar­auf, dass an einen Stoß Ei­sen­bahn­schwel­len Feu­er ge­legt wur­de; die Schwel­len wa­ren mit Kreo­sot ge­tränkt und brann­ten gut. Der Haupt­an­griff auf den La­ger­hof der Ei­sen­bahn, auf das Ge­bäu­de der O. S. N. und be­son­ders auf das Zoll­amt, in des­sen Kas­sen­räu­men, wie man wohl wuss­te, ein rei­cher Schatz an Sil­ber lag, miss­lang völ­lig. So­gar das klei­ne Gast­haus des al­ten Gior­gio, das ein­sam auf hal­b­em Wege zwi­schen dem Ha­fen und der Stadt stand, ent­ging der Plün­de­rung und Zer­stö­rung, nicht durch ein Wun­der, son­dern weil es der Pö­bel we­gen der nä­her­lie­gen­den Kas­sen­schrän­ke zu­erst nicht be­ach­tet hat­te und nach­her kei­ne Muße mehr fand, sich da­mit auf­zu­hal­ten. Nostro­mo mit sei­nen Car­ga­do­res war da­mals schon zu scharf hin­ter der Men­ge her.


  1. Maul­tier  <<<

III.

Man hät­te sa­gen kön­nen, dass er da­bei nur sein Ei­gen­tum ver­tei­dig­te. Von al­lem An­fang an hat­te er Zu­tritt zum engs­ten Fa­mi­li­en­kreis des Gast­wir­tes ge­fun­den, der sein Lands­mann war. Der alte Gior­gio Vio­la, ein Ge­nue­se mit zot­ti­gem, weißem Lö­wen­haupt – oft nur der »Ga­ri­bal­di­ner« ge­nannt (so wie Mo­ham­me­da­ner nach ih­rem Pro­phe­ten hei­ßen) –, der alte Vio­la also war, um Ka­pi­tän Mit­chells ei­ge­ne Wor­te zu ge­brau­chen, der »acht­ba­re, ver­hei­ra­te­te Freund«, auf des­sen Rat Nostro­mo sein Schiff ver­las­sen hat­te, um ab­wechs­lungs­hal­ber ein­mal sein Glück an Land, in Cos­ta­gua­na, zu ver­su­chen.

Der alte Mann, voll Ver­ach­tung für den Pö­bel, wie es der sit­ten­stren­ge Re­pu­bli­ka­ner so oft ist, hat­te die ers­ten Sturm­zei­chen miss­ach­tet. Er schlurf­te an je­nem Tage ganz wie sonst in sei­nen Pan­tof­feln durch die »Casa«, mur­mel­te da­bei är­ger­lich und ver­ach­tungs­voll et­was über die un­po­li­ti­sche Na­tur des Aufruhrs und zuck­te die Schul­tern dazu. Schließ­lich wur­de er un­vor­be­rei­tet von der hin­aus­stür­men­den Men­ge über­rascht. Da war es aber schon zu spät, sei­ne Fa­mi­lie in Si­cher­heit zu brin­gen – und wo hät­te er üb­ri­gens auf die­ser großen Ebe­ne mit der statt­li­chen Frau Te­resa und den zwei klei­nen Mäd­chen hin­lau­fen sol­len? So ver­ram­mel­te er also alle Aus­gän­ge und setz­te sich gleich­gül­tig mit­ten in das ver­dun­kel­te Café, ein al­tes Jagd­ge­wehr über den Kni­en. Sei­ne Frau saß auf dem an­de­ren Stuhl ne­ben ihm und rief mur­melnd alle Hei­li­gen des Ka­len­ders an.

Der alte Re­pu­bli­ka­ner glaub­te nicht an Hei­li­ge oder an Ge­be­te oder an das, was er »Pries­ter­re­li­gi­on« nann­te. Frei­heit und Ga­ri­bal­di wa­ren sei­ne Gott­hei­ten; doch dul­de­te er den »Aber­glau­ben« bei Frau­en und hat­te da­für nur ein ver­schlos­se­nes Schwei­gen.

Sei­ne bei­den Mäd­chen, die äl­tes­te vier­zehn, die an­de­re zwei Jah­re jün­ger, kau­er­ten auf dem sand­be­streu­ten Bo­den, jede an ei­ner Sei­te der Si­gno­ra Te­resa, die Köp­fe in der Mut­ter Schoß, bei­de er­schreckt, doch jede auf ihre Wei­se: Die dun­kel­haa­ri­ge Lin­da ent­rüs­tet und är­ger­lich, die blon­de Gi­sel­le, die jün­ge­re, be­stürzt und er­ge­ben. Die Pa­dro­na zog die Arme, die sie um ihre Töch­ter ge­schlun­gen hat­te, einen Au­gen­blick zu­rück, um sich zu be­kreu­zen und has­tig die Hän­de zu rin­gen. Sie wim­mer­te ein we­nig lau­ter.

»Oh! Gian’ Bat­tis­ta, warum bist du nicht hier? Oh! Wa­rum bist du nicht hier?«

Da­bei rief sie nicht den Hei­li­gen an, son­dern rief nach Nostro­mo, des­sen Na­men­spa­tron der Hei­li­ge war. Und Gior­gio, der reg­los auf sei­nem Stuhl ne­ben ihr saß, zeig­te sich ge­reizt über die­se vor­wurfs­vol­len, ab­ge­ris­se­nen Hil­fe­ru­fe.

»Ruhe, Weib! Was soll das? Er tut sei­ne Pf­licht«, mur­mel­te er ins Dun­kel; und sie gab keu­chend zu­rück:

»Ah! Ich habe kei­ne Ge­duld. Pf­licht! Und die Frau, die wie eine Mut­ter zu ihm war? Ich habe heu­te Mor­gen vor ihm ge­kniet: Geh nicht aus, Gian’ Bat­tis­ta – bleib im Haus, Bat­tis­ti­no – sieh auf die­se zwei un­schul­di­gen Kin­der!«

Auch Frau Vio­la war Ita­li­e­ne­rin, aus Spe­zia ge­bür­tig und, wenn auch we­sent­lich jün­ger als ihr Gat­te, doch schon in vor­ge­rück­ten Jah­ren. Sie hat­te ein hüb­sches Ge­sicht, des­sen Far­be aber gelb ge­wor­den war, da ihr das Kli­ma von Sut­a­co durch­aus nicht zu­sag­te. Ihre Stim­me war ein tö­nen­der Kon­tra-Alt. Wenn sie, bei­de Arme un­ter ih­rem mäch­ti­gen Bu­sen ge­kreuzt, die plum­pen, dick­bei­ni­gen Chi­ne­sen­mäd­chen aus­schalt, die mit der Wä­sche han­tier­ten, Hüh­ner rupf­ten oder in Holz­mör­sern Korn stampf­ten, in den aus Lehm ge­mau­er­ten Rück­ge­bäu­den des Hau­ses, dann konn­te sie einen so lei­den­schaft­lich klin­gen­den Gra­be­ston zu­we­ge brin­gen, dass der Ket­ten­hund mit großem Geras­sel in sei­ne Hüt­te flüch­te­te. Luis, ein zimt­far­be­ner Mu­lat­te mit kei­men­dem Schnurr­bart über den star­ken dunklen Lip­pen, hielt dann wohl da­mit inne, mit ei­nem Palm­be­sen das Café zu keh­ren, und ließ sich einen lei­sen Schau­der das Rück­grat hin­un­ter­lau­fen; sei­ne schmach­ten­den Man­delau­gen blie­ben für län­ge­re Zeit ge­schlos­sen.

Das war der Haus­stand der Casa Vio­la, doch alle die­se Leu­te wa­ren früh­mor­gens beim ers­ten Lärm des Aufruhrs ent­flo­hen, da sie es vor­zo­gen, sich auf der Ebe­ne zu ver­ber­gen, an­statt sich dem Haus an­zu­ver­trau­en; und sie wa­ren da­für kaum zu ta­deln, da es in der Stadt, ob mit Recht oder Un­recht, all­ge­mein hieß, dass der Ga­ri­bal­di­ner et­was Geld un­ter dem Lehm­bo­den der Kü­che ver­gra­ben habe. Der Hund, ein reiz­ba­res, zot­ti­ges Vieh, wech­sel­te zwi­schen wü­ten­dem Ge­bell und kläg­li­chem Heu­len, sprang aus sei­ner Hüt­te an der Rück­sei­te des Hau­ses oder kroch wie­der hin­ein, wie Wut oder Angst es ihm ein­ga­ben.

Plötz­li­ches Brül­len er­hob sich und erstarb wie­der, wie das Heu­len ei­nes Sturm­win­des auf der Ebe­ne rings um das ver­ram­mel­te Haus; das Knal­len von Schüs­sen tön­te lau­ter; da­zwi­schen gab es Pau­sen voll un­ver­ständ­li­chen Schwei­gens, und nichts konn­te hei­li­ger und fried­vol­ler sein als die schma­len Son­nen­strei­fen, die durch die Ris­se in den Lä­den quer durch das Café über das Durchein­an­der der Ti­sche und Stüh­le bis zur jen­sei­ti­gen Wand lie­fen. Der alte Gior­gio hat­te die­sen kah­len, weiß­ge­tünch­ten Raum als Zuf­luchts­ort ge­wählt. Er hat­te nur ein Fens­ter, und sei­ne ein­zi­ge Tür ging auf den stark ver­staub­ten Fahr­weg, der zwi­schen Aloe­he­cken vom Ha­fen nach der Stadt führ­te und auf dem klo­bi­ge Kar­ren hin­ter trä­gen Och­sen­ge­span­nen da­hin­zuäch­zen pfleg­ten, von be­rit­te­nen Jun­gen ge­lenkt.

Wäh­rend ei­ner stil­len Pau­se spann­te Gior­gio sein Ge­wehr. Der un­heil­kün­den­de Laut er­press­te der star­ren Ge­stalt der Frau ein lei­ses Stöh­nen. Ein jä­her Aus­bruch trot­zi­gen Ge­schreis ganz nahe beim Hau­se sank plötz­lich zu un­ter­drück­tem Mur­meln zu­sam­men; je­mand rann­te vor­bei; man hör­te einen Au­gen­blick lang sein keu­chen­des Atem­ho­len, knapp hin­ter der Türe, dazu hei­se­res Flüs­tern und Schrit­te an der Mau­er; eine Schul­ter strich ge­gen den Fens­ter­la­den und lösch­te die brei­ten Son­nen­strei­fen, die den gan­zen In­nen­raum durch­lie­fen. Si­gno­ra Te­resas Arme leg­ten sich en­ger um die kni­en­den Ge­stal­ten der Töch­ter.

Der Pö­bel, vom Zoll­amt zu­rück­ge­schla­gen, hat­te sich in meh­re­re Hau­fen zer­streut, die sich nun über die Ebe­ne auf die Stadt zu ver­lie­fen. Dem ge­dämpf­ten Kra­chen un­re­gel­mä­ßi­ger Sal­ven, die in der Fer­ne ab­ge­feu­ert wur­den, ant­wor­te­ten schwa­che Schreie, weit weg. In den Zwi­schen­pau­sen knall­ten ver­ein­zel­te Schüs­se, und das lang­ge­streck­te, nied­ri­ge wei­ße Ge­bäu­de mit den ge­schlos­se­nen Fens­ter­lä­den schi­en der Mit­tel­punkt ei­nes Aufruhrs, der im wei­ten Um­kreis die schwei­gen­de Ab­ge­schlos­sen­heit um­tob­te. Doch die vor­sich­ti­gen Be­we­gun­gen und das Ge­flüs­ter ei­ner ver­spreng­ten Grup­pe, die hin­ter der Rück­mau­er vor­über­ge­hend Schutz such­te, füll­ten den dunklen, von ru­hi­gen Son­nen­strei­fen durch­spiel­ten Raum mit bö­sen, heim­li­chen Lau­ten. Die dran­gen der Fa­mi­lie Vio­la ins Ohr, als hät­ten un­sicht­ba­re Ge­s­pens­ter ne­ben ih­ren Stüh­len flüs­ternd be­ra­ten, ob es emp­feh­lens­wert sei, an die Casa die­ses Frem­den Feu­er an­zu­le­gen. Es war auf­rei­bend. Der alte Vio­la hat­te sich lang­sam er­ho­ben, das Ge­wehr in der Hand, un­ent­schlos­sen, denn er sah nicht, wie er den Leu­ten hät­te weh­ren sol­len. Schon hör­te man Stim­men an der Rück­sei­te des Hau­ses. Si­gno­ra Te­resa war au­ßer sich vor Ent­set­zen.

»Ah! Der Ver­rä­ter!« mur­mel­te sie, fast un­hör­bar. »Nun sol­len wir ver­brannt wer­­­­­­­